9. November

WINDERMERE — CUMBRIA

Zed Benjamin stellte fest, dass er sich jeden Tag auf sein morgendliches Telefongespräch mit Yaffa Shaw freute, und allmählich fragte er sich, ob so eine wirkliche Partnerschaft zwischen einem Mann und einer Frau aussah. Und wenn dem so war, warum er bisher jede Beziehung gemieden hatte wie der Teufel das Weihwasser.

Als Yaffa an den Apparat ging, gab sie ihm gleich zu verstehen, dass seine Mutter in der Nähe war:»Zed, mein Herzblatt, du ahnst ja nicht, wie sehr du mir fehlst!«Dann machte sie noch für alle Fälle ein paar Kussgeräusche.

Wahrscheinlich platzte seine Mutter vor Glück, dachte Zed.»Du fehlst mir auch«, sagte er, ohne darüber nachzudenken, welche Konsequenzen ein solches Geständnis haben könnte, denn eigentlich hätte ein amüsiertes» Danke «für das Beschwindeln seiner Mutter vollkommen ausgereicht.»Und wenn ich in London wäre, würde ich’s dir beweisen, dass dir Hören und Sehen vergeht!«

«Ich werde dich beim Wort nehmen, wenn du wiederkommst«, sagte sie.

«Das hoffe ich«, sagte Zed.

Sie lachte.»Du Schlingel. «Dann sagte sie zu seiner Mutter:»Mama Benjamin, unser Zed ist mal wieder richtig frech.«

«›Mama Benjamin‹?«

«Sie besteht darauf«, sagte Yaffa, und ehe er etwas darauf erwidern konnte, fuhr sie fort:»Erzähl mir, was du herausgefunden hast, mein Schatz. Du bist doch vorangekommen mit deiner Geschichte, oder? Das höre ich dir regelrecht an.«

In Wirklichkeit, das musste Zed sich eingestehen, war das der eigentliche Grund für seinen Anruf. Er wollte sich wie jeder verliebte Mann vor der Frau produzieren, die so tat, als wäre er die Liebe ihres Lebens. Er sagte:»Ich habe die betreffende Person von Scotland Yard gefunden.«

«Wirklich? Das ist ja großartig, Zed. Ich wusste, dass du es schaffen würdest. Hast du denn schon deinen Chefredakteur angerufen, um ihm die gute Nachricht mitzuteilen? Und kommst du jetzt endlich nach Hause?«

«Nein, noch nicht. Und Rod hab ich auch noch nicht angerufen. Bevor ich mit ihm rede, will ich die Story unter Dach und Fach haben, damit ich sie ihm druckreif übergeben kann. Ich habe mit der Polizistin gesprochen. Wir machen das gemeinsam.«

«Meine Güte, Zed«, stieß Yaffa hervor.»Das ist ja unglaublich!«

«Sie wird mir helfen, ohne dass sie es weiß. Sie weiß nur von einer Story, aber am Ende werden es zwei sein, und eine davon handelt von ihr.«

«Wie heißt sie denn?«

«Detective Sergeant Cotter. Vorname Deb. Ich habe mir ihre Unterstützung gesichert. Es geht ihr übrigens vor allem um die Ehefrau, Alatea Fairclough. An Nick Fairclough ist sie überhaupt nicht interessiert. Na ja, anfangs war sie das schon, aber dann hat sich rausgestellt, dass mit der Ehefrau irgendwas ganz und gar nicht stimmt. Ich muss gestehen, dass ich das von Anfang an gerochen habe. Es ist einfach vollkommen unglaubwürdig, dass ein Typ wie Nick Fairclough eine Frau wie Alatea abkriegt.«

«Ach?«Yaffa wirkte interessiert.»Warum denn?«

«Er ist in Ordnung, keine Frage, aber sie … Sie ist einfach umwerfend, Yaffa. Ich habe in meinem ganzen Leben noch nie so eine Frau gesehen.«

Stille am anderen Ende der Leitung. Als Zed schließlich ein leises» Ach so «hörte, hätte er sich am liebsten geohrfeigt. Wie hatte er nur so blöd daherreden können.»Natürlich ist sie überhaupt nicht mein Typ«, fügte er hastig hinzu.»Kühl und distanziert. Die Sorte Frau, die einen Mann nach ihrer Pfeife tanzen lässt, wenn du verstehst, was ich meine. Die reinste schwarze Witwe. Und du weißt ja, was eine schwarze Witwe tut, oder?«

«Sie lockt Männchen an, um sich von ihnen begatten zu lassen, wenn ich mich recht erinnere«, antwortete sie.

«Äh, ja, natürlich. Aber nachdem das Männchen sie zufriedengestellt hat, verspeist sie es. Also wirklich, mich schüttelt’s bei dem Gedanken, Yaffa. Sie ist wunderschön. Trotzdem ist irgendetwas an ihr total merkwürdig, das spüre ich genau.«

Das schien Yaffa zu trösten, dachte Zed, auch wenn er sich gleichzeitig fragte, wieso sie eigentlich Trost brauchte, wo sie doch ihren bescheuerten Micah in Tel Aviv hatte, diesen Medizinstudenten und zukünftigen Nobelpreisträger.»Du solltest vorsichtig sein«, sagte sie.»Sie könnte dir gefährlich werden.«

«Da brauchst du dir keine Sorgen zu machen«, entgegnete er.»Außerdem stehe ich ja unter dem Schutz der Polizistin von Scotland Yard.«

«Noch eine Frau. «Hatte das etwa traurig geklungen?

«Eine Rothaarige, so wie ich. Aber ich steh auf dunkle Typen.«

«Solche wie Alatea?«

«Nein«, sagte er.»Kein bisschen wie diese Alatea. Und diese Polizistin, Yaffa, die hat jede Menge Informationen für mich. Und sie gibt sie mir im Austausch dafür, dass ich meine Geschichte noch ein paar Tage zurückhalte.«

«Und was willst du deinem Chefredakteur sagen? Wie lange kannst du den denn noch hinhalten?«

«Das ist kein Problem. Wenn ich Rod von dem Deal erzähle, den ich mit Scotland Yard habe, dann wird der gleich handzahm. Das ist genau nach seinem Geschmack.«

«Pass auf dich auf.«

«Mach ich.«

Yaffa legte auf. Verdattert betrachtete Zed sein Handy. Dann zuckte er die Achseln und steckte es in die Tasche. Erst auf dem Weg zum Frühstücksraum fiel ihm auf, dass Yaffa sich nicht wie üblich mit Kussgeräuschen verabschiedet hatte. Und erst als er sich mit einer Portion wässrigem Rührei an den Tisch setzte, wurde ihm bewusst, dass er wünschte, sie hätte es getan.

MILNTHORPE — CUMBRIA

Sie hatten einen schrecklichen Abend miteinander verbracht, und Deborah wusste, dass Simon böse auf sie war. Sie hatten im Crow & Eagle zu Abend gegessen, einem Restaurant, das nicht einmal einen einzigen Stern verdient hatte. Während des Essens hatte Simon fast nichts zum Thema offene Adoption gesagt, nur ein leises:»Es wäre mir lieber gewesen, wenn du mit dem Anruf bei David noch etwas gewartet hättest. «Gemeint war natürlich, dass sie hätte warten sollen, bis es ihm gelungen wäre, sie zu etwas zu überreden, was sie von Anfang an nicht gewollt hatte.

Zunächst hatte Deborah nichts auf seine Bemerkung geantwortet, sondern sich mit ihm über andere Dinge unterhalten. Erst als sie auf ihrem Zimmer waren, hatte sie das Thema noch einmal zur Sprache gebracht.»Es tut mir leid, dass du mit meiner Entscheidung unzufrieden bist, Simon. Aber du hast mir gesagt, die junge Frau wollte endlich Bescheid wissen. «Daraufhin hatte er sie mit seinen graublauen Augen gemustert, wie es seine Art war, und gesagt:»Darum geht es doch nicht, oder?«

Es war die Art Bemerkung, die sie entweder tieftraurig oder fuchsteufelswild machen konnte, je nachdem, welcher Aspekt ihrer Beziehung zu Simon gerade überwog. Sie konnte sie als Ehefrau eines geliebten Mannes auffassen, den sie unabsichtlich verletzt hatte. Oder sie konnte sie als das Kind auffassen, das in seinem Haus, unter seinem wachsamen Blick, aufgewachsen war, und den Unterton väterlicher Enttäuschung heraushören. Sie wusste, dass es Ersteres war, aber sie empfand Letzteres. Und manchmal tat es einfach gut, seinen Gefühlen freien Lauf zu lassen.

Sie sagte:»Weißt du was? Ich finde es unerträglich, wenn du so mit mir redest.«

Er hatte sie verblüfft angesehen, was sie noch mehr auf die Palme gebracht hatte. Und dann hatte er gefragt:»Wenn ich wie mit dir rede?«

«Das weißt du ganz genau. Du bist nicht mein Vater!«

«Das ist mir vollkommen bewusst, Deborah, glaub mir.«

Und da war ihr der Kragen geplatzt. Er ließ sich einfach nicht provozieren, weil das nicht in sein Selbstbild passte. Das hatte sie schon immer in den Wahnsinn getrieben. Sie konnte sich nicht erinnern, dass es jemals anders gewesen wäre.

Von da an hatte eins das andere ergeben. War es anfangs darum gegangen, wie sie die ganze Sache mit der jungen Frau in Southampton eigenmächtig abgeblasen hatte, hatten sie sich später darüber gestritten, wie oft sie angeblich schon froh gewesen war, dass er sich in ihr Leben eingemischt hatte. Denn mit ihrer verdammten Sturheit, betonte Simon, habe sie sich immer wieder selbst in Gefahr gebracht.

Das heißt, so hatte Simon sich natürlich nicht ausgedrückt, das war nicht sein Stil. Er hatte gesagt:»Es kommt vor, dass du eine Situation nicht klar erfasst und auch nicht bereit bist, dich belehren zu lassen. «Dann hatte er eine Braue gehoben und hinzugefügt:»Das musst du zugeben. «Womit er darauf angespielt hatte, dass sie sich darauf versteift hatte, für die Ermittlung sei es von entscheidender Bedeutung, dass Alatea im Besitz einer Zeitschrift namens Conception war.

«Tommy hat mich gebeten …«

«Ah ja, Tommy. Er hat gesagt, dass deine Aufgabe hier erledigt ist und dass du dich in Gefahr bringst, falls du weitermachst.«

«Wer oder was sollte mir denn gefährlich werden? Das ist doch vollkommen absurd.«

«Da gebe ich dir recht«, erwiderte er.»Fakt ist jedoch, dass wir hier fertig sind, Deborah. Wir müssen zurück nach London. Ich werde mich darum kümmern.«

Damit hatte er das Maß vollgemacht, was ihm natürlich bewusst gewesen war. Er hatte das Zimmer verlassen, um die nötigen Vorkehrungen für ihre Abreise zu treffen, und als er zurückkam, hatte sie ihm die kalte Schulter gezeigt und kein Wort mehr mit ihm gesprochen.

Am nächsten Morgen hatte er gepackt. Aber anstatt ebenfalls ihre Sachen zu packen, hatte sie ihm erklärt, sie werde in Cumbria bleiben.»Die Sache ist für mich noch nicht beendet«, sagte sie, und als er entgegnete:»Wirklich nicht?«, wusste sie, dass er nicht nur die Ermittlungen im Fall Ian Cresswells meinte.

«Ich möchte das hier zu Ende bringen«, sagte sie.»Kannst du nicht wenigstens versuchen zu verstehen, dass mir das wichtig ist? Ich weiß einfach, dass es irgendeine Verbindung zu dieser Frau gibt …«

Das war ein Fehler gewesen. Wenn sie Alatea Fairclough erwähnte, würde das Simon nur in seiner Überzeugung bestärken, dass Deborah sich von ihren eigenen Wünschen blenden ließ.»Dann sehen wir uns in London«, hatte er ruhig entgegnet.»Wann auch immer du zurückkommst. «Er schenkte ihr ein halbherziges Lächeln, das sich anfühlte wie ein Pfeil, der ihr Herz durchbohrte.»Waidmanns Heil.«

Deborah hätte ihm erzählen können, was sie mit diesem Journalisten von der Source vereinbart hatte. Aber wenn sie das getan hätte, wäre herausgekommen, dass sie und Zed Benjamin die weiteren Ermittlungen gemeinsam durchführen wollten. Das hätte Simon unterbunden, indem er sich an Tommy gewandt hätte. Dadurch, dass sie Simon die Wahrheit vorenthielt, verhinderte sie, dass Tommys Identität als Scotland Yard Detective aufflog. Auf diese Weise sorgte sie dafür, dass er mehr Zeit hatte, den Dingen auf den Grund zu gehen. Wenn Simon nicht einsehen konnte, dass sie jetzt eine entscheidende Rolle bei den Ermittlungen spielte, dann konnte sie daran nichts ändern.

Während Deborah und Simon sich in der Pension in Milnthorpe voneinander verabschiedeten, hatte Zed Benjamin bereits seinen Posten auf der Straße nach Arnside bezogen, von dem aus er sehen konnte, wer bei den Faircloughs aus und ein ging. Sobald Alatea das Haus verließ, würde er Deborah eine SMS schicken. Los bedeutete, dass Alatea mit dem Auto irgendwohin unterwegs war, MT bedeutete, dass sie auf dem Weg nach Milnthorpe war.

Das war das Schöne an Arnside, hatten Deborah und Zed Benjamin am Vortag festgestellt: Es gab zwar mehrere schmale Straßen, die auf die andere Seite des Arnside Knott und zu den dahinterliegenden Dörfern führten, aber wenn man schnell aus dem Dorf hinauswollte, kam nur eine Straße in Frage, nämlich die nach Milnthorpe. Und diese Straße führte am Crow & Eagle vorbei.

Als die SMS kam, war Simon bereits seit einer halben Stunde weg. Aufgeregt las Deborah die Nachricht: Los MT stand da.

