8. November

AUF DEM WEG VON CHALK FARM NACH VICTORIA — LONDON

Barbara schrie auf, als sie sich im Spiegel sah. Sie war am frühen Morgen schlaftrunken ins Bad gestolpert und hatte ganz vergessen, dass ihr Erscheinungsbild sich vollkommen verändert hatte. Ihr blieb fast das Herz stehen, und sie fuhr herum, bereit, es mit der Frau aufzunehmen, die sie in einem Winkel des Spiegels entdeckt hatte. Es dauerte nur wenige Sekunden, aber sie fühlte sich wie eine Idiotin, als sie zur Besinnung kam und alle Ereignisse des Vortags über ihr zusammenschlugen wie eine heiße Welle aus Scham und etwas anderem, das sie nicht genau definieren konnte.

Nachdem sie das Haus aufgesucht hatte, in dem Vivienne Tully wohnte, hatte sie Angelina Upman auf dem Handy angerufen und ihr gesagt, sie sei gerade in Kensington, und es sehe so aus, als müsse sie diesen Frisörtermin absagen, da der Weg nach Chalk Farm einfach zu weit sei. Aber Angelina hatte entgegnet, von Kensington nach Knightsbridge sei es ja nur ein Katzensprung. Sie würden sich eben gleich dort treffen, anstatt gemeinsam hinzufahren. Dann war Hadiyyah plötzlich in der Leitung gewesen, anscheinend hatte sie ihrer Mutter das Handy aus der Hand gerissen.»Du kannst das nicht absagen, Barbara. Außerdem hast du doch den Befehl von deiner Chefin, oder? Und es tut ja auch nicht weh!«Dann hatte sie in verschwörerischem Ton hinzugefügt:»Und hinterher gehen wir zum Tee ins Dorchester. Mummy sagt, da ist einer, der die ganze Zeit Klavier spielt, und ein Kellner geht rum mit einem silbernen Tablett voll Sandwiches, und es gibt frische Scones, die noch warm sind, und ganz leckeren Kuchen.«

Barbara ließ sich widerstrebend darauf ein. Also gut, sie würden sich in Knightsbridge treffen. Was würde sie nicht alles tun, um Sandwiches auf einem Silbertablett serviert zu bekommen …

Ein Pop-Psychologe, dachte Barbara, hätte das große Ereignis im Frisörsalon als Erfahrung bezeichnet, an der man wächst. Angelinas Beschreibung von Dusty hatte sich als vollkommen zutreffend erwiesen. Nachdem Barbara im Stuhl eines seiner Lehrlinge Platz genommen hatte, war er herübergekommen und hatte nach einem kurzen Blick auf ihren Kopf theatralisch gestöhnt:»O Gott! Aus welchem Jahrhundert stammen Sie denn?«Er war dünn, sah gut aus, hatte in Spitzen abstehende Haare und eine für November ungewöhnlich gesunde Bräune, die er sich nur in einem Solarium erworben haben konnte. Ehe Barbara auf seine Bemerkung hatte kontern können, hatte er seinen Lehrling angewiesen:»Kürzen, Strähnchen mit einszweiundachtzig und vierundsechzig. Und ich werde mir Ihr Werk ansehen, wenn es fertig ist. «Dann hatte er zu Barbara gesagt:»Also wirklich, so lange, wie Sie schon damit rumlaufen, hätten Sie auch noch die sechs Wochen warten können, dann hätte ich das selbst übernommen. Womit in aller Welt waschen Sie sich die Haare, wenn man fragen darf?«

«Fairy Liquid

«Sie belieben zu scherzen. Aber ich nehme an, Sie kaufen das Zeug im Supermarkt, oder?«

«Wo sollte ich mir denn wohl sonst mein Shampoo kaufen?«

Er hatte entsetzt die Augen verdreht.»Gott. «Dann hatte er zu Angelina gesagt:»Sie sehen bezaubernd aus, wie immer«, hatte ihr ein Küsschen auf die Wange gehaucht und Barbara seinem Lehrling überlassen. Hadiyyah hatte er gänzlich ignoriert.

Es hatte eine Ewigkeit gedauert, und es war die Hölle gewesen, und als Dustys Lehrling mit Barbara fertig war, hatte sie einen modischen Kurzhaarschnitt mit blonden und rötlichen Strähnchen. Der Lehrling — nicht Cedric, sondern eine junge Frau aus Essex, die trotz ihrer vier Lippenpiercings und der Schultertattoos sehr sympathisch war — hatte ihr dringend vom Gebrauch ihres vertrauten Fairy Liquid abgeraten und ihr stattdessen eine Flasche eines sündhaft teuren Elixirs aufgeschwatzt, dessen» Pflegeformel … mehr Leuchtkraft, bis zu sieben Wochen Farbschutz und perfekte Kämmbarkeit «versprach — und dazu einen spannenderen Freundeskreis.

Mit Grausen hatte Barbara die Rechnung bezahlt und sich gefragt, wie es möglich war, dass Frauen regelmäßig so viel Kohle für etwas zum Fenster hinauswarfen, das sie genauso gut selbst in der Dusche erledigen konnten.

Beim Duschen am nächsten Morgen hatte sie sich den Kopf mit Frischhaltefolie umwickelt, um ihre teure Frisur vor dem Wasser zu schützen. Als sie später in einer weiten Flanellhose mit Gummizug und einem ausgebeulten Kapuzen-Sweatshirt an der Anrichte stand und sich einen Erdbeer-Pop-Tart toastete, hatte sie plötzlich Hadiyyas Stimme gehört, und gleich darauf hatte das Mädchen auch schon an Barbaras Tür geklopft.

«Bist du da? Bist du da?«, rief Hadiyyah aufgeregt.»Ich habe Daddy mitgebracht, damit er sich deine neue Frisur ansehen kann!«

«O nein«, flüsterte Barbara. Sie war noch nicht bereit, jemandem unter die Augen zu treten, am allerwenigsten Taymullah Azhar, dessen Stimme sie durch die Tür hörte, auch wenn sie nicht verstehen konnte, was er sagte. Sie hielt den Atem an und wartete in der Hoffnung, Hadiyyah würde annehmen, dass sie schon zur Arbeit gefahren war. Was natürlich Unsinn war, denn es war noch nicht einmal acht Uhr, und selbst wenn Hadiyyah Barbaras Gewohnheiten nicht genau kennen würde, hätte sie ihren Mini sehen müssen, der vor dem Haus stand. Es blieb ihr also nichts anderes übrig, als die Tür aufzumachen.

«Siehst du, Dad? Siehst du?«, rief Hadiyyah.»Mummy und ich waren gestern mit Barbara bei Mummys Frisör. Sieht Barbara nicht hübsch aus? Alle im Dorchester haben sie angekuckt.«

«Ah, ja«, sagte Azhar. Barbara wäre am liebsten im Erdboden versunken.

Sie sagte:»Mal was anderes, was? Bin heute Morgen fast in Ohnmacht gefallen vor Schreck, als ich in den Spiegel gekuckt hab.«

«Es sieht keineswegs erschreckend aus«, entgegnete Azhar ernst.

«Okay. Na ja. Ich wollte auch nur sagen, dass ich mich selbst nicht wiedererkannt hab.«

«Ich finde, dass Barbara ganz hübsch aussieht«, sagte Hadiyyah zu ihrem Vater.»Und Mummy findet das auch. Mummy sagt, die neue Frisur macht, dass Barbaras Gesicht strahlt und ihre Augen leuchten. Barbara hat nämlich ganz schöne Augen, sagt Mummy, und die sollte sie betonen. Dusty hat Barbara gesagt, sie soll sich den Pony rauswachsen lassen, damit …«

«Khushi«, schnitt Azhar ihr liebevoll das Wort ab,»ihr habt das sehr gut gemacht, du und deine Mutter. Aber jetzt lassen wir Barbara in Ruhe frühstücken und machen uns auf den Weg. «Er schaute Barbara lange und ernst an. Dann sagte er:»Die Frisur steht Ihnen gut«, legte seiner Tochter zärtlich eine Hand auf die Schulter und bugsierte sie in Richtung Haustür.

Hadiyyah hüpfte unermüdlich plappernd den ganzen Weg bis zum Haus neben ihrem Vater her. Barbara schaute ihnen nach. Seit sie ihn kannte, war Azhar ein ernster Typ gewesen, doch diesmal war er ihr noch bedrückter vorgekommen als gewöhnlich. Sie konnte es sich nicht erklären, aber da Angelina zurzeit arbeitslos war, hatte es womöglich damit zu tun, dass er für die Rechnung aus dem Dorchester würde aufkommen müssen. Angelina hatte an nichts gespart und als Erstes Champagner bestellt, um auf Barbaras wundersame Verwandlung anzustoßen.

Nachdenklich machte Barbara die Tür zu. Wenn sie Azhar in eine unangenehme Lage gebracht hatte, dann musste sie unbedingt etwas unternehmen, auch wenn sie nicht so recht wusste, was das sein könnte, außer dass sie ihm ein paar Pfund zusteckte, die er wahrscheinlich sowieso nicht annehmen würde.

Nachdem sie ihr Frühstück beendet hatte, bereitete sie sich mental auf den Tag vor, der sie erwartete. Obwohl sie offiziell heute freihatte, stand ein Besuch bei Scotland Yard auf dem Plan, und das bedeutete, dass sie sich auf einiges an Sticheleien seitens ihrer Kollegen würde gefasst machen müssen, wenn diese ihre neue Frisur erblickten.

Normalerweise hätte sie das Unvermeidliche noch ein bisschen hinausschieben können, aber Lynley brauchte nun mal Informationen, an die sie nirgendwo so gut herankam wie im Yard, und so blieb ihr nichts anderes übrig, als sich in die Victoria Street zu begeben und sich dort so unauffällig wie möglich zu verhalten.

Sie hatte einen Namen — Vivienne Tully —, aber viel mehr auch nicht. Nach ihrem Gespräch mit dem Portier hatte sie noch ein paar wenige Informationen sammeln können. Ein paar an Vivienne Tully adressierte Briefe in einem der Postfächer in der Eingangshalle hatten ihr bestätigt, dass die junge Frau in Apartment Nr. 6 wohnte, das sich im dritten Stock befand, wie Barbara nach einem kurzen Sprint die Treppe hoch festgestellt hatte. Es handelte sich um die einzige Wohnung auf dieser Etage, aber als Barbara an die Tür geklopft hatte, hatte sie lediglich in Erfahrung gebracht, dass Vivienne Tully eine Putzfrau beschäftigte, die auch die Tür öffnete, falls jemand sich bemerkbar machte, während sie mit Staubsauger und Schrubber hantierte. Die Frage nach Ms. Tullys Aufenthaltsort hatte Barbara nichts weiter eingebracht als die Erkenntnis, dass die Putzfrau so gut wie gar kein Englisch sprach. Dem Akzent nach zu urteilen stammte sie irgendwie aus dem Baltikum, und unter Zuhilfenahme einer Zeitschrift, die auf einem kleinen Tisch lag, und mehrmaligem Zeigen auf eine Standuhr hatte sie eine kleine Pantomime aufgeführt, aus der Barbara geschlossen hatte, dass Vivienne Tully entweder Tänzerin beim Königlichen Ballett war oder mit einer Freundin namens Bianca zu einer Aufführung des Königlichen Balletts oder zum Ballettuntericht gegangen war. Auf jeden Fall war klar: Vivienne Tully war nicht zu Hause und wurde frühestens in zwei Stunden zurückerwartet. Wegen des Frisörtermins hatte Barbara natürlich nicht auf die Dame warten können, und so war Vivienne Tully, als Barbara nach Knightsbridge geeilt war, ein unbeschriebenes Blatt geblieben.

Um das Blatt zu füllen, würde Barbara einen Abstecher in den Yard machen, und wenn sie schon mal dabei war, konnte sie auch gleich nachsehen, was sie über Ian Cresswell, Bernard Fairclough und diese Argentinierin in Erfahrung bringen konnte, die Lynley erwähnt hatte, Alatea Vasquez del Torres. Sie ließ ihren Mini an und fuhr in Richtung Westminster und hoffte inständig, dass sie in den Korridoren von New Scotland Yard möglichst wenigen ihrer Kollegen über den Weg laufen würde.

Anfangs hatte sie, was ihre diesbezüglichen Ängste anging, einigermaßen Glück. Die einzigen Personen, denen sie begegnete, waren Winston Nkata und die Abteilungssekretärin Dorothea Harriman. Dorothea, schon immer der Inbegriff der Eleganz und Expertin in allen Mode- und Kosmetikfragen, blieb in ihren Zwölf-Zentimeter-Stilettos wie angewurzelt stehen und rief aus:»Großartig, Detective Sergeant! Absolut großartig! Wer hat Ihnen denn diese schicke Frisur verpasst?«Sie berührte Barbaras Haare mit ihren schlanken Fingern.»Und dieser Glanz. Traumhaft. Unser Detective Superintendent Ardery wird ganz entzückt sein, warten Sie’s ab.«

Abzuwarten war das Letzte, wonach Barbara der Sinn stand.»Danke, Dee«, sagte sie.»Mal was anderes, was?«

«Anders ist gar kein Ausdruck!«, erwiderte Dorothea.»Sie müssen mir unbedingt den Namen des Frisörs verraten. Würden Sie das tun?«

«Na klar«, sagte Barbara.»Warum denn nicht?«

«Also, manche Frauen würden das nie tun, wissen Sie. Man schützt sich halt vor der Konkurrenz …«Sie trat einen Schritt zurück und betrachtete das Meisterwerk mit einem Seufzer.»Da werd ich ganz grün vor Neid.«

Darüber, dass Dorothea Harriman sie um ihre Frisur beneiden könnte, hätte Barbara am liebsten schallend gelacht, ebenso wie über die Vorstellung, sie könnte sich mit Hilfe der von oben verordneten Runderneuerung einen Mann angeln. Aber sie beherrschte sich und nannte Dorothea den Namen des Frisörs und die Adresse des Salons in Knightsbridge. Der Salon war garantiert nach Dorotheas Geschmack, dachte Barbara, die vermutete, dass die Sekretärin viel Zeit in Knightsbridge verbrachte und dort einen Großteil ihrer Gehalts ausgab.

Winston Nkatas Reaktion fiel weniger überschwänglich aus, und dafür war Barbara dankbar.»Sieht gut aus, Barb«, sagte er.»Hat die Chefin dich schon gesehen?«

«Ich hatte eigentlich gehofft, ihr aus dem Weg zu gehen. Also, falls du sie siehst, ich bin nicht hier, okay? Ich muss nur mal eben an den Polizeicomputer und ein paar Sachen überprüfen.«

«DI Lynley?«

«Nicht weitersagen!«

Nkata versprach, ihr so gut es ging Deckung zu geben, aber man konnte natürlich nie wissen, wann Isabelle Ardery irgendwo auftauchte.»Am besten legst du dir schon mal irgendeine passende Geschichte zurecht«, riet er Barbara.»Es passt ihr nämlich gar nicht in den Kram, dass der Inspector abgehauen ist, ohne ihr zu verraten, wohin.«

Barbaras Augen wurden schmal. Sie fragte sich, was Nkata über Lynley und Isabelle Ardery wusste. Doch Nkatas Gesichtsausdruck verriet nichts, und obwohl das bei ihm die Regel war, neigte Barbara zu der Annahme, dass seine Bemerkung sich nur auf das Offensichtliche bezog: Lynley gehörte zu Arderys Team, und sie war sauer darüber, dass Hillier ihn für einen Fall abgezogen hatte, der außerhalb ihrer Zuständigkeit lag.

Barbara suchte sich einen unauffälligen Platz, wo sie sich in den Polizeicomputer einloggen konnte. Als Erstes sammelte sie alle verfügbaren Informationen über Vivienne Tully, was ziemlich einfach war. Die Frau war in Wellington, Neuseeland geboren, war in Auckland zur Schule gegangen und hatte auch dort studiert und später an der London School of Economics einen hervorragenden Abschluss gemacht. Sie war Hauptgeschäftsführerin bei Precision Gardening, einer Firma, die Gartenwerkzeug herstellte — kein besonders glamouröser Job, dachte Barbara —, und sie saß im Aufsichtsrat der Fairclough Foundation. Kurz darauf stieß Barbara auf eine weitere Verbindung zu Bernard Fairclough. Mit Anfang zwanzig war Vivienne Tully Bernard Faircloughs Chefsekretärin bei Fairclough Industries in Barrow-in-Furness gewesen. Nachdem sie bei Fairclough Industries aufgehört und bevor sie bei Precision Gardening angefangen hatte, war sie als freiberufliche Wirtschaftsberaterin tätig gewesen, was in der modernen Geschäftswelt, so vermutete Barbara, entweder heißen konnte, dass sie versucht hatte, eine eigene Firma auf die Beine zu stellen, oder dass sie vier Jahre lang arbeitslos gewesen war. Derzeit war sie dreiunddreißig Jahre alt, und auf einem Foto hatte sie modisch struppiges Haar, war eher jungenhaft gekleidet und wirkte außerordentlich intelligent. Ihr Blick besagte, dass sie Schwächlinge unerträglich fand. Und in Anbetracht ihrer Herkunft und ihrer Bildung besagte er, dass sie eine vollkommen unabhängige Frau war.

Über Lord Fairclough konnte Barbara nichts Merkwürdiges entdecken. Umso mehr Merkwürdiges fand sie über seinen missratenen Sohn, denn Nicholas Fairclough war nicht gerade auf dem Pfad der Tugend gewandelt, und in seinem Vorstrafenregister fand sie Autounfälle, Verhaftungen wegen Trunkenheit am Steuer, vereitelte Einbrüche, Ladendiebstähle und Hehlerei. Aber inzwischen führte er anscheinend ein beinahe asketisches Leben. Er hatte alle seine Strafen verbüßt und sich seit dem Tag seiner Hochzeit nichts mehr zuschulden kommen lassen.

Was Barbara zu Alatea Vasquez del Torres brachte, der Frau mit dem komplizierten Namen. Abgesehen von dem Namen hatte Barbara sich in ihrem eselsohrigen Notizheft ihren Herkunftsort notiert, nämlich» Santa María de irgendwas«, was sich als wenig aufschlussreich erwies, denn es gab zahllose Orte in Lateinamerika, die mit Santa María de … anfingen. Das würde kein Zuckerschlecken werden, sagte sie sich.

Sie überlegte gerade, wie sie vorgehen sollte, als Ardery sie entdeckte. Dorothea Harriman hatte bedauerlicherweise ihrer Chefin gegenüber von Barbaras neuer Frisur geschwärmt und dabei nicht daran gedacht, sich eine nette Lüge auszudenken bezüglich der Frage, wo sie Barbara mit ihrer neuen Frisur außerhalb von Scotland Yard gesichtet haben könnte. Und so war Isabelle Ardery in die Bibliothek im zwölften Stock gekommen, wohin Barbara sich zurückgezogen hatte, um heimlich und in Ruhe den Polizeicomputer zu durchforsten.

«Ach, hier stecken Sie. «Ardery hatte sich angeschlichen wie eine Katze, und Barbara hätte schwören können, dass sie vor Genugtuung schnurrte.

«Hallo Chefin«, sagte Barbara und nickte zum Gruß.»Hab immer noch frei«, fügte sie hinzu, für den Fall, dass Isabelle Ardery vorhatte, ihr irgendeinen dienstlichen Auftrag zu erteilen.

Aber Ardery schien nichts dergleichen im Sinn zu haben. Sie sagte:»Als Erstes möchte ich mir Ihre neue Frisur ansehen.«

In Anbetracht des Tons ihrer Chefin wollte Barbara lieber nicht wissen, was als Zweites kommen würde. Sie stand auf, um sich begutachten zu lassen.

Ardery nickte.»Das ist ja tatsächlich ein Haarschnitt«, sagte sie.»Man könnte es sogar als Frisur bezeichnen.«

Bei dem Preis, den sie dafür hingeblättert hatte, sollte man es als Haarpracht bezeichnen, dachte Barbara. Sie wartete.

Ardery ging um sie herum. Nickte.»Die Haare. Die Zähne. Sehr gut. Es freut mich zu sehen, dass Sie Anweisungen befolgen können, wenn man Ihnen Feuer unterm Hintern macht, Sergeant.«

«Stets zu Diensten«, sagte Barbara.

«Was Ihre Kleidung angeht …«

«Ich bin im Urlaub, Chefin«, fiel Barbara ihr ins Wort, um ihre Aufmachung zu erklären: Trainingshose, T-Shirt mit dem Aufdruck Finish Your Beer … Children in China are Sober, rote, knöchelhohe Turnschuhe und Donkeyjacke.

«Auch im Urlaub repräsentieren Sie Scotland Yard, Barbara«, sagte Ardery.»Sobald Sie dieses Gebäude betreten …«Plötzlich fiel ihr Blick auf Barbaras zerfleddertes Notizheft.»Was machen Sie hier eigentlich?«, wollte sie wissen.

«Ich brauchte nur ein paar Informationen.«

«Dass Sie diese Informationen hier suchen, lässt darauf schließen, dass es sich um eine Polizeiangelegenheit handelt. «Isabelle Ardery kam einen Schritt näher, so dass sie den Bildschirm besser sehen konnte.»Argentinien?«, fragte sie.

«Urlaub«, antwortete Barbara leichthin.

Ardery ergriff die Maus und scrollte erst eine, dann noch eine Seite zurück.»Haben Sie neuerdings ein Faible für die Jungfrau Maria?«, fragte sie, als sie all die Orte sah, die mit Santa María de … anfingen.»Wo soll die Reise denn hingehen? In ein Skigebiet? Ans Meer? In den Dschungel vielleicht?«

«Ach, ich sammle erst mal Ideen«, sagte Barbara.

Isabelle fuhr zu ihr herum.»Verkaufen Sie mich nicht für dumm, Sergeant. Wenn Sie nach Urlaubsangeboten suchen würden, dann brauchten Sie das nicht hier im Yard zu tun. Da Sie aber nun einmal hier an diesem Computer sitzen und da Sie sich ein paar Tage freigenommen haben, nehme ich an, dass Sie für Inspector Lynley Informationen sammeln. Habe ich recht?«

Barbara seufzte.»Ja.«

«Verstehe. «Arderys Augen wurden schmal.»Dann stehen Sie also mit ihm in Kontakt?«

«Na ja … mehr oder weniger.«

«Regelmäßig?«

«Ich weiß nicht, was Sie damit meinen«, sagte Barbara. Sie fragte sich, worauf zum Teufel die Ardery hinauswollte. Schließlich hatte sie nichts mit Lynley. Und falls die Ardery irgendetwas in der Richtung annahm, war sie wirklich nicht ganz bei Trost.

«Wo ist er, Sergeant?«, fragte Isabelle Ardery ganz direkt.»Sie wissen es, nicht wahr?«

Barbara zögerte. Die Wahrheit war, dass sie es wusste. Die Wahrheit war aber auch, dass Lynley es ihr nicht gesagt hatte. Sie war durch den Namen Bernard Fairclough darauf gekommen. Also antwortete sie:»Er hat es mir nicht gesagt, Chefin.«

Aber Ardery hatte bereits ihre eigenen Schlüsse gezogen. Sie sagte:»Verstehe«, und das in einem Ton, der Barbara sagte, dass sie sich etwas anderes zusammenreimte als die Wahrheit.»Danke Sergeant«, fügte Ardery hinzu.»Vielen Dank.«

Dann ging sie. Barbara hätte hinter ihr herrufen können, ehe sie die Tür der Bibliothek erreichte. Sie hätte alles klarstellen können. Doch sie entschied sich dagegen. Und sie fragte sich auch nicht, warum sie ihre Chefin etwas glauben ließ, was absolut nicht stimmte.

Sie machte sich wieder an die Arbeit. Alatea Vasquez del Torres, dachte sie. Ihre Identität galt es zu ermitteln. Das war im Moment das Problem, und nicht Isabelle Ardery.