Die Sachen, die sie brauchen würde, hatte sie bereits zusammengepackt. In weniger als einer Minute war Deborah unten und postierte sich so am Eingang der Pension, dass sie die Straße im Blick hatte. Durch das Fenster in der Tür sah sie Alatea Fairclough vorbeifahren und nach rechts Richtung A 6 abbiegen. Kurz darauf folgte Zed Benjamin. Deborah stieg ein, als er am Straßenrand hielt.

«Nach Süden«, sagte sie.

«Alles klar. Nick ist kurz nach ihr aufgebrochen. Er wirkte ziemlich niedergeschlagen. Ich nehme an, er ist in die Firma gefahren und leistet seinen Beitrag dazu, das Land mit ausreichend Klos zu versorgen.«

«Was meinen Sie? Hätte einer von uns beiden ihm folgen sollen?«

Er schüttelte den Kopf.»Nein. Ich glaube, Sie haben recht. Die kleine Argentinierin ist der Schlüssel zu allem.«

LANCASTER — LANCASHIRE

Der Mann war riesig, dachte Deborah. Er passte nur so gerade in sein Auto. Er war nicht fett, einfach hünenhaft. Sein Sitz war bis zum Anschlag nach hinten geschoben, und dennoch stieß er mit den Knien ans Lenkrad. Aber trotz seiner Größe wirkte er in keiner Weise einschüchternd. Im Gegenteil, er wirkte seltsam sanft, was ihm in seinem Beruf wahrscheinlich eher hinderlich war.

Sie wollte gerade eine Bemerkung dazu machen, als er, den Blick auf Alateas Auto geheftet, unvermittelt sagte:»Ich hätte Sie nie im Leben für eine Polizistin gehalten. Und ich wäre auch nie draufgekommen, wenn ich nicht zufällig gesehen hätte, wie Sie um das Haus der Faircloughs herumgeschlichen sind.«

«Und womit genau habe ich mich verraten, wenn ich fragen darf?«

«Für solche Dinge habe ich einen Riecher. «Er tippte sich mit dem Finger an die Nase.»Das bringt mein Job so mit sich, wenn Sie verstehen, was ich meine.«

«Wie meinen Sie das?«

«Na ja«, sagte er,»als Journalist darf man sich nicht vom Schein trügen lassen. Investigativer Journalismus erfordert mehr, als am Schreibtisch zu sitzen und darauf zu warten, dass irgendjemandes Erzfeind anruft und einem eine Story serviert, mit der man eine Regierung zu Fall bringt. Da muss man schon ein bisschen gewieft sein, einen guten Jagdinstinkt besitzen.«

Deborah konnte nicht widerstehen.»Investigativer Journalismus«, wiederholte sie nachdenklich.»Ist es das, was Sie bei der Source machen? Dieses Blatt bringt aber nur selten investigative Artikel über die Regierung, oder? Wenn überhaupt.«

«Na ja, das war halt ein Beispiel«, erwiderte er.

«Ach so.«

«Hören Sie, das ist ein Job wie jeder andere«, erwiderte er auf ihren ironischen Unterton.»Eigentlich bin ich Dichter, und die Poesie ist nach wie vor eine brotlose Kunst.«

«Allerdings«, sagte Deborah.

«Hören Sie, ich weiß, die Source ist ein Käseblatt, aber mit irgendwas muss ich schließlich meine Brötchen verdienen, Sergeant Cotter. Ich nehme an, Ihr Job ist auch nicht viel besser, oder? Unter Pflastersteinen nicht den Strand, sondern den Abschaum der Gesellschaft suchen zu müssen.«

Ein ziemlich schiefes Bild. Ein bisschen merkwürdig für einen Dichter, dachte Deborah.»Tja, so kann man das auch sehen«, sagte sie.

«Alles hat seine guten und seine schlechten Seiten.«

Alatea nahm die Abfahrt nach Lancaster. In der Stadt würden sie aufpassen müssen, dass sie sie nicht entdeckte. Sie ließen sich zurückfallen, bis fünf Autos zwischen ihnen waren.

Es war nicht zu übersehen, dass Alatea sich auskannte und wusste, wo sie hinwollte. Im Zentrum von Lancaster bog sie auf den Parkplatz eines niedrigen Backsteinbaus. Deborah und Zed Benjamin fuhren weiter. Zed hielt an der nächsten Straßenecke, und Deborah drehte sich um. Im selben Augenblick kam Alatea auch schon um die Ecke und ging in das Gebäude hinein.

«Wir müssen herausfinden, was da drin ist«, sagte Deborah. In Anbetracht seiner Größe würde Zed das allerdings nicht schaffen, ohne aufzufallen. Deborah stieg aus.»Warten Sie hier«, sagte sie und rannte auf die andere Straßenseite, wo die parkenden Autos ihr ein wenig Sichtschutz boten.

Sie näherte sich dem Gebäude, bis sie die Schrift über dem Eingang lesen konnte. Kent-Howath Foundation for Disabled Veterans stand da. Ein Heim für Soldaten, die im Krieg verwundet worden waren.

Alatea war Argentinierin. Der Falklandkrieg, dachte Deborah. War es möglich, dass ein argentinischer Soldat irgendwie in diesem Heim gelandet war? Jemand, den Alatea besuchte?

Sie überlegte gerade, welche anderen Kriege in Frage kamen — die Golfkriege am ehesten —, als Alatea aus dem Gebäude trat. Sie war nicht allein, in ihrer Begleitung war aber auch kein kriegsversehrter Veteran, sondern eine Frau, so groß wie Alatea, wenngleich viel kräftiger gebaut. Die Frau hatte einen langen, buntgemusterten Rock, einen weiten Pullover und Stiefel an. Ihr langes, graumeliertes Haar, das sie offen trug, war einmal so dunkel gewesen wie Alateas. Ein Haarreif hielt es ihr aus dem Gesicht.

In ein offensichtlich ernstes Gespräch vertieft, gingen die beiden Frauen zum Parkplatz hinter dem Gebäude. Deborah eilte zurück zu Zeds Auto und stieg ein.»Sie wird gleich weiterfahren. Eine Frau ist bei ihr.«

Zed ließ den Motor an.»Was ist das für ein Gebäude?«, fragte er.

«Ein Heim für Kriegsinvaliden.«

«Was wollte sie denn da?«

«Keine Ahnung. Wie gesagt, sie ist mit einer Frau zusammen wieder rausgekommen. Es könnte natürlich eine Soldatin sein, aber soweit ich das sehen konnte, ist sie keine Invalidin. Da kommen sie. Schnell. «Deborah warf sich Zed an den Hals in der Hoffnung, dass es so aussah, als wären sie ein Pärchen in leidenschaftlicher Umarmung. Als sie über Zeds Schulter hinweg sah, wie Alateas Auto auf die Straße einbog, ließ sie ihn wieder los. Er war puterrot angelaufen.»Tut mir leid«, sagte sie.»Mir ist nichts Besseres eingefallen.«

«Kein Problem … äh …«, stammelte er. Dann fuhr er los und heftete sich wieder an Alateas Fersen.

Es herrschte dichter Verkehr, aber es gelang Zed, Alateas Auto im Auge zu behalten. Sie fuhr aus dem Stadtzentrum hinaus, bis eine Anhöhe mit einer Reihe großer, moderner Gebäude in Sicht kam.

«Sie fährt zur Uni«, sagte Zed.»Das bringt uns bestimmt nicht weiter.«

Da war Deborah ganz anderer Meinung. Wenn Alatea mit einer Freundin oder Bekannten zur Universität von Lancaster fuhr, dann hatte sie dafür sicherlich einen Grund. Deborah konnte sich auch schon denken, was für ein Grund das war, und der hatte nichts mit dem Erwerb von höherer Bildung zu tun.

Es würde allerdings nicht leicht sein, Alatea unbemerkt über den Campus zu folgen. Der Verkehr zur Uni wurde über eine Nebenstraße geleitet, wo Deborah und Zed feststellten, dass das Parken nur in dafür ausgewiesenen Parkbuchten erlaubt war, die kaum die Möglichkeit boten, sich zu verstecken. Offenbar war die Universität ohne einen Gedanken daran errichtet worden, dass man mal jemanden beschatten musste.

Als Alatea in eine dieser Parkbuchten einbog, bat Deborah Zed, sie aussteigen zu lassen. Das gefiel Zed ganz und gar nicht, schließlich lautete der Plan, dass sie Alatea gemeinsam beschatten würden. Er habe nichts in der Hand, was ihm die Kooperation von Scotland Yard sichere, argumentierte er.

«Hören Sie«, sagte Deborah.»Wir können hier nicht zu zweit hinter den beiden herlaufen. Parken Sie irgendwo anders, dann rufen Sie mich auf dem Handy an, und ich sage Ihnen, wo ich bin. Es ist das Einzige, was wir machen können.«

Er wirkte nicht überzeugt, aber daran ließ sich nichts ändern. Sie war nicht hier, um ihm zu beweisen, dass sie vertrauenswürdig war. Sie war hier, um die Wahrheit über Alatea Fairclough ans Tageslicht zu befördern. Zed hielt an, und ehe er protestieren konnte, war Deborah schon aus dem Wagen gesprungen.»Rufen Sie mich an!«, sagte sie, dann eilte sie los.

Zed war natürlich klar, dass Alatea ihn auf keinen Fall entdecken durfte, sonst würde die Verfolgungsaktion sofort auffliegen. Deborah durfte sich natürlich auch nicht sehen lassen, aber sie war längst nicht so auffällig wie er.

Den beiden zu folgen erwies sich als leichter, als Deborah erwartet hatte. Sie hatte Glück: Es begann zu regnen. Und zwar so plötzlich und heftig, dass man einen Schirm brauchte. Eine ideale Tarnung. Deborah fischte ihren Knirps aus ihrer Handtasche, spannte ihn auf und hielt ihn erleichtert über ihr kupferrotes Haar.

Sie folgte den beiden Frauen in gebührender Entfernung. Um diese Tageszeit wimmelte es auf dem Campus von Studenten, und das war ein Segen. Und es war ebenfalls ein Segen, dass die Uni, anders als die alten Universitäten, aus einem einzigen großen Komplex bestand, der deutlich sichtbar außerhalb der Stadt auf einem Hügel stand.

Alatea und ihre Begleiterin gingen zusammen unter einem Schirm und waren ins Gespräch vertieft. Alatea hatte sich bei der anderen Frau untergehakt. Als sie einmal stolperte, fing die andere sie auf. Die beiden schienen Freundinnen zu sein.

Sie bewegten sich schnell und zielstrebig, offenbar kannten sie sich hier aus, dachte Deborah aufgeregt.

Ihr Handy klingelte.»Wir sind auf einem Weg, der quer über den Campus führt«, sagte sie hastig.

«Deb?«

Es war Tommy. Deborah wand sich innerlich und verfluchte sich dafür, dass sie sich gemeldet hatte, ohne aufs Display zu sehen.»Ah, Tommy«, sagte sie.»Ich dachte, es wäre jemand anders.«

«Das hab ich gemerkt. Wo bist du?«

«Warum willst du das wissen?«

«Weil ich dich kenne. Ich habe gestern auf dem Parkplatz dein Gesicht gesehen. Du tust etwas, wovon wir dich gebeten haben, es sein zu lassen, hab ich recht?«

«Simon ist nicht mein Vater, Tommy. Ist er bei dir?«

«Er hat sich mit mir in Newby Bridge zum Kaffee verabredet. Deb, was hast du vor? Wo bist du? Wessen Anruf erwartest du?«

Deborah überlegte, ob sie ihn anlügen sollte, und fragte sich gleichzeitig, ob sie es überhaupt fertigbringen würde, Tommy zu belügen. Sie seufzte.»Ich bin an der Uni in Lancaster.«

«An der Uni in Lancaster? Was machst du denn da?«

«Ich verfolge Alatea Fairclough. Sie ist in Begleitung einer Frau hier, die sie in einem Heim für Kriegsinvaliden abgeholt hat. Ich möchte wissen, wo die beiden hingehen. «Um ihm keine Zeit zu lassen, darüber nachzudenken, was das zu bedeuten hatte, fuhr sie hastig fort:»Die ganze Sache hat mit Alatea Fairclough zu tun. Irgendwas stimmt da nicht, Tommy. Ich weiß, dass du das auch spürst.«

«Das Einzige, was ich spüre, ist, dass du drauf und dran bist, dir großen Ärger einzuhandeln, Alatea Fairclough hin oder her.«

«Wie soll ich mir Ärger einhandeln, indem ich den beiden folge? Die wissen ja nicht mal, dass ich hinter ihnen her bin. Und selbst wenn sie es merken …«Sie zögerte. Wenn sie ihm mehr erzählte, würde er es wahrscheinlich Simon weitersagen.

Aber er war ein schlauer Fuchs.»Du hast meine andere Frage noch nicht beantwortet, Deb. Wer soll dich anrufen?«

«Der Journalist.«

«Der Reporter von der Source? Bist du denn von allen guten Geistern verlassen, Deb? Da kann Gott weiß was passieren!«

«Es kann nichts Schlimmeres passieren, als dass mein Konterfei auf der Titelseite der Source erscheint mit der Unterschrift ›Detective Sergeant Cotter‹. Und das ist nicht gefährlich, sondern lustig, Tommy.«

Er schwieg einen Moment. Deborah sah, dass die beiden Frauen offenbar ihr Ziel erreicht hatten, ein hoher Betonkasten im gesichtslosen Stil der sechziger Jahre. Deborah blieb stehen, um ihnen Zeit zu lassen, das Gebäude zu betreten und in den Fahrstuhl zu steigen. Tommy sagte:»Deb, hast du eigentlich eine Ahnung, wie es Simon gehen würde, wenn dir etwas zustieße? Denn ich weiß es, glaub mir.«

Sie ging weiter. Vor dem Eingang zu dem Gebäude blieb sie erneut stehen und sagte liebevoll:»Ach, Tommy. «Er entgegnete nichts. Sie wusste, was es ihn gekostet hatte, ihr diese Frage zu stellen. Sie sagte:»Mach dir keine Sorgen. Mir passiert schon nichts. Jetzt, wo der Journalist mich für eine Polizistin hält, brauchst du nicht zu fürchten, dass er dir auf die Spur kommt und die Source davon erfährt. Und für mich ist diese kleine Scharade auch ein Schutz: Er wird der Gans, die ihm goldene Eier legt, kein Haar krümmen, und er wird auch nicht zulassen, dass jemand anders es tut.«

Sie hörte ihn seufzen.»Sei vorsichtig«, sagte er.