MILNTHORPE — CUMBRIA

St. James musste der Tatsache ins Auge sehen, dass seine Frau schlicht und einfach Angst hatte. Angst, dass er sie beide in eine Zukunft katapultieren wollte, die zu viele Unwägbarkeiten mit sich brachte. Widerstrebend hatte er zugeben müssen, dass sie nicht ganz unrecht hatte. Bei einer offenen Adoption nahmen sie nicht nur ein Kind in ihr Leben auf, sondern auch eine leibliche Mutter, einen leiblichen Vater, leibliche Großeltern auf beiden Seiten, und der Himmel wusste, wen sonst noch alles. Es war nicht einfach damit getan, dass man von einer Sozialarbeiterin einen Säugling entgegennahm. Klar hoffte man, dass das Kind später einmal nicht das Bedürfnis entwickelte, seine leibliche Familie ausfindig zu machen, und sich von einem abwandte. In dieser Hinsicht hatte Deborah vollkommen recht. Aber er hatte ebenfalls recht: Egal, auf welche Weise man zu Eltern wurde, eine Erfolgsgarantie gab es nie.

Sein Bruder drängte ihn, endlich eine Entscheidung zu treffen. Dieses junge Mädchen in Southampton könne nicht ewig warten, hatte David gesagt. Es gab noch mehr interessierte Paare.»Komm schon, Simon. Ja oder nein. Das passt doch überhaupt nicht zu dir, dich vor einer Entscheidung zu drücken.«

Also hatte St. James noch einmal mit Deborah gesprochen. Und auch diesmal war sie unnachgiebig geblieben. Eine Viertelstunde lange hatten sie über alle Aspekte diskutiert, dann war er zu einem Spaziergang aufgebrochen. Sie waren nicht im Streit auseinandergegangen, doch nach der hitzigen Auseinandersetzung mussten sie sich beide erst einmal beruhigen.

Vom Crow & Eagle aus ging er in Richtung Arnside, auf der Straße, die am Fluss Bela entlang und schließlich am Watt von Milnthorpe Sands vorbeiführte. Er versuchte, an nichts zu denken, sondern nur die regenfeuchte Luft einzuatmen. Er musste sich das Thema Adoption endgültig aus dem Kopf schlagen. Wenn er es nicht tat — und wenn Deborah es nicht tat —, würde es ihre Ehe vergiften.

Diese verdammte Zeitschrift hatte alles nur noch schlimmer gemacht. Barbara hatte ihnen die gewünschte Ausgabe geschickt, und Deborah hatte sie von vorne bis hinten gelesen. Ein bestimmter Artikel hatte sie von der Leihmuttermethode überzeugt: sein Sperma, ihr Ei, eine Petrischale und eine Leihmutter eben. Sie hatte einen Bericht über eine Frau gelesen, die aus lauter Altruismus gegenüber anderen Frauen sechs fremde Kinder ausgetragen hatte.»Es wäre unser Kind«, hatte sie immer wieder gesagt.»Deins und meins. «Ja und nein, dachte er. Auch diese Möglichkeit barg Gefahren.

Es war ein sonniger Tag, nachdem es die ganze Nacht wie aus Eimern geschüttet hatte. Die Luft war sauber und klar, und am Himmel türmten sich herrliche Gebirge aus grauen Kumuluswolken. Draußen im Watt suchten die Nachzügler der Vogelschwärme, die den Winter in Afrika oder dem Mittelmeerraum verbrachten, immer noch nach Ringelwürmern, Krebsen und Muscheln. St. James sah Regenpfeifer und Strandläufer in dem Gewimmel, aber die anderen Vögel hätte er nicht benennen können. Eine Zeitlang beobachtete er sie und beneidete sie um ihr einfaches Leben. Dann drehte er sich um und ging zurück in den Ort.

Als er das Gasthaus erreichte, fuhr Lynley gerade auf den Parkplatz. St. James ging seinem Freund entgegen, der aus dem Healey Elliott stieg. Einen Moment lang betrachteten sie voller Bewunderung die gefällige Linienführung und die schöne Lackierung des Wagens. Dann sagte St. James:»Aber ich nehme nicht an, dass du hergekommen bist, um dich an meinem Neid auf dein Auto zu weiden.«

«Mir ist jede Gelegenheit willkommen, dich auf dem Gebiet der modernen Beförderungsmittel alt aussehen zu lassen. Aber in diesem Fall muss ich dir recht geben. Ich bin gekommen, um mit dir zu reden.«

«Dafür hast du eine ziemlich lange Fahrt auf dich genommen. Ein Anruf hätte genügt.«

«Hm, ja. Aber meine Tarnung ist teilweise aufgeflogen. Ich hatte das Gefühl, es wäre nicht verkehrt, mich ein bisschen rar zu machen. «Er berichtete St. James von seiner Begegnung mit Valerie, Bernard und Mignon Fairclough.»Mignon weiß also, dass Scotland Yard an der Sache dran ist, und wird dafür sorgen, dass alle anderen es ebenfalls erfahren.«

«Das könnte doch auch sein Gutes haben.«

«Ja, so hätte ich es am liebsten von Anfang an gehalten.«

«Trotzdem bist du beunruhigt?«

«Ja.«

«Warum?«

«Weil Fairclough Fairclough ist und weil Hillier Hillier ist und weil Hillier die verdammte Gabe besitzt, mich für seine Zwecke zu benutzen.«

St. James wartete. Er kannte die Geschichte von Lynleys Verhältnis zu seinem Chef. Dazu gehörte mindestens ein Versuch, ein lange zurückliegendes Verbrechen zu vertuschen. Er würde es Hillier durchaus zutrauen, Lynley erneut auf ähnliche Weise zu benutzen, wenn» einer der Ihren«— wozu Hillier zweifellos Fairclough, Lynley und sich selbst zählte — ein ernstes Problem hatte, das er unter den Teppich zu kehren wünschte; und Lynley sollte den Besen führen. Alles war möglich, das wussten sie beide.

Lynley sagte:»Vielleicht ist das Ganze ja auch eine Vernebelungsaktion.«

«Welcher Teil davon?«

«Dass Fairclough mich gebeten hat, den Tod von Ian Cresswell zu untersuchen. So etwas in der Art hat Mignon jedenfalls gestern Abend angedeutet. Sie hat mir durch die Blume zu verstehen gegeben, dass ich mich auf den konzentrieren soll, der mich angeheuert hat. Ich hatte tatsächlich schon selbst daran gedacht, den Gedanken aber wieder verworfen.«

«Warum?«

«Weil es einfach keinen Sinn ergibt, Simon. «Lynley lehnte sich an den Healey Elliott und verschränkte die Arme vor der Brust.»Ich könnte mir vorstellen, dass er Scotland Yard um Hilfe bitten würde, wenn ein Mord verübt worden wäre, man ihn für den Täter hielte und er seinen Namen reinwaschen wollte. Oder wenn man eines seiner Kinder für den Täter hielte und Bernard dessen oder deren Namen reinwaschen wollte. Aber Ian Cresswells Tod galt von Anfang an als Unfall. Warum also sollte er jemanden herbitten, der die Sache noch einmal untersucht, wenn er schuldig ist oder wenn er befürchtet, dass jemand aus seiner Familie schuldig sein könnte?«

«Das würde eher darauf schließen lassen, dass Mignon den Nebel streut, meinst du nicht?«

«Und es würde erklären, warum sie gestern Abend versucht hat, die Aufmerksamkeit auf ihren Vater zu lenken. Offenbar wollte Cresswell Bernard überreden, dass er ihr den Unterhalt streicht. «Lynley klärte St. James über das Arrangement zwischen Vater und Tochter auf.»Damit war sie garantiert nicht einverstanden. Und da Cresswell die Bücher geführt hat und über Bernards Transaktionen im Bilde war, wäre es durchaus möglich, dass er noch jemandem den Unterhalt streichen wollte.«

«Dem Sohn?«

«Das wäre doch naheliegend, oder? Bei Nicholas’ Geschichte hat Cresswell Bernard wahrscheinlich geraten, ihm nicht einen Penny anzuvertrauen, was ja durchaus verständlich ist. Nicholas Fairclough mag ja vielleicht ein Exjunkie sein, aber es ist ja bekannt, dass Süchtige nie wirklich geheilt werden. Jeder Tag ist für sie eine neue Herausforderung.«

Was dieses Thema anging, kannte Lynley sich aus, weil sein eigener Bruder betroffen war, das wusste St. James.»Und? Hat Fairclough seinem Sohn Geld gegeben?«

«Das muss ich noch überprüfen. Die Information bekomme ich über die andere Tochter und deren Mann.«

St. James wandte sich ab. Aus der offenen Hintertür des Hotels drangen Lärm und Gerüche: das Klappern von Töpfen und Pfannen und der Geruch nach gebratenem Speck und verbranntem Toastbrot.»Was ist mit Valerie, Tommy?«

«Du meinst, ob sie als Mörderin in Frage kommt?«

«Ian Cresswell war nicht blutsverwandt mit ihr. Er war der Neffe ihres Mannes, und er stellte eine potentielle Gefahr für ihre Kinder dar. Wenn er Mignon die Unterhaltszahlungen streichen wollte und nicht daran glaubte, dass Nicholas dauerhaft clean war, dann hätte er Bernard Fairclough unter Umständen dazu bringen können, dass er seine Kinder nicht länger finanziell unterstützte. Und Valerie Fairclough hat sich laut Aussage von Constable Schlicht an dem Abend äußerst merkwürdig verhalten: wie aus dem Ei gepellt, vollkommen ruhig, ein Anruf bei der Polizei und die lapidare Aussage: In meinem Bootshaus schwimmt ein Toter.«

«Stimmt«, räumte Lynley ein.»Aber der Anschlag könnte auch ihr gegolten haben.«

«Wo wäre das Motiv?«

«Mignon sagt, ihr Vater ist fast nie da. Meistens hält er sich in London auf. Havers kümmert sich darum. Falls mit der Ehe der Faircloughs jedoch irgendetwas nicht stimmt, könnte Bernard doch Gründe haben, sich seine Frau vom Hals zu schaffen.«

«Und warum lässt er sich nicht einfach scheiden?«

«Wegen der Firma. Er leitet Fairclough Industries seit Ewigkeiten, und er würde sicher eine enorme Abfindung bekommen, falls das vertraglich so geregelt ist — es sei denn, es gibt irgendeinen Ehevertrag, von dem wir noch nichts wissen. Aber noch gehört die Firma ihr, und ich nehme an, dass sie jedwede Entscheidung, die die Firma betrifft, beeinflussen kann, wenn sie will.«

«Ein Grund mehr, warum sie Ians Tod gewünscht haben könnte, Tommy, falls er auf Entscheidungen gedrungen hat, die ihr nicht gefielen.«

«Möglich. Aber wäre es aus ihrer Sicht nicht sinnvoller gewesen, dafür zu sorgen, dass Ian gefeuert wurde? Warum hätte sie ihn umbringen sollen, wenn sie die Macht besaß, ihn einfach an die Luft zu setzen?«

«Also gut, was haben wir?«St. James erinnerte Lynley daran, dass das Filetiermesser, das sie aus dem Wasser geborgen hatten, keinen einzigen Kratzer aufwies und auf den ersten Blick vollkommen harmlos aussah. Auch an den Steinen, die sie aus dem Wasser geholt hatten, waren keine Kratzspuren zu erkennen, die darauf hingedeutet hätten, dass jemand sie herausgelöst hatte. Sie konnten Constable Schlicht noch einmal zum Bootshaus bitten und auch die an der Untersuchung beteiligten Tatortspezialisten, doch dazu müssten sie erst den Coroner überreden, den Fall wieder aufzurollen. Nur hatten sie ihm so gut wie nichts zu bieten, was ihn dazu animieren könnte, Ian Cresswells Tod noch einmal zu untersuchen.

«Wir müssen uns alle Beteiligten noch einmal vornehmen«, sagte Lynley.

«Was bedeutet, dass ich dir nicht länger von Nutzen bin«, sagte St. James.

Ehe Lynley darauf antworten konnte, klingelte sein Handy. Er warf einen Blick aufs Display.»Das ist Havers. Vielleicht kann sie uns auf die Sprünge helfen. «Er klappte das Handy auf und sagte:»Sagen Sie mir, dass Sie etwas Entscheidendes zutage gefördert haben, Sergeant, denn wir rennen hier in eine Sackgasse nach der anderen.«

ARNSIDE — CUMBRIA

Alatea war früh nach draußen gegangen, um Blumenzwiebeln zu pflanzen, denn sie wollte ihrem Mann aus dem Weg gehen. Sie hatte die halbe Nacht wachgelegen, geplagt von unruhigen Gedanken, und beim ersten Morgengrauen war sie aus dem Bett geschlüpft und in den Garten geschlichen.

Auch Nicholas hatte schlecht geschlafen. Irgendetwas stimmte ganz und gar nicht.

Das war ihr zum ersten Mal beim Essen am Abend zuvor bewusst geworden. Nicholas hatte lustlos in seinem Essen herumgestochert, hatte sein Fleisch kleingeschnitten und auf dem Teller hin und her geschoben, die Kartoffelscheiben säuberlich gestapelt wie Pokerchips. Auf ihre Frage hin, was ihn bedrücke, hatte er nur vage gelächelt und geantwortet:»Hab heute einfach keinen richtigen Appetit. «Schließlich hatte er seinen Teller von sich geschoben, war in den Salon gegangen, hatte sich kurz auf die Bank am offenen Kamin gesetzt, war wieder aufgesprungen und im Zimmer auf und ab gegangen wie ein Tiger im Käfig.

Als sie sich schlafen gelegt hatten, war es noch schlimmer gewesen. Ängstlich hatte sie sich ihm zugewandt, ihm eine Hand auf die Brust gelegt und gefragt:»Nicky, was ist los? Sprich mit mir. «Dabei fürchtete sie in Wirklichkeit seine Antwort mehr als ihre eigenen rastlosen Gedanken und wohin sie gingen, wenn sie ihnen freien Lauf ließ.»Nichts«, hatte Nicholas geantwortet.»Wirklich, Liebling, es ist nichts. Ich bin einfach nur müde. Und vielleicht ein bisschen mit den Nerven runter. «Und als er den entsetzten Blick bemerkt hatte, den sie nicht hatte unterdrücken können, hatte er hinzugefügt:»Mach dir keine Sorgen, Allie«, womit er ihr hatte versichern wollen, dass, was auch immer ihm auf der Seele lag, nichts mit seiner Drogenvergangenheit zu tun hatte. Das hatte sie auch gar nicht angenommen, aber sie hatte mitgespielt und gesagt:»Vielleicht solltest du mal mit jemandem reden, Nicky. Du weißt doch, wie das ist«, und er hatte genickt. Dann hatte er sie liebevoll angesehen, und plötzlich war ihr klar geworden, dass das, was ihn bedrückte, nur mit ihr zu tun haben konnte.

Sie hatten nicht miteinander geschlafen. Auch das war untypisch für Nicholas, denn sie hatte sich ihm genähert, und nicht umgekehrt, dabei mochte er es so sehr, wenn sie die Initiative ergriff. Denn er war kein Trottel und wusste genau, wie ungleich sie wirkten, zumindest in den Augen derjenigen, die die Welt nach Äußerlichkeiten beurteilten. Deswegen hatte ihn die Tatsache, dass sie ihn genauso häufig begehrte wie er sie, immer fasziniert. Dass er auf ihre Annäherungsversuche nicht reagiert hatte, war auch ein Zeichen. Das war noch nie vorgekommen.

Was Alatea schon am frühen Morgen in den Garten getrieben hatte, war also zum einen das Bedürfnis, sich zu beschäftigen und von den schrecklichen Möglichkeiten abzulenken, die ihr in der Nacht alle eingefallen waren. Zum anderen hatte sie Nicholas einfach nicht sehen wollen, denn das, was ihn bedrückte, würde über kurz oder lang ans Licht kommen, und damit, so fürchtete sie, würde sie nicht fertigwerden.

Es mussten mehrere tausend Zwiebeln in den Boden. Sie wollte über den ganzen Rasen verteilt Sternhyazinthen pflanzen, damit der ganze Hang sich zu Beginn des Frühjahrs in ein Meer aus Grün und Blau verwandelte, und das war eine Menge Arbeit, genau das, was sie jetzt brauchte. Natürlich würde sie an einem einzigen Vormittag nicht fertig werden, aber es war schon mal ein Anfang. Sie ging mit Schaufel und Spaten zu Werke, und die Stunden vergingen wie im Flug. Als sie sich ganz sicher war, dass ihr Mann das Haus verlassen hatte und zur Arbeit aufgebrochen war, legte sie das Gartenwerkzeug weg, richtete sich auf und rieb sich den schmerzenden Rücken.

Erst kurz bevor sie das Haus erreichte, sah sie Nicholas’ Auto in der Einfahrt stehen. Ihr Blick wanderte zum Haus, und die Angst kroch ihr in den Nacken.

Sie ging hinein. Er war in der Küche, saß an dem großen Eichentisch, tief in Gedanken versunken. Vor ihm standen die Kaffeekanne, eine Tasse und die Zuckerdose. Aber die Kaffeetasse schien unangerührt, und der Kaffee in der Kanne war längst kalt geworden.

Er war gar nicht für die Arbeit gekleidet, fiel ihr auf, sondern hatte sich nur den Morgenmantel, den sie ihm zum Geburtstag geschenkt hatte, über den Schlafanzug gezogen. Er saß mit nackten Füßen am Tisch, und die Kälte der Bodenfliesen schien ihm nicht das Geringste auszumachen. Das alles passte überhaupt nicht zu Nicholas, am allerwenigsten die Tatsache, dass er nicht zur Arbeit gegangen war.

Alatea wusste nicht, wie sie sich verhalten sollte. Sie griff ihr Gespräch vom Abend wieder auf.»Nicky«, sagte sie.»Wieso bist du denn noch zu Hause? Bist du krank?«

«Nein, ich musste nur nachdenken. «Als er sich zu ihr umdrehte, sah sie, dass seine Augen blutunterlaufen waren. Ein eisiger Schauder kroch ihr die Arme hoch und legte sich um ihr Herz.»Und hier kann ich das am besten«, fügte er hinzu.

Es widerstrebte ihr, die logische Frage zu stellen, aber sie nicht zu stellen, wäre allzu verräterisch gewesen.»Worüber musst du denn nachdenken? Was ist los?«

Er antwortete nicht gleich, sondern wandte sich ab. Sie schaute ihn unverwandt an. Er schien über ihre Frage nachzudenken und darüber, welche Antwort er ihr geben sollte. Dann sagte er:»Manette ist bei mir gewesen. In der Firma.«

«Gibt es Probleme in der Firma?«

«Nein, es geht um Tim und Gracie. Sie möchte, dass wir die Kinder zu uns nehmen.«

«Zu uns nehmen? Wie meinst du das?«

Er erklärte es ihr. Sie hörte ihm zu und hörte doch nichts, denn sie war viel zu sehr damit beschäftigt, seinen Ton zu interpretieren. Er redete von seinem Vetter Ian, von Ians Frau Niamh und von Ians Kindern. Alatea kannte sie natürlich alle, aber sie hatte nicht gewusst, wie Niamh zu ihren Kindern stand. Unvorstellbar, dass Niamh ihre eigenen Kinder auf diese Weise benutzen würde, wie Schachfiguren in einem Spiel, das längst beendet sein müsste. Bei dem Gedanken an Tim und Gracie kamen ihr fast die Tränen, und sie war entschlossen, etwas für die beiden zu tun, ebenso wie Nicholas es offenbar wollte. Doch dass ihm das den Schlaf raubte und ihn regelrecht krank machte? Er verschwieg ihr irgendetwas.

«Manette und Freddie sollten die Kinder zu sich nehmen«, sagte Nicholas.»Ich wäre mit Tims Problemen restlos überfordert, aber die beiden könnten damit umgehen. Manette würde mit der Zeit an Tim herankommen, ganz bestimmt. Sie gibt niemanden so schnell auf.«

«Das Problem ist also schon gelöst?«, fragte Alatea hoffnungsvoll.

«Manette und Freddie sind leider getrennt, was die Sache kompliziert macht«, sagte Nicholas.»Ihre derzeitige Lebenssituation ist eher merkwürdig und instabil. «Er füllte seine halbleere Tasse mit kaltem Kaffee, tat einen gehäuften Löffel Zucker hinein und rührte eine Weile schweigend um.»Und das ist sehr schade«, fuhr er schließlich fort,»denn die beiden gehören zusammen. Ich kann überhaupt nicht verstehen, warum sie sich getrennt haben. Aber sie haben nie Kinder bekommen, und vielleicht hat das die Ehe irgendwann zerstört.«

Gott, das war der entscheidende Punkt, dachte Alatea. Darauf lief es letztlich hinaus. Sie hatte schon immer geahnt, dass es so kommen würde, wenn nicht mit Nicholas, dann mit einem anderen.

«Vielleicht wollten sie ja keine Kinder«, sagte sie.»Manche Leute wollen lieber kinderlos bleiben.«

«Manche Leute ja, aber nicht Manette. «Er schaute sie an. Er wirkte verhärmt. Alatea sah ihm an, dass er ihr nicht die Wahrheit sagte. Sicher, Tim und Gracie brauchten dringend ein stabiles Zuhause, aber das war es nicht, was Nicholas bedrückte.

«Das ist nicht alles, stimmt’s?«, sagte sie und zog sich einen Stuhl heran.»Ich finde, du solltest mir alles erzählen, Nicky.«

Lange Zeit war es eine Stärke ihrer Beziehung gewesen, dass Nicholas ihr von Anfang an immer alles erzählt hatte. Er selbst hatte darauf bestanden, weil er bis dahin in einer Lügenwelt gelebt hatte, einer Welt, in der er immerzu und auf jede erdenkliche Weise nur darauf aus gewesen war, seinen Drogenkonsum zu verbergen. Wenn er ihr jetzt nicht alles sagte, dann würde das ihrer Ehe mehr schaden als das, was er ihr bis jetzt verschwiegen hatte, wie schlimm es auch sein mochte.

«Ich glaube, mein Vater denkt, ich hätte Ian umgebracht«, stieß Nicholas schließlich hervor.

Das war so meilenweit entfernt von dem, was Alatea erwartet hatte, dass es ihr die Sprache verschlug. Und was sie hätte sagen können, würde ihr auf Englisch nicht gelingen.

«Jemand von Scotland Yard ist hier, um die Umstände von Ians Tod zu untersuchen. In Anbetracht dessen, dass der Coroner seinen Tod als Unfall eingestuft hat, kann es nur einen Grund für die Anwesenheit von Scotland Yard geben. Mein Vater hat Beziehungen, die er spielen lassen kann, wenn es darauf ankommt, und ich nehme an, dass er genau das getan hat.«

«Unmöglich. «Alatea hatte einen trockenen Mund. Am liebsten hätte sie Nicholas’ Kaffee ausgetrunken, aber sie beherrschte sich, weil sie am ganzen Körper zitterte und viel zu viel Angst hatte, dass Nicholas es bemerkte.»Woher weißt du das, Nicky?«

«Dieser Journalist.«

«Was? Meinst du diesen Mann, der vor Kurzem hier bei uns war? Der angeblich einen Artikel über dich schreiben wollte?«

Nicholas nickte.»Er ist wieder da. Er hat’s mir erzählt. Jemand von Scotland Yard ist hier. Den Rest hab ich mir selbst zusammengereimt: Die sind hinter mir her.«

«Hat er das wirklich gesagt? Hat dieser Journalist das behauptet?«

«Nicht direkt. Aber wenn man bedenkt, was sich hier in letzter Zeit alles abspielt, ist es doch wohl offensichtlich.«

Irgendetwas sagte er ihr immer noch nicht, das sah Alatea ihm an.»Das glaube ich nicht«, entgegnete sie.»Du? Warum in aller Welt hättest du Ian etwas antun sollen? Und wieso sollte dein Vater auf so eine Idee kommen?«

Er zuckte die Achseln. Sie sah, dass ein Kampf in ihm tobte, den er ihr nicht offenbaren konnte. Verzweifelt überlegte sie, was es sein mochte und was es für sie beide bedeuten könnte. Er war zutiefst deprimiert oder zutiefst bedrückt oder zutiefst … irgendetwas.

Sie sagte:»Ich finde, du solltest mit deinem Vater reden. Und zwar auf der Stelle. Dieser Journalist meint es nicht gut mit dir, Nicky. Und jetzt taucht auch noch diese Frau hier auf, die behauptet, sie würde für eine Filmgesellschaft arbeiten, die gar nicht existiert … Du musst sofort mit deinem Vater sprechen. Du musst der Wahrheit auf den Grund gehen. Es ist die einzige Möglichkeit, Nicky.«

Er hob den Kopf. Seine Augen waren mit Tränen gefüllt. Ihr blieb fast das Herz stehen vor Liebe zu diesem Mann, dieser gequälten Seele, so gequält wie ihre eigene.»Also, ich habe mich auf jeden Fall dagegen entschieden, an diesem Dokumentarfilm mitzuwirken. Das habe ich dieser Frau übrigens bereits mitgeteilt, wir haben also eine Sorge weniger. «Er bemühte sich mit wenig Erfolg, sich ein Lächeln abzuringen. Es war ein schwacher Versuch, sie ein bisschen aufzumuntern, ihr zu sagen, dass alles gut werden würde.

Sie wussten beide, dass es eine Lüge war. Aber sie waren beide nicht bereit, sich das einzugestehen, ebenso wenig wie alles andere.

MILNTHORPE — CUMBRIA

«Man würde einen ziemlich großen Briefumschlag brauchen, um es ganz draufzukriegen«, verkündete Havers übers Handy.»Andererseits gibt’s vermutlich irgendeine spanische Abkürzung für den Namen. «Sie meinte den Namen der Stadt in Argentinien, die am ehesten als Alatea Vasquez del Torres’ Heimatort in Frage kam.»Santa María de la Cruz, de los Ángeles y de los Santos«, sagte sie.»Ein Kaff, das sich den Schutz sämtlicher Heiligen gesichert hat. Liegt wahrscheinlich in einem Erdbebengebiet, und die Einwohner hoffen, dass sie im Ernstfall vom lieben Gott persönlich gerettet werden.«

Lynley hörte, wie sie an einer Zigarette zog. Kein Wunder. Havers rauchte ohne Unterlass. Dann war sie also nicht im Yard. Und wenn doch, dann rief sie ihn aus dem Treppenhaus an, wo sie hin und wieder heimlich eine Zigarettenpause machte.»Was lässt Sie vermuten, dass es der richtige Ort ist, Barbara?«, fragte er. Dann sagte er zu St. James, der neben ihm am Healey Elliott lehnte:»Sie ist Alatea Fairclough auf der Spur.«

«Mit wem reden Sie, Sir?«, fragte Barbara irritiert.»Ich kann Dreiergespräche nicht ausstehen.«

«St. James ist hier. Ich schalte auf Lauthören, wenn ich rausfinde, wie das geht.«

«Das kriegen Sie sowieso nicht hin. Geben Sie das Ding lieber Simon, Sir.«

«Havers, ich bin kein kompletter …«

«Sir«, sagte sie mit einer Engelsgeduld. Es hatte keinen Zweck. Er reichte St. James das Handy. Der drückte zwei, drei Tasten, und schon ertönte Havers’ Stimme auf dem Parkplatz des Crow & Eagle.

«Der Bürgermeister«, sagte Havers.»Ich weiß, das ist ein Schuss ins Blaue, aber der Bürgermeister heißt Ésteban Vega de Vasquez, und seine Frau heißt Dominga Padilla del Torres de Vasquez. Ein interessantes Puzzlespiel, dachte ich. Auf jeden Fall stimmen ein paar von den Nachnamen mit denen von Alatea überein.«

«Das ist aber ziemlich weit hergeholt, Barbara.«

«Haben Sie das im Internet gefunden?«, wollte St. James wissen.

«Ja, und zwar nach stundenlanger Suche. Und weil alles auf Spanisch ist, hab ich auch nur geraten, dass der Typ der Bürgermeister ist. Er könnte genauso gut der örtliche Hundefänger sein, aber auf der Seite war ein Foto von ihm, und ich konnte mir nicht vorstellen, warum der Hundefänger irgendeinem die Rathausschlüssel übergeben sollte. Na ja, außer vielleicht an Barbara Woodhouse.«

«Die ist tot«, bemerkte Lynley.

«Egal. Auf der Homepage ist also ein Foto von ihm im Bürgermeisterstaat, auf dem er zusammen mit seiner Frau und noch jemand posiert. Was unter dem Foto stand, konnte ich natürlich nicht lesen, weil’s auf Spanisch war und una cerveza por favor alles ist, was ich auf Spanisch verstehe. Aber die Namen standen da, Ésteban und Dominga und so weiter. Das ist bisher unsere beste Spur, das Einzige, was auch nur halbwegs in Frage kommt.«

«Wir brauchen einen Übersetzer«, sagte Lynley.

«Was ist mit Ihnen, Simon? Ist Spanisch eins Ihrer vielen Talente?«

«Ich beherrsche leider nur Französisch«, sagte St. James.»Na ja, Latein auch, aber das wird uns auch nicht weiterhelfen.«

«Also, wir brauchen jedenfalls einen Übersetzer. Und wir brauchen einen, der uns erklärt, wie das bei denen da drüben mit den Nachnamen funktioniert, denn ich hab keine Ahnung und weiß auch nicht, wie ich’s rauskriegen soll.«

«Es hat irgendetwas mit den Vorfahren zu tun«, sagte Lynley.

«Ja, so weit war ich auch schon. Aber was? Hängen sie einfach immer weiter alle Namen aneinander? Also, da möchte ich jedenfalls keinen Reisepassantrag ausfüllen müssen, falls Sie verstehen, was ich meine.«

Lynley dachte über das Sprachproblem nach und überlegte, wer ihnen als Übersetzer dienen könnte. Natürlich gab es Leute im Yard, aber er wusste nicht, wie viele Leute er noch einweihen konnte, ohne dass Isabelle ihm auf die Schliche kam.

«Was ist mit Alatea Fairclough selbst?«, fragte er.»Wie passt sie in das Szenario dieses Ortes? Ich nehme an, Sie gehen davon aus, dass sie die Tochter des Bürgermeisters ist?«

«Ganz und gar nicht, Sir«, sagte Havers.»Der Bürgermeister und seine Frau haben fünf Söhne. «Sie zog geräuschvoll an ihrer Zigarette und blies den Rauch in ihr Handy. Im Hintergrund war Papierrascheln zu hören, sie blätterte also in ihrem Notizheft.»Carlos, Miguel, Ángel, Santiago und Diego«, fuhr sie fort.»Ich nehme jedenfalls an, dass es fünf Söhne sind, aber so wie die ihre Namen aneinanderhängen, könnte es sich natürlich auch um einen einzigen handeln.«

«Und wie passt Alatea da hinein?«

«So wie ich das sehe, könnte sie die Frau von einem der Söhne sein.«

«Eine Ehefrau auf der Flucht?«

«Klingt doch plausibel, oder?«

«Könnte sie nicht auch eine Verwandte sein?«, fragte St. James.»Eine Nichte, eine Kusine?«

«Auch möglich.«

«Haben Sie diese Möglichkeit überprüft?«

«Bisher noch nicht, kann ich aber machen. Leider kann ich nicht sehr tief in die Materie eindringen, weil das Zeug alles auf Spanisch ist, wie gesagt«, erinnerte sie ihn.»Im Yard gibt’s natürlich ein Übersetzungsprogramm. Sie wissen schon: irgendwo gut im Computer versteckt, wo Leute wie wir, die es tatsächlich brauchen könnten, es unmöglich finden. Ich könnte mal mit Winston reden, der kriegt bestimmt raus, wie das geht. Soll ich das machen?«

Lynley überlegte. Erneut fragte er sich, wie Isabelle Ardery reagieren würde, falls sie herausbekam, dass er ein weiteres Mitglied ihres Teams für seine Zwecke abgeworben hatte. Die Situation würde wahrscheinlich für alle Beteiligten unerfreulich ausfallen. Es musste eine andere Möglichkeit geben, die spanischen Texte übersetzen zu lassen. Warum es ihn überhaupt beschäftigte, wie Isabelle Ardery reagieren könnte, darüber wollte er lieber nicht weiter nachdenken. Früher hätte es ihn nicht im Geringsten interessiert, was ein Vorgesetzter über seine Vorgehensweise zu sagen hatte. Die Tatsache, dass er sich diesmal den Kopf darüber zerbrach, brachte ihn an den Rand eines Abgrunds, an den er sich in der derzeitigen Situation nicht heranwagen konnte.

«Es muss eine andere Möglichkeit geben, Barbara«, sagte Lynley.»Ich kann Winston nicht auch noch einweihen, dazu bin ich nicht befugt.«

Havers machte ihn nicht darauf aufmerksam, dass er auch nicht befugt gewesen war, sie einzuweihen, sondern sagte nur:»Hm … Ich könnte Azhar fragen.«

«Ihren Nachbarn? Spricht der Spanisch?«

«Das nicht, aber er kann fast alles andere«, antwortete Havers.»Er kann bestimmt jemanden an der Uni für mich organisieren, der Spanisch spricht, einen Professor oder einen Studenten. Schlimmstenfalls kann ich immer noch einen Spaziergang zum Camden Lock Market machen, mich unter die Touristen mischen — falls um diese Jahreszeit welche da sind —, die Ohren spitzen und ein spanischsprechendes Individuum ins nächste Internetcafé zerren, um mir das Zeug übersetzen zu lassen. Ich meine, es gibt Mittel und Wege, Sir. Wozu brauchen wir Winston?«

«Fragen Sie Azhar«, sagte Lynley und fügte hinzu:»Falls es Sie nicht in eine unangenehme Lage bringt.«

«Warum sollte mich das in eine unangenehme Lage bringen?«, fragte sie argwöhnisch.

Lynley antwortete nicht. Es gab Dinge, über die er und Havers nicht diskutierten, und dazu gehörte Barbaras Beziehung zu Taymullah Azhar.»Sonst noch etwas?«, fragte er.

«Bernard Fairclough. Er hat einen Schlüssel zu der Wohnung einer Frau namens Vivienne Tully. Ich war da, hab sie aber bisher noch nicht erwischt. Auf einem Foto, das ich aufgetrieben hab, sieht sie eher jung aus. Kleidet sich modisch, gute Haut, gute Figur, freche Frisur. Der Alptraum jeder Ehefrau, würd ich sagen. Bisher weiß ich nur, dass sie mal für ihn gearbeitet hat. Jetzt hat sie einen anderen Job in London, und sie steht auf Ballett, denn da war sie gestern Abend. Sie war entweder beim Ballettunterricht, oder sie hat sich eine Ballettaufführung angesehen. So genau weiß ich das leider nicht. Die Putzfrau sprach kein Englisch, und wir mussten uns mit Händen und Füßen verständigen. Ist Ihnen eigentlich schon mal aufgefallen, Sir, wie viele Leute in London heutzutage kein Englisch sprechen? Oder Ihnen, Simon? Ich komm mir allmählich so vor, als würd ich in der verdammten Lobby der Vereinten Nationen wohnen.«

«Fairclough hat einen Schlüssel zur Wohnung dieser Frau?«

«Romantisch, oder? Ich fahr heute noch mal nach Kensington und werd ihr ein bisschen auf den Zahn fühlen. Cresswells Testament muss ich mir auch noch vornehmen, dazu bin ich noch nicht gekommen.«

Das sei kein Problem, sagte Lynley. Sie seien bereits im Besitz der wichtigsten Informationen zu dem Thema. Es gebe eine Lebensversicherung, und die Witwe sei die Begünstigte. Und laut Aussage von Cresswells Lebensgefährten habe dieser das Haus geerbt. Es wäre jedoch sehr hilfreich, fuhr Lynley fort, wenn Havers diese Angaben auf ihren Wahrheitsgehalt überprüfen könne. Außerdem würde ihn interessieren, wann genau das Testament verfasst wurde. Ob sie sich darum kümmern könne?

Sie könne und sie werde, versicherte sie ihm.»Was ist mit den Kindern?«

«Cresswell ist offenbar davon ausgegangen, dass die von der Lebensversicherung profitieren. Was allerdings nicht der Fall zu sein scheint.«

Havers pfiff durch die Zähne.»Es lohnt sich immer, der Spur des Geldes zu folgen.«

«Genau.«

«Apropos«, sagte sie.»Dieser Typ von der Source — sind Sie dem schon über den Weg gelaufen?«

«Noch nicht«, sagte Lynley.»Warum?«

«Weil der auch nicht ganz koscher ist. Der war nämlich schon mehrmals da oben, und zwar zum ersten Mal drei Tage bevor Ian Cresswell ertrunken ist. So wie der unter Druck steht, seine Story aufzupeppen, könnte er doch auf die Idee kommen, einen Mord zu begehen.«

«Wir werden dem nachgehen«, sagte Lynley.»Aber um Cresswell umzubringen, hätte er unbemerkt aufs Grundstück gelangen, ins Bootshaus eindringen, die Steine lockern und wieder verschwinden müssen. Sagten Sie nicht, der Mann ist auffällig groß?«

«Fast zwei Meter. Eine Schnapsidee also?«

«Zumindest äußerst zweifelhaft, allerdings müssen wir im Moment alle Möglichkeiten in Betracht ziehen. «Lynley überlegte, wie wahrscheinlich es war, dass ein zwei Meter großer rothaariger Reporter den scharfen Augen von Mignon Fairclough entging. Das hätte nur in einer mondlosen Nacht passieren können, dachte er.

«Tja, wir haben also alle Hände voll zu tun«, sagte er. Aber bevor er das Gespräch beendete, musste er noch eine Frage stellen, auch wenn er nicht wusste, warum sie ihm auf den Nägeln brannte.»Schaffen Sie das eigentlich alles ohne Wissen von Superintendent Ardery? Glaubt sie immer noch, Sie seien in Urlaub? Sie sind ihr doch nicht in die Arme gelaufen, oder?«

Das Schweigen am anderen Ende der Leitung war ihm Antwort genug. Er wich St. James’ Blick aus und sagte:»Verdammt. Das macht alles komplizierter, als es ohnehin schon ist. Für Sie, meine ich. Tut mir leid, Barbara.«

«Die Chefin ist ein bisschen verspannt«, sagte sie leichthin.»Aber Sie kennen mich ja, Sir. Das bin ich gewöhnt.«

MILNTHORPE — CUMBRIA

Deborah konnte es überhaupt nicht leiden, mit ihrem Mann uneins zu sein. Das hatte einerseits mit dem großen Altersunterschied zwischen ihnen zu tun und andererseits mit seiner Behinderung und allem, was damit zusammenhing. Aber vor allem hatte es mit ihren unterschiedlichen Charakteren und ihrer unterschiedlichen Weltsicht zu tun. Simon ging Probleme mit Logik und bemerkenswerter Distanziertheit an, weshalb es nahezu unmöglich war, sich mit ihm zu streiten. Im Gegensatz zu ihm ließ sie sich nämlich von ihren Gefühlen leiten, und Schlachten zwischen Armeen unter dem Kommando von Kopf und Herz wurden immer von den Armeen gewonnen, deren Anführer der Kopf war. Häufig blieb ihr nichts anderes übrig, als ein Gespräch mit dem sinnlosen Satz zu beenden: Das verstehst du nicht.

Nachdem Simon gegangen war, setzte sie sich aufs Bett und tat, was getan werden musste. Sie rief seinen Bruder David an und teilte ihm ihre gemeinsame Entscheidung mit, wie sie sich ausdrückte.»Trotzdem bin ich dir sehr dankbar dafür, dass du dich so für uns eingesetzt hast, David«, sagte sie, und sie meinte es ernst.»Aber ich kann mich einfach nicht an den Gedanken gewöhnen, ein Kind mit seinen leiblichen Eltern zu teilen. Das ist der Grund, warum wir uns dagegen entschieden haben.«

Sie spürte, dass David enttäuscht war, und der Rest der Familie würde wahrscheinlich ebenfalls enttäuscht sein. Doch Simons Angehörige standen auch nicht vor der Frage, ob sie sich auf ein solches Abenteuer voller Unwägbarkeiten einlassen sollten.»Weißt du, Deborah«, hatte David geantwortet,»egal, auf welche Weise man sich auf ein Leben als Eltern einlässt, es ist immer ein Lotteriespiel. «Worauf sie entgegnet hatte:»Ja, das weiß ich doch. Trotzdem bleibt die Antwort dieselbe. Die Komplikationen, die das alles mit sich bringen würde … Ich könnte einfach nicht damit umgehen.«

Es war also vorbei. In ein, zwei Tagen würde die schwangere junge Frau mit einem anderen adoptionswilligen Paar in Verhandlungen treten. Deborah war froh, dass sie die Entscheidung getroffen hatte, und gleichzeitig war sie untröstlich. Simon würde alles andere als erfreut sein, aber sie sah einfach keine andere Möglichkeit. Sie mussten sich etwas anderes überlegen.

Sie wusste, dass Simon die Vorstellung, eine Leihmutter anzuheuern, zutiefst widerstrebte. Eigentlich hatte sie gedacht, dass diese Lösung ihm als Wissenschaftler entgegenkommen würde. Doch er hatte die Wunder der modernen Medizin schlichtweg als» entmenschlichend «bezeichnet. Sich in einer Arztpraxis mit einem sterilen Reagenzglas auf der Toilette einzuschließen, um seinen Anteil beizusteuern … Dann mussten noch ihre Eizellen geerntet werden, ein Eingriff, der nicht ungefährlich war. Und schließlich musste die richtige Leihmutter gefunden und die ganze Schwangerschaft über betreut werden.

Wer soll das sein? hatte Simon vernünftigerweise gefragt. Und wie erfährt man alles über die Person, was man wissen will?

Die Leihmutter sei nur ein Uterus, den sie mieten würden, hatte Deborah ihm erklärt.

«Wenn du im Ernst glaubst, dass es damit getan ist«, hatte Simon geantwortet,»dann bist du sträflich naiv. Wir mieten schließlich kein leeres Zimmer in ihrem Haus, um darin vorübergehend ein paar Möbel zu lagern, Deborah. Es geht um neues Leben, das in ihrem Körper wachsen wird. Anscheinend gehst du davon aus, dass sie das in keiner Weise berührt.«

«Wir werden einen Vertrag machen, Herrgott noch mal. Hier in der Zeitschrift ist ein Artikel …«

«Diese Zeitschrift solltest du schleunigst in den Mülleimer werfen.«

Aber Deborah hatte die Zeitschrift nicht weggeworfen. Sie hatte David angerufen, und anschließend hatte sie sich die Ausgabe von Conception vorgenommen, die Barbara Havers ihnen per Übernachtexpress geschickt hatte. Sie hatte die Fotos betrachtet, auf denen die sechsmalige Leihmutter mit den glücklichen Familien abgebildet war, denen sie zu Nachwuchs verholfen hatte. Sie hatte den Artikel noch einmal gelesen. Dann hatte sie die Werbeanzeigen im hinteren Teil der Zeitschrift studiert.

Alles, was mit Fortpflanzung zu tun hatte, war in einer Art Preisliste aufgeführt, stellte sie fest, aber abgesehen von dem Artikel im Heft gab es keine Anzeigen zum Thema Leihmutterschaft. Nachdem sie bei einer Rechtsberatungsstelle angerufen hatte, deren Nummer am Schluss des Artikels angegeben war, wusste sie auch, warum. Sich als Leihmutter anzubieten, war illegal. Eine Frau, die als Leihmutter in Frage kam, musste man sich selbst suchen. Am besten eine Verwandte, erklärte man ihr. Haben Sie vielleicht eine Schwester, Madam? Eine Kusine? Es komme auch vor, dass Mütter ein Kind für ihre Töchter austrugen. Wie alt ihre Mutter sei?

Gott, alles war so kompliziert, dachte Deborah. Sie hatte keine Schwester, ihre Mutter war tot, sie war das einzige Kind zweier Einzelkinder. Simons Schwester käme vielleicht in Frage, aber sie konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass die verrückte Sidney — die derzeit mit einem Söldner liiert war — ihren Eine-Million-Dollar-Körper zur Verfügung stellen würde, um ihrem Bruder zu einem Kind zu verhelfen. Geschwisterliebe hatte ihre Grenzen, und Deborah glaubte zu wissen, wo sie endete.

In dieser Angelegenheit war der Gesetzgeber nicht ihr Freund. Alles andere, wofür im Zusammenhang mit Fortpflanzung geworben wurde, war offenbar legal — von Kliniken, in denen man gegen Geld Eizellen spenden konnte, bis hin zu lesbischen Paaren, die nach einem Samenspender suchten. Es gab sogar Anzeigen von Gruppen, die potentielle Ei- bzw. Samenspender von ihrem Vorhaben abzubringen trachteten, sowie Beratungsstellen für Spender, Empfänger und alle anderen Beteiligten. Außerdem existierte ein telefonischer Hilfsdienst, bei dem man sich über Ärzte, Krankenschwestern, Kliniken und Hebammen informieren konnte. Die Angebote und Möglichkeiten waren so zahlreich, dass Deborah sich nicht gewundert hätte, wenn sie unter den Kleinanzeigen eine entdeckt hätte, die nur ein Wort enthielt, nämlich HILFE!

Dieser Gedanke erinnerte sie daran, wie sie überhaupt auf die Zeitschrift aufmerksam geworden war und warum sie Barbara gebeten hatte, ihr diese Ausgabe zu schicken: Weil Alatea genau diese Seiten, die Deborah jetzt den Seelenfrieden raubten, herausgerissen hatte. Nachdem diese Anzeigen sie selbst in einen derartigen inneren Aufruhr versetzt hatten, konnte sie sich schon viel besser vorstellen, was in Alatea vorgegangen sein könnte. Was, wenn Alatea ebenfalls wusste, dass sie nie ein Kind würde austragen können? Was, wenn sie sich bisher noch nicht getraut hatte, ihrem Mann dies zu sagen? Was, wenn sie genauso wie Deborah in Erwägung zog, nach einer Leihmutter zu suchen? Alatea lebte in England, weit weg von ihrer Heimat, weit weg von Freundinnen oder Verwandten, die sich erbieten könnten, ihr diesen Liebesdienst zu erweisen … Gab es eine Frau, an die sie sich wenden konnte? Eine Frau, die bereit wäre, das Kind von Alatea und Nicholas Fairclough auszutragen?

Deborah dachte darüber nach. Verglich Alateas Situation mit ihrer eigenen. Sie hatte Sidney St. James, auch wenn sie als Kandidatin schwerlich in Frage kam. Aber wen hatte Alatea?

Es gab eine Möglichkeit, dachte sie, eine, die zu dem passen würde, was im Bootshaus von Ireleth Hall vorgefallen war. Sie musste unbedingt mit Simon darüber reden. Und mit Tommy.

Sie sprang auf. Simon war schon vor einer ganzen Weile zu seinem Spaziergang aufgebrochen. Auf dem Weg die Treppe hinunter gab sie Simons Nummer in ihr Handy ein. Er unterhalte sich mit Tommy auf dem Parkplatz, sagte er ihr. Sie wollten gerade aufbrechen …

Sie bat ihn zu warten und Tommy ebenfalls. Sie wolle mit ihnen beiden sprechen.

Dann wurde sie jedoch von Nicholas Fairclough aufgehalten. Er war der Letzte, mit dem sie in der Eingangshalle des Crow & Eagle gerechnet hatte, aber offenbar hatte er auf sie gewartet. Als er sie erblickte, stand er auf und kam ihr entgegen.»Dachte ich mir, dass ich Sie hier finden würde«, sagte er. Es klang, als hätte sie versucht, sich vor ihm zu verstecken, und sie machte ihn darauf aufmerksam.

«Verstehe«, entgegnete er.»Unter aller Augen lässt es sich am besten verstecken.«

Sie runzelte die Stirn. Er wirkte völlig verändert. Sein sonst so engelhaftes Gesicht wirkte verhärmt, und er war unrasiert. Dunkle Ringe unter seinen Augen deuteten darauf hin, dass er kaum geschlafen hatte. Und von seiner Freundlichkeit und Liebenswürdigkeit war keine Spur mehr übrig.

«Hören Sie«, sagte er ohne Umschweife.»Ich weiß, wer Sie in Wirklichkeit sind. Und Sie sollen eins wissen: Ich habe Ian nichts getan. Ich hätte ihm nie ein Haar krümmen können. Die Tatsache, dass mein Vater das Gegenteil befürchtet, sagt Ihnen etwas über den Zustand unserer Familie, aber sonst gar nichts. Und Sie …«Er stieß mit dem Finger nach ihr, ohne sie jedoch zu berühren.»… machen gefälligst, dass Sie von hier verschwinden. Kehren Sie nach London zurück. Hier gibt es nichts für Sie zu erfahren. Ihre verdammten Ermittlungen sind beendet. Und lassen Sie meine Frau in Frieden, kapiert?«

«Sind Sie …«

«Scheren Sie sich zum Teufel!«Er machte einen Schritt zurück, dann drehte er sich auf dem Absatz um und ließ sie stehen.