«Na klar«, antwortete sie.»Und bitte: kein Wort zu Simon.«

«Wenn er mich fragt …«

«Das wird er nicht. «Sie legte auf.

Sofort klingelte ihr Handy erneut.»Mit wem zum Teufel telefonieren Sie?«, wollte Zed Benjamin wissen.»Ich versuche die ganze Zeit, Sie zu erreichen! Wo stecken Sie, verdammt?«

Deborah sagte ihm die Wahrheit. Sie habe mit einem DI von Scotland Yard telefoniert. Sie stehe gerade vor dem … George Childress Centre und werde jetzt hineingehen, um herauszufinden, was in diesem Gebäude untergebracht sei. Sie riet ihm ab, zu ihr zu kommen, da er einfach zu auffällig sei.

Das schien er einzusehen.»Also gut. Rufen Sie mich an, sobald Sie irgendetwas in Erfahrung gebracht haben. Und versuchen Sie nicht, mich reinzulegen, sonst stehen Sie morgen in der Zeitung, und Ihre ganze verdeckte Ermittlung fliegt auf.«

«Alles klar.«

Sie klappte ihr Handy zu und betrat das Gebäude. In der Eingangshalle gab es vier Aufzüge und einen Wachmann. An dem Wachmann würde sie nicht vorbeikommen, das brauchte sie gar nicht erst zu versuchen. Sie sah sich um. Zwischen zwei dahinsiechenden Bambuspflanzen in Kübeln entdeckte sie eine verglaste Anschlagtafel. Sie ging näher, um die Aushänge zu lesen.

Das Gebäude beherbergte alle möglichen Büros, Behandlungsräume und Labors und gehörte offenbar zur Fakultät für Wissenschaft und Technik, was ihr ein triumphierendes» Ja!«entlockte. Fieberhaft suchte sie nach etwas, von dem sie intuitiv wusste, dass es da war. Und sie wurde fündig: Ebenfalls untergebracht in dem Gebäude war das Institut für Reproduktionsmedizin. Sie hatte die ganze Zeit recht gehabt. Und Simon hatte sich geirrt.

NEWBY BRIDGE — CUMBRIA

Nachdem Lynley das Gespräch beendet hatte, schaute er seinen Freund an. St. James hatte ihn während des Gesprächs mit Deborah beobachtet. Lynley kannte kaum jemanden, der so gut zwischen den Zeilen lesen konnte wie St. James — auch wenn er diesmal nicht viel hatte zwischen den Zeilen lesen müssen. Lynley hatte dafür gesorgt, dass St. James genau mitbekam, wo Deborah war und mit wem sie sich zusammengetan hatte, ohne sie direkt zu verraten.

«Diese Frau bringt mich zur Verzweiflung«, bemerkte St. James.

Lynley hob ratlos die Schultern.»Tun das nicht alle Frauen?«

St. James seufzte.»Ich hätte ein Machtwort sprechen sollen.«

«Herrgott noch mal, Simon, sie ist erwachsen. Du kannst sie schlecht mit Gewalt nach London zerren.«

«Genau das hat sie mir auch gesagt. «St. James rieb sich die Stirn. Er sah aus, als hätte er die ganze Nacht nicht geschlafen.»Leider sind wir mit zwei Mietwagen hier, sonst hätte ich sie einfach vor die Wahl stellen können: Komm mit zum Flughafen oder sieh zu, wie du nach Hause kommst.«

«Ich bezweifle, dass das gut angekommen wäre. Und du weißt, wie sie darauf reagiert hätte.«

«Allerdings. Das ist es ja gerade. Ich kenne meine Frau.«

«Danke, dass du hergekommen bist, Simon. Dass du mir geholfen hast.«

«Ich hätte dir lieber mit einem eindeutigen Befund gedient. Aber egal, wie ich es drehe und wende, ich komme immer wieder zu demselben Schluss: dass es ein unglücklicher Unfall war.«

«Trotz der vielen Motive? Jeder hier scheint eins zu haben. Mignon, Freddie McGhie, Nick Fairclough, Kaveh Mehran. Weiß der Himmel, wer sonst noch.«

«Ja, trotzdem«, sagte St. James.

«Und nicht das perfekte Verbrechen?«

St. James betrachtete die Hainbuchenhecke vor dem Fenster, die in prächtigen Herbstfarben erstrahlte, während er über Lynleys Frage nachdachte. Sie hatten sich zum Kaffee in der Nähe von Newby Bridge in einem etwas heruntergekommenen viktorianischen Hotel getroffen. Helen hätte begeistert ausgerufen Wie wunderbar dekadent, Tommy, um die hässlichen Teppiche, die Staubschicht auf den Hirschgeweihen an den Wänden und die durchgesessenen Sofas und Sessel zu entschuldigen. Einen Moment lang fehlte sie Lynley so sehr, dass ihm fast der Atem stockte. Er atmete tief durch, wie er es gelernt hatte. Alles geht vorbei, dachte er. Auch das.

St. James wandte sich wieder vom Fenster ab.»Natürlich hat es früher einmal perfekte Verbrechen gegeben. Aber heutzutage ist es nahezu unmöglich, ein perfektes Verbrechen zu begehen. Die Forensik ist zu weit fortgeschritten, Tommy. Heute gibt es Möglichkeiten zur Spurensicherung, die noch vor fünf Jahren absolut undenkbar waren. In der heutigen Zeit wäre ein Verbrechen vielleicht dann perfekt, wenn niemand auf die Idee käme, dass überhaupt ein Verbrechen begangen wurde.«

«Aber trifft nicht genau das in diesem Fall zu?«

«Nicht, nachdem bereits eine polizeiliche Untersuchung durchgeführt wurde. Nicht, nachdem Bernard Fairclough extra nach London gefahren ist, um dich zu bitten, dir den Fall noch einmal anzusehen. Das perfekte Verbrechen der Gegenwart ist eines, bei dem niemand auch nur auf die Idee käme, dass es sich um ein solches handelt. Es gibt keine polizeilichen Ermittlungen, der Hausarzt stellt den Totenschein aus, die Leiche wird innerhalb von achtundvierzig Stunden im Krematorium verbrannt und fertig. In unserem Fall jedoch wurde jede Spur überprüft, ohne dass etwas darauf hindeuten würde, dass Ian Cresswells Tod etwas anderes als ein Unfall war.«

«Und wenn nicht Ian, sondern Valerie das Opfer sein sollte?«

«Das würde am Ergebnis nichts ändern. «St. James trank einen Schluck Kaffee.»Wenn das ein Mordanschlag war, Tommy, und wenn eigentlich Valerie aus dem Weg geschafft werden sollte, dann hätte es dazu viel einfachere Möglichkeiten gegeben, das musst du doch zugeben. Alle wussten, dass nicht nur Valerie, sondern auch Ian regelmäßig im Bootshaus war. Warum riskieren, dass er ums Leben kommt, wenn eigentlich sie sterben soll? Und wo ist das Motiv? Und selbst wenn es ein Motiv gibt, wirst du es mit Hilfe forensischer Untersuchungen auch nicht herausfinden.«

«Also haben wir eigentlich gar keinen Fall.«

«So wie ich die Sache sehe, nein. «St. James lächelte bedauernd.»Und deswegen sage ich dir, was ich — wenn auch ohne Erfolg — schon zu Deborah gesagt habe: Es ist Zeit, nach London zurückzukehren.«

«Und was ist mit einer Verbrechensabsicht?«

«Was ist das?«

«Man wünscht einem anderen den Tod. Man hofft, dass er stirbt. Irgendwann plant man sogar einen Mord. Aber ehe man den Plan in die Tat umsetzen kann, kommt einem ein Unfall zuvor. Das vorgesehene Opfer stirbt. Könnten wir es mit so etwas zu tun haben?«

«Natürlich. Aber selbst wenn — man kann in diesem Fall von keiner Schuld reden, und niemand verhält sich so, als würde er sich schuldig fühlen.«

Lynley nickte nachdenklich.»Trotzdem …«

«Was?«

«Ich werde das Gefühl nicht los …«Lynleys Handy klingelte. Er warf einen Blick aufs Display und sagte zu St. James:»Havers.«

«Vielleicht hat sie ja Neuigkeiten.«

«Ich hoffe es. «Lynley nahm das Gespräch an und sagte:»Erzählen Sie mir etwas Neues, Sergeant. Ich bin dankbar für alles.«

CHALK FARM — LONDON

Barbara hatte Lynley von zu Hause aus angerufen. Lange vor dem Morgengrauen war sie noch einmal in den Yard gefahren, um dort in der umfangreichen Datenbank zu recherchieren, und so schnell wie möglich wieder nach Hause zurückgekehrt, um nur ja nicht ihrer Chefin über den Weg zu laufen. Sie hatte schon reichlich Kaffee intus, und inzwischen war sie so aufgeputscht von all dem Koffein, dass sie wahrscheinlich tagelang keinen Schlaf finden würde. Außerdem rauchte sie wie ein Schlot, und sie hatte das Gefühl, als würde ihr gleich der Kopf platzen.

«Es gibt ein Kind, Inspector«, sagte sie zu Lynley.»Das könnte wichtig sein. Andererseits hat es vielleicht auch gar nichts zu bedeuten. Aber Vivienne Tully hat eine achtjährige Tochter namens Bianca. Und ich glaube, sie hatte damit gerechnet, dass ich irgendwann an ihre Tür klopfen würde. In ihrer ganzen Wohnung gab es überhaupt nichts Persönliches, und sie ist auch nicht vor Schreck in Ohnmacht gefallen, als ich ihr gesagt habe, ich käme von Scotland Yard. Das mit dem Kind hab ich auch nur rausgefunden, weil ich mich mit dem Portier in dem Haus angefreundet hab. Wir werden uns demnächst verloben.«

«Sie sind also reingekommen.«

«Meine Talente kennen keine Grenzen, Sir. Ich lebe, um Sie zu beeindrucken. «Barbara berichtete Lynley, was sie von Vivienne erfahren hatte — über ihre Schulbildung, ihren beruflichen Werdegang und ihre Absicht, nach Neuseeland zurückzukehren, wo sie geboren war.»Was Fairclough angeht, hat sie nichts abgestritten: Sie kennt ihn, ist Vorstandsmitglied seiner Stiftung, trifft sich regelmäßig mit ihm zum Essen, zum Beispiel im Twins Club. Aber als ich sie gefragt hab, warum der Mann einen Wohnungsschlüssel von ihr hat, da hat sie dichtgemacht.«

«Diese Tochter. Könnte die von Fairclough sein?«

«Möglich. Aber genauso gut könnte sie von seinem Sohn sein oder von Ian Cresswell oder vom Premierminister oder dem Prince of Wales. Oder sie ist das Ergebnis einer durchzechten Nacht, was weiß ich. Jedenfalls arbeitet diese Vivienne schon seit Jahren nicht mehr für Fairclough, und sie hat bei Fairclough Industries aufgehört, lange bevor sie ihre Tochter hatte. Schwer vorstellbar, dass die beiden eine Fernbeziehung haben oder hatten, aus der dieses Kind stammt, meinen Sie nicht?«

«Vielleicht ist das Kind ja nicht das Ergebnis einer langjährigen Beziehung, sondern wurde gezeugt, als Vivienne zufällig wieder in Faircloughs Leben auftauchte.«

«Wie hab ich mir das denn vorzustellen? Die beiden treffen sich zufällig in einem Aufzug, fallen übereinander her, und das Ergebnis ist Bianca? Tja, möglich ist natürlich alles.«

«Er hat eine Stiftung eingerichtet«, sagte Lynley.»Er brauchte Vorstandsmitglieder, und sie ist eins davon.«

«Das kann es nicht sein. Die Stiftung gab es schon, da war Bianca noch auf der Himmelswiese. Und überhaupt: Einen Posten als Vorstandsmitglied einer Stiftung zu akzeptieren ist eine Sache, aber sich auf eine Beziehung mit Fairclough einzulassen und die auch noch über längere Zeit beizubehalten, das ist was ganz anderes. Warum sollte Vivienne das tun? Der Mann könnte ihr Großvater sein. Ich habe Fotos von ihm gesehen, und glauben Sie mir, die passt zu ihm wie die Faust aufs Auge. Die würde sich doch bestimmt eher für einen Mann in ihrem Alter interessieren, vorzugsweise einen, der unverheiratet ist. Eine Affäre mit einem verheirateten Mann führt im Allgemeinen nirgendwohin, und außerdem wirkt sie viel zu clever, um sich auf so was einzulassen.«

«Aber Sie müssen zugeben, Sergeant, dass die Menschen nicht immer kluge Entscheidungen treffen.«

Barbara hörte eine Stimme im Hintergrund. Lynley befriedigte ihre Neugier:»Simon sagt gerade, dass Geld täglich Menschen dazu bringt, unvernünftige Entscheidungen zu treffen.«

«Okay, gebongt. Aber wenn das Kind von Fairclough ist und wenn der seit weiß der Teufel wie lange schon die Tully flachlegt, warum bittet er dann Scotland Yard, den Tod seines Neffen noch einmal zu untersuchen, wenn der Coroner die Sache bereits als Unfall eingestuft hat? Er musste doch damit rechnen, dass jeder Beteiligte unter die Lupe genommen würde, ihn selbst eingeschlossen. Warum zum Teufel sollte er so ein Risiko eingehen?«

«Wenn dieser Aspekt seines Privatlebens mit Cresswells Tod nichts zu tun hat, verlässt er sich vielleicht auf meine Diskretion.«

«Wenn er nichts mit Cresswells Tod zu tun hat«, sagte Barbara.»Und wenn doch, dann erklärt das jedenfalls, warum Hillier ausgerechnet Sie für den Job ausersehen hat, nicht wahr? Der Graf, der den Baron deckt. Ja, das würde Hillier gefallen.«

«Das will ich nicht bestreiten. Es wäre nicht das erste Mal, dass er so etwas tut. Sonst noch etwas?«, fragte Lynley.