Deborah stand da wie erstarrt. Das Herz schlug ihr bis zum Hals, und das Blut rauschte ihr in den Ohren. Für diesen Auftritt gab es nur eine Erklärung. Aus unerfindlichen Gründen hielt Nicholas Fairclough sie für den Scotland-Yard-Detective, der nach Cumbria gekommen war, um den Tod seines Vetters zu untersuchen.

Es gab nur eine Möglichkeit, wie er zu diesem Schluss gelangt sein konnte, und die hatte sie mit ihrer Digitalkamera festgehalten.

MILNTHORPE — CUMBRIA

Kurz nach seiner flüchtigen Begegnung mit Nicholas Fairclough auf dem Marktplatz am Tag zuvor hatte Zed Benjamin sich hinter einem der vielen Stände verdrückt, so dass er von dem Café aus, wo Nicholas Fairclough sich mit der Frau von Scotland Yard getroffen hatte, nicht zu sehen war. Nachdem Fairclough das Café verlassen hatte, brauchte er nicht lange zu warten, bis auch die Frau herauskam, und es war ein Kinderspiel gewesen, ihr zum Crow & Eagle zu folgen. Am nächsten Morgen hatte Zed in aller Frühe in der Filiale der NatWest Posten bezogen und stundenlang hinter dem Geldautomaten gestanden, das Hotel beobachtet und darauf gewartet, dass die Frau herauskam. Die Aktion hatte ihm reichlich misstrauische Blicke von Bankkunden und ungehaltene Worte von Leuten beschert, die den Geldautomaten benutzen wollten. Eine alte Frau hatte ihn ziemlich unsanft weggeschubst und gezetert:»Weg da, du Mistkerl, sonst ruf ich die Polizei … Deine Sorte kenn ich!«Die Lage war also brenzlig geworden, und er hatte nur noch hoffen können, dass die Frau von Scotland Yard sich bald blicken ließ, wenn er nicht wegen verdächtigen Herumlungerns verhaftet werden wollte.

Am Morgen hatte er wie immer mit Yaffa telefoniert, und das Gespräch ging ihm nicht mehr aus dem Kopf. Sie hatte seine Kussgeräusche nicht erwidert, weil seine Mutter nicht in der Nähe gewesen war und die Notwendigkeit, ihr das verliebte Paar vorzuspielen, sich erübrigt hatte. Außerdem gab es anscheinend neuerdings Probleme mit Micah in Tel Aviv, der es leid war, Yaffas Bruder Ari zu spielen. In einem Gespräch mit Micah hatte Yaffa Zed als attraktiv bezeichnet. Micah habe nicht besonders erfreut reagiert, trotz all ihrer Beteuerungen, dass es nichts zu bedeuten habe. Und während Zed noch darüber nachdachte, dass sie im Zusammenhang mit ihm das Wort attraktiv benutzt hatte, hatte sie ihm erklärt, sie müsse sich wahrscheinlich ein anderes Zimmer suchen, denn Micah sei total aus dem Häuschen. Sie fürchte, hatte sie Zed erklärt, dass Micah vor lauter Sorge, dass sie ihn nicht mehr liebte, sein Studium vernachlässigen könnte. Und das könne sich ein Medizinstudent nun wirklich nicht leisten. Aber er wisse ja sicherlich, was Eifersucht mit Männern mache …

In Wirklichkeit hatte Zed keine Ahnung, was Eifersucht mit Männern machte, denn bisher hatte er sich noch nie auf eine Beziehung mit einer Frau eingelassen.

Yaffa hatte ihm erklärt, sie glaube, sie könne ihren Verlobten noch eine Zeitlang beschwichtigen, allerdings nicht mehr lange. Dann würde sie entweder umziehen oder nach Tel Aviv zurückkehren müssen.

Zed hatte nicht gewusst, was er dazu sagen sollte. Er konnte sie kaum anflehen, noch zu bleiben. Ja, er wusste nicht einmal, wie er überhaupt auf die Idee kam, sie anzuflehen, damit sie blieb. Und doch hatte ihm am Ende des Gesprächs genau das auf der Zunge gelegen und nicht etwa ein gutgelauntes Gute Reise! Und das hatte ihn doch sehr gewundert.

Aber sie hatte sowieso aufgelegt, ehe er dazu gekommen war, das eine oder das andere auszusprechen. Am liebsten hätte er noch einmal angerufen, um ihr zu sagen, dass sie ihm schrecklich fehlen würde, damit sie seine Sprachlosigkeit nicht dahingehend interpretierte, dass es ihm egal wäre, wenn sie nach Israel zurückkehrte. Die Telefongespräche mit ihr gefielen ihm so sehr, dass er ihnen regelrecht entgegenfieberte, ja, er hatte das Gefühl, dass sie genau die Frau war, die … Nein, so weit durfte er nicht denken. Was für eine Schande, dachte er. Er würde sich damit abfinden müssen, dass sie wie Romeo und Julia waren, und fertig.

Zed war so vertieft in seine Gedanken an Yaffa und Micah und die Ironie des Schicksals, das ihn über die perfekte Frau stolpern ließ, die nur dummerweise mit einem anderen verlobt war, dass er, als Nick Fairclough das Hotel Crow & Eagle betrat, nicht sofort begriff, was für eine wichtige Beobachtung er da gerade machte. Er dachte lediglich, ach, da kommt ja Nick Fairclough, schob sich die Mütze ein bisschen tiefer ins Gesicht und zog die Schultern ein, um weniger aufzufallen. Erst als Nick Fairclough kurz darauf wieder aus dem Hotel stürmte, noch dazu mit versteinerter Miene, zählte Zed zwei und zwei zusammen, und das ergab: Fairclough plus Scotland-Yard-Detective gleich wichtiges Ereignis.

Dann kam die Polizistin aus dem Hotel. Sie telefonierte auf ihrem Handy. Eine Polizistin, die auf ihrem Handy telefonierte, bedeutete, dass neue Entwicklungen stattfanden. Fairclough war gegangen, und die Polizistin folgte ihm. Zed musste den beiden folgen.

Sein Auto stand ganz in der Nähe, und er rannte los, als die rothaarige Frau um das Hotel herumging, zweifellos zu ihrem Auto. Er ließ den Motor an und wartete darauf, dass sie auftauchte. Sie würde nirgendwo hinfahren, ohne dass er ihr auf den Fersen blieb.

Er zählte die Sekunden. Aus den Sekunden wurden Minuten. Was war passiert? Hatte sie Probleme mit dem Auto? Einen Platten? Wo zum Teufel steckte sie …?

Schließlich fuhr ein Wagen vom hinter dem Hotel gelegenen Parkplatz, aber es war kein Mietwagen, und die Frau saß nicht am Steuer. Es war ein kupferfarbener, sündhaft teurer Oldtimer, und am Steuer saß ein Typ, der vollkommen entspannt wirkte, um nicht zu sagen gutbetucht, denn wie sonst hätte er sich einen solchen Schlitten leisten können? Ein Hotelgast, schloss Zed scharfsinnig. Der Typ fuhr in Richtung Norden.

Etwa drei Minuten später fuhr wieder ein Auto vom Hotelparkplatz, und Zed legte den ersten Gang ein. Aber auch diesmal saß ein Mann am Steuer, ein Typ mit grimmiger Miene und schwarzem Haar, der sich den Kopf rieb, als versuchte er, eine Migräne loszuwerden.

Dann endlich sah er die Frau. Aber sie kam zu Fuß. Diesmal sprach sie nicht in ihr Handy, und sie wirkte ernst und entschlossen. Zuerst dachte Zed, sie wollte zum Marktplatz, wo es reichlich Cafés gab, in denen man sich mit jemandem treffen konnte. Aber stattdessen ging sie zurück ins Hotel.

Zed traf seine Entscheidung im Bruchteil einer Sekunde. Er schaltete den Motor aus und rannte hinter ihr her. Er konnte sie bis ans Ende der Welt verfolgen, sagte er sich, oder aber er konnte den Stier jetzt bei den Hörnern packen und ein Tänzchen mit ihm wagen.

Entschlossen betrat er das Hotel.

MILNTHORPE — CUMBRIA

Deborah war so wütend auf Simon, dass sie das Gefühl hatte, sie könnte gleich platzen.

Als sie mit der Kamera in der Hand auf den Parkplatz gekommen war, hatte sie Simon im Gespräch mit Tommy angetroffen. Dass Tommy da war, hatte sie als großen Glücksfall empfunden, denn der würde auf ihrer Seite stehen, und sie brauchte unbedingt einen Verbündeten.

Sie hatte den beiden ganz kurz geschildert, was vorgefallen war: dass Nicholas Fairclough ihr im Hotel aufgelauert hatte, dass er über die Anwesenheit eines Detectives von Scotland Yard informiert war, der Ian Cresswells Tod untersuchte, dass er ausgerechnet sie, Deborah, für den Detective hielt, der in seinem Leben herumschnüffelte.»Es gibt nur eine Möglichkeit, wie er auf die Idee gekommen sein kann«, sagte sie und hielt den beiden Männern das Foto unter die Nase, das sie am Tag zuvor geschossen hatte: Es zeigte einen großen, rothaarigen Mann, der sich auf dem Marktplatz mit Nicholas Fairclough unterhielt.

«Danach«, sagte sie,»wollte Nicholas plötzlich nichts mehr mit mir zu tun haben. Wir hatten vor, nach Barrow zu fahren, aber auf einmal war er dazu nicht mehr bereit. Und jetzt eben war er völlig außer sich … Es ist doch klar, was das bedeutet, oder?«

Tommy betrachtete das Foto.»Das ist der Journalist von der Source«, sagte er.»Barbara hat ihn mir beschrieben. Groß, rothaarig. Ich kann mir nicht vorstellen, dass zwei Männer, auf die diese Beschreibung passt, hier in Cumbria herumschleichen und sich für Nicholas Fairclough interessieren.«

Das wird ja immer besser, hatte Deborah gedacht.»Tommy, wir können diesen Mann benutzen«, sagte sie.»Irgendetwas stimmt doch nicht mit diesen Leuten hier, und er hat Wind davon bekommen, sonst wäre er nicht hergekommen. Ich nehme Kontakt mit ihm auf. Dann wird er denken, er hätte einen direkten Draht zur Polizei. Wir können …«

«Deborah«, hatte Simon gesagt. Es war sein Ton, der sie wahnsinnig machte, dieser Ton, der sagte, wir müssen sie beruhigen.

«Ich weiß nicht, Deb«, hatte Tommy gesagt und weggesehen. Sie fragte sich, ob er über das nachdachte, was sie eben gesagt hatte, oder ob er überlegte, wie er vom Parkplatz verschwinden konnte, bevor sie und Simon sich in die Wolle gerieten. Denn niemand kannte Simon so gut wie Tommy. Er wusste genau, was Deborah bedeutete, wenn Simon ihren Namen in diesem Ton aussprach. Zugegeben, manchmal hatte Simon ja recht, wenn er sich um sie sorgte, aber diesmal sah sie überhaupt keine Veranlassung dazu.

«Das ist doch die Gelegenheit für uns, Tommy«, hatte sie gesagt.

Worauf er entgegnet hatte:»Barbara hat mir mitgeteilt, dass der Journalist drei Tage vor Cresswells Tod schon einmal hier war, Deb. Er wurde hierhergeschickt, um eine Geschichte über Nicholas Fairclough ein bisschen aufzupeppen.«

«Und?«

«Das ist doch offensichtlich, Deborah«, hatte Simon sich eingeschaltet.»Es besteht durchaus die Möglichkeit, dass der Mann …«

«Also, ihr könnt doch nicht allen Ernstes annehmen, dass er, um seiner Story ein bisschen Pfeffer zu verleihen, auf die Idee gekommen ist, einen Verwandten seiner Hauptfigur um die Ecke zu bringen. Das ist doch vollkommen absurd. «Als beide gleichzeitig ansetzten, etwas darauf zu entgegnen, hatte sie abwehrend eine Hand gehoben.»Nein. Moment. Hört mir zu. Ich habe über diese Sache nachgedacht. Es gibt einiges, was ihr nicht wisst. Und zwar über Nicholas Faircloughs Frau.«

Zum Glück kannten die beiden weder Alatea noch Nicholas Fairclough.

«Barbara ist gerade dabei, Alatea Fairclough zu überprüfen, Deb«, sagte Tommy.

«Das mag ja sein«, entgegnete sie,»aber sie weiß nicht alles. «Dann berichtete sie, was Alatea Fairclough zu verbergen hatte.»Nicholas sagt, es müssen irgendwo Fotos von ihr existieren. Sie hat mal eine Zeitlang als Model gearbeitet, aber sie möchte nicht, dass jemand davon erfährt. Nicholas hat sie natürlich alles erzählt, sonst weiß jedoch niemand in der Familie davon. Nicholas hat von ›sexy Dessous‹ gesprochen, und ich denke, wir wissen alle, was damit gemeint ist.«

«Und zwar?«, fragte Simon. Er bedachte sie mit diesem Blick — ernst und wissend und sorgenvoll.

Verflixt und zugenäht, dachte Deborah.»Das kann alles von Lack und Leder für die Sado-Maso-Szene bis hin zu Pornografie bedeuten, Simon. Da sind wir uns doch sicher einig, oder?«

«Da hast du natürlich recht«, sagte Tommy.»Barbara kümmert sich darum, Deb. Die kriegt das schon hin.«

«Aber das ist noch nicht alles, Tommy. «Deborah wusste, dass Simon nicht begeistert sein würde, wenn sie das Thema anschnitt, doch es musste sein, denn es hatte garantiert etwas mit Ian Cresswell zu tun.»Es geht um das Thema Leihmutterschaft.«

Daraufhin war Simon tatsächlich erblasst. Wahrscheinlich dachte er, sie wolle dieses äußerst sensible und persönliche Thema, das für Streit und Kummer zwischen ihnen sorgte, aufbringen, solange Tommy dabei war und als Schiedsrichter fungieren konnte.»Nicht das«, sagte sie zu ihm.»Ich halte es für möglich, dass Alatea kein Kind austragen kann. Oder dass sie sonst irgendwelche Probleme damit hat, schwanger zu werden. Ich glaube jedenfalls, dass sie auf der Suche nach einer Leihmutter ist und dass es sich bei der Leihmutter um Ian Cresswells Frau Niamh handeln könnte.«

Simon und Tommy sahen einander an. Aber sie hatten Niamh Cresswell noch nie gesehen, und deswegen erklärte Deborah es ihnen: Nicholas Fairclough wünschte sich ein Kind, Alatea besaß eine Ausgabe der Zeitschrift Conception, aus der die Seiten mit den Anzeigen herausgerissen waren, Niamh Cresswell, die ihren Mann verloren hatte und auf der Suche nach einem Neuen war, hatte sich offensichtlich diversen Schönheitsoperationen unterzogen.»Brustvergrößerung wird nicht von der Krankenkasse bezahlt«, sagte Deborah.»Irgendwie muss sie das also finanzieren. Und für Alatea ein Kind auszutragen, wäre die perfekte Lösung. Es ist zwar verboten, sich gegen Bezahlung als Leihmutter zur Verfügung zu stellen, aber da es sich um eine Familienangelegenheit handelt, wird niemand erfahren, ob Geld im Spiel war. Nicholas und Alatea werden es bestimmt niemandem auf die Nase binden. Niamh kriegt also das Kind der beiden, übergibt es ihnen, erhält ein hübsches Sümmchen dafür, und das war’s.«

Simon und Tommy schwiegen. Tommy betrachtete seine Schuhe. Als Nächstes würden sie ihr erklären, sie sei nicht ganz bei Trost — Gott, wie gut sie die beiden kannte —, aber sie kam ihnen zuvor.»Oder vielleicht ist es ja noch viel besser. Vielleicht weiß Nicholas Faiclough ja gar nichts von der Vereinbarung, und Alatea hat vor, die ganze Schwangerschaft vorzutäuschen. Sie ist ziemlich groß, und bei ihrer Figur ist es gut möglich, dass sie erst ganz spät einen dicken Bauch bekommt. Niamh verschwindet für ein paar Monate, und kurz vor der Geburt fährt Alatea zu ihr. Sie denken sich irgendeinen Vorwand aus und …«

«Gott, Deborah. «Simon rieb sich die Stirn, während Tommy von einem Fuß auf den anderen trat.

Tommy trug immer Lobbs-Schuhe, dachte Deborah. Die mussten ein Vermögen gekostet haben, aber die hielten natürlich auch ewig, und wahrscheinlich besaß er die, die er anhatte, schon seit er fünfundzwanzig war. Sie hatten natürlich keinerlei Schrammen. Charlie Denton, Tommys Butler oder Kammerdiener oder Stallmeister oder was auch immer der Mann in Tommys Leben darstellte, würde schon dafür sorgen, dass die Schuhe makellos blieben. Aber sie waren eingetragen und bequem, wie zwei alte Freunde …

Sie merkte, dass Simon mit ihr redete, und plötzlich wurde ihr bewusst, dass sie absichtlich die Ohren zugeklappt hatte. Er dachte bestimmt, dass das alles mit ihr zu tun hatte, mit ihnen beiden, mit der Diskussion um das bescheuerte Thema offene Adoption, denn er konnte ja nicht ahnen, dass dieses Thema für sie längst beendet war, und deswegen entschloss sie sich kurzerhand, ihn jetzt gleich darüber aufzuklären.

«Ich habe übrigens David angerufen«, sagte sie.»Ich habe ihm abgesagt. Endgültig. Ich kann damit nicht umgehen, Simon.«

Simons Kiefermuskeln bewegten sich. Das war alles.

Deborah wandte sich an Tommy.»Nehmen wir also mal an, Ian Cresswell hat irgendwie von dem Arrangement erfahren. Er protestiert. Er sagt, dass es schon genug gibt, woran ihre Kinder zu knabbern haben, und er findet, man kann ihnen nicht auch noch zumuten, dass ihre Mutter ein Kind für die Frau des Vetters ihres Vaters austrägt. Er ist davon überzeugt, dass das zu viel Verwirrung stiftet, und spricht ein Machtwort.«

«Die beiden sind geschieden«, gab Tommy vorsichtig zu bedenken.

«Seit wann bedeutet das, dass zwei Menschen aufhören, einander zu kontrollieren? Nehmen wir mal an, er geht zu Nicholas. Er redet auf ihn ein. Nicholas weiß Bescheid oder auch nicht, egal, auf jeden Fall nützt all sein Reden nichts, und er kündigt an, dass er mit Nicholas’ Vater sprechen wird. Aber dass Bernard Fairclough in die Sache hineingezogen wird, ist das Allerletzte, was alle Beteiligten wollen. Er hat Nicholas von Anfang an für einen Versager gehalten. Und jetzt das, ein Streit, der die Familie entzweit …«

«Es reicht«, fiel Simon ihr ins Wort.»Ich meine es ernst. Es reicht.«

Sein väterlich strenger Ton traf sie wie ein elektrischer Schlag. Sie sah ihn entgeistert an.»Was hast du gerade zu mir gesagt?«

«Man braucht nicht Freud zu sein, um zu verstehen, wo das alles herkommt, Deborah.«

Blanke Wut überkam sie. Sie öffnete den Mund, um etwas zu entgegnen, doch er kam ihr zuvor.

«Das sind doch Hirngespinste. Es wird Zeit, dass wir nach London zurückkehren. «Er wandte sich an Lynley.»Ich habe getan, was ich konnte, und wenn wir das Bootshaus nicht noch einmal unter die Lupe nehmen wollen, würde ich sagen, dass Ian Cresswells Tod genau das war, als was er bisher erschienen ist.«

Dass er sie so abservieren würde … Zum ersten Mal in ihrem Leben hätte Deborah ihrem Mann am liebsten eine gescheuert. Zügle dich, Deborah, zügle dich, hätte ihr Vater gesagt, doch ihr Vater war auch noch nie so wenig ernst genommen worden von dem Mann, der vor ihr stand. Gott, er war unerträglich, dachte sie. Total aufgeblasen. Und dermaßen selbstgerecht. Er war immer so selbstsicher, so von sich überzeugt, kehrte immer den verdammten Wissenschaftler heraus, dabei hatten manche Dinge weder etwas mit Wissenschaft zu tun noch mit Forensik, Mikroskopen, Blutflecken, Computeranalysen, Diagrammen, Kurven, dieser verblüffenden Maschinerie, mit der man von einem einzelnen Wollfaden auf den Hersteller und das Schaf und die Farm auf den Hebriden schließen konnte, auf der das Schaf geboren war. Sie hätte laut schreien können. Ihm die Augen auskratzen, ihn …

«Sie hat nicht ganz unrecht, Simon«, sagte Tommy.

Simon schaute seinen alten Freund an, als hätte der den Verstand verloren.

«Ich bezweifle nicht, dass es zwischen Nicholas und seinem Vetter böses Blut gegeben hat«, sagte Lynley.»Und mit Bernard stimmt auch irgendetwas nicht.«

«Einverstanden«, sagte Simon.»Aber die Vorstellung, dass Ian Cresswells Witwe …«Mit einer Handbewegung wischte er die Implikation weg.

Dann sagte Tommy:»Aber wenn das, was du sagst, stimmt, Deb, dann ist es zu gefährlich.«

«Aber …«

«Du hast gute Arbeit geleistet, Simon hat allerdings recht. Ihr solltet nach London zurückfahren. Ab jetzt übernehme ich. Ich kann nicht zulassen, dass du dich in Gefahr begibst. Das weißt du.«

Er meinte viel mehr als das, und das wussten sie alle drei. Sie und Tommy waren einmal ein Paar gewesen, und selbst wenn nicht, würde er niemals zulassen, dass sie sich auch nur in die Nähe einer Gefahr begab, die dazu führen konnte, dass Simon sie verlor, so wie Tommy seine Frau verloren hatte.

«Es ist nicht gefährlich«, sagte sie tonlos.»Das weißt du genau, Tommy.«

«Wenn es um Mord geht, ist immer Gefahr im Spiel.«

Nach diesen Worten hatte er sich umgedreht und sie mit Simon allein auf dem Parkplatz stehen gelassen.

«Es tut mir leid, Deborah«, hatte Simon gesagt.»Ich weiß, dass du nur helfen willst.«

«Ach ja, weißt du das?«, hatte sie verbittert geantwortet.»Tu doch nicht so, als wolltest du mich nicht bestrafen.«

«Bestrafen? Für was denn?«Er tat tatsächlich so, als wäre er überrascht.

«Weil ich David abgesagt habe. Weil ich unser kleines Problem nicht mit dem Wörtchen Ja gelöst habe. Das wolltest du doch, eine schnelle Lösung. Ohne auch nur einen einzigen Gedanken daran zu verschwenden, wie es mir damit gehen würde, wenn mich in Zukunft sämtliche leiblichen Angehörigen unseres Kindes andauernd beobachten würden, um zu sehen, was für eine Mummy ich bin …«Vor lauter Wut standen ihr die Tränen in den Augen.

«Das hat nichts mit deinem Anruf bei David zu tun«, sagte Simon.»Wenn du dich entschieden hast, dann akzeptiere ich das. Was soll ich sonst tun? Ich hätte mir vielleicht etwas anderes gewünscht, aber …«

«Und nur das zählt. Es ist das, was immer zählt. Deine Wünsche. Nicht meine. Denn wenn ich mich mit meinen Wünschen durchsetzen würde, dann würde das Machtverhältnis sich umkehren, und das wollen wir doch nicht, oder?«

Er wollte sie in den Arm nehmen, aber sie wich vor ihm zurück.»Geh und tu deine Arbeit«, sagte sie.»Wir haben schon genug gesagt.«

Er wartete einen Moment ab. Er schaute sie an, aber sie konnte seinen Blick nicht erwidern. Sie hätte es nicht ertragen, den Schmerz in seinen Augen zu sehen und zu wissen, wie weit dieser Schmerz in die Vergangenheit zurückreichte.

Schließlich sagte er:»Wir reden später weiter. «Dann ging er zu seinem Wagen. Einen Augenblick später war er fort, irgendwohin gefahren, wo er etwas zu tun hatte. Was auch immer das sein mochte. Es interessierte Deborah nicht im Geringsten.

Sie riss sich aus ihren Gedanken und ging um das Hotel herum. Kaum hatte sie die Eingangshalle betreten, hörte sie jemanden hinter sich rufen:»Moment, warten Sie! Wir beide müssen miteinander reden!«Als sie sich umdrehte, kam ausgerechnet der rothaarige Hüne durch die Tür. Ehe sie dazu kam, etwas zu erwidern, fuhr er fort:»Ihre Tarnung ist aufgeflogen. Das kann morgen auf der Titelseite der Source erscheinen, oder wir können einen Deal aushandeln. Sie haben die Wahl.«

«Was für ein Deal?«, fragte Deborah.

«Die Art Deal, die dafür sorgt, dass wir beide bekommen, was wir wollen.«

GREAT URSWICK — CUMBRIA

Simon hatte recht, dachte Lynley: Deborah durfte sich nicht länger an den Ermittlungen beteiligen. Sie wussten nicht, womit sie es zu tun hatten, und alles, was Deborah in Gefahr brachte, war inakzeptabel.

Er hätte die beiden nie um ihre Hilfe bitten dürfen. Aber anfangs hatte es ausgesehen wie ein ziemlich einfacher Fall, der mit ihrer Hilfe in ein, zwei Tagen lösbar wäre. Das hatte sich leider als Irrtum erwiesen, und jetzt musste er ein paar Dinge klären, ehe Deborah etwas tat, was sie alle bereuen würden.

Nachdem Lynley sich in Milnthorpe von seinen Freunden verabschiedet hatte, fuhr er erst nach Norden, bog nach einer Weile in Richtung Westen ab und folgte der Straße, die sich zu der Landzunge hinunterwand, an deren Spitze Barrow-in-Furness lag. Aber Barrow war diesmal nicht sein Ziel. Er wollte sich mit Manette Fairclough unter vier Augen unterhalten, und das bedeutete, dass er sich nach Great Urswick begeben musste.

Die Strecke führte ihn durch die hügelige viktorianische Küstenstadt Grange-over-Sands, an der Flussmündung entlang, wo die dort überwinternden Vögel eine lebende Landschaft im Watt bildeten und im ständigen Wettstreit um die Nahrung lagen, die hier im Überfluss zu finden war, da sie durch jede Flut wieder aufgefüllt wurde.

Hinter Grange-over-Sands lag auf der einen Seite der Straße das graue, trügerisch ruhige Meer und auf der anderen grünes Weideland, hier und da unterbrochen von einer Reihe kleiner Ferienhäuser, die in der wärmeren Jahreszeit von Urlaubern bevölkert waren. Das war das südliche Cumbria, nicht das Seenland, das John Ruskin und William Wordsworth so geliebt hatten. Hier lebten Menschen, die hart arbeiteten und von der Hand in den Mund lebten. Seit Generationen wagten sich die Fischer hinaus in die trügerischen Sandbänke der Bucht, früher mit Pferdekarren, heute mit Traktoren, und immer lauerte Lebensgefahr, wenn sie im Treibsand eine falsche Entscheidung trafen. Und wenn die Flut kam, gab es keine Rettung, dann konnte man nur warten, bis ihre Leichen angespült wurden, was manchmal geschah, manchmal aber auch nicht.

In Bardsea bog er von der Küste ins Landesinnere ab. Die Landschaft hier hatte nichts mit den schroffen Felsen und den mit Schiefer übersäten Geröllhalden des Seengebiets gemeinsam. Dieser Teil von Cumbria erinnerte eher an die flache Sumpflandschaft des Nationalparks» The Broads «in Norfolk. Man ließ die Dörfer schnell hinter sich und gelangte dann in eine flache, vom Wind gepeitschte Landschaft, die hauptsächlich aus Weideland bestand.

Das Haus, in dem Manette wohnte, stand an einem kleinen See, auf dem Schwäne dümpelten und dessen Ufer mit Schilf bewachsen waren. Als Lynley zwei Autos in der Einfahrt sah, freute er sich. Manettes Exmann war offenbar ebenfalls zu Hause. Er würde also zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen können.

Er klingelte. Ein Mann öffnete. Vermutlich Freddie McGhie, dachte Lynley. Gutaussehend, gut gekleidet, dunkles Haar, dunkle Augen. Helen hätte ihn als» geschniegelt und gestriegelt «bezeichnet, was aus ihrem Mund ein Kompliment gewesen wäre, denn er wirkte absolut gepflegt. Obwohl er Freizeitkleidung trug, sah er aus, als wäre er einer Werbeanzeige in der Zeitschrift Country Life entsprungen.

Lynley stellte sich vor.»Ah ja. Bernards Gast aus London. Manette hat mir von Ihnen erzählt. «Er wirkte liebenswürdig, aber in seinen Worten klang auch Verwunderung mit. Schließlich gab es keinen offensichtlichen Grund, warum Bernard Faircloughs Londoner Gast nach Great Urswick kommen und an Freddie McGhies Tür klopfen sollte.

Lynley sagte, er würde gern mit Manette sprechen, falls sie zu Hause sei.

McGhie schaute zur Straße hinüber, als suchte er nach der Antwort auf eine Frage, die Lynley gar nicht gestellt hatte. Dann, als wäre ihm wieder eingefallen, was sich gehört, sagte er:»Äh, ja, natürlich. Sie hatte nur nichts davon erwähnt, dass …«

Dass was? fragte sich Lynley. Er wartete höflich auf eine Erklärung.

«Ach, egal«, sagte McGhie.»Kommen Sie herein, ich rufe sie.«

Er führte Lynley in ein Wohnzimmer, von dem aus man einen schönen Blick auf den Garten und den See hatte. Mitten im Wohnzimmer stand ein Laufband. Es war ein hochmodernes Gerät mit Bildschirm, auf dem sich alle möglichen Werte ablesen ließen, mit Knöpfen und reichlich technischem Schnickschnack. Um Platz für das Gerät sowie eine Gummimatte für Dehnübungen zu schaffen, waren die meisten Möbel an einer Wand zusammengerückt und gestapelt worden.»Äh, sorry«, murmelte McGhie.»Daran hab ich ja gar nicht gedacht. Gehen wir doch lieber in die Küche. Hier entlang bitte.«

Er führte Lynley in die Küche, ging zurück in den Hausflur und rief nach Manette. Als Lynley Freddie die Treppe hochgehen hörte, öffnete sich die Terrassentür, und Manette kam in die Küche. Zum ersten Mal wurde Lynley bewusst, dass sie ihrer Schwester nicht im Geringsten ähnlich sah. Sie war ebenso hochgewachsen und feingliedrig wie ihre Mutter, aber das Haar hatte sie leider von ihrem Vater geerbt. Es war so schütter, dass man ihre Kopfhaut sehen konnte, trotz des Kurzhaarschnitts und der Dauerwelle. Sie trug Sportkleidung und Laufschuhe, woraus Lynley schloss, dass sie diejenige war, die in Anbetracht des unbeständigen Wetters in der Gegend das Laufband im Wohnzimmer benutzte.»Ach Gott!«, rief sie aus, als sie Lynley gewahrte.»Guten Tag. «Dann schaute sie zu der Tür, durch die sie gekommen war, denn sie hörte ihren Exmann nach ihr rufen.

«Bitte, entschuldigen Sie mich einen Augenblick«, sagte sie und verschwand im Hausflur.»Ich bin hier unten, Freddie!«, rief sie.»Ich war draußen laufen. «Worauf McGhie antwortete:»Was?«, dann konnte Lynley nicht mehr viel verstehen, weil sie sich leise unterhielten. Er hörte ihn sagen» Soll ich …?«und» Kann ich machen«, konnte aber nicht ausmachen, worauf sich das jeweils bezog. Im nächsten Augenblick kamen sie beide in die Küche.»Was für eine nette Überraschung«, sagte Manette mit einem ironischen Unterton zu Lynley.»Hat mein Vater Sie aus irgendeinem Grund vorbeigeschickt?«

«Ich wollte mich mit Ihnen beiden unterhalten«, erwiderte Lynley.

Die beiden tauschten einen kurzen Blick aus. Es war allerhöchste Zeit, dass mit offenen Karten gespielt wurde, dachte Lynley. Mignon hatte sich nicht täuschen lassen, und von den anderen würde auch niemand auf das alberne Spiel hereinfallen.

Er zückte seinen Dienstausweis und reichte ihn Manette. Ihre Augen wurden schmal. Sie gab den Ausweis an McGhie weiter und fragte:»Was hat das zu bedeuten? Ich kann mir nicht vorstellen, dass Scotland Yard Sie hergeschickt hat, weil die Toiletten in Ihrem Gebäude renoviert werden und Sie unser Toilettenschüsselsortiment testen sollen. Was meinst du, Freddie?«

McGhie war leicht errötet, aber Lynley nahm nicht an, dass das etwas mit der Erwähnung von Toilettenschüsseln zu tun hatte. Er sagte zu seiner Exfrau:»Ich dachte schon …«, und zuckte die Achseln, eine dieser typischen Du-weißt-schon-Gesten, mit denen sich Paare, die sich schon lange kennen, wortlos verständigen.

Manette lachte laut auf.»Danke für das Kompliment, Freddie«, sagte sie.»Aber ich glaube, der Inspector steht auf jüngere Modelle.«

«Red keinen Unsinn. Du bist doch erst zweiundvierzig«, sagte Freddie.

«Frauenjahre sind wie Hundejahre, Freddie. In den Augen eines Mannes gehe ich eher auf die achtzig zu … Was kann ich für Sie tun, Inspector?«

Lynley sagte:»Ihr Vater hat mich gebeten, die Umstände von Ian Cresswells Tod zu untersuchen.«

«So was hatte ich mir schon gedacht«, sagte Manette zu McGhie, dann setzte sie sich an den Küchentisch. Sie nahm eine Banane aus dem Obstkorb, der auf dem Tisch stand, und begann sie zu schälen.»Das wird Mignon aber gar nicht gefallen. «Mit dem Fuß zog sie einen Stuhl unter dem Tisch hervor.»Setzen Sie sich«, sagte sie zu Lynley und bedeutete auch McGhie, sich einen Stuhl zu nehmen.

Zuerst dachte Lynley, mit dieser Geste wolle sie ihm ihre Bereitschaft zur Kooperation signalisieren, doch von diesem Irrtum befreite sie ihn umgehend.»Falls mein Vater annimmt, ich würde mit dem Finger auf irgendjemanden zeigen, dann können Sie ihm ausrichten, dass er schiefgewickelt ist«, sagte sie.»Von uns hat er keine Unterstützung zu erwarten. Ich kann es nicht fassen, dass er es fertigbringt, seiner eigenen Familie so etwas anzutun.«

«Er möchte sich vor allem vergewissern, dass die örtliche Polizei die nötige Sorgfalt hat walten lassen«, sagte Lynley.»Das kommt häufiger vor, als man meinen sollte.«

«Und wie hat man sich das vorzustellen?«, fragte Manette.»Jemand kommt nach London und bittet darum, dass Scotland Yard einen Fall noch einmal aufrollt, der bereits abgeschlossen wurde? Einfach so? Also, ich bitte Sie, Inspector. Für wie dumm halten Sie mich eigentlich?«

«Was hat Bernard denn auf die Idee gebracht?«, wollte McGhie wissen.»Für den Coroner war der Fall absolut eindeutig.«

«Dad hat seinen Einfluss geltend gemacht«, sagte Manette.»Der Himmel weiß, wie er das hingekriegt hat, aber ich wette, er kennt jemanden, der einen kennt, der bereit ist, ein paar Strippen zu ziehen oder ein hübsches Sümmchen für den Witwen- und Waisenfonds zu spenden. So laufen solche Dinge. Ich vermute, er will wissen, ob Nick etwas mit Ians Tod zu tun hat, egal, was der Coroner gesagt hat. Weiß der Kuckuck, wie Nick das angestellt haben soll, doch bei seiner Vergangenheit ist wahrscheinlich alles denkbar. «Sie schaute Lynley an.»Habe ich recht? Sie sind hier, um zu sehen, ob ich Ihnen helfen kann, meinem Bruder die Daumenschrauben anzulegen.«

«Ganz und gar nicht«, antwortete Lynley.»Ich möchte mir nur ein eindeutiges Bild machen.«

«Was zum Teufel soll das denn heißen?«

«Das soll heißen, dass mancher Todesfall zu einem allzu günstigen Zeitpunkt eintritt. Auf so etwas achtet ein Coroner nicht unbedingt. Zumindest nicht, wenn die Umstände für sich sprechen.«

«Deswegen sind Sie also hier? Sie wollen feststellen, wie günstig der Zeitpunkt von Ians Tod war? Und wem Ians Tod nützlich war? Mir jedenfalls hat sein Tod nichts genützt, das kann ich Ihnen gleich sagen. Dir, Freddie? Hat dir Ians Tod genützt?«

«Manette, wenn Scotland Yard …«

«Verdammt!«, fiel sie ihm ins Wort.»Wenn Scotland Yard den Fall untersucht, dann hat mein Vater wahrscheinlich einiges springen lassen. Die Mittel für einen neuen Büroflügel, was weiß ich. Du bist doch gerade dabei, die Bücher durchzusehen, Freddie. Du findest es bestimmt raus, wenn du lange genug suchst. Irgendeine Zahlungsanweisung, für die es keine Erklärung gibt. Eine größere als die anderen, für die es keine Erklärung gibt.«

«Es gibt also Unregelmäßigkeiten in der Buchführung der Firma Ihres Schwiegervaters?«, erkundigte Lynley sich bei McGhie.

«Nein, das war ein Scherz«, sagte Manette. Dann schaute sie ihren Exmann an und fügte mit einem warnenden Unterton hinzu:»Stimmt’s, Freddie?«

Freddie sagte:»Ex.«

«Wie bitte?«

«Mein Exschwiegervater.«

«Ja, selbstverständlich«, sagte Lynley.

«Was spielt das für eine Rolle?«, fauchte Manette.»Ian ist ertrunken, der Coroner sagt, es war ein Unfall, und wenn es kein Unfall war, dann muss man sich eben fragen, wer von seinem Tod profitiert hat, und das war ich jedenfalls nicht. Aber wenn ich mich recht erinnere, gibt es jemanden, der sehr wohl von Ians Tod profitiert hat, und das ist Kaveh Mehran.«

McGhie runzelte die Stirn.»Wie meinst du das?«

«Ach, das habe ich dir noch gar nicht erzählt: Kaveh ist jetzt der alleinige Eigentümer des Guts.«

«Soll das ein Witz sein?«

«Ganz und gar nicht. Ian hat es ihm vererbt. Das behauptet Kaveh zumindest. Aber ich nehme an, dass er die Wahrheit sagt, denn das lässt sich ja sehr leicht überprüfen.«

«Wir sind dabei, alles zu überprüfen, Mrs. McGhie«, sagte Lynley.

«Aber Sie glauben nicht, dass Kaveh Ian umgebracht hat, oder?«, fragte McGhie.

«Niemand hat ihn umgebracht«, sagte Manette.»Sein Tod mag vielleicht jemandem gelegen gekommen sein, doch es war ein Unfall, Freddie. Man sollte dieses Bootshaus abreißen, ehe es von allein zusammenkracht. Es wundert mich, dass meine Mutter nicht ausgerutscht und ertrunken ist. Die ist doch viel öfter im Bootshaus.«

McGhie sagte nichts, aber sein Gesichtsausdruck veränderte sich kaum merklich, indem sein Kiefer sich senkte, ohne dass sich sein Mund öffnete. Irgendetwas war ihm aufgefallen, etwas, das er womöglich preisgeben würde, wenn man ein bisschen nachhalf.

Lynley sagte:»Mr. McGhie?«

McGhies Hand lag auf dem Tisch, und seine Finger krümmten sich zu einer lockeren Faust. Er beobachtete Manette, und Lynley nahm an, dass er überlegte, was passieren würde, wenn er aussprach, was er wusste.

Schweigen war stets von unschätzbarem Wert. Es hatte eine ähnliche Wirkung auf die Leute, wie wenn man sie im Verhörzimmer allein ließ. Anspannung war der große Gleichmacher unter den Menschen. Die meisten konnten nicht damit umgehen, vor allem, wenn sie die tickende Bombe, die sie enthielt, ganz leicht entschärfen konnten. Lynley wartete. Manette schaute ihrem Exmann in die Augen. Anscheinend sah sie etwas darin, was sie nicht zur Kenntnis nehmen wollte, denn sie sagte:»Wir wissen überhaupt nichts, Freddie.«

«Das stimmt«, antwortete er.»Aber wir können Vermutungen anstellen. «Und dann begann er ohne Umschweife zu erzählen. Manette versuchte, ihn davon abzuhalten, doch er machte ihr seinen Standpunkt klar: Falls sich tatsächlich jemand am Steg im Bootshaus zu schaffen gemacht hatte, um Ian Cresswell oder womöglich sogar Manettes Mutter Schaden zuzufügen, dann musste alles ans Tageslicht kommen.

So wie Freddie die Sache sah, hatte Bernard Fairclough in den vergangenen Jahren ein Vermögen verschleudert: Er hatte Nicholas’ teure Entzugskuren in Luxuskliniken bezahlt, die Park- und Gartenanlagen in Ireleth Hall wiederherstellen lassen, das Haus für Nicholas und Alatea gekauft, als die Immobilienpreise hoch waren. Er hatte die Renovierung des Hauses finanziert, um es für die beiden bewohnbar zu machen, den historisierenden Turm für Mignon errichten lassen. Er hatte die Operationen bezahlt, mit der Mignon sich von dem Fettpanzer befreien ließ, den sie sich über die Jahre angefressen hatte, ebenso wie die anschließenden Schönheitsoperationen, durch die ihre überdehnte Haut gestrafft wurde …

«Ian hat zwar die Schecks ausgestellt, aber er wird auch versucht haben, Bernard davon abzubringen«, fuhr McGhie fort.»Denn dieser Unsinn lief teilweise schon seit Jahren. Soweit ich das bisher überblicke, hat Bernard ohne Sinn und Verstand mit dem Geld nur so um sich geworfen. Als hätte er sich einfach nicht bremsen können. Oder er fühlte sich aus irgendeinem Grund verpflichtet. Also, all die Überweisungen zu tätigen, meine ich.«

«Und das über Jahre?«, stellte Lynley noch einmal klar.

«Na ja, Nick war über viele Jahre hinweg ein Problem, und dann war da noch …«

«Freddie. Das reicht«, unterbrach ihn Manette gereizt.

«Er muss alles erfahren«, sagte Freddie.»Tut mir leid, Liebling, aber wenn Vivienne irgendetwas damit zu tun hat, dann müssen wir darüber reden.«

«Vivienne Tully?«, fragte Lynley.

«Sie wissen von ihr?«

«Ich lerne dazu.«

«Wissen Sie, wo sie ist?«, fragte Manette.»Weiß mein Vater, wo sie ist?«

«Na, das muss er ja wohl, oder?«, meinte McGhie.»Es sei denn, Ian hat ihr monatlich Geld überwiesen, ohne dass dein Vater davon wusste. Aber warum in Gottes Namen hätte Ian das tun sollen?«

«Weil sie über ihn Bescheid wusste. Weil sie wusste, was er vor Niamh und dem Rest der Familie geheim gehalten hat. Sie hat ihn erpresst, Freddie.«

«Ach, komm, das glaubst du doch selbst nicht. Es gibt nur einen Grund für die Unterhaltszahlungen an Vivienne, und wir beide wissen, welcher das ist.«

Die beiden hatten ganz vergessen, dass er mit am Tisch saß, dachte Lynley, so eifrig waren sie darum bemüht, einander ihre jeweilige Sichtweise darzulegen über Ian Cresswell, über Vivienne Tully und über das Geld, das Cresswell regelmäßig an alle möglichen Leute überwiesen hatte, entweder im Auftrag von Bernard Fairclough oder ohne dessen Wissen.

Freddie McGhie berichtete Lynley, dass auch Vivienne Tully — eine ehemalige Angestellte bei Fairclough Industries, wie Lynley bereits wusste — jahrelang monatliche Zuwendungen erhalten hatte, obwohl sie während dieser Zeit nicht mehr in der Firma beschäftigt gewesen war. Und dieses Geld hatte nichts zu tun mit Gewinnbeteiligung oder einer Betriebsrente, fügte Freddie hinzu.

«Es könnte demnach alles Mögliche bedeuten«, schloss er.»Vielleicht wollte Bernard eine Anzeige wegen sexueller Belästigung verhindern oder wegen gesetzeswidriger Kündigung …«Er schaute seine Exfrau an, als erwartete er, dass sie seine Vermutungen bestätigte.

«Oder mein Vater hat nichts davon gewusst«, sagte sie.»Du hast doch selbst gesagt, dass Ian womöglich die ganze Zeit die Bücher frisiert hat.«

All diese Informationen bestärkten Lynley darin, dass Ian Cresswell nicht durch einen Unfall ums Leben gekommen war. Aber wem der Anschlag gegolten hatte, konnte er immer noch nicht sagen.

Er bedankte sich bei Manette und Freddie McGhie und verabschiedete sich. Manette schien ziemlich aufgebracht über Freddies Enthüllungen, und Lynley würde sich nicht wundern, wenn sie ihrem Exmann ordentlich die Hölle heißmachte.

Als er gerade in den Healey Elliott steigen wollte, klingelte sein Handy. Wahrscheinlich Havers, dachte er. Mit neuen Informationen. Doch dann sah er Isabelles Nummer auf dem Display.

«Hallo«, sagte er.»Was für eine angenehme Ablenkung.«

«Wir müssen reden, Thomas«, erwiderte sie.

Selbst wenn sie nicht Thomas gesagt hätte, hätte er an ihrem Ton erkannt, dass dies nicht die Frau war, deren sanfte Rundungen und warmen Körper seine Hände kannten und genossen. Das war seine Chefin, und sie war stinksauer. Allerdings war sie auch stocknüchtern, das hörte er ebenfalls an ihrer Stimme.

Er sagte:»Selbstverständlich. Wo bist du?«

«Da, wo du sein solltest. Im Dienst.«

«Ich bin im Dienst, Isabelle.«

«Mehr oder weniger. Aber darum geht es nicht.«

Er brauchte nicht lange auf eine Erklärung zu warten.

«Wie kommt es, dass du Barbara Havers Informationen anvertraust, die du mir vorenthältst? Was glaubst du, was ich mit den Informationen getan hätte? Was hätte ich tun können? Zu Hillier ins Zimmer marschieren und trällern: Ätschibätsch, ich weiß Bescheid?«

«Barbara führt ein paar Recherchen für mich durch, Isabelle, das ist alles.«

«Du hast mich belogen, stimmt’s?«

«In welcher Hinsicht?«

«Als du behauptet hast, die Sache sei streng geheim. Es kann sich ja wohl kaum um eine geheime Aktion handeln, wenn ein Trampel wie Sergeant Havers mitmischt.«

«Barbara kennt nur ein paar Namen. Es gab einige Dinge, die ich nicht von hier aus klären konnte, deswegen habe ich sie um Hilfe gebeten. Sie stellt für mich Nachforschungen an.«

«Ich bitte dich, Tommy, ich bin schließlich nicht blöd. Ich weiß genau, wie nahe ihr beide euch steht. Barbara würde sich für dich vierteilen lassen. Wenn du ihr sagst, die Sache ist geheim, würde sie sich eher die Zunge abbeißen, als mir gegenüber etwas auszuplaudern. Das hat mit Bob zu tun, stimmt’s?«

Bob? Lynley überlegte. Er hatte keine Ahnung, wovon sie redete. Dann fügte sie hinzu:»Bob, seine Frau, die Zwillinge. Du bestrafst mich, weil ich im Gegensatz zu dir Verpflichtungen habe, die uns hin und wieder in die Quere kommen.«

«Redest du von dem Abend, als ich bei dir war?«, fragte er.»Als sie alle da waren? Mein Gott, Isabelle! Das ist längst vergessen. Ich hege keinen …«

«Keinen Groll? Nein, natürlich nicht. Dazu bist du viel zu wohlerzogen.«

«Wirklich Isabelle, du regst dich völlig unnötig auf. Es ist alles genauso, wie ich es dir gesagt habe. Hillier möchte nicht, dass diese Sache im Yard bekannt wird, und ich habe mich daran gehalten.«

«Es hat etwas mit Vertrauen zu tun, weißt du. Und ich rede nicht nur von dieser Sache. Ich rede auch von unserer Situation im Allgemeinen. Du könntest mich ruinieren, Tommy. Ein Wort von dir, und ich bin erledigt. Schluss, aus. Wie soll ich dir vertrauen, wenn du mir nicht vertraust? Herrgott, was tue ich mir bloß an?«

«Du ereiferst dich wegen nichts und wieder nichts, das tust du dir an. Was könnte ich denn wohl tun?«

«Ich brauche mich doch nur danebenzubenehmen, nicht zu un, was du von mir erwartest. Oder du stellst irgendwann fest, dass ich doch nicht die Frau bin, die du …«

«Und dann was? Dann gehe ich zu Hillier und eröffne ihm, dass ich seit vier Monaten, einem halben Jahr oder wie lange auch immer schon mit meiner Chefin ins Bett gehe? Meinst du das?«

«Du könntest mich ruinieren. Ich habe diese Macht nicht über dich. Du brauchst den Job nicht, verdammt, du willst ihn ja nicht mal! Wir begegnen uns nicht auf Augenhöhe, und das ist das Schlimmste von allem. Wenn man bedenkt, dass jetzt auch kein Vertrauen mehr da ist, was bleibt uns dann noch?«

«Was meinst du damit, dass kein Vertrauen mehr da ist? Das ist doch lächerlich. Es ist vollkommen absurd. «Und dann fragte er, weil er sich plötzlch ganz sicher war, dass er sich anfangs geirrt hatte:»Hast du getrunken?«

Stille. Es war das Schlimmste, was er sie fragen konnte. Er wünschte, er könnte die Frage zurücknehmen.