«Ja. Ich war fleißig. Kaveh sagt die Wahrheit über die Erbschaft. Cresswell hat ihm das Haus tatsächlich vermacht. Interessant ist, wann er das getan hat. Achtung, jetzt kommt’s: Er hat das Testament eine Woche vor seinem Tod unterschrieben.«

«Das ist allerdings aufschlussreich«, sagte Lynley.»Andererseits kann man sich kaum vorstellen, dass jemand dumm genug ist, gleich eine Woche später den Betreffenden aus dem Weg zu räumen.«

«Richtig«, gab Havers zu.

«Sonst noch etwas?«

«Tja, zu unchristlichen Zeiten im Einsatz zu sein, bringt außerdem den Vorteil mit sich, dass man Leute in anderen Teilen der Welt anrufen kann, weil die garantiert noch nicht im Bett liegen.«

«Zum Beispiel in Argentinien?«, riet Lynley.

«Sie haben’s erfasst. Ich hab’s geschafft, den Bürgermeister von Santa María und so weiter anzurufen. Zuerst hab ich’s in seinem Büro versucht, aber da hatte ich eine Frau am Apparat, die immer nur quién und qué sagte, während ich geschrien hab ›Verdammt noch mal, stellen Sie mich zu Ihrem Bürgermeister durch‹, bis mir klar wurde, dass ich die Putzfrau an der Strippe hatte. Also hab ich ihn zu Hause angerufen, und das war nicht einfach, das kann ich Ihnen sagen.«

«Ich bewundere Sie, Barbara. Was haben Sie in Erfahrung gebracht?«

«Dass in ganz Argentinien niemand Englisch spricht. Oder dass zumindest alle so tun, als könnten sie kein Englisch. Aber irgendwann ist es mir gelungen, mit einer Frau zu telefonieren, von der ich glaube, dass sie Dominga Padilla del Torres de Vasquez heißt. Ich hab den Namen mehrmals wiederholt, und wenn sie nicht quién gesagt hat, hat sie gesagt. Als ich dann Alateas Namen genannt hab, kam ein Redeschwall, aus dem ich immer wieder dónde, Dios mío und gracias rausgehört hab. Woraus ich schließe, dass die Frau weiß, wer Alatea ist. Jetzt brauch ich nur noch jemanden, der mit ihr reden kann.«

«Kümmern Sie sich darum?«

«Wie gesagt, ich denke, dass Azhar irgendeinen an der Uni kennt, der Spanisch spricht.«

«Im Yard gibt es bestimmt auch jemanden, Barbara.«

«Davon bin ich überzeugt. Aber wenn ich anfange, im Yard rumzufragen, macht die Chefin mich zur Schnecke. Sie hat mich schon gefragt …«

«Ich habe mit ihr gesprochen, Barbara. Sie weiß, wo ich bin. Haben Sie es ihr gesagt?«

Barbara fühlte sich zutiefst gekränkt. Dass er ihr nach all den Jahren der Zusammenarbeit so etwas zutraute, war die Höhe.»Nein, das hab ich nicht, verdammt. «Und das war die Wahrheit. Dass sie es Isabelle Ardery hatte selbst herausfinden lassen, ohne absichtlich eine falsche Spur zu legen, war schließlich nicht ihr Problem.

Lynley schwieg. Plötzlich beschlich Barbara das ungute Gefühl, dass sie auf die Frage» sie oder ich «zusteuerten. Das war das Letzte, was sie wollte, denn wenn Lynley sich entscheiden müsste, ob er ihr oder der Chefin glaubte, war es ziemlich unwahrscheinlich, dass er einen Streit mit seiner Geliebten riskieren würde. Schließlich war er ein Mann.

Also beeilte sie sich, das Schweigen zu beenden.»Ich werd mal mit Azhar reden. Wenn er einen kennt, der Spanisch spricht, kommen wir bei Alatea Fairclough einen Schritt weiter.«

«Da ist übrigens noch etwas«, sagte Lynley und berichtete ihr von Alateas Job als Dessous-Model, bevor sie Mrs. Fairclough wurde.»Nick hat Deborah erzählt, dass es sich um ›sexy‹ Unterwäsche handelte und dass sie sich jetzt für die Bilder schämt und fürchtet, jemand könnte sie entdecken. Da sexy Unterwäsche höchstens für eine Nonne peinlich wäre oder für eine Frau, die vorhat, in die königliche Familie einzuheiraten, nehmen wir an, dass es sich eher um Pornografie handelt.«

«Okay, ich werd versuchen, darüber was in Erfahrung zu bringen«, sagte Barbara.

Während sie noch ein bisschen Smalltalk machten, versuchte Barbara, seinen Ton einzuschätzen. Glaubte er ihr, was sie ihm über Isabelle Ardery erzählt hatte? Oder glaubte er ihr nicht? Und spielte es überhaupt eine Rolle, was er glaubte? Als er auflegte, hatte sie keine Antworten auf ihre Fragen. Aber ihre Fragen gefielen ihr auch nicht.

CHALK FARM — LONDON

Laute Stimmen drangen aus der Erdgeschosswohnung des Vorderhauses, als Barbara näher kam.»Ich werde mir das nicht bieten lassen, Angelina, darauf kannst du dich verlassen!«, ertönte die unverwechselbare Stimme von Taymullah Azhar. Barbara erstarrte. Dann schrie Angelina Upman:»Willst du mir etwa drohen?«, worauf Azhar brüllte:»Das fragst du mich noch? Die Angelegenheit ist für mich erledigt.«

Barbara wollte gerade das Weite suchen, als Azhar aus der Tür stürmte, sein Gesicht so dunkel, wie sie es noch nie gesehen hatte. Als er sie sah, hielt er kurz inne, dann eilte er in Richtung Steeles Road davon.

Im nächsten Augenblick kam Angelina Upman aus dem Haus, als wollte sie Azhar nachlaufen. Sie blieb stehen und drückte sich eine Faust vor den Mund, als sie Barbara bemerkte. Ihre Blicke begegneten sich. Dann drehte Angelina sich um und verschwand wieder im Haus.

Barbara saß in der Patsche. Angelina hatte mit ihr Freundschaft geschlossen. Barbara konnte sich schlecht verdrücken, ohne zu fragen, ob ihre Nachbarin Hilfe brauchte. Obwohl es von den Optionen, die sie blitzschnell durchging, diejenige war, die ihr am wenigsten zusagte, fasste sie sich ein Herz und klopfte an die Terrassentür.

Als Angelina öffnete, sagte Barbara:»Verzeihung. Ich war eigentlich gekommen, um Azhar etwas zu fragen …«Sie fuhr sich mit einer Hand durchs Haar, das sich immer noch fremd anfühlte, weil es jetzt ordentlich frisiert war. Sie sagte:»Ach, verflixt, tut mir furchtbar leid, dass ich den Streit mitbekommen hab. Aber ich hab fast nichts gehört. Ich bin eigentlich gekommen, weil ich Azhar um einen Gefallen bitten wollte.«

Angelina ließ die Schultern hängen.»Tut mir leid, Barbara. Wir hätten nicht so laut werden dürfen. Ich habe ein Thema angesprochen, an das ich normalerweise nicht rühren darf. Es gibt Dinge, über die man mit Hari einfach nicht reden kann.«

«Reizthemen?«

«Ja, ja, Sie wissen schon. «Sie seufzte.»Aber er wird sich schon wieder beruhigen. Das tut er immer.«

«Kann ich irgendwas für Sie tun?«

«Wenn Ihnen die Unordnung nichts ausmacht, können Sie eine Tasse Tee mit mir trinken. «Sie grinste.»Oder besser ein Glas Gin, das könnte ich jetzt gut gebrauchen.«

«Ich nehme lieber Tee«, sagte Barbara.»Heben Sie mir einen Schluck Gin fürs nächste Mal auf.«

Als sie die Wohnung betrat, sah Barbara, was Angelina mit Unordnung gemeint hatte. Anscheinend hatten Angelina und Azhar sich bei ihrem Streit mit Gegenständen beworfen. Das schien Barbara so untypisch für Azhar, dass sie Angelina entgeistert anschaute und sich fragte, ob sie allein die Sachen zerdeppert hatte. Auf dem Boden lagen zerfledderte Zeitschriften, eine zerbrochene Porzellanfigur, eine Stehlampe und in einer großen Pfütze die Scherben einer Vase zwischen zerknickten Blumen.

«Ich kann Ihnen auch beim Aufräumen helfen«, sagte Barbara.

«Zuerst der Tee«, erwiderte Angelina.

In der Küche war alles beim Alten. Angelina goss den Tee auf und stellte die Kanne auf einen kleinen Tisch unter einem hohen Fenster, durch das das Sonnenlicht hereinfiel.»Gott sei Dank ist Hadiyyah in der Schule«, sagte sie.»Sie hätte es bestimmt mit der Angst zu tun bekommen. Ich glaube nicht, dass sie Hari schon einmal so erlebt hat.«

Woraus Barbara offenbar schließen sollte, dass Angelina» Hari «sehr wohl» schon einmal so erlebt «hatte.»Wie gesagt, ich wollte ihn um einen Gefallen bitten«, bemerkte sie.

«Hari? Worum geht es denn?«

Barbara erklärte es ihr. Angelina nippte graziös an ihrem Tee. Sie hatte schöne Hände und ebenmäßige Fingernägel.»Er kennt bestimmt jemanden«, sagte sie.»Und er wird Ihnen helfen, da bin ich mir ganz sicher. Er mag Sie sehr, Barbara. Und das hier …«, sie blickte sich im Zimmer um,»… ist nur das Ergebnis von einem Zusammenprall zweier ähnlicher Charaktere. Wir vertragen uns auch wieder. Das tun wir eigentlich immer.«

«Gut zu wissen.«

Angelina trank noch einen Schluck Tee.»Wirklich dumm, wie man sich um nichts und wieder nichts streiten kann, nicht wahr? Einer macht eine Bemerkung, ein Wort ergibt das andere, und ehe man sich’s versieht, fliegen die Fetzen. Wirklich lächerlich.«

Barbara wusste nicht, was sie dazu sagen sollte. Sie hatte noch nie in einer Beziehung gelebt, und wahrscheinlich würde sich daran auch in Zukunft nichts ändern. Und sich mit einem Lebensgefährten streiten? Mit Sachen nach ihm werfen? Die Aussicht, dass sie so etwas erleben würde, war ziemlich gering. Trotzdem murmelte sie:»Ja, das ist die Hölle«, und hoffte, dass das Thema damit erledigt war.

«Sie wissen sicher von Haris Frau«, sagte Angelina.»Dass er sich von ihr getrennt hat, dass es aber nie zu einer Scheidung gekommen ist? Das hat er Ihnen doch bestimmt erzählt, oder?«

Barbara gefiel nicht, welche Richtung das Gespräch nahm.»Hm. Na ja. Äh … mehr oder weniger.«

«Er hat sich meinetwegen von ihr getrennt. Ich war damals noch Studentin. Nicht seine, natürlich, die Naturwissenschaften liegen mir nicht. Wir haben uns beim Mittagessen kennengelernt. Die Cafeteria war brechend voll, und er hat gefragt, ob er sich zu mir an den Tisch setzen könne. Mir gefiel seine ernste, nachdenkliche Art. Und das Selbstbewusstsein, das er ausstrahlte, und dass er nicht unter dem Druck stand, andauernd vor Geist sprühende Bemerkungen zu machen. Er war bodenständig. Das hat mich angezogen.«

«Das kann ich verstehen. «Denn es war genau das, was Barbara an ihm mochte. So hatte sie Taymullah Azhar von Anfang an erlebt.

«Ich wollte nicht, dass er sich von seiner Frau trennt. Ich habe ihn geliebt — ich liebe ihn wirklich —, aber die Ehe eines Mannes zu zerstören … So eine Frau bin ich nicht. Aber dann kam Hadiyyah. Als Hari erfuhr, dass ich schwanger war, bestand er darauf, mit mir zusammenzuziehen. Natürlich hätte ich abtreiben können. Aber sie war unser Kind, wissen Sie, und ich hätte es nicht ertragen …«Sie beugte sich vor und berührte kurz Barbaras Hand.»Können Sie sich eine Welt ohne Hadiyyah vorstellen?«

Es war eine einfache Frage, auf die es eine einfache Antwort gab.»Nein«, sagte Barbara.

«Jedenfalls möchte ich schon lange, dass sie ihre Halbgeschwister kennenlernt. Aber Hari will nichts davon wissen.«

«Und darüber haben Sie sich gestritten?«

«Ja, und zwar nicht zum ersten Mal. Es ist das einzige Thema, über das wir regelmäßig aneinandergeraten. Seine Antwort lautet immer gleich: ›Das kommt nicht in Frage.‹ Als hätte er über das Leben aller anderen zu bestimmen. Wenn er so etwas sagt, bringt mich das auf die Palme. Auch wenn er sagt, dass Hadiyyah kein Geschwisterchen mehr haben soll. Er sagt immer: ›Ich habe drei Kinder, und ich werde kein viertes in die Welt setzen.‹«

«Vielleicht überlegt er sich’s ja noch anders.«

«Das kann ich mir nicht vorstellen.«

«Und wenn Sie es heimlich machen?«

«Sie meinen, mit Hadiyyah ihre Halbgeschwister besuchen?«Angelina schüttelte den Kopf.»Ich habe keine Ahnung, wo sie wohnen. Ich weiß nicht mal, wie sie heißen und wer ihre Mutter ist. Womöglich ist sie mit ihren Kindern längst nach Pakistan zurückgegangen.«

«Manche Frauen werden ja auch ganz zufällig schwanger. Aber das wäre ein bisschen gemein, oder?«

«Das würde er mir nie verzeihen. Und er hat mir bereits eine Menge verziehen.«

Barbara dachte schon, Angelina würde ihr jetzt auch noch die Gründe dafür enthüllen, warum sie für ein paar Monate nach Kanada verschwunden war. Aber stattdessen sagte sie:»Ich liebe Hari von ganzem Herzen, wissen Sie. Aber manchmal hasse ich ihn auch total. «Sie musste über die Widersprüchlichkeit ihrer Bemerkung lächeln. Dann zuckte sie die Achseln.»Warten Sie eine Stunde, dann können Sie ihn auf seinem Handy anrufen. Egal, um was es geht, Hari wird Ihnen helfen.«

«Ich brauche jemanden, der fließend Spanisch spricht.«

«Das ist bestimmt kein Problem.«

LAKE WINDERMERE — CUMBRIA

Manette hatte den Verdacht, dass ihr Vater ihr nicht die Wahrheit über Vivienne Tully gesagt hatte. Aber sie hatte nicht den Mut besessen, weiter nachzuhaken. Natürlich war es albern, doch sie hatte sich vor ihrem Vater keine Blöße geben wollen. Es war nicht zum Aushalten: Irgendwie war sie immer noch das kleine Mädchen, das glaubte, wenn sie sich nur genug Mühe gab, könnte sie sich in den Sohn verwandeln, den Bernard Fairclough sich so sehnlich gewünscht hatte. Ein großer Junge weint nicht, und deswegen ließ sie sich jetzt auch zu keinem Gefühlsausbruch provozieren.