«Danke, Tommy«, sagte sie leise. Dann legte sie auf. Er schaute hinaus auf den See von Great Urswick, auf dessen spiegelglattem Wasser eine Schwanenfamilie friedlich dahinglitt.

LAKE WINDERMERE — CUMBRIA

Nachdem der Detective gegangen war, fuhr Manette nach Ireleth Hall. Sie parkte in der Einfahrt und ging auf direktem Weg zu Mignons Turm. Freddie hatte ihr erklärt, er habe keine andere Wahl gehabt, als alle Karten offenzulegen, und dass sie, falls Ians Tod wirklich kein Unfall gewesen war, der Sache auf den Grund gehen müssten. Außerdem sehe er immer deutlicher, dass es noch eine ganze Reihe weiterer Dinge gebe, die sie demnächst würden klären müssen. Gut und schön, hatte sie ihm geantwortet, das sei genau das, was sie vorhabe.

Wie immer war Mignon zu Hause. Leider war sie nicht wie üblich allein, sondern in Gesellschaft ihres Masseurs, eines ernsten Chinesen, der dreimal pro Woche kam, um ihr den Kopf und die Füße zu massieren — jeweils eine Stunde. Sie saß mit geschlossenen Augen in einem Sessel, während ihre Füße behandelt wurden: Druckpunkte, Massage, was auch immer dazu gehörte. Manette wusste es nicht, und es interessierte sie auch nicht. Aber da sie ihre Zwillingsschwester kannte, ließ sie sich in einen Sessel fallen und wartete, denn nur so konnte sie mit Mignons Kooperation rechnen. Wenn sie ihr Vergnügen unterbrach, würde sie es bitter bereuen.

Es dauerte eine geschlagene halbe Stunde. Ab und zu murmelte Mignon» Ah, tut das gut!«oder» Ja!«oder» Links ein bisschen mehr Druck bitte«. Der ernste Chinese tat, wie ihm geheißen. Manette fragte sich, was er wohl tun würde, wenn ihre Schwester ihn bitten würde, an ihren Zehen zu nuckeln.

Schließlich wickelte der Masseur Mignons Füße in ein warmes Handtuch. Sie seufzte wohlig und sagte:»Schon fertig? Das kam mir vor wie fünf Minuten. «Langsam öffnete sie die Augen und schenkte dem Mann ein strahlendes Lächeln.»Sie sind ein Magier, Mr. Zhao«, murmelte sie.»Sie wissen ja, wohin Sie die Rechnung schicken müssen.«

Mr. Zhao packte seine Sachen zusammen. Öle und Salben und was er sonst noch dabeihatte. Im nächsten Augenblick war er auch schon verschwunden, so lautlos wie ein peinlicher Gedanke.

Mignon reckte und streckte sich in ihrem Sessel wie eine zufriedene Katze. Dann wickelte sie ihre Füße aus, ging zum Fenster und streckte sich noch ein bisschen. Sie beugte sich vor, bis ihre Fingerspitzen ihre Zehen berührten, und machte Gymnastikübungen, um ihre Taille und ihre Hüften zu lockern. Gleich macht sie auch noch Hampelmannsprünge, dachte Manette. Zum Beweis, wie raffiniert sie ihre Eltern zum Narren hielt.

«Ich weiß nicht, wie du dich selbst erträgst«, bemerkte Manette.

«Ich leide Höllenqualen«, antwortete Mignon mit einem durchtriebenen Grinsen. Wenn es so etwas gab wie schadenfrohes Leiden, dachte Manette, dann lag genau das im Gesichtsausdruck ihrer Schwester.»Du ahnst ja gar nicht, was ich durchmache. «Sie schlenderte zu der Ecke hinüber, wo ihr Computer stand, wobei sie den Rollator hinter sich her zog, für den Fall, dass ihr Vater oder ihre Mutter zufällig hereinschneien sollte. Sie setzte sich an ihren Schreibtisch, drückte ein paar Tasten und las etwas auf dem Bildschirm, wahrscheinlich eine E-Mail.»Ach Gott«, sagte sie.»Der Typ geht mir allmählich auf die Nerven. Wir haben jetzt das Stadium erreicht, wo wir die Unmöglichkeit unserer Liebe erkennen, und wenn die Männer erst mal so weit sind, ist nur noch Heulen und Zähneknirschen angesagt. Dann wird’s langweilig. «Sie seufzte.»Dabei hatte ich so große Hoffnungen in ihn gesetzt. Es sah wirklich so aus, als könnte ich mich mindestens ein Jahr lang mit ihm amüsieren, vor allem, als er angefangen hat, mir Fotos von seinem Geschlechtsteil zu schicken. Aber was soll ich sagen? Wenn sie fallen, dann fallen sie tief. «Sie tippte etwas ein und murmelte:»Ciao, Süßer. Schade, schade, das Leben ist ungerecht, und so weiter und so fort.«

«Ich will mit dir reden«, sagte Manette.

«Das habe ich mir schon gedacht. Es sieht dir nicht ähnlich, einfach so vorbeizukommen. Zumindest hast du das schon ewig nicht mehr getan. Das bedrückt mich, weißt du. Wir haben uns doch früher so nahgestanden, du und ich.«

«Merkwürdig«, antwortete Manette,»daran kann ich mich gar nicht erinnern.«

«Ach, das wundert mich nicht. Als du Freddie kennengelernt hast, hat sich für dich alles nur noch um ihn gedreht und um die Frage, wie du den armen Mann in den Hafen der Ehe locken konntest. Natürlich war er ein Notnagel, aber das konnte er ja nicht wissen. Es sei denn, du hast in der Erregung hin und weder den falschen Namen gestöhnt. Oder hast du das etwa getan? Ist es deswegen aus zwischen dir und Freddie?«

Manette biss nicht an.»Dad ist dabei, sich finanziell zu ruinieren. Ich weiß, dass er deinen Unterhalt erhöht hat. Darüber will ich mit dir reden.«

«Ah, die wirtschaftliche Lage«, sagte Mignon.»Immer diese Schwankungen.«

«Spar dir den Sarkasmus. Kloschüsseln und Waschbecken werden immer gebraucht, so oder so. Aber es dürfte dich interessieren, dass Freddie seit Ians Tod dabei ist, die Bücher zu überprüfen. Wir wissen, was Dad dir jeden Monat zahlt. Das muss aufhören.«

«Ach ja? Und warum? Hast du Angst, dass ich alles Geld verschleudere, bis nichts mehr für dich übrig ist?«

«Ich glaube, ich habe mich deutlich genug ausgedrückt, Mignon. Ich weiß, dass Dad deine Unterhaltszahlungen erhöht hat — es steht schwarz auf weiß in den Büchern. Das ist lächerlich. Du brauchst das Geld überhaupt nicht. Du bist rundherum versorgt. Du musst ihn von dieser Pflicht entbinden.«

«Hast du auch schon mit Nick geredet, dem Augenstern unseres Vaters, seit er das Licht der Welt erblickt hat?«

«Herrgott noch mal, ich war ebenso wenig der heiß ersehnte Sohn wie du! Kannst du eigentlich an nichts anderes denken? Willst du bis in alle Ewigkeit darüber lamentieren, dass Dad dich nicht genug geliebt hat? Seit Nick auf der Welt ist, bist du eifersüchtig auf ihn.«

«Während du nicht mal weißt, wie man Eifersucht schreibt?«Mignon kam zurück in den Wohnbereich, suchte sich ihren Weg zwischen all den Kisten und Kartons mit Dingen, die sie online bestellt hatte, und setzte sich wieder in ihren Sessel.»Ich weiß meine Eifersucht, wie du es nennst, wenigstens gewinnbringend zu nutzen.«

«Wovon redest du?«Manette bemerkte die Falle zu spät.

Mignon lächelte wie eine erfolgreiche schwarze Witwe, die auf das Männchen wartet.»Von Ian natürlich. Du hast immer nur Ian geliebt, und alle haben es gewusst. Und jahrelang haben alle hinter deinem Rücken getuschelt. Freddie war nur ein Ersatz, und auch das haben alle gewusst, der arme Freddie eingeschlossen. Der Mann ist ein Heiliger. Oder sonst was.«

«Dummes Zeug.«

«Was? Dass er ein Heiliger ist? Oder dass er sonst was ist? Dass du Ian geliebt hast oder dass Freddie es gewusst hat? Also, du wirst doch wohl nicht bestreiten, dass du Ian geliebt hast, Manette. Gott, es muss dich vollkommen umgehauen haben, als Niamh aufgekreuzt ist. Wahrscheinlich bist du selbst jetzt noch davon überzeugt, dass dieses Miststück Ian in die Arme von Männern getrieben hat.«

«Wenn du dein Gedächtnis ein bisschen bemühst«, sagte Manette ruhig, obwohl sie innerlich kochte,»wirst du auf einen kleinen Fehler in deiner Rechnung stoßen.«

«Und der wäre?«

«Als Ian sich für Niamh entschieden hat, war ich bereits mit Freddie verheiratet.«

«Wir sollten uns nicht an belanglosen Details aufhalten«, sagte Mignon.»Du wolltest Ian schließlich nicht heiraten. Du wolltest nur ein bisschen mit ihm … na ja, heimlich pimpern.«

«Das ist absolut lächerlich.«

«Wie du meinst. «Mignon gähnte.»War’s das dann? Ich würde mich nämlich gern ein bisschen hinlegen. So eine Massage ist ganz schön anstrengend. Wenn es also weiter nichts gibt …«

«Hör auf, Dad auszunehmen. Ich schwöre dir, Mignon, wenn du nicht …«

«Also wirklich, ich bitte dich. Ich nehme mir nur, was mir zusteht. Das machen doch alle. Ich weiß gar nicht, warum du es nicht auch tust.«

«Alle? Wie Vivienne Tully zum Beispiel?«

Mignons Gesicht versteinerte, aber nur so lange, wie es dauerte, bis ihr eine passende Antwort einfiel:»Wenn du etwas über Vivienne wissen willst, musst du dich an Dad wenden.«

«Was weißt du über sie?«

«Was ich weiß, spielt keine Rolle. Es geht um das, was Ian gewusst hat, Schätzchen. Wie gesagt: Die Leute nehmen sich, was ihnen zusteht. Das wusste Ian besser als jeder andere. Wahrscheinlich hat er sich selbst auch ordentlich bedient. Würde mich jedenfalls nicht wundern. Es wäre ein Kinderspiel für ihn gewesen. Schließlich hatte er den Geldbeutel in der Hand, da hätte er doch nur reinzugreifen brauchen. Aber dann wird Dad ihm auf die Schliche gekommen sein. Mit solchen Tricksereien kommt man nicht ewig davon. Irgendwann fliegt alles auf, und dann ist Schluss mit lustig.«

«Klingt wie eine Warnung, die du selbst beherzigen solltest«, sagte Manette.

Mignon lächelte.»Ach was, ich bin die berühmte Ausnahme von der Regel.«

LAKE WINDERMERE — CUMBRIA

Was Mignon gesagt hatte, enthielt tatsächlich ein Körnchen Wahrheit. Manette war einmal in Ian verliebt gewesen, aber es war eine Jungmädchenschwärmerei gewesen, ohne Tiefe und ohne Aussicht auf Erfüllung, trotz der sehnsüchtigen Blicke, die sie ihm beim Abendessen mit der Familie zugeworfen hatte, und trotz der verzweifelten Briefe, die sie ihm in die Hand gedrückt hatte, wenn er am Ende der Semesterferien zurück an die Uni fuhr.

Leider hatte Ian ihre Gefühle nicht erwidert. Sicher, er hatte Manette gemocht, doch dann war der schreckliche, unvergessliche Augenblick gekommen, als er sie beiseitegenommen, ihr den Schuhkarton mit all ihren ungeöffneten Briefen gegeben und gesagt hatte:»Bitte, Manette, verbrenn die Briefe. Ich weiß, was sie enthalten, aber es geht einfach nicht. «Er hatte es nicht lieblos gesagt, denn das war nicht seine Art gewesen, trotzdem war es unmissverständlich gewesen.

Tja, irgendwann kommt man über alles weg, hatte Manette sich schließlich gesagt. Doch jetzt fragte sie sich, ob das vielleicht für manche Frauen nicht galt. Sie machte sich auf die Suche nach ihrem Vater und fand ihn unten auf dem Rasen in der Nähe des Sees. Er telefonierte gerade auf seinem Handy, den Kopf konzentriert geneigt. Sie überlegte, ob sie sich anschleichen sollte, um zu hören, was er sagte, aber gerade in dem Moment beendete er sein Gespräch. Er drehte sich um und wollte gerade in Richtung Haus gehen, als er sie auf sich zukommen sah.

Manette versuchte, seinen Gesichtsausdruck zu interpretieren. Es war merkwürdig, dass er zum Telefonieren nach draußen gegangen war. Natürlich war es möglich, dass er einen Spaziergang gemacht und einen Anruf erhalten hatte, aber das bezweifelte sie, denn für ihren Geschmack hatte er sein Handy allzu hastig in seiner Tasche verschwinden lassen.

«Warum hast du das alles zugelassen?«, fragte sie ihn, als sie bei ihm war. Ebenso wie ihre Mutter war sie größer als er.

«Was meinst du mit alles?«, wollte Fairclough wissen.

«Freddie hat Ians Bücher. Er hat die Kalkulationstabellen ausgedruckt. Er hat die Kalkulationsprogramme. Du musst doch damit gerechnet haben, dass er nach Ians Tod Ordnung schaffen würde.«

«Ich glaube, es geht ihm darum, seine Kompetenz unter Beweis zu stellen. Er will die Firmenleitung übernehmen.«

«Das ist nicht seine Art, Dad. Er würde die Firma leiten, wenn du ihn darum bitten würdest, aber mehr auch nicht. Freddie führt nichts im Schilde.«

«Bist du sicher?«

«Ich kenne Freddie.«

«Wir glauben immer, wir würden unsere Ehepartner kennen. Aber in Wirklichkeit kennen wir sie nicht gut genug.«

«Ich hoffe, du willst damit nicht sagen, dass du Freddie irgendetwas unterstellst. Das lasse ich nicht zu.«

Bernard deutete ein Lächeln an.»Keine Sorge. Ich halte Freddie für einen anständigen Kerl.«

«Das ist er auch.«

«Dass ihr euch habt scheiden lassen … Ich habe es nie verstanden. Nick und Mignon …«Er machte eine vage Geste in Richtung des Turms.»… haben ihre Dämonen, aber ich dachte immer, du wärst anders. Ich habe mich gefreut, als ihr geheiratet habt, du und Freddie. Sie hat eine gute Wahl getroffen, dachte ich. Dass deine Ehe kaputtgeht, dass ihr euch trennt, das war … Du hast sehr wenige Fehler gemacht in deinem Leben, Manette, aber Freddie gehen zu lassen war einer davon.«

«So was kommt vor«, antwortete sie knapp.

«Wenn wir es zulassen«, entgegnete ihr Vater.

Das war wirklich die Höhe, dachte Manette.»So wie du Vivienne Tully zugelassen hast?«, fragte sie.

Bernard wich ihrem Blick nicht aus. Manette wusste, was sich in seinem Innern abspielte. Er ging blitzschnell alle Möglichkeiten durch, die seine Tochter auf diese Frage gebracht haben könnten. Und er fragte sich, wie viel genau Manette wusste.

«Vivienne Tully ist Vergangenheit«, sagte er schließlich.»Sie ist schon lange fort.«

Er warf seine Angel sehr vorsichtig aus. Aber in diesem trüben Gewässer konnte sie ebenso gut fischen.»Die Vergangenheit ist nie so weit weg, wie wir es gerne hätten. Irgendwie holt sie uns immer wieder ein. So wie Vivienne zu dir zurückgekommen ist.«

«Ich weiß nicht, was du meinst.«

«Ich meine, dass Ian ihr seit Jahren Geld überwiesen hat. Und zwar monatlich. Doch das wirst du ja wissen.«

Er runzelte die Stirn.»Nein, davon weiß ich nichts.«

Manette versuchte, in ihn hineinzusehen. Auf seinem Gesicht schimmerte ein feiner Schweißfilm, und sie hätte sich gewünscht, dass das etwas über ihn verriet und über das, was er möglicherweise getan hatte. Sie sagte:»Ich glaube dir nicht. Zwischen dir und Vivienne Tully ist immer irgendwas gewesen.«

«Vivienne gehörte zu etwas in meiner Vergangenheit, das ich zugelassen habe.«

«Was soll das denn heißen?«

«Dass es einen Moment gegeben hat, in dem ich menschlich versagt habe.«

«Verstehe«, sagte Manette.

«Nicht alles«, entgegnete ihr Vater.»Ich habe Vivienne begehrt, und sie hat meine Gefühle erwidert. Aber keiner von uns beiden hatte je die Absicht …«

«Ach, das behaupten doch alle. «Manette wunderte sich über ihre eigene Verbitterung. Schließlich hatte ihr Vater nur zugegeben, was sie schon seit Jahren vermutete: dass er eine Affäre mit einer jungen Frau gehabt hatte. Was ging das sie an, seine Tochter? Es bedeutete nichts und war zugleich immens wichtig, und das Schlimme war, dass Manette nicht begriff, warum.

«Es war keine Absicht«, sagte Fairclough.»Man gerät in so etwas hinein. Irgendwie hat man das dumme Gefühl, dass das Leben einem mehr bieten müsste, und wenn man diesen Gedanken erst einmal zulässt, dann …«

«Du und Vivienne Tully. Ich will dich nicht verletzen, aber ehrlich gesagt, kann ich mir nicht vorstellen, dass sie hätte mit dir schlafen wollen.«

«Das hat sie nicht.«

«Sie hat nicht mit dir geschlafen? Also wirklich!«

«Nein, das meine ich nicht. «Fairclough schaute zum Haus hinüber, dann wandte er sich ab. Am See entlang verlief ein Weg, der zum Wald hinaufführte.»Komm, wir machen einen Spaziergang«, sagte er.»Ich werde versuchen, es dir zu erklären.«

«Ich will keine Erklärung.«

«Nein. Aber du bist bedrückt. Und das hat teilweise mit mir zu tun. Komm mit, Manette. «Er nahm ihren Arm, und sie spürte den Druck seiner Finger durch ihren Wollpullover. Am liebsten hätte sie sich losgerissen und wäre gegangen und hätte sich endgültig von ihm verabschiedet. Sie hatte keine Lust, jetzt mit dem Mistkerl spazieren zu gehen und sich seine Lügenmärchen über Vivienne Tully anzuhören.

Er sagte:»Kinder wollen nichts über die Sexualität ihrer Eltern wissen. Das ist ganz normal.«

«Wenn es mit Mum zu tun hat …«

«Gott, nein. Deine Mutter hat nie … Egal. Es hat mit mir zu tun. Ich habe Vivienne begehrt wegen ihrer Jugend, ihrer Unverbrauchtheit.«

«Ich will das nicht …«

«Du hast das Thema aufgebracht, meine Liebe. Jetzt musst du dir auch anhören, was ich dazu zu sagen habe. Ich habe Vivienne nie verführt. Hattest du das angenommen?«Er schaute sie an, doch Manette hielt den Blick auf den mit Kies bedeckten Pfad geheftet, folgte seinen Windungen vom See zum Wald hinauf.»Ich bin kein primitiver Schürzenjäger, Manette«, sagte Fairclough.»Ich habe sie angesprochen. Damals arbeitete sie seit ungefähr zwei Monaten für mich. Ich war ganz offen zu ihr, genauso offen, wie ich deiner Mutter gegenüber war, als ich sie kennengelernt habe. Eine Ehe kam für uns nicht in Frage, ich habe nicht einmal einen Gedanken daran verschwendet. Also habe ich ihr gesagt, ich hätte sie gern als Geliebte, ein diskretes Arrangement, von dem niemand erfahren würde, etwas, das ihre Karriere in keiner Weise behindern würde, denn ich wusste ja, wie viel Wert sie auf ihre berufliche Laufbahn legte. Sie besaß einen klugen Kopf und hatte eine großartige Zukunft vor sich. Und ich habe nicht erwartet, dass sie ihre Fähigkeiten ein Leben lang in Barrow-in-Furness vergeuden oder ihre ehrgeizigen Pläne aufgeben würde, nur weil ich mit ihr ins Bett gehen wollte.«

«Ich will das alles nicht hören«, sagte Manette unwirsch. Ihr Hals schmerzte so sehr, dass sie die Worte kaum herausbrachte.

«Du hast mich auf Vivienne angesprochen, und jetzt wirst du mir zuhören. Sie hat sich Bedenkzeit ausgebeten. Zwei Wochen lang hat sie über meinen Vorschlag nachgedacht. Dann ist sie zu mir gekommen und hat mir ihrerseits einen Vorschlag gemacht. Sie würde mich als Liebhaber ausprobieren, sagte sie. Sie meinte, sie hätte nie gedacht, dass sie einmal jemandes Geliebte sein würde, erst recht nicht die Geliebte eines Mannes, der älter war als ihr Vater. Das fand sie ziemlich geschmacklos, wie sie sich ausdrückte, denn sie gehörte nicht zu den Frauen, die Geld sexy finden. Sie fühlte sich von jungen Männern angezogen, Männern in ihrem Alter, und sie konnte sich nicht vorstellen, mit mir ins Bett zu gehen. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass ich sie erregen könnte. Doch wenn ich sie als Liebhaber zufriedenstellte, womit sie, offen gesagt, nicht rechnete, dann würde sie sich auf das Arrangement einlassen. Wenn ich sie nicht zufriedenstellte, würde es — in ihren Worten — kein böses Blut zwischen uns geben.«

«Mein Gott. Sie hätte dich anzeigen können. Das hätte dich Hunderttausende von Pfund kosten können. Sexuelle Belästigung …«

«Das wusste ich. Aber das ist das, was ich meinte, als ich eben sagte, dass es einfach über einen kommt. Wer das nicht erlebt hat, kann das nicht verstehen. Man redet sich die Dinge schön, und plötzlich kommt einem alles vollkommen vernünftig vor, selbst einer Angestellten einen solchen Vorschlag zu machen und dann ihren Gegenvorschlag anzunehmen. «Vom See her war ein leichter Wind aufgekommen. Manette fröstelte. Ihr Vater legte ihr einen Arm um die Taille und sagte:»Es wird bald regnen. «Eine Weile gingen sie schweigend weiter, dann fuhr er fort:»Eine Zeitlang haben wir zwei verschiedene Rollen gespielt, Vivienne und ich. In der Firma waren wir Chef und Chefsekretärin, und es gab nicht das geringste Anzeichen dafür, dass sich irgendetwas zwischen uns abspielte. Und bei anderen Gelegenheiten waren wir ein Mann und seine Geliebte, wobei das korrekte Verhalten, das wir in der Firma an den Tag legten, den Reiz ausmachte für das, was nachts passierte. Irgendwann hatte sie dann genug davon. Sie konnte sich beruflich verbessern, und ich war nicht so dumm, sie aufzuhalten. Ich musste sie gehen lassen, und das habe ich getan, so wie ich es von Anfang an versprochen hatte, und ihr alles Gute gewünscht.«

«Wo ist sie jetzt?«

«Ich habe keine Ahnung. Sie hat eine Stelle in London angenommen, aber das ist schon einige Zeit her. Wahrscheinlich hat sie danach noch weiter Karriere gemacht.«

«Und was ist mit Mum? Wie konntest du ihr das …«

«Deine Mutter hat nie davon erfahren, Manette.«

«Aber Mignon weiß Bescheid, stimmt’s?«

Fairclough schaute zum See hinunter. Ein paar Enten flogen in V-Formation über sie hinweg, kurvten über den See und kamen wieder zurück. Schließlich antwortete er:»Ja, sie weiß davon. Mir ist rätselhaft, wie sie es herausgefunden hat. Ich wundere mich sowieso, woher sie immer alles weiß.«

«Deswegen hat sie es geschafft …«

«Ja.«

«Und Ian? Wieso hat er Vivienne regelmäßig Geld überwiesen?«

Fairclough schüttelte den Kopf, dann schaute er seine Tochter an.»Gott ist mein Zeuge, Manette: Ich weiß es nicht. Wenn Ian Vivienne Geld überwiesen hat, dann kann ich mir nur vorstellen, dass er es getan hat, um mich vor irgendetwas zu schützen. Wahrscheinlich hat sie Kontakt zu ihm aufgenommen, ihm mit irgendetwas gedroht … Ich weiß es einfach nicht.«

«Vielleicht hat sie gedroht, es Mum zu erzählen. So wie Mignon. Das tut sie doch, oder? Sie droht dir, es Mum zu erzählen, wenn du ihr nicht gibst, was sie will. Was würde Mum denn tun, wenn sie davon erführe?«

Als Fairclough sie anschaute, fand Manette zum ersten Mal, dass ihr Vater alt aussah. Ja, er wirkte regelrecht zerbrechlich.»Deine Mutter wäre am Boden zerstört, meine Liebe«, sagte er.»Nach all den Jahren würde ich ihr das gern ersparen.«

BRYANBARROW — CUMBRIA

Tim konnte Gracie vom Fenster aus sehen. Sie sprang auf ihrem Trampolin rum. Sie war jetzt schon über eine Stunde da draußen und voller Konzentration bei der Sache. Manchmal fiel sie auf den Hintern, aber sie stand jedes Mal wieder auf und setzte ihre Sprungübungen fort.

Vorher hatte Tim sie im Garten hinter dem Haus gesehen. Sie hatte ein Loch gegraben, und neben ihr hatte ein mit einer roten Schleife zugebundener Karton gestanden. Als das Loch tief und breit genug war, hatte sie den Karton hineingestellt und mit Erde bedeckt. Dann hatte sie die übrig gebliebene Erde mit einem Eimer überall im Garten verteilt, obwohl solche Sorgfalt völlig überflüssig war. Aber bevor sie die Erde verteilt hatte, war sie niedergekniet und hatte die Arme vor der Brust gekreuzt: rechte Faust an die linke Schulter und linke Faust an die rechte Schulter. Das hatte Tim an die Haltung von den steinernen Engeln auf alten viktorianischen Friedhöfen erinnert, und da war ihm auf einmal klar geworden, was seine Schwester da draußen getan hatte: Sie hatte ihre Puppe Bella beerdigt.

Man hätte Bella reparieren können. Tim hatte sie ziemlich gründlich kaputt gemacht, aber man hätte die Arme und Beine wieder annähen können. Doch davon hatte Gracie nichts wissen wollen, genauso wie sie nichts von Tim hatte wissen wollen, als er zu ihr gegangen war. Nachdem er aus dem Bach geklettert war, hatte er sich trockene Sachen angezogen, war in Gracies Zimmer gegangen und hatte ihr angeboten, ihr die Haare zu kämmen und zu flechten. Aber sie hatte nur gesagt:»Rühr mich nicht an! Und Bella auch nicht!«Sie hatte nicht mal traurig geklungen, nur resigniert.

Nachdem sie die Puppe beerdigt hatte, war sie zum Trampolin gegangen. Und seitdem sprang sie darauf herum. Tim wollte, dass sie damit aufhörte, wusste aber nicht, wie er sie dazu bringen konnte. Er überlegte, ob er seine Mutter anrufen sollte, verwarf den Gedanken jedoch so schnell, wie er ihm gekommen war. Er wusste, was sie sagen würde:»Sie hört schon wieder auf, wenn sie müde ist. Ich werde nicht extra nach Bryanbarrow fahren, um deine Schwester vom Trampolin zu zerren. Wenn es dich dermaßen stört, sag Kaveh, er soll sie ins Haus rufen … Der spielt doch so gern den Papa«, würde sie noch hämisch hinzufügen. Und dann würde sie zu Wilcox gehen, diesem Wichser, um es sich von einem richtigen Mann besorgen zu lassen. Genauso sah sie das. Charlie Wilcox wollte sie bumsen, also war er ein richtiger Mann. Und jeder, der sie nicht bumsen wollte, wie Tims Vater zum Beispiel, war in ihren Augen ein Arschloch. Und das stimmte ja sogar, dachte Tim. Sein Vater war ein Arschloch gewesen, und Kaveh war ebenfalls ein Arschloch, und allmählich wurde Tim klar, dass er von lauter Arschlöchern umgeben war.

Nachdem er versucht hatte, die Enten im Bach zu erwischen, war er nach Hause gekommen. Kaveh war hinter ihm hergelaufen und hatte versucht, mit ihm zu reden, aber mit dem Typen wollte er nichts zu tun haben. Schlimm genug, dass der Wichser ihn mit seinen ekelhaften Pfoten angepackt hatte. Auch noch mit ihm reden zu müssen … das wäre das Allerletzte.

Vielleicht konnte Kaveh jedoch Gracie überreden, von dem Trampolin runterzukommen, dachte Tim. Vielleicht konnte er sie sogar dazu überreden, Tim die Puppe ausgraben zu lassen. Dann könnte er sie zum Reparieren nach Windermere bringen. Gracie mochte Kaveh, weil sie eben so war. Sie mochte jeden. Sie würde auf Kaveh hören. Kaveh hatte ihr schließlich nichts getan — außer dass er ihre Familie zerstört hatte, natürlich.

Aber dazu würde Tim mit Kaveh reden müssen. Er würde nach unten gehen und ihm sagen müssen, dass Gracie draußen auf dem Trampolin herumsprang. Wahrscheinlich würde Kaveh sagen, dass es vollkommen in Ordnung war, auf einem Trampolin herumzuspringen, dass die Dinger schließlich dazu da waren, immerhin hätten sie Gracie extra so ein Teil gekauft, weil ihr das Trampolinspringen so viel Spaß machte. Dann würde Tim ihm erklären müssen, dass sie jetzt schon über eine Stunde auf dem Trampolin rumhopste, weil sie kreuzunglücklich war. Und Kaveh würde natürlich antworten: Tja, und wir wissen ja beide, warum sie so unglücklich ist, nicht wahr?

Tim hatte das nicht gewollt. Das war ja das Problem. Er hatte Gracie nicht zum Weinen bringen wollen. Gracie war der einzige Mensch, der ihm etwas bedeutete. Sie war ihm in dem Moment einfach in die Quere gekommen. Er hatte überhaupt nicht nachgedacht, als er sich Bella geschnappt und ihr die Arme und Beine ausgerissen hatte. Er hatte einfach irgendetwas tun müssen, weil er innerlich so gekocht hatte. Aber wie sollte Gracie das verstehen, wenn sie nicht innerlich kochte? Sie sah nur die Gemeinheit, mit der er Bella geschnappt und zerrissen hatte.

Gracie hatte aufgehört zu springen. Tim sah, dass sie schwer atmete. Und dann entdeckte er etwas Neues an Gracie, das ihm einen Schrecken einjagte. Sie bekam Brüste! Er sah genau, wie sie sich unter ihrem Pullover abzeichneten.

Das machte ihn so traurig, dass sich ihm der Blick verschleierte, und als er wieder klar sehen konnte, hatte Gracie wieder angefangen zu springen. Diesmal beobachtete er ihre kleinen Brüste. Er musste sich unbedingt um Gracie kümmern.

Seine Mutter anzurufen wäre völlig zwecklos, dachte er zum zweiten Mal. Dass Gracie Brüste bekam, bedeutete, dass ihre Mum irgendetwas unternehmen musste, zum Beispiel mit ihr in die Stadt fahren und einen Baby-BH kaufen oder was auch immer Mädchen trugen, wenn das mit den Brüsten losging. Das war etwas ganz anderes als die Sache mit dem Trampolin. Aber Niamh würde dazu dasselbe sagen, was sie zu allem sagte: Soll Kaveh sich doch darum kümmern.

Es lief alles auf dasselbe hinaus: Egal, was in den nächsten Jahren auf Gracie zukam, mit der Unterstützung ihrer Mum konnte sie nicht rechnen, denn es bestand kein Zweifel daran, dass in Niamh Cresswells Lebensplanung die Kinder, die sie mit ihrem nichtsnutzigen Ehemann gezeugt hatte, nicht vorkamen. Also mussten entweder Tim oder Kaveh Gracie beim Erwachsenwerden beistehen. Oder sie mussten es gemeinsam tun.

Tim verließ sein Zimmer. Kaveh war irgendwo im Haus, und am besten sagte er ihm jetzt gleich, dass sie mit Gracie nach Windermere fahren mussten, um ihr zu besorgen, was sie brauchte. Wenn sie es nicht taten, würden die Jungs in der Schule sie aufziehen. Und irgendwann würden auch die Mädchen damit anfangen. Aber Tim würde nicht zulassen, dass die anderen Kinder seine Schwester herumschubsten.

Als er die Treppe hinunterging, hörte er Kaveh reden. Seine Stimme kam aus dem Kaminzimmer. Die Tür stand einen Spaltbreit offen, und Licht fiel in den Flur. Tim hörte, wie mit einem Schürhaken im Kamin herumgestochert wurde.

«… habe ich eigentlich nicht vor«, sagte Kaveh höflich zu jemandem.

«Sie haben doch nicht etwa vor zu bleiben, jetzt, wo Cresswell tot ist. «Tim erkannte George Cowleys Stimme. Und er wusste sofort, worüber die beiden sprachen: über die Bryan Beck Farm. Offenbar witterte George Cowley seine Chance, das Gutshaus zu kaufen.

«Doch, das habe ich vor«, sagte Kaveh.

«Ach, Sie wollen wohl Schafe züchten?«Die Vorstellung schien Cowley zu amüsieren. Wahrscheinlich stellte er sich gerade vor, wie Kaveh in pinkfarbenen Gummistiefeln und einer fliederfarbenen Regenjacke zwischen den Schafen herumhüpfte.

«Ich hatte gehofft, Sie würden das Land weiterhin pachten«, sagte Kaveh.»Das war doch bisher eine gute Lösung. Ich wüsste nicht, warum es das nicht auch in Zukunft sein sollte. Abgesehen davon würde das Land ziemlich viel einbringen, falls es einmal zum Verkauf kommen sollte.«

«Und Sie glauben wohl, ich hätte sowieso nicht genug Geld, um es zu kaufen, was? Können Sie es sich denn etwa leisten? Das ganze Anwesen wird in ein paar Monaten versteigert, und dann werde ich mit meinem Geld bereitstehen.«

«Ich fürchte, da täuschen Sie sich«, entgegnete Kaveh.

«Was soll das heißen? Wollen Sie etwa behaupten, er hätte Ihnen das Haus vermacht?«

«Genau das hat er getan.«

Einen Moment lang war es still. Offenbar musste Cowley die Neuigkeit erst einmal verdauen. Schließlich sagte er:»Sie wollen mich verarschen.«

«Ganz und gar nicht.«

«Ach nein? Und wovon wollen Sie die Erbschaftssteuern bezahlen?«

«Zerbrechen Sie sich mal nicht meinen Kopf, Mr. Cowley«, sagte Kaveh.

Wieder war es still. Tim fragte sich, was in George Cowley vorging. Und zum ersten Mal fragte er sich, ob Kaveh Mehran etwas mit dem Tod seines Vaters zu tun hatte. Es war doch ein Unfall gewesen, oder? Alle hatten das gesagt, selbst der Coroner. Aber auf einmal kam Tim das alles gar nicht mehr so eindeutig vor. Und das Nächste, was Kaveh sagte, machte die Sache noch komplizierter.

«Meine Familie wird ebenfalls hier einziehen, und gemeinsam …«

«Familie?«, schnaubte Cowley.»Was versteht denn wohl Ihresgleichen unter Familie?«

Kaveh antwortete nicht sofort. Dann sagte er betont förmlich:»Meine Eltern und meine Ehefrau werden aus Manchester hierherziehen.«

Der Boden schien unter Tims Füßen zu schwanken. Alles, was er zu wissen geglaubt hatte, wurde in einen Strudel gesogen, in dem Wörter plötzlich einen ganz anderen Sinn erhielten. Tim verstand überhaupt nichts mehr.

«Ihre Ehefrau«, sagte Cowley tonlos.

«Meine Ehefrau, ja. «Dann waren Schritte zu hören. Vielleicht ging Kaveh ans Fenster. Oder an den Schreibtisch. Oder vielleicht hatte er sich vor dem Kaminsims aufgebaut wie einer, der wusste, dass er alle Trümpfe in der Hand hält.»Ich werde nächsten Monat heiraten.«

«Ah, ja«, sagte Cowley.»Und ist Ihre Zukünftige über Ihr kleines Arrangement hier oben im Bilde?«

«Arrangement? Ich verstehe nicht, was Sie meinen.«

«Sie wissen ganz genau, was ich meine, Sie kleine Schwuchtel. Das ganze Dorf weiß, was zwischen Ihnen und Cresswell abgelaufen ist.«

«Wenn Sie meinen, das ganze Dorf weiß, dass ich bei Ian Cresswell zur Miete gewohnt habe, da haben Sie selbstverständlich recht. Was sonst gibt es da zu wissen?«

«Wollen Sie mir etwa erzählen …«

«Ich will Ihnen erzählen, dass ich nächsten Monat heirate, dass meine Frau und meine Eltern hierherziehen werden und dass wir alle zusammen, einschließlich der Kinder, die wir demnächst bekommen, hier wohnen werden. Falls daran irgendetwas unverständlich sein sollte, kann ich Ihnen auch nicht helfen.«

«Und was ist mit den Kindern? Glauben Sie etwa, die verraten Ihrer zukünftigen Ehefrau nicht, was mit Ihnen los ist?«

«Reden Sie von Tim und Gracie, Mr. Cowley?«

«Sie wissen verdammt gut, von wem ich rede!«

«Abgesehen davon, dass meine Verlobte kein Englisch spricht und sowieso kein Wort von dem verstehen würde, was die beiden ihr sagen, gibt es überhaupt nichts zu ›verraten‹. Außerdem ziehen Tim und Gracie wieder zu ihrer Mutter, das ist alles bereits geklärt.«

«Das war’s dann also?«

«Ich fürchte, ja.«

«Sie sind ein ganz schlaues Kerlchen, was? Wahrscheinlich haben Sie das alles von Anfang an geplant.«

Tim bekam nicht mehr mit, was Kaveh darauf antwortete. Er hatte genug gehört. Er stolperte in die Küche und von dort nach draußen.

LAKE WINDERMERE — CUMBRIA

Es gab noch eine letzte Möglichkeit in Bezug auf Ian Cresswells Tod durch Ertrinken, der St. James nachgehen wollte. Sie war ein bisschen heikel, aber sie musste abgeklärt werden. Und dazu brauchte er ein simples Sportgerät.

Seltsamerweise gab es weder in Milnthorpe noch in Arnside einen Angelladen, so dass er nach Grange-over-Sands fahren musste, wo er sein Glück im Lancasters versuchte, einem Kaufhaus, das alles von Babykleidung bis hin zu Gartenwerkzeug im Angebot hatte. Die Geschäftsphilosophie schien in der Annahme zu bestehen, dass nicht gebraucht wurde, was hier nicht erworben werden konnte. Da in diesem Teil der Welt das Angeln eine wichtige Rolle spielte, hatte das Geschäft natürlich ein Filetiermesser im Angebot, das genauso aussah wie das, was Lynley im Bootshaus von Ireleth Hall aus dem Wasser geholt hatte.

St. James kaufte es, verständigte Lynley über Handy und teilte ihm mit, dass er auf dem Weg nach Ireleth Hall sei. Dann rief er Deborah an, aber die ging nicht ans Telefon, was ihn nicht wunderte, da sie sauer auf ihn war und wahrscheinlich auf dem Display seine Nummer gesehen hatte.

Im Prinzip war er selbst im Moment auch nicht besonders gut auf sie zu sprechen. Er liebte seine Frau sehr, doch wenn sie sich in einem wichtigen Punkt einfach nicht einigen konnten, brachte ihn das manchmal derart zur Verzweiflung, dass das ihre ganze Ehe in Frage stellte. Meistens verflog die Verzweiflung schnell wieder, und wenn er später, nachdem sie sich beide wieder beruhigt hatten, darüber nachdachte, musste er selber lachen. Dann fragte er sich, wie es möglich gewesen war, dass sie sich so in die Wolle geraten waren. Dinge, die an einem Tag von entscheidender Bedeutung zu sein schienen, entpuppten sich am nächsten Tag als Bagatellen. Aber diesmal sah die Sache anders aus.

An einem anderen Tag hätte er die abwechslungsreiche Strecke durch das Lyth Valley genommen, diesmal entschied er sich für die direkte Route nach Windermere und raste über die Schnellstraße, die ihn ans Ende des Sees führte, wo Endmoränen bei Newby Bridge Zeugnis von Gletschern der letzten Eiszeit ablegten. Und dann lag der See vor ihm: ein breites, spiegelblankes, blaugraues Band, in dem sich die herbstlichen Farben der Bäume am Ufer spiegelten.

Ireleth Hall lag ganz in der Nähe, gleich hinter dem Fell Foot Park mit seinen Rundwanderwegen, von denen aus man einen fantastischen Blick auf den See und die umgebenden Hänge hatte, die im Frühjahr übersät waren mit Narzissen und mannshohen Rhododendronbüschen. Die Straße führte durch einen Tunnel aus Baumkronen, die teils rostrot und ockerfarben und teils bereits kahl waren.

Das Tor von Ireleth Hall war geschlossen, aber versteckt unter dem Efeu, der die Begrenzungsmauer umrankte, befand sich eine Klingel. St. James stieg aus seinem Mietwagen und klingelte. Im selben Moment hielt Lynley hinter ihm in seinem Healey Elliott.

Das vereinfachte die Sache. Als sich aus dem Lautsprecher der Gegensprechanlage eine Stimme meldete, sagte Lynley über St. James’ Schulter hinweg knapp:»Thomas Lynley hier«, und schon schwang das Tor wie in einem Horrorfilm quietschend auf und hinter ihnen wieder zu.

Sie gingen direkt zum Bootshaus. Dies sei, erklärte St. James seinem Freund, das Einzige, was er noch überprüfen könne.

Lynley antwortete, er habe absolut nichts dagegen, den Fall abzuschließen und so bald wie möglich nach London zurückzukehren. Als St. James ihn fragend ansah, sagte er:»Meine Chefin ist ziemlich sauer.«

«Ach?«

«Es gefällt ihr nicht, dass Hillier mich hierhergeschickt hat.«

«Nicht gut.«

«Nein, gar nicht gut.«

Mehr wurde nicht zu dem Thema gesagt, aber St. James machte sich so seine Gedanken über Lynleys Verhältnis zu Isabelle Ardery. Lynley hatte ihn einmal zusammen mit Ardery aufgesucht, um mit ihm über einen alten Fall zu reden, an dem sie gemeinsam gearbeitet hatten, und St. James hatte durchaus mitbekommen, dass es zwischen den beiden geknistert hatte. Doch ein Verhältnis mit einer Vorgesetzten war gefährlich. In Lynleys Fall wäre ein Verhältnis mit jeder Frau im Yard gefährlich.

Auf dem Weg zum Bootshaus berichtete Lynley seinem alten Freund von dem Gespräch mit Manette und deren Exmann und davon, was die beiden ihm von den Überweisungen erzählt hatten, die Ian Cresswell monatlich getätigt hatte. Das war entweder in Bernard Faircloughs Auftrag geschehen oder ohne dessen Wissen, sagte Lynley. Auf jeden Fall müsse Cresswell über Informationen verfügt haben, die ihm gefährlich werden konnten.

«Letztendlich scheint es mal wieder ums Geld zu gehen«, sagte Lynley.

«Das tut es doch in den meisten Fällen, oder?«, bemerkte St. James.

Diesmal brauchten sie keine zusätzliche Lampe, denn für das, was St. James im Bootshaus vorhatte, reichte das Tageslicht aus, das von der Wasseroberfläche reflektiert wurde. St. James wollte die Steine untersuchen, aus denen der Steg gemauert war. Wenn sich außer den beiden Steinen, die Lynley aus dem Wasser geholt hatte, noch mehr Steine gelockert hatten, dann musste das, was Ian Cresswell zugestoßen war, reiner Zufall gewesen sein.

Das Skullboot war da, aber nicht das Ruderboot. Anscheinend war Valerie draußen auf dem See. St. James ging zu der Stelle, an der ihr Boot vertäut gewesen war. Es schien ihm vernünftig, dort als Erstes nachzusehen.

Mühsam ging er auf die Knie.»Geht schon«, sagte er, als Lynley ihm behilflich sein wollte, dann arbeitete er sich vorsichtig auf allen vieren vor. Alles wirkte stabil, bis er den fünften großen Stein erreichte, der so locker saß wie der Schneidezahn eines Fünfjährigen. Auch der sechste und siebte Stein waren locker. Die nächsten vier saßen fest, während Nummer zwölf kaum noch Halt hatte. Dem zwölften Stein rückte St. James mit dem Filetiermesser zuleibe, das er in Grange-over-Sands gekauft hatte. Den Mörtel herauszukratzen, bis der Stein so locker saß, dass er bei der geringsten Berührung ins Wasser fallen würde, war ganz einfach. Die Klinge ließ sich problemlos in den Zwischenraum schieben, und nachdem St. James ein bisschen damit herumgeruckelt hatte, reichte eine leichte Berührung mit dem Fuß — Lynley stellte seinen zur Verfügung —, um den Stein ins Wasser zu befördern. Man konnte sich gut vorstellen, was mit jemandem passieren würde, der aus einem Boot stieg und mit seinem ganzen Gewicht auf einen solchen Stein trat. Die Frage war, ob die anderen lockeren Steine, die St. James nicht mit dem Messer bearbeitet hatte, ebenfalls ins Wasser fallen würden, wenn Lynley einen Fuß daraufsetzte. Einer fiel hinein, drei nicht. Lynley seufzte, schüttelte den Kopf und sagte:»Ich bin offen für Vorschläge. Falls meine Rückkehr nach London einer davon ist, werde ich nicht widersprechen.«

«Wir brauchen direktes Licht.«

«Wozu?«

«Nicht hier drin. Komm mit.«

Sie verließen das Bootshaus. St. James hielt das Filetiermesser hoch. Sie betrachteten es beide, doch um zu sehen, worauf es ankam, brauchte man kein Mikroskop in einem forensischen Labor: Vom Lösen des Mörtels war die Klinge völlig zerkratzt und eingekerbt. Das Messer dagegen, das Lynley aus dem Wasser geholt hatte, hatte keinerlei Gebrauchsspuren aufgewiesen.

«Ah, verstehe«, sagte Lynley.