Aber das Thema war noch nicht vom Tisch. Wenn Ian über Jahre hinweg Geld an Vivienne Tully überwiesen hatte, dann blieb Manette nichts anderes übrig, als der Sache auf den Grund zu gehen. Schon allein aus Rücksicht auf ihre Mutter. Schließlich gehörte Valerie die Firma Fairclough Industries. Sie hatte sie geerbt. Bernard mochte das Unternehmen über Jahrzehnte hinweg erfolgreich geleitet haben, doch es war ein Familienbetrieb mit einem kleinen, aber mächtigen Vorstand. Und Vorstandsvorsitzende war Valerie, und nicht Bernard. Denn Valeries Vater war nicht dumm gewesen. Dass aus Bernie Dexter Bernard Fairclough geworden war, bedeutete noch lange nicht, dass er Fairclough-Blut in den Adern hatte. Und Valeries Vater hätte nie im Leben zugelassen, dass die Firma in die Hände eines Mannes fiel, der nicht als Fairclough geboren war.

Manette hatte das alles mit Freddie beredet. Zum Glück war er am Abend nicht mit Sarah verabredet gewesen, sondern hatte nur lange mit ihr telefoniert. Zähneknirschend hatte Manette durch die Tür gehört, wie er mit ihr geplaudert und gescherzt hatte, und als ihr davon schließlich der Kiefer wehtat und das Gespräch immer noch nicht beendet war, hatte sie sich auf dem Laufband ausgetobt, bis ihr T-Shirt nassgeschwitzt war. Endlich kam Freddie ins Wohnzimmer, die Wangen und sein linkes Ohr gerötet, woraus sie hätte schließen können, dass er Telefonsex gehabt hatte, hätte sie nicht gewusst, dass das nicht zu ihm passte.

Sie hatte sich noch fünf Minuten länger abgekämpft, um es wie ein ganz normales Training aussehen zu lassen, woraufhin Freddie den Daumen hochgereckt hatte, um seiner Bewunderung für ihre Kondition Ausdruck zu verleihen, und in die Küche gegangen war. Dort hatte sie ihn über einem Kreuzworträtsel brütend vorgefunden.

«Gehst du heute Abend nicht aus?«, fragte sie ihn.

«Wir legen ein Päuschen ein«, sagte er.

«Ach, macht der alte Schlawiner etwa schlapp?«

Freddie errötete.»Nein, nein, der ist topfit.«

«Freddie McGhie, also wirklich!«

Freddie sah sie mit großen Augen an, dann fiel bei ihm der Groschen.»Gott o Gott, so hab ich das nicht gemeint. «Er lachte.»Wir haben uns entschlossen …«

«Du und die Lady, oder du und der alte Schlawiner?«

«Sarah und ich haben uns entschlossen, es ein bisschen langsamer angehen zu lassen. Eine Beziehung sollte schließlich mehr beinhalten, als sich gegenseitig die Kleider vom Leib zu reißen.«

«Freut mich, das zu hören«, sagte Manette, ohne nachzudenken.

«Das freut dich? Wieso?«

«Ach, weil … äh …«, stotterte sie.»Na ja, ich möchte nicht, dass du einen Fehler machst. Dass du etwas tust, was du hinterher bereust.«

Er schaute sie an. Sie spürte, wie ihr die Hitze ins Gesicht stieg. Sie musste unbedingt das Thema wechseln, und ihr Gespräch mit ihrem Vater am Vortag war jetzt genau das richtige.

Freddie hörte sehr aufmerksam zu, wie es seine Art war. Als sie geendet hatte, sagte er:»Ich glaube, es wird Zeit, dass wir beide mal mit ihm reden, Manette.«

Manette war ihm so dankbar, dass sie sich über sich selbst wunderte. Sie wusste, dass sie, wenn sie Informationen von ihrem Vater haben wollten, nur eine Option hatten: Sie mussten ihre Mutter ins Spiel bringen und sie über die abfließenden Gelder informieren.

Am späten Vormittag fuhren Manette und Freddie nach Ireleth Hall. Kurz nachdem sie aufgebrochen waren, begann es zu regnen. Es war Spätherbst, und es schüttete wie aus Eimern. In einem Monat würde es in Cumbria den ersten Schnee geben. In Great Urswick würden sie auch ein bisschen Schnee abbekommen, aber weiter oben im Norden würden die steilen, engen Pässe bis zum Frühjahr unbefahrbar sein.

Als Freddie vor der großen Eingangstür von Ireleth Hall hielt, sagte Manette:»Ich danke dir, Freddie.«

«Hä?«, fragte er verblüfft.

«Dafür, dass du mitgekommen bist.«

«Ach was. Das stehen wir doch gemeinsam durch. «Und ehe sie etwas darauf erwidern konnte, war er schon ausgestiegen und kam auf die andere Seite, um ihr die Tür aufzuhalten.»Lass uns den Stier bei den Hörnern packen, bevor uns der Mut verlässt. Falls es unangenehm wird, können wir immer noch deine Schwester anrufen und um eine nette kleine Vorstellung bitten.«

Manette lachte. Freddie kannte ihre Familie. Na ja, das war auch nicht anders zu erwarten, schließlich gehörte er schon sein halbes Leben lang dazu. Ohne über die Konsequenzen nachzudenken, fragte sie:»Warum in aller Welt haben wir beide uns eigentlich scheiden lassen, Freddie?«

«Weil einer von uns es einfach nicht gelernt hat, die Zahnpastatube nach dem Gebrauch ordentlich wieder zuzuschrauben, wenn ich mich recht erinnere«, erwiderte er leichthin.

Ohne anzuklopfen betraten sie die große Eingangshalle, in der sie eine herbstliche Kühle empfing, da in dem riesigen Kamin kein Feuer brannte. Das Hallo, das Manette rief, hallte von den Wänden wider.

Sie hörten Schritte im Flur im ersten Stock, und gleich darauf kam Valerie die Treppe herunter.»Was für eine nette Überraschung!«, sagte sie lächelnd.»Und sogar zusammen!«Letzteres sprach sie so erwartungsvoll aus, als rechnete sie damit, dass die beiden gekommen waren, um ihre große Versöhnung zu verkünden. Da konnte Valerie lange warten, dachte Manette. Aber ihre Mutter wusste ja nichts von Freddies erfolgreichem Eintritt in die Welt des Internet-Dating.

Zugleich sagte sich Manette, dass Valeries Fehldeutung der Situation ihnen im Moment sehr nützlich sein könnte. Sie nahm Freddies Hand und sagte:»Wir wollten kurz mit dir und Dad reden. Ist er da?«

Valerie strahlte.»Ach du je. Bestimmt ist er da. Ich sehe mal, wo er steckt. Freddie, mein Lieber, könntest du in der Zwischenzeit ein Feuer machen? Wollen wir uns hier unten zusammensetzen, oder würdet ihr lieber …«

«Hier ist prima«, sagte Manette und schaute Freddie an.»Nicht wahr, Freddie?«

Wie immer lief Freddie rot an, was das Ganze absolut überzeugend machte, dachte Manette. Nachdem Valerie gegangen war, sagte er:»Also wirklich …«Worauf Manette antwortete:»Danke, dass du mitgespielt hast. «Dann hob sie seine Hand und drückte ihm einen Kuss auf die Finger.»Du bist ein Goldstück. Komm, wir kümmern uns um das Feuer. Sieh mal nach, ob der Abzug offen ist.«

Als Valerie und Bernard nach unten kamen, prasselte ein Feuer im Kamin, und Manette und Freddie standen davor und wärmten sich den Rücken. An den Gesichtern ihrer Eltern, die freudige Erwartung ausstrahlten, sah Manette, dass sie über den Grund ihres Besuchs gesprochen hatten. Das wunderte sie nicht, denn beide hatten Freddie schon damals, als sie ihn zum ersten Mal mit nach Hause gebracht hatte, sofort ins Herz geschlossen.

Ihr Vater fragte, ob sie Kaffee wollten. Ihre Mutter bot ihnen Teegebäck aus einer Bäckerei in Windermere an. Manette und Freddie lehnten höflich ab.»Aber setzen wir uns doch«, sagte Manette und bugsierte Freddie zu einem der Sofas vor dem Kamin. Ihre Eltern nahmen auf dem anderen Sofa Platz, allerdings interessanterweise so dicht an der Kante, als müssten sie jederzeit bereit sein, die Flucht zu ergreifen — oder eine Flasche Schampus zu holen. Die Hoffnung stirbt immer zuletzt, dachte Manette.

Sie sagte:»Freddie?«

Er schaute erst ihren Vater, dann ihre Mutter an und sagte:»Bernard, Valerie, es geht um Ian und die Bücher der Firma.«

Es war nicht zu übersehen, wie Bernard der Schreck in die Glieder fuhr. Er sah seine Frau so entgeistert an, als vermutete er, Valerie und seine Tochter hätten ihn gemeinsam hereingelegt, während Valerie verwirrt schwieg. Manette wusste nicht, ob Freddie das bemerkt hatte, doch es spielte auch keine Rolle, denn er ging sofort in die Offensive:»Ich weiß, dass das nicht allen gefallen wird, aber wir müssen uns bei Mignons Unterhaltszahlungen etwas einfallen lassen. Oder noch besser, die Zahlungen ganz einstellen. Und wir müssen die Sache mit Vivienne Tully klären. Das Geld, das in das Haus von Nick und Alatea geflossen ist, zusammen mit dem Geld, das Mignon und Vivienne monatlich zufließt, und dem Geld, das der Fantasiegarten hier in Ireleth Hall verschlingt … Ich würde euch gern sagen, dass Fairclough Industries ein dickes Polster besitzt, aber wir müssen unbedingt irgendwo Abstriche machen. Und zwar so bald wie möglich.«

Das war so typisch Freddie, dachte Manette. Er war ernst und ehrlich und vollkommen arglos.

Sie wartete auf die Reaktion ihres Vaters. Ebenso wie Freddie. Ebenso wie Valerie. Das Feuer knisterte und knackte, und ein dickes Scheit rollte vom Rost. Bernard nutzte die Gelegenheit, um Zeit zu gewinnen. Er stand auf, nahm die Kaminzange vom Haken und kümmerte sich um das Problem, während die anderen ihm zusahen.

Als er sich ihnen wieder zuwandte, sagte Valerie:»Erklär mir, was das für Geld ist, das jeden Monat an Vivienne Tully geht. «Sie schaute dabei jedoch nicht Freddie, sondern Bernard an.

«Tja«, sagte Freddie liebenswürdig.»Es ist ein bisschen sonderbar. Sie bekommt seit Jahren monatliche Zuwendungen, die sich stufenweise erhöhen. Bisher habe ich Ians Buchführung noch nicht komplett durchgearbeitet, aber soweit ich das bisher beurteilen kann, hat Vivienne vor Jahren eine große Summe erhalten, und zwar per telegrafischer Überweisung auf ein Konto. Dann ist ein paar Jahre lang kein Geld geflossen, und schließlich haben die monatlichen Überweisungen angefangen.«

«Wann war das?«, fragte Valerie ruhig.

«Vor ungefähr achteinhalb Jahren. Also, ich weiß ja, dass sie im Vorstand der Stiftung sitzt, Bernard …«

«Wie bitte?«Valerie schaute ihren Mann an und sagte seinen Namen, während Freddie fortfuhr:»Aber das ist ein ehrenamtlicher Posten. Natürlich bekommen ehrenamtliche Mitarbeiter ihre Auslagen erstattet, darüber hinaus jedoch keine weiteren Zuwendungen. Aber der Betrag, den sie erhält, übersteigt bei Weitem alle vorstellbaren Auslagen — es sei denn«, fügte er lachend hinzu, und für dieses unschuldige Lachen hätte Manette ihn küssen können,»sie diniert jeden Abend mit potentiellen Spendern und schickt deren Kinder zusätzlich auf Privatschulen. Und da das nicht der Fall ist …«

«Ich habe schon verstanden«, sagte Valerie.»Du auch, Bernard? Oder ist es eher so, dass du ohnehin über alles im Bilde bist?«

Bernard schaute Manette an. Natürlich würde er gern wissen, was sie Freddie erzählt hatte und welches Spiel sie jetzt mit ihm trieben. Er würde sich verraten fühlen. Er hatte ihr am Vortag im Vertrauen einiges erzählt. Tja, dachte Manette, wenn er ihr wirklich alles anvertraut hätte, dann hätte sie die Wahrheit vielleicht für sich behalten. Aber das hatte er nicht getan. Er hatte ihr gerade so viel erzählt, wie nötig war, um sie zu beruhigen. Das hatte er zumindest angenommen.

Und ebenso wie am Vortag versuchte Bernard, sich dumm zu stellen:»Ich habe keine Ahnung, warum Ian Vivienne Geld überwiesen hat. Vielleicht fühlte er sich verpflichtet …«Er geriet ins Stocken.»Vielleicht war das seine Art, mich zu schützen.«

«Und wovor genau?«, wollte Valerie wissen.»Soweit ich mich erinnere, hat Vivienne eine besser bezahlte Stelle bei einer Londoner Firma angenommen. Sie wurde nicht entlassen. Oder doch? Gibt es etwas, wovon ich nichts weiß?«Dann fragte sie Freddie:»Über welche Summe reden wir hier eigentlich?«

Freddie nannte sie ihr. Und er nannte ihr den Namen der Bank. Valeries Lippen öffneten sich leicht. Sie durchbohrte Bernard mit ihrem Blick. Er wandte sich ab.

Valerie sagte:»Was soll ich deiner Meinung nach daraus schließen, Bernard?«

Bernard schwieg.

«Soll ich annehmen, dass sie Ian aus irgendeinem Grund erpresst hat?«, fragte sie.»Vielleicht hat er ja die Bilanzen gefälscht, und sie hat es herausgefunden, und daraufhin hat er sie an seinem Gewinn beteiligt? Oder vielleicht hat sie ihm angeboten, sich zu verziehen und Niamh nichts über seine sexuellen Neigungen zu verraten, solange er sie bezahlt … obwohl das natürlich nicht erklären würde, warum er ihr weiterhin Geld überwiesen hat, nachdem er sich von Niamh getrennt hat und mit Kaveh zusammengezogen ist, nicht wahr, Darling? Also bleiben wir doch bei der ersten Möglichkeit. Freddie, gibt es irgendwelche Hinweise darauf, dass Ian die Bilanzen manipuliert hat?«

«Tja, wenn, dann nur insofern, als auch die Zahlungen an Mignon gestiegen sind. Aber in seine eigene Tasche hat er kein …«

«Mignon

«Genau. Die monatlichen Überweisungen an sie sind drastisch gestiegen«, sagte Freddie.»Das Problem ist, dass die Erhöhung gar nichts mit gestiegenen Ausgaben zu tun hat, soweit ich das beurteilen kann. Okay, da war diese Operation, doch um die zu bezahlen, hätte eine Überweisung gereicht. Und in Anbetracht der Tatsache, dass sie hier auf dem Familiensitz wohnt, hat sie ja kaum laufende Kosten, oder? Ich weiß, sie bestellt sich alles Mögliche im Internet, aber wie viel Geld kann sie da schon ausgeben? … Na ja, andererseits könnte jemand, der in der Hinsicht eine Sucht entwickelt, auf diese Weise ein Vermögen verschleudern. Trotzdem …«

Freddie plapperte nur so drauflos. Manette wusste, dass es eine Reaktion auf die Anspannung zwischen ihren Eltern war, die er genau spürte. Eigentlich hätte ihm klar sein müssen, dass sie sich auf gefährliches Terrain begeben hatten, als sie ihre Eltern über die Zahlungen an Mignon und Vivienne informiert hatten, aber in seiner Naivität hatte Freddie nicht geahnt, dass es sich um ein Minenfeld handelte.

Nachdem Freddie geendet hatte, herrschte einen Moment lang Schweigen. Valerie schaute Bernard an. Bernard fuhr sich mit der Hand über den Kopf. Schließlich sagte er:»Das hätte ich dir nicht zugetraut.«

«Was?«, fragte Manette.

«Das weißt du genau. Ich hatte immer gedacht, zwischen uns bestünde ein Vertrauensverhältnis. Aber da habe ich mich wohl getäuscht.«

«Moment«, sagte Freddie hastig,»das hat nichts mit Manette zu tun, Bernard. «Dann nahm er Manettes Hand und erklärte mit einer Bestimmtheit, die sie überraschte:»In Anbetracht der Umstände sind ihre Sorgen vollkommen berechtigt. Und sie weiß nur von den Zahlungen, weil ich ihr davon erzählt habe. Fairclough Industries ist ein Familienunternehmen …«

«Und du gehörst nicht zur Familie«, fauchte Bernard.»Du hast einmal dazugehört, aber dann hast du es dir anders überlegt. Und wenn du glaubst …«

«Rede nicht in dem Ton mit Freddie!«, fiel Manette ihm ins Wort.»Du kannst froh sein, dass du ihn hast. Wir können alle froh sein, dass wir ihn haben. Unter denen, die in der Firma einen verantwortungsvollen Posten bekleiden, scheint er der einzige Ehrliche zu sein.«

«Dich eingeschlossen?«, fragte ihr Vater.

«Ich glaube nicht, dass das eine Rolle spielt«, antwortete sie,»denn auf jeden Fall schließt es dich ein. «Vielleicht, dachte sie, hätte sie letztendlich alles für sich behalten, schon allein, um ihre Mutter zu schonen, aber was ihr Vater eben zu Freddie gesagt hatte, war einfach zu viel — auch wenn sie sich nicht fragte, warum es sie derart auf die Palme brachte, denn eigentlich hatte ihr Vater nur die Wahrheit gesagt: Freddy gehörte nicht mehr zur Familie. Dafür hatte sie selbst gesorgt. Sie wandte sich an ihre Mutter:»Ich glaube, Dad hat dir etwas zu sagen, etwas über ihn und Vivienne Tully.«

«Das ist mir nicht entgangen, Manette«, sagte Valerie.»Freddie, stell die Zahlungen sofort ein. Nimm Kontakt zu ihr über die Bank auf, an die die Zahlungen gehen. Die sollen sie davon in Kenntnis setzen, dass ich das entschieden habe.«

Bernard sagte:»Das ist nicht …«

«Es interessiert mich nicht, was es ist und was nicht«, schnitt Valerie ihm das Wort ab.»Und dich sollte es ebenso wenig interessieren. Oder möchtest du mir gern erklären, warum du die Zahlungen gern fortsetzen würdest?«

Bernard wirkte gequält. Unter anderen Umständen hätte sie Mitleid mit ihm gehabt, dachte Manette. Aber Männer waren doch wirklich verdammte Mistkerle. Sie wartete darauf, dass ihr Vater versuchen würde, sich aus der Situation herauszulügen in der Hoffnung, dass sie nichts über ihr Gespräch verraten würde, in dem er ihr seine Affäre mit Vivienne Tully gestanden hatte.

Aber wie immer hatte Bernard Fairclough das Glück auf seiner Seite. Denn in dem Augenblick ging die Tür auf, und der Wind fegte herein. Als Manette sich umdrehte, weil sie glaubte, sie und Freddie hätten die Tür nicht richtig zugemacht, stürmte ihr Bruder Nicholas in die Eingangshalle.

LANCASTER — LANCASHIRE

Deborah sagte sich, dass sie unbedingt mit der Frau sprechen musste, die in Alateas Begleitung war. Denn wenn sie richtiglag mit ihrer Vermutung, dass alles mit Alateas Schwierigkeiten tun hatte, ein Kind zu bekommen, dann würde Alatea garantiert nicht gerne darüber reden wollen. Vor allem nicht mit einer Frau, die ihr die Unwahrheit über den Grund ihres Aufenthalts in Cumbria gesagt hatte. Und ebenso wenig würde Alatea einem Klatschreporter ihr Herz ausschütten. Wenn sie also den Grund für Alateas merkwürdiges Verhalten herausfinden wollten, dann mussten sie sich an Alateas Begleiterin halten.

Sie rief Zed auf dem Handy an.

«Das wird aber auch höchste Zeit«, fauchte er.»Wo zum Teufel stecken Sie? Was ist los? Wir haben eine Abmachung, und wenn Sie …«

«Sie sind in eins der Gebäude gegangen«, sagte sie.

«Na, das hilft uns ja enorm viel weiter«, schnaubte er.»Wahrscheinlich nimmt sie einfach an irgendeinem Seminar teil. Zusammen mit ihrer Freundin.«

«Ich muss mit ihr reden, Zed.«

«Ach, ich dachte, das hätten Sie bereits vergeblich versucht.«

«Ich rede nicht von Alatea. Die wird ebenso wenig mit mir reden wie mit Ihnen. Ich meine die Frau, mit der sie aus dem Invalidenheim gekommen ist. Mit der will ich reden.«

«Wieso?«

Jetzt wurde es kompliziert.»Die beiden scheinen sich ganz gut zu kennen. Sie haben sich auf dem ganzen Weg ziemlich angeregt unterhalten. Sie wirkten wie Freundinnen, und Freundinnen vertrauen einander Geheimnisse an.«

«Und Freundinnen wissen ein Geheimnis zu hüten.«

«Natürlich. Aber ich habe schon öfter festgestellt, dass die Leute außerhalb von London einen Heidenrespekt vor Scotland Yard haben. Hier draußen braucht man nur mit dem Dienstausweis zu wedeln, und schon sind die Leute bereit, einem ihre Geheimnisse zu offenbaren.«

«Dasselbe gilt für Reporter«, bemerkte Zed.

Sollte das ein Scherz sein? fragte sich Deborah. Wahrscheinlich nicht.»Verstehe«, sagte sie.

«Dann …«

«Ich glaube, ich allein wirke weniger bedrohlich.«

«Inwiefern?«

«Das ist doch klar. Erstens wären wir in der Überzahl: zwei Fremde, die eine Frau auf ihre Freundschaft mit einer anderen Frau ansprechen. Zweitens … Also, Sie müssen schon zugeben, Zed, dass Sie mit Ihrer Größe ziemlich einschüchternd wirken.«

«Ich bin sanft wie ein Lamm. Das wird sie schnell genug merken.«

«Mag sein. Aber vergessen Sie nicht, wer wir sind. Sie wird verlangen, dass wir uns ausweisen. Stellen Sie sich das mal vor. Ich zeige ihr meinen Ausweis, Sie zeigen ihr Ihren — wie wird sie reagieren, wenn sie mitkriegt, dass Scotland Yard und die Source gemeinsame Sache machen? Es würde nicht funktionieren. Ich muss unbedingt unter vier Augen mit der Frau reden. Ich werde Ihnen berichten, was sie mir erzählt, und dann sehen wir weiter.«

«Und woher soll ich wissen, dass Sie das auch tun? Dass Sie mich nicht reinlegen?«

«Damit Sie als Nächstes auf der Titelseite der Source einen Artikel darüber bringen, dass Scotland Yard hier oben verdeckt ermittelt? Glauben Sie mir, Zed, mir ist nicht danach zumute, mit Ihnen Spielchen zu treiben.«

Er schwieg. Deborah hatte sich in sicherer Entfernung von dem Gebäude postiert, denn sie wollte nicht von den beiden Frauen gesehen werden, wenn sie herauskamen. Es schien ihr das Beste zu sein, zu dem Invalidenheim zurückzukehren und dort auf Alatea und ihre Begleiterin zu warten. Das konnte natürlich Stunden dauern, was bedeutete, dass sie ziemlich lange in Zeds Auto würden hocken müssen, aber sie hatte keine andere Wahl.

Sie erklärte ihm jedoch, falls er einen besseren Vorschlag habe, solle er damit nicht hinter dem Berg halten.

Zum Glück hatte er keinen anderen Vorschlag. Er war nicht dumm. Ihm war klar, dass eine Konfrontation mit den beiden Frauen hier auf dem Campus der University of Lancaster zu nichts führen würde. Zumindest oberflächlich betrachtet, hatten die Frauen nichts getan, was sie in irgendeiner Weise verdächtig erscheinen ließ. Auf die Frage» Sieh mal einer an, was machen Sie beide denn hier?«würden sie mit Sicherheit ein» Das geht sie überhaupt nichts an!«als Antwort erhalten.

Zed sah das ein, aber er machte Deborah deutlich, dass es ihm trotzdem nicht gefiel. Herumzusitzen und zu warten, erklärte er ihr, sei nicht sein Stil. Das passe nicht zu einem Journalisten. Ein Journalist bekomme seine Story, indem er Informationen ausgrub und Leute zur Rede stellte. Das gehöre zum Alltag des investigativen Journalismus.

Obwohl Deborah am liebsten verächtlich geschnaubt hätte, nickte sie verständnisvoll. Richtig, selbstverständlich, sie verstehe ihn ja. Aber im Moment wüssten sie nicht einmal den Namen der Frau, mit der Alatea hergekommen war, und ohne den Namen könnten sie auch nichts ausgraben.

Endlich gelang es ihr, Zed zu überzeugen. Er sagte, er werde sie dort wieder aufgabeln, wo sie ausgestiegen war. Dann würden sie zum Invalidenheim fahren und dort warten, bis Alatea und ihre Begleiterin zurückkamen. Und während sie warteten, könnten sie sich einen Plan für ihr weiteres Vorgehen zurechtlegen, darauf bestehe er, fügte er hinzu, denn er werde sich auf keinen Fall diese Story durch die Lappen gehen lassen, bloß weil sie ein falsches Spiel mit ihm spiele.

«Keine Sorge, Zed«, sagte Deborah.»Sie könnten mich in große Schwierigkeiten bringen, wenn ich mich nicht an unsere Abmachung hielte.«

Er lachte in sich hinein.»Daran erkennt man einen guten Reporter.«

«Ja«, sagte sie.»Das ist mir inzwischen klar geworden.«

Sie beendeten das Gespräch. Deborah wartete noch ein paar Minuten, um zu sehen, ob Alatea und ihre Begleiterin das Gebäude wieder verließen. Das passierte nicht. Soweit Deborah aus den Aushängen in der Eingangshalle hatte schließen können, befanden sich in dem Gebäude nur Büros und Labors und keine Vorlesungssäle. Das bedeutete, dass Alatea und ihre Begleiterin wahrscheinlich nicht an irgendeinem Seminar teilnahmen, wie Zed vermutete. Und da das Institut für Reproduktionsmedizin in dem Gebäude untergebracht war, glaubte Deborah, dass sie bald wissen würden, was Alatea zu verbergen hatte.

VICTORIA — LONDON

Barbara Havers musste noch einmal in den Yard. Sie brauchte Winston Nkatas Hilfe, und die bekam sie nur in der Victoria Street, es sei denn, sie konnte ihn überreden, sich für ein paar Stunden mit ihr an einem Ort zu treffen, wo sie Zugang zum Internet hatten. Aber bei sich zu Hause hatte sie keinen Internetanschluss. Ja, sie besaß nicht einmal einen Laptop und hatte auch noch nie das Bedürfnis dazu verspürt, da sie fand, dass die Leute nur ihre Zeit an den Dingern verplemperten. Die Welt der unbegrenzten Informationen war nicht ihre Sache. Das Leben war doch viel übersichtlicher gewesen, als Geräte nichts weiter als einen Knopf zum Ein- und Ausschalten besaßen und als das Tastentelefon und die Fernbedienung das Äußerste an moderner Technologie dargestellt hatten. Damals hatte man ein paar Anrufe getätigt und sich die Informationen, die man brauchte, von anderen zutragen lassen.

Heutzutage sah das alles ganz anders aus. Heutzutage lief ein Ermittler sich nicht mehr die Hacken ab, sondern brachte seinen Kopf zum Qualmen. Und inzwischen fand sie sich, wenn auch widerstrebend, tatsächlich einigermaßen im Internet zurecht, während Winston sich regelrecht zum Experten auf dem Gebiet gemausert hatte. Die Frage lautete: Wie fand man ein bestimmtes Model, das für sexy Dessous warb? Winston würde die Antwort wissen.

Natürlich könnte sie ihn einfach anrufen, aber das wäre nicht dasselbe. Sie musste sehen, was auf dem Bildschirm erschien, wenn er sich durch das Web klickte.

Also fuhr sie in den Yard. Von der Eingangshalle aus rief sie ihn an und bat ihn, sich mir ihr in der Bibliothek zu treffen. Es handle sich um eine Nacht- und Nebelaktion, von der die Chefin nichts wissen dürfe.

«Barb …«, sagte er.

Sie wusste genau, was es bedeutete, wenn Winston diesen Ton anschlug. Aber sie wusste auch, wie sie seine Bedenken ausräumen konnte.

«Lynley braucht ein paar Informationen«, sagte sie. Für Lynley würde Winnie alles tun, das wusste sie.»Du kannst dich doch für eine Weile loseisen, oder? Es dauert auch nicht lange.«

«Was hast du vor?«

«Pornos kucken.«

«Auf einem Computer hier im Yard? Bist du verrückt geworden?«

«Befehl von Hillier«, sagte sie.»Echt mal, Winnie, glaubst du im Ernst, ich mach das zum Vergnügen? Lynley ist da einer Sache auf der Spur. Wahrscheinlich nichts weiter als irgendeine fette Kuh, die für Reizwäsche wirbt.«

Er sagte, er werde in die Bibliothek kommen, fügte jedoch hinzu — und das war typisch Winnie —, dass er, sollte er der Chefin über den Weg laufen und sie ihn fragen, was er vorhabe, die Wahrheit sagen werde.

«Versuch wenigstens, ihr aus dem Weg zu gehen, okay?«, sagte Barbara.»Lynley hat schon Ärger bekommen, weil sie spitzgekriegt hat, dass er mich in die Sache reingezogen hat. Wenn sie dahinterkommt, dass ich auch noch deine Hilfe in Anspruch nehme, dreht sie ihm den Hals um.«

Das überzeugte ihn, wie sie gehofft hatte. Er würde Ardery so gut es ging aus dem Weg gehen.

Als Barbara in der Bibliothek eintraf, wartete Winston bereits auf sie. Eine Begegnung mit Isabelle Ardery hatte er erfolgreich vermieden, dafür war er Dorothea Harriman über den Weg gelaufen, und das war keine gute Nachricht. Die Sekretärin der Abteilung schien über einen siebten Sinn zu verfügen, der sie wahrscheinlich befähigte, Winstons Absichten an seinen Schnürsenkeln abzulesen. Tja, daran ließ sich jetzt nichts mehr ändern.

Sie machten sich an die Arbeit. Winstons flinke Finger flogen über die Tastatur. Nachdem Barbara ihm Alatea Faircloughs unaussprechlichen Geburtsnamen buchstabiert hatte, war er nicht mehr zu bremsen. Ein Fenster nach dem anderen öffnete sich auf dem Bildschirm, und Barbara versuchte gar nicht erst, Schritt zu halten. Winston erklärte ihr nicht, was er tat oder wohin die Reise ins Netz ging. Er warf jeweils einen kurzen Blick auf die Bilder, die auftauchten, traf irgendeine Entscheidung und hackte wieder in die Tasten. Er würde einen guten Ermittler für Computerkriminalität abgeben, dachte Barbara. Das wollte sie ihm gerade sagen, als ein wütendes» Sergeant Havers und Sergeant Nkata «ihr sagte, dass Dorothea Harriman nicht dichtgehalten und Isabelle Ardery sie entdeckt hatte.

Nkata drehte sich um. Er erstarrte. Barbara starrte ihre Chefin ausdruckslos an. Was hatte die Ardery eigentlich? Ging es um Lynley und darum, dass er seine nächtlichen Pflichten bei ihr nicht erfüllte? Oder wurmte es sie nur, dass sie nicht alles unter Kontrolle hatte?

Winston stand langsam auf und schaute Barbara an. Sie sagte:»Ich hab mir Winston für ein paar Sekunden ausgeliehen, Chefin. Ich brauch unbedingt ein paar Informationen, und er kennt sich mit dem Internet viel besser aus als ich.«

Isabelle Ardery musterte sie von oben bis unten und las den Spruch auf Barbaras T-Shirt, der deutlich zu sehen war, da sie ihre Jacke über die Stuhllehne gehängt hatte. Er lautete: Christus ist für unsere Sünden gestorben — enttäuschen wir ihn nicht.

«Ihr Urlaub ist beendet, Sergeant Havers«, sagte Ardery.»Ich erwarte Sie in einer Stunde zurück zum Dienst, und zwar ordentlich gekleidet.«

Barbara entgegnete:»Bei allem Respekt, Chefin …«

«Treiben Sie es nicht zu weit, Barbara«, fiel Ardery ihr ins Wort.»Vielleicht stehen Ihnen noch weitere sechs Tage oder vielleicht auch sechs Wochen Urlaub zu, aber es scheint mir ziemlich offensichtlich, dass Sie keinen Urlaub machen. Also sehen Sie zu, dass Sie wieder zur Arbeit erscheinen.«

«Ich wollte nur sagen …«

«Sergeant Havers!«, bellte Ardery.»Entscheiden Sie sich!«

«Chefin«, sagte Barbara hastig,»ich schaffe es nicht in einer Stunde, nach Hause zu fahren, mich umzuziehen und wieder hier zu sein. Das ist schlichtweg unmöglich. Außerdem muss ich noch zur London University. Wenn Sie mir noch diesen einen Tag lassen … Ich schwöre, ich bin in dreißig Sekunden hier raus, und morgen erscheine ich pünktlich und tipptopp zum Dienst. «Dann fügte sie hinzu:»Ich hab Winston gezwungen, mir zu helfen, Chefin. Also lassen Sie es bitte nicht an ihm aus.«

«Es?«, fauchte Ardery.»Was genau meinen Sie mit es, Sergeant Havers?«

Barbara hörte Winston stöhnen, aber zum Glück so leise, dass die Ardery es nicht mitbekam. Barbara sagte:»Ich weiß nicht … einfach … na ja … Stress im Job und so weiter.«

«Und so weiter?«Isabelles Augen funkelten vor Wut, und Barbara wäre am liebsten im Erdboden versunken.

«Nichts, Chefin«, murmelte sie, obwohl sie am liebsten gesagt hätte Na ja, ohne Lynley im Bett.»Ich hab nichts Konkretes gemeint. War nur so dahingesagt.«

«Ach ja? Reizen Sie mich nicht noch weiter mit Ihren Sprüchen, Sergeant. Beenden Sie, was auch immer Sie hier machen, und dann verschwinden Sie. Und wenn Sie morgen früh nicht pünktlich zum Dienst erscheinen, können Sie ab morgen Nachmittag in Usbekistan den Verkehr regeln. Habe ich mich deutlich genug ausgedrückt?«

«Mehr als deutlich, Chefin«, sagte Barbara.

«Und Sie«, sagte Ardery zu Nkata,»kommen mit mir.«

«Keine Spur von Reizwäsche«, sagte Nkata zu Barbara und fügte so leise, dass Ardery es nicht hörte, hinzu:»Überprüfen Sie mal Raul Montenegro.«

Barbara wartete, bis Ardery und Nkata die Bibliothek verlassen hatten. Innerlich fluchte sie über ihr Pech mit Ardery. Sie würde sich in Zukunft hundertfünfzig Prozent korrekt verhalten müssen, wenn sie nicht wollte, dass ihre Chefin sie auf den Mond katapultierte.

Sie setzte sich an den Computer und betrachtete den Bildschirm. Schon wieder alles auf Spanisch, stellte sie zähneknirschend fest, aber nach einer Weile entdeckte sie den Namen, den Winston ihr genannt hatte. Raul Montenegro. Also gut, dachte Barbara, dann wollen wir mal.

LAKE WINDERMERE — CUMBRIA

Im Laufe der Jahre hatte Manette ihren kleinen Bruder in allen möglichen Zuständen erlebt, von stocknüchtern bis halb bewusstlos. Sie hatte ihn reumütig erlebt, sie hatte ihn ernst, manipulierend, traurig, aufgeregt, ängstlich, freudig erregt und paranoid erlebt. Aber sie hatte ihn noch nie so wütend erlebt wie jetzt, als er in die Eingangshalle von Ireleth Hall gestürmt kam und die Tür hinter sich zuknallte.

Sein Auftritt war beeindruckend, und alle starrten ihn mit offenem Mund an.

«Nicky, was ist passiert?«, fragte Valerie.

«Alles in Ordnung?«, fragte Bernard.»Wo ist Alatea? Ist Alatea etwas zugestoßen?«

«Nein, Alatea geht es gut«, antwortete Nicholas schroff.»Ich will mit dir über Scotland Yard reden. Das wird dir doch nichts ausmachen, oder? Oder dir, Manette? Oder Freddie? Ich nehme an, ihr seid alle im Bilde.«

Manette schaute ihren Vater an. Sie hatte nicht vor, darauf irgendetwas zu erwidern, und sie drückte Freddies Hand, damit er den Mund hielt. Sie spürte, dass er sie ansah, aber er sagte nichts, sondern verschränkte nur seine Finger mit ihren.

Bernard sagte:»Ich weiß nicht, wovon du redest, Nick. Setz dich. Du siehst ja furchtbar aus. Hast du nicht geschlafen?«

«Tu bloß nicht so, als würdest du dir Sorgen um mich machen«, fauchte Nicholas.»Du hast jemanden von London herbeordert, der gegen mich ermittelt, und tu bloß nicht so, als wüsstest du nichts davon. «Er baute sich direkt vor seinem Vater auf:»Was zum Teufel hast du dir dabei gedacht? Hast du etwa angenommen, ich würde davon nichts mitbekommen? Glaubst du vielleicht, die Drogen und der Alkohol haben mir dermaßen das Gehirn aufgeweicht, dass ich mich nicht fragen würde … Herrgott noch mal, ich sollte dir wirklich den Hals umdrehen. Das wäre doch ein Leichtes für mich, oder? Offenbar bin ich so ein kaltblütiger Mörder, dass es auf eine Leiche mehr oder weniger im Bootshaus auch nicht mehr ankommt.«

«Nicholas!«Valerie war aufgesprungen.»Hör auf!«

«Ach, du steckst also mit ihm unter einer Decke?«, höhnte er.»Ich hätte nicht gedacht …«

«Ich habe das alles veranlasst«, sagte Valerie.

Er verstummte. Manette war so schockiert, dass sich ihr der Magen zusammenzog. Aber schon bald folgte Verwirrung auf den Schock.

«Valerie«, sagte Bernard.»Das ist nicht nötig.«

«Ich fürchte doch. «Dann sagte sie zu Nicholas:»Die Polizei ist auf meinen Wunsch hier. Dein Vater hat das auf meinen Wunsch hin veranlasst. Es war nicht seine Idee. Hast du das verstanden? Er ist nach London gefahren, weil er jemanden bei Scotland Yard kennt. Doch es war weder seine Idee noch Manettes …«Sie zeigte auf Manette, die händchenhaltend mit Freddie auf dem Sofa saß.»… noch Mignons. Ich allein bin dafür verantwortlich.«

Nicholas wirkte wie jemand, dem gerade eine tödliche Wunde zugefügt worden war. Endlich fand er seine Stimme wieder:»Meine eigene Mutter. Glaubst du wirklich … Traust du mir allen Ernstes zu …?«

«Es ist nicht ganz so, wie du denkst«, sagte Valerie.

«… dass ich Ian umgebracht habe?«Er schlug mit der Faust auf den Kaminsims.»Glaubst du das? Hältst du mich für fähig, einen Mord zu begehen? Was ist eigentlich mit dir los?«

«Nick. Es reicht«, sagte Bernard.»Schließlich hast du eine Vergangenheit …«

«Ich kenne meine Vergangenheit, verflucht noch mal. Nur zu gut. Du brauchst mich nicht daran zu erinnern. Aber ich kann mich nicht erinnern, jemals die Hand gegen irgendjemanden erhoben zu haben.«

«Niemand«, sagte Valerie,»hat die Hand gegen Ian erhoben. So ist er nicht gestorben.«

«Warum zum Teufel …«

«Valerie«, sagte Bernard.»Das macht alles nur noch schlimmer.«

«Schlimmer kann es nicht mehr werden«, sagte Nicholas.»Es sei denn, es gibt einen anderen Grund, warum meine Mutter sich an Scotland Yard gewendet hat. Das versuchst du doch gerade, mir weiszumachen, oder? Ermittelt Scotland Yard etwa gegen Manette? Oder gegen Mignon? Oder gegen Fred? Oder tanzt der immer noch nach Manettes Pfeife?«

«Wag es nicht, so über Freddie zu reden«, sagte Manette.»Und ja, Scotland Yard war auch bei uns. Und wir haben von der ganzen Sache erst erfahren, als man uns einen Scotland-Yard-Ausweis unter die Nase gehalten hat.«

«Na, immerhin«, sagte Nicholas. Dann wandte er sich an seine Mutter:»Hast du überhaupt eine Ahnung — irgendeinen blassen Schimmer …«

«Es tut mir leid«, sagte sie.»Ich habe dich verletzt, und das tut mir wirklich leid. Aber es gibt Dinge, die wichtiger sind als …«

«Ach ja? Was denn zum Beispiel?«, schrie er. Dann plötzlich schien ihm ein Licht aufzugehen.»Geht es um die Firma? Darum, wer was erbt? Wer die Firma übernimmt?«

«Nicholas, bitte. Es gibt auch noch andere Dinge, die …«

«Glaubst du etwa, dass mich das interessiert? Glaubst du, deswegen bin ich zurückgekommen? Es interessiert mich einen feuchten Kehricht, wer die Firma leitet. Übergib sie Manette. Oder Freddie. Oder irgendeinem dahergelaufenen Idioten. Kannst du dir vorstellen, was das alles mit Alatea macht? Dass jemand in unser Haus kommt und überall herumschnüffelt und sich ausgibt als … als … Diese Polizistin, die du herbestellt hast, hat uns von Anfang an belogen, Mum. Kapierst du das? Sie hat uns irgendeine alberne Geschichte aufgetischt, warum sie hier ist, und sie hat Allie in Angst und Schrecken versetzt. Allie glaubt … Gott, ich weiß ja nicht mal, was sie glaubt, aber sie ist vollkommen außer sich, und sie denkt, ich hätte … Siehst du denn nicht, was du angerichtet hast? Meine eigene Frau … Wenn sie mich verlässt …«

«Sie?«, fragte Bernard.»Sie ist zu euch gekommen? Wovon redest du, Nick?«

«Wovon zum Teufel soll ich schon reden? Von eurer verdammten Polizistin von Scotland Yard!«

«Es ist ein Mann«, sagte Valerie.»Nicholas, es ist ein Mann, keine Frau. Wir wissen nichts von …«

«Natürlich nicht, Mum, alles klar.«

«Sie sagt die Wahrheit«, schaltete sich Manette ein.

«Er hat jemanden mitgebracht«, fügte Bernard hinzu.»Aber auch das ist ein Mann, Nick. Ein forensischer Gutachter. Wenn eine Frau bei euch gewesen ist, um mit Alatea zu reden, dann hat das nichts mit Scotland Yard zu tun.«

Nicholas erbleichte. Blitzschnell ging er alle Möglichkeiten durch, das sah Manette ihm deutlich an.

Dann murmelte er:»Montenegro.«

«Wer?«, fragte Bernard.

Aber so schnell, wie Nicholas gekommen war, so plötzlich war er verschwunden.

LANCASTER — LANCASHIRE

Während Deborah mit Zed Benjamin im Auto saß und darauf wartete, dass Alatea und ihre Begleiterin zum Invalidenheim zurückkehrten, klingelte ihr Handy. Sie vermutete, dass es Simon war, und überlegte schon, ob sie das Gespräch annehmen oder es auf die Mailbox umleiten lassen sollte, um nicht in Gegenwart des Journalisten ein» offizielles «Gespräch vortäuschen zu müssen, aber ein Blick aufs Display sagte ihr, dass es Tommy war. Damit würde sie umgehen können, sagte sie sich.

«Mein Chef«, sagte sie zu Zed, dann nahm sie das Gespräch entgegen.»Inspector Lynley, hallo.«

«Wie förmlich.«

«Aber selbstverständlich«, erwiderte sie fröhlich, ohne den Blick von dem Invalidenheim abzuwenden. Sie spürte, dass Zed sie anschaute.

«Ich habe mich mit Simon getroffen«, sagte Lynley.

«Damit hatte ich gerechnet.«

«Er ist auf uns beide nicht besonders gut zu sprechen. Auf mich nicht, weil ich dich in die Sache mit hineingezogen habe, und auf dich nicht, weil du gegen seinen Willen weiterermittelst. Wo steckst du überhaupt?«

«In Lancaster.«

«Was in aller Welt machst du denn in Lancaster? Und wie bist du dahin gekommen?«

«Wie meinen Sie das?«

«Deborah, was soll das? Simon hat mich von eurem Hotel aus angerufen.«

«Sie sagten doch, Sie hätten sich getroffen.«

«Das war später. Er ist zum Hotel zurückgefahren. Du warst weg, aber dein Mietwagen stand noch da. Er macht sich ziemliche Sorgen.«

«Aber nicht genug, um mich anzurufen.«

«Herrgott noch mal, Deb. Jetzt sei nicht so streng mit dem Mann. Er weiß, dass du wütend auf ihn bist und sowieso nicht rangehen würdest, wenn sein Name auf dem Display erscheint. Also, was machst du in Lancaster? Und wie bist du dahin gekommen?«

Sie hatte nicht vor, Zed Benjamin zu erwähnen.»Alatea Fairclough ist hier. Sie hat sich mit einer Frau getroffen und ist mir ihr zur Uni gefahren. Jetzt warte ich darauf, dass die beiden wieder auftauchen, weil ich mit ihr reden will. Nicht mit Alatea, mit der anderen.«

«Deb. «Sie hörte ihm an, dass er nicht so recht wusste, wie er mit der Situation umgehen sollte. Sollte er an ihre Vernunft appellieren? Auf ihre Zeit als Liebespaar anspielen? Er befand sich ihr gegenüber in einer interessanten Position, dachte sie.

Er sagte:»Simon möchte, dass du mit ihm nach London zurückkehrst. Er macht sich Sorgen.«

«Das wäre im Moment eine unkluge Entscheidung. Ich bin hier etwas Wichtigem auf der Spur.«

«Genau deswegen macht er sich ja solche Sorgen. Du bist schon einmal einem Mörder verdammt nah gekommen.«

Guernsey, dachte sie. So wie Humphrey Bogart und Ingrid Bergman ihr Paris hatten, würden Simon und sie immer ihr Guernsey haben. Okay, sie hatte etwas abbekommen. Aber sie hatte es überlebt. Sie war nicht einmal ansatzweise in Lebensgefahr gewesen. Und die jetzige Situation war weiß Gott nicht mit damals vergleichbar, als sie in einem Erdloch gehockt hatte und jemand eine Handgranate aus dem Krieg in der Hand gehalten hatte. Sie sagte:»Sie sind also nicht derselben Meinung wie die Forensiker?«

«Wovon redest du? Über Simons Schlussfolgerungen bezüglich der Geschehnisse im Bootshaus?«Das Telefongespräch gestaltete sich zunehmend verwirrend für Lynley, dachte Deborah.»Gegen die wissenschaftlichen Erkenntnisse zur Todesursache lässt sich schwerlich argumentieren, Deb.«

«Aber man kann die Dinge so oder so betrachten«, sagte sie.

«Da gebe ich dir recht. Und offenbar hegst du irgendeinen Verdacht gegen Alatea Fairclough. Ich habe übrigens Barbara Havers auf sie angesetzt.«

«Sie sehen also …«

«Wie gesagt, ich gebe dir recht. Aber ehrlich gesagt, mache ich mir Sorgen um Simon.«

«Sie glauben, dass er sich irrt?«

«Nicht notwendigerweise. Er macht sich viel zu große Sorgen um dich, und das macht einen manchmal blind für Dinge, die direkt vor einem liegen. Trotz allem kann ich nicht zulassen, dass du …«

«Was meinen Sie mit zulassen?«

«Das war dumm ausgedrückt. So kommen wir nicht weiter. Was soll ich sagen — ich kenne dich. Aber versprich mir wenigstens, dass du auf dich aufpasst.«

«Selbstverständlich. Und Sie?«

«Es gibt hier noch ein paar lose Enden, die ich verknoten muss. Du rufst mich doch an, falls irgendetwas ist, oder?«

«Auf jeden Fall, Inspector. «Sie beendete das Gespräch. Sie schaute Zed Benjamin an, um zu sehen, ob er Verdacht geschöpft hatte. Er war dabei, so tief wie möglich in seinen Sitz zu rutschen, und deutete mit dem Kinn zu dem Invalidenheim. Alatea und ihre Begleiterin fuhren gerade auf den Parkplatz.

Deborah und Zed blieben, wo sie waren. Weniger als eine Minute später kam Alateas Begleiterin um die Ecke und ging zurück ins Gebäude. Kurz darauf bog Alatea vom Parkplatz in die Straße ein und fuhr in Richtung Arnside, wie Deborah erleichtert feststellte. Zeit herauszufinden, was die andere Frau wusste, dachte sie.

«Ich mache mich auf den Weg«, sagte sie zu Zed.

«Ich gebe Ihnen eine Viertelstunde, dann rufe ich Sie auf dem Handy an«, sagte Zed.

«Das können Sie gern tun. Aber Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen, dass ich verschwinden könnte, denn ich bin darauf angewiesen, dass Sie mich mit zurück nach Milnthorpe nehmen.«

Zed brummelte vor sich hin. Er sagte, er werde sich in der Zwischenzeit ein bisschen die Füße vertreten, die ihm in den zwei Stunden, die sie in dem engen Auto gewartet hatten, fast eingeschlafen waren. Sie sagte, sie würde ihn auf dem Handy anrufen, falls er sich zu weit von dem Invalidenheim entfernte.

«Oh, da machen Sie sich mal keine Sorgen«, entgegnete Zed.»Ich werde mich ganz in Ihrer Nähe aufhalten.«

Daran zweifelte Deborah nicht im Geringsten. Der Mann würde sich im Gebüsch verstecken und am Fenster lauschen, wenn er könnte. Aber den Kompromiss musste sie eingehen, sagte sich Deborah, stieg aus, eilte über die Straße und betrat das Gebäude.

Sie entschied sich dafür, ganz direkt vorzugehen, denn ohne Polizeiausweis blieb ihr sowieso nichts anderes übrig. Sie trat an den Empfangstresen, setzte ihr charmantestes Lächeln auf und sagte zu dem Mann hinter dem Tresen, offenbar selbst ein ehemaliger Soldat, sie habe gerade eine Frau in das Gebäude gehen sehen,»groß, braunes, im Nacken zusammengebundenes Haar, langer Rock, Stiefel …?«Sie sei sich ganz sicher, dass es sich bei der Frau um eine Klassenkameradin ihrer älteren Schwester handle, und sie würde so gern ein paar Worte mit ihr wechseln. Sie sei sich natürlich darüber im Klaren, dass es eine verrückte Bitte war, womöglich sei die Frau ja jemand ganz anderes. Andererseits …

«Sie meinen bestimmt Lucy«, sagte der alte Mann. Er trug eine Militäruniform, die ihm an seinem feisten Körper klebte.»Sie ist unsere Sozialarbeiterin. Veranstaltet Spiele und Gymnastik und leitet Freizeitgruppen. Geht im Dezember mit uns zum Krippenspiel.«

«Lucy, ja genau! So hieß sie tatsächlich«, rief Deborah aus.»Wäre es vielleicht möglich …«Sie sah den Mann hoffnungsvoll an.

«Einer hübschen Frau kann man doch keinen Wunsch abschlagen«, sagte er.»Woher haben Sie bloß das schöne Haar?«

«Von meiner Großmutter väterlicherseits«, antwortete Deborah.

«Sie sind ein Glückspilz. Ich hab schon immer was übriggehabt für einen Rotschopf. «Er nahm den Telefonhörer ab und gab eine Nummer ein. Einen Augenblick später sagte er:»Hier fragt eine schöne Frau nach Ihnen, Darling«, und lauschte. Dann:»Nein, eine andere. Sie scheinen ja neuerdings sehr beliebt zu sein!«Er lachte über etwas, was die Frau zu ihm gesagt hatte, dann legte er auf und sagte Deborah, Lucy würde gleich da sein.

«Es ist mir echt peinlich«, sagte Deborah.»Aber ich kann mich einfach nicht mehr an Lucys Nachnamen erinnern.«

«Keverne«, sagte der Mann.»Lucy Keverne. So hat sie damals geheißen, und so heißt sie immer noch, denn sie ist nicht verheiratet. Hat nicht mal einen Freund. Ich versuch’s immer wieder bei ihr, aber sie sagt, ich bin ihr zu jung.«

Deborah tat die Vorstellung grinsend ab, so wie es von ihr erwartet wurde, und setzte sich gegenüber dem Tresen auf eine hölzerne Wartebank. Sie überlegte, was in aller Welt sie zu Lucy Keverne sagen sollte, doch sie hatte nicht viel Zeit, um darüber nachzudenken, denn kaum eine Minute später betrat die Frau, die sie in Alatea Faircloughs Begleitung gesehen hatte, die Eingangshalle. Verständlicherweise sah sie Deborah etwas verdattert an. Wahrscheinlich passierte es nicht häufig, dass Wildfremde sie auf ihrer Arbeitsstelle besuchten.

Aus der Nähe sah Deborah, dass die Frau jünger war, als sie aus der Entfernung angenommen hatte. Trotz der feinen grauen Strähnen in ihrem Haar sah man an ihrem Gesicht, dass sie noch keine dreißig war. Sie trug eine modische Brille, die ihre hübschen Wangenknochen betonte. Außerdem trug sie ein modernes Hörgerät, wie Deborah auffiel. Hätte sie ihr langes Haar offen getragen, wären die feinen Kabel, die in ihren Ohren verschwanden, überhaupt nicht aufgefallen.

Sie legte den Kopf schief und fragte:»Was kann ich für Sie tun?«Dann streckte sie die Hand aus und fügte hinzu:»Lucy Keverne.«

«Können wir irgendwo ungestört reden?«, fragte Deborah.»Es geht um eine Privatangelegenheit.«

Lucy Keverne runzelte die Stirn.»Eine Privatangelegenheit? Falls Sie hier sind, um einen Heimplatz für einen Verwandten zu beantragen, bin ich