«Ich denke, damit haben wir Klarheit, Tommy. Es wird Zeit, dass Deborah und ich nach London zurückkehren. Ich will nicht behaupten, dass diese Steine nicht auf andere Weise gelockert worden sein könnten, aber die Tatsache, dass das Messer, das du aus dem Wasser geholt hast, keine Kratzspuren aufweist, legt meiner Meinung nach den Schluss nahe, dass es sich bei Ian Cresswells Tod um einen Unfall gehandelt hat. Es sei denn, die Steine wurden mit Hilfe eines anderen Werkzeugs gelockert. Und falls du nicht vorhast, jeden beweglichen Gegenstand auf dem Grundstück ins Labor zu schaffen …«

«Muss ich einen anderen Weg einschlagen«, beendete Lynley den Satz für ihn.»Oder ich schließe den Fall ab und fahre nach London zurück.«

«Es sei denn, Barbara Havers liefert dir noch irgendetwas. Und es ist ja nicht einmal ein schlechtes Ergebnis, oder? Es ist immerhin ein Ergebnis.«

«Da hast du recht.«

Eine Weile schauten sie schweigend auf den See hinaus. Ein Boot mit einer geschickten Ruderin näherte sich. Valerie Fairclough hatte Anglerkleidung an, aber offenbar kein Glück gehabt. Als sie nahe genug war, hielt sie ihnen ihren leeren Eimer hin und rief gutgelaunt:»Zum Glück hungern wir hier nicht. In den letzten Tagen hab ich überhaupt nichts gefangen.«

«Am Steg im Bootshaus sind noch mehr Steine locker«, rief Lynley.»Und ein paar haben wir zusätzlich gelockert. Seien Sie vorsichtig beim Aussteigen. Wir helfen Ihnen.«

Sie gingen zurück ins Bootshaus. Das Boot glitt hinein, und Valerie vertäute es genau an der Stelle, wo die Steine locker waren.»Sie haben die allerschlimmste Stelle erwischt«, sagte Lynley.»Lag das Boot hier, als Sie losgefahren sind?«

«Ja«, sagte Valerie.»Mir ist gar nichts aufgefallen. Ist es wirklich so schlimm?«

«Die halten nicht mehr lange.«

«Wie die anderen?«

«Wie die anderen.«

Sie entspannte sich. Sie lächelte nicht, aber ihre Erleichterung war deutlich spürbar, dachte St. James, und er wusste, dass es Lynley, der Valerie Fairclough ihre Angelausrüstung abnahm, auch nicht entgangen war. Lynley stellte das Angelzeug ab und reichte dann Valerie Fairclough eine Hand, um ihr beim Aussteigen zu helfen. Dann stellte er die beiden einander vor.

«Sie haben Ian Cresswells Leiche gefunden, wie ich höre«, sagte St. James.

«Ja, das ist richtig. «Valerie nahm die Baseballmütze ab, die ihr feines, graues Haar bedeckt hatte.

«Und Sie haben auch die Polizei verständigt«, fuhr St. James fort.

«Ganz recht.«

«Ich hätte dazu einige Fragen«, sagte St. James.»Wollten Sie gerade ins Haus gehen? Dürfen wir mitkommen?«

Valerie warf Lynley einen kurzen Blick zu. Sie wirkte nicht argwöhnisch, das würde sie sich nicht anmerken lassen. Aber wahrscheinlich fragte sie sich, warum Lynleys Freund, ein Gerichtssachverständiger aus London, mit ihr reden wollte, und sie wusste garantiert, dass es nicht um ihr derzeitiges Pech beim Angeln gehen dürfte.

«Selbstverständlich«, sagte sie huldvoll. Ein kurzes Flackern in ihren blauen Augen verriet jedoch, dass es ihr durchaus nicht recht war.

Sie machten sich auf den Weg. Nach einer Weile fragte St. James:»Sind Sie an dem Tag auch zum Angeln rausgefahren?«

«An dem Tag, als ich ihn gefunden habe? Nein.«

«Weswegen sind Sie dann im Bootshaus gewesen?«

«Ich habe einen Spaziergang gemacht. Das tue ich fast jeden Nachmittag. Wenn der Winter erst einmal angefangen hat, verbringe ich viel mehr Zeit im Haus, als mir lieb ist, deswegen versuche ich, so viel wie möglich draußen zu sein, solange das Wetter es noch zulässt.«

«Auf dem Anwesen? Im Wald? Auf den Felsen?«

«Ich bin hier geboren und aufgewachsen, Mr. St. James. Ich gehe überall hin, wo es mir gefällt.«

«Und an dem Tag?«

Valerie Fairclough schaute Lynley an.»Würden Sie mir das erklären?«, was eine höfliche Art und Weise war zu fragen, was es zu bedeuten hatte, dass sein Freund sie einem Verhör unterzog.

«Es ist eher mein Interesse als das von Mr. Lynley«, sagte St. James.»Ich habe mit Constable Schlicht über den Tag gesprochen, an dem Ian Cresswells Leiche gefunden wurde. Er hat mir zwei merkwürdige Dinge über den Anruf bei der Polizei erzählt, und seitdem versuche ich, mir einen Reim darauf zu machen. Das heißt, eigentlich bezog sich nur eine seiner Bemerkungen auf den Anruf. Die andere bezog sich auf Sie.«

Jetzt konnte Valerie Fairclough ihren Argwohn nicht länger verbergen. Sie blieb stehen und fuhr sich mit den Händen über ihre Hosenbeine, eine Geste, mit der sie sich zu beruhigen versuchte, so schien es St. James. Lynley, der es ebenfalls bemerkt hatte, warf ihm einen Blick zu, der besagte, er solle nicht lockerlassen.

«Und was hat der Constable Ihnen gesagt?«, wollte Valerie wissen.

«Er hat mit dem Mann in der Telefonzentrale gesprochen, der Ihren Anruf entgegengenommen hat. Und der meinte, die Person, die angerufen hat, sei in Anbetracht der Umstände erstaunlich gelassen gewesen.«

«Verstehe. «Valerie war nach wie vor freundlich, aber ihr abruptes Stehenbleiben ließ darauf schließen, dass es Dinge im Zusammenhang mit Cresswells Tod gab, von denen sie nicht wollte, dass St. James und Lynley sie erfuhren. Und eins davon, dachte St. James, hatte mit dem Turm zu tun, den die Faircloughs für ihre Tochter hatten errichten lassen.

«›In meinem Bootshaus schwimmt ein Toter‹, so haben Sie sich offenbar ausgedrückt«, sagte St. James.

Sie wandte sich ab. Ein leichtes Zucken in ihrem Gesicht erinnerte Lynley an das Kräuseln der Wasseroberfläche hinter ihnen. Irgendetwas hatte sie einen Moment lang aus der Fassung gebracht. Sie hob eine Hand und schob sich eine Strähne aus der Stirn. Die Baseballmütze hatte sie nicht wieder aufgesetzt. Das Sonnenlicht fiel auf ihr Gesicht und hob ihre feinen Fältchen hervor, Altersspuren, die sie offenbar in Schach zu halten versuchte.

«Niemand kann sagen, wie er in einer solchen Situation reagieren wird«, sagte sie.

«Da gebe ich Ihnen recht. Aber das zweite merkwürdige Detail jenes Tages ist die Kleidung, die Sie trugen, als Sie die Polizei und den Krankenwagen in der Einfahrt erwarteten. Sie waren nicht für einen Spaziergang gekleidet, erst recht nicht für einen Spaziergang im Herbst.«

Lynley, der verstand, worauf St. James hinauswollte, sagte:»Sie sehen also, dass sich mehrere Möglichkeiten anbieten. «Er ließ ihr einen Augenblick Zeit zum Nachdenken, ehe er fortfuhr:»Sie waren gar nicht im Bootshaus, nicht wahr? Sie haben weder die Leiche gefunden noch den Anruf bei der Polizei getätigt.«

«Ich habe doch meinen Namen genannt, als ich angerufen habe«, erwiderte Valerie steif. Aber sie war nicht dumm. Sie musste wissen, dass zumindest dieser Teil des Spiels aus war.

«Jeder kann am Telefon irgendeinen Namen nennen«, bemerkte St. James.

«Vielleicht sollten Sie endlich die Wahrheit sagen«, fügte Lynley hinzu.»Es geht um Ihre Tochter, nicht wahr? Ich nehme an, Mignon hat den Toten gefunden und dann bei der Polizei angerufen. Von ihrem Turm aus kann sie das Bootshaus sehen. Wenn sie auf dem Dach des Turms steht, kann sie wahrscheinlich sowohl die Tür des Bootshauses als auch die Boote sehen, die ein und aus fahren. Die eigentliche Frage, die wir beantworten müssen, lautet also, ob auch sie einen Grund gehabt hätte, Ian Cresswell in den Tod zu schicken. Denn sie hat doch sicherlich gewusst, dass er an dem Abend auf den See hinausgerudert ist, nicht wahr?«

Valerie hob die Augen zum Himmel. St. James fühlte sich unwillkürlich an eine Pietà-Darstellung erinnert und musste daran denken, was die Mutterschaft für eine Frau bedeutete. Es hörte nicht auf, wenn die Kinder erwachsen wurden. Es ging weiter, bis entweder die Mutter oder die Kinder starben. Valerie sagte:»Keins von meinen Kindern …«Sie brach ab und schaute erst St. James und dann Lynley an.»Meine Kinder sind in jeder Hinsicht unschuldig.«

St. James sagte:»Wir haben ein Filetiermesser im Wasser gefunden. «Er zeigte ihr das Messer, mit dem er die Steine gelockert hatte.»Natürlich nicht dieses, aber ein ganz ähnliches.«

«Das wird das Messer gewesen sein, das ich vor ein paar Wochen verloren habe«, sagte sie.»Ich war dabei, eine ziemlich große Forelle zu säubern, dabei ist es mir ins Wasser gefallen.«

«Wirklich?«, fragte Lynley.

«Wirklich«, antwortete sie.»Ich bin eben manchmal ungeschickt.«

Lynley und St. James sahen einander an. Es war klar, dass Valerie log, denn der Arbeitstisch zum Ausnehmen der Fische stand viel zu weit weg. Das Messer hätte schon schwimmen müssen, um unter Ian Cresswells Boot zu gelangen.

KENSINGTON — LONDON

In natura sah Vivienne Tully genauso aus wie auf den Fotos, die Barbara von ihr im Internet gefunden hatte. Vivienne war genauso alt wie Barbara, aber sie hätten nicht unterschiedlicher sein können. Wahrscheinlich träumte Isabelle Ardery davon, dass Barbara irgendwann so aussah wie Vivienne: schlanker Körper, elegant gekleidet einschließlich aller erforderlichen Accessoires, topmodische Frisur und perfektes Make-up. Schon allein aus Prinzip konnte Barbara die Frau auf den ersten Blick nicht ausstehen.

Sie hatte sich entschlossen, bei ihrem nächsten Besuch in der Rutland Gate nicht als Interessentin an einer Immobilie aufzutreten, sondern als Sergeant Havers. Sie hatte die Klingel für Apartment Nr. 6 gedrückt, und Vivienne Tully — oder wer auch immer — hatte, ohne weiter nachzufragen, den Türöffner betätigt. Daraus schloss Barbara, dass Vivienne Besuch erwartete, denn kaum jemand würde die Haustür öffnen, ohne sich zu erkundigen, was derjenige wollte, der geklingelt hatte. Auf diese Weise wurden Leute ausgeraubt. Wenn nicht sogar ermordet.

Der Besuch, den Vivienne Tully erwartete, war eine Immobilienmaklerin, wie Barbara ziemlich schnell feststellte. Nachdem sie sie einmal von oben bis unten gemustert hatte, fragte Vivienne entgeistert:»Sie sind von Foxtons?«Da Barbara jedoch nicht wegen eines Schönheitswettbewerbs gekommen war, beschloss sie, die Bemerkung nicht als Beleidigung aufzufassen. Und sie verzichtete auch darauf, sich als die erwartete Person auszugeben, denn Vivienne Tully würde nie im Leben glauben, dass eine Immobilienmaklerin in roten Turnschuhen, einer orangefarbenen Cordhose und einer marineblauen Donkeyjacke an ihre Tür klopfen würde.

Also sagte sie:»Detective Sergeant Havers, New Scotland Yard. Ich muss mit Ihnen reden.«

Zu Barbaras Verwunderung zeigte Vivienne sich nicht im Mindesten schockiert.»Kommen Sie rein«, sagte sie.»Aber ich fürchte, ich habe nicht viel Zeit. Ich habe gleich einen Termin.«

«Mit Foxtons. Schon klar. Sie verkaufen?«Barbara sah sich um, während Vivienne die Tür schloss. Die Wohnung war traumhaft schön: hohe Decken, aufwendiger Stuck, Perserteppiche auf Parkettboden, geschmackvolle Antiquitäten, ein offener Kamin mit marmornem Sims. Sie musste ein Vermögen gekostet haben und würde jetzt das Doppelte oder Dreifache einbringen. Das Merkwürdige war, dass keinerlei persönliche Gegenstände zu sehen waren. Vielleicht konnte man einige ausgewählte Stücke deutschen Porzellans als persönlich bezeichnen, dachte Barbara, aber die Sammlung antiker Bücher in einem Bücherschrank sah nicht gerade so aus, als wäre sie als Lesestoff für regnerische Tage gedacht.

«Ich gehe nach Neuseeland«, sagte Vivienne.»Zeit, in die Heimat zurückzukehren.«

«Sie sind in Neuseeland geboren?«, fragte Barbara, obwohl sie die Antwort bereits kannte. Vivienne hatte keinen erkennbaren Akzent und hätte ohne Weiteres lügen können.

Aber das tat sie nicht.»Ja, in Wellington«, sagte sie.»Meine Eltern leben dort. Sie werden allmählich alt und hätten mich gern in ihrer Nähe.«

«Sie sind also schon eine Weile in England?«

«Darf ich fragen, warum Sie das wissen wollen, Sergeant Havers? Und womit ich Ihnen behilflich sein kann?«

«Indem Sie mir von Ihrer Beziehung zu Bernard Fairclough erzählen. Das wäre schon mal ein Anfang.«

Viviennes Gesichtsausdruck blieb vollkommen liebenswürdig.»Ich glaube nicht, dass Sie das etwas angeht. Um was genau geht es eigentlich?«

«Um den Tod von Ian Cresswell. Ich nehme an, dass Sie ihn gekannt haben, da Sie eine Zeitlang gleichzeitig mit ihm bei Fairclough Industries gearbeitet haben.«

«Wäre es dann nicht logisch, mich zu fragen, was für ein Verhältnis ich zu Ian Cresswell hatte?«

«Dazu wäre ich als Nächstes gekommen. Im Moment interessiert mich eher der Fairclough-Ansatz. «Barbara ließ ihren Blick durch die Wohnung schweifen und nickte anerkennend.»Hübsche Hütte. Darf ich Platz nehmen?«Ohne auf eine Antwort zu warten, ging sie zu einem Sessel, stellte ihre Tasche daneben auf den Boden und ließ sich in die Polster sinken. Sie fuhr mit der Hand über den kostbaren Bezugsstoff. Verflixt und zugenäht — sollte das etwa Seide sein? Offensichtlich kaufte Vivienne Tully ihr Mobiliar nicht bei IKEA.

«Ich sagte ja bereits, dass ich einen Termin …«

«Dass Sie einen Termin mit jemand von Foxtons haben. Schon kapiert. Keine Sorge, das kann ich mir schon noch merken. Wahrscheinlich wäre es Ihnen ganz lieb, wenn ich wieder weg bin, bevor Ihr Immobilienfritze hier aufkreuzt, richtig?«

Vivienne war nicht dumm. Sie wusste, dass sie Barbara ein paar Informationen würde bieten müssen, damit sie sich verdrückte. Sie setzte sich auf ein kleines Sofa.»Ich habe eine Zeitlang bei Fairclough Industries gearbeitet, wie Sie bereits erwähnten. Und zwar als Bernard Faircloughs Chefsekretärin. Es war meine erste Arbeitsstelle nach meinem Abschluss an der London School of Economics. Nach ein paar Jahren habe ich die Stelle gewechselt.«

«Jemand wie Sie ist auf dem Arbeitsmarkt ziemlich umtriebig, das ist mir klar«, sagte Barbara.»Aber nach Ihrer Zeit bei Fairclough Industries und einem kurzem Intermezzo als freiberufliche Wirtschaftsberaterin haben Sie bei dieser Gartenbaufirma angefangen und sind bis heute dort geblieben.«

«Na und? Ich wollte die Sicherheit eines festen Arbeitsplatzes, und die hat Precision Gardening mir geboten. Ich bin in der Firma aufgestiegen, ich war die richtige Person am richtigen Ort zu einer Zeit, als Chancengleichheit großgeschrieben wurde. Als Geschäftsführerin habe ich dort jedoch auch nicht sofort angefangen, Sergeant.«

«Aber den Kontakt zu Fairclough haben Sie immer beibehalten.«

«Ich reiße keine Brücken hinter mir ab. Kontakte zu halten hat sich für mich als nützlich erwiesen. Bernard hat mich gebeten, im Aufsichtsrat der Fairclough Stiftung mitzuwirken. Warum hätte ich das ablehnen sollen?«

«Wie ist er denn auf die Idee gekommen?«

«Wie meinen Sie das? Das ist doch nichts Schlimmes. Er hat mich gefragt, und ich habe Ja gesagt. Es geht schließlich um eine gute Sache.«

«Und er hat Sie gefragt, weil …«

«Ich nehme an, meine Arbeit in Barrow hat ihn davon überzeugt, dass ich auch in anderen Positionen zu gebrauchen war. Als ich damals bei Fairclough Industries aufgehört habe …«

«Warum eigentlich?«

«Warum ich dort aufgehört habe?«

«Bei Fairclough Industries hätten Sie doch auch Karriere machen können.«

«Waren Sie schon mal länger in Barrow, Sergeant Havers? Nein? Also, mir hat es dort nicht gefallen. Und als sich mir dann die Gelegenheit bot, nach London zurückzukommen, habe ich nicht lange gezögert. So läuft das eben. Auf eine Position, wie sie mir dort angeboten wurde, hätte ich in Barrow Jahre warten müssen, selbst wenn es mich gereizt hätte, dort zu bleiben, was nicht der Fall war, glauben Sie mir.«

«Und jetzt leben Sie in Lord Faircloughs Wohnung.«

Vivienne änderte ihre Haltung ein wenig und richtete sich noch mehr auf, sofern das möglich war.»Was auch immer Sie glauben mögen, es entspricht nicht den Tatsachen.«

«Diese Wohnung gehört also nicht Fairclough? Warum hat er dann einen Schlüssel? Ich dachte, er kommt ab und zu vorbei, um sich zu vergewissern, dass Sie die Hütte in Ordnung halten. Wie Vermieter das halt so machen.«

«Was hat das alles mit Ian Cresswell zu tun, der ja angeblich der Grund Ihres Besuchs ist?«

«Das weiß ich noch nicht so genau«, antwortete Barbara leichthin.»Wollen Sie mir vielleicht die Sache mit dem Schlüssel erklären? Vor allem, wenn Fairclough die Hütte nicht mal gehört, wie ich angenommen hatte. Schöne Wohnung übrigens. Muss Sie ’ne Stange Geld gekostet haben. So was hütet man doch wie seinen Augapfel, oder? Und Sie werden ja sicherlich Ihre Wohnungsschlüssel nicht wahllos verteilen, sondern sie nur Personen Ihres Vertrauens überlassen, nicht wahr?«

«Das geht Sie wirklich nichts an.«

«Wo übernachtet unser guter Bernard dann, wenn er in London ist? Ich habe im Twins Club nachgefragt, aber die haben keine Übernachtungsgäste. Außer der alten Schachtel, die den Türdienst macht, lassen die keine Frau über die Türschwelle, die nicht in Begleitung eines männlichen Clubmitglieds erscheint. Ich habe gehört, dass Sie dort am Arm von Lord Fairclough ein und aus gehen. Mittagessen, Abendessen, Cocktails. Anschließend fahren Sie zusammen im Taxi weg, und das Taxi bringt Sie jedes Mal hierher. Manchmal schließen Sie die Haustür auf, manchmal schließt er die Haustür auf, und zwar mit seinem eigenen Schlüssel. Dann kommen Sie hier rauf in diesen … na ja … Palast und danach … Also, wo bettet Fairclough seinen alternden Körper, wenn er in London ist? Das ist die große Frage.«

Vivienne stand auf. Das musste sie auch, dachte Barbara, denn es dauerte nicht mehr lange, dann würde sie ihren ungebetenen Gast hinauswerfen. Aber bis dahin wollte Barbara so viel wie möglich aus ihr herausquetschen. Sie sah, dass Vivienne große Mühe hatte, die Contenance zu wahren, und das bereitete Barbara eine ungeheure Genugtuung. Es tat doch einfach ausgesprochen gut, jemanden, der so verdammt perfekt war, zu piesacken.

«Nein, das ist nicht die große Frage«, sagte Vivienne Tully.»Die große Frage ist, wie lange Sie brauchen, um zur Tür zu gehen, die ich für Sie öffnen und hinter Ihnen wieder schließen werde. Unser Gespräch ist beendet.«

«Tja«, sagte Barbara,»ich werde wohl freiwillig zur Tür gehen müssen.«

«Ich kann Sie auch dort hinzerren.«

«Und riskieren, dass ich kreische und um mich schlage, so dass die Nachbarn es hören? Ich werde einen Aufstand machen, der Ihnen mehr Aufmerksamkeit beschert, als Ihnen wahrscheinlich lieb ist.«

«Ich möchte, dass Sie gehen, Sergeant. Ich tue nichts Verbotenes und wüsste nicht, was meine Mahlzeiten oder Cocktails mit Bernard Fairclough mit Ian Cresswell zu tun hätten, es sei denn, Bernard hat Ian die Rechnungen gegeben und Ian hat sie nicht bezahlt. Aber deswegen wird er wohl kaum den Tod gefunden haben, oder?«

«Wäre das typisch gewesen für Ian? Hat er mit dem Geld des Barons gegeizt?«

«Das weiß ich nicht. Seit ich vor Jahren bei Fairclough Industries aufgehört habe, hatte ich keinen Kontakt mehr mit Ian. Ist das alles, was Sie wissen wollten? Wie gesagt, ich habe einen Termin.«

«Die Sache mit dem Schlüssel ist immer noch nicht geklärt.«

Vivienne lächelte freudlos.»Ich wünsche Ihnen viel Erfolg bei der Aufklärung dieses Details. «Sie ging zur Wohnungstür und hielt sie auf.»Wenn Sie also jetzt bitte gehen würden?«

Barbara blieb nichts anderes übrig, als der Aufforderung nachzukommen. Mehr würde sie aus Vivienne nicht herauskriegen, und die Tatsache, dass Vivienne sich nicht über einen Besuch von Scotland Yard gewundert hatte — ganz zu schweigen davon, dass sie das fast Unmögliche fertiggebracht und während des ganzen Gesprächs kein falsches Wort von sich gegeben hatte —, sagte Barbara, dass ihr Gegenüber nicht so schnell aus der Fassung zu bringen war. Sie würde sich also etwas anderes einfallen lassen müssen.

Anstatt mit dem Aufzug zu fahren, ging sie die Treppe hinunter. Als sie aus dem Treppenhaus trat, sah sie den Portier, der gerade dabei war, die Post, die durch den Schlitz in der Eingangstür geworfen worden war, aufzuheben und zu verteilen. Er hörte sie und drehte sich um.

«Ach, Sie schon wieder«, sagte er.»Haben wohl die Hoffnung noch nicht aufgegeben, was?«

Barbara trat neben ihn an den Tisch, um besser sehen zu können. Ein unterschriebenes Schuldanerkenntnis wäre jetzt genau das Richtige gewesen, am besten in Vivienne Tullys Postfach oder, besser noch, Barbara direkt ausgehändigt, damit sie es an Lynley weiterreichen konnte. Den Absendern nach zu urteilen — British Telecommunications, Thames Water, Television Licencing und so weiter — schien es sich jedoch um ganz normale Post zu handeln.

Sie sagte:»Ich hab bei Foxtons angerufen. Zufällig wird Apartment Nummer 6 demnächst verkauft. Da hab ich mir gedacht, ich seh’s mir mal eben an.«

«Miss Tully verkauft?«, fragte der Portier.»Davon hab ich ja noch gar nichts gehört. Wirklich seltsam, denn normalerweise sagen die Leute mir so was, weil dann jedes Mal ein einziges Kommen und Gehen ist.«

«Vielleicht war’s ja ’ne spontane Entscheidung«, sagte Barbara.

«Wahrscheinlich. Aber dass die mal verkaufen würde, das hätt’ ich nie gedacht. Vor allem in ihrer Situation. Es ist nicht leicht, ’ne schöne Wohnung in der Nähe einer guten Schule zu finden.«

Barbara wurde hellhörig.»Schule?«, fragte sie.»Welche Schule meinen Sie denn?«

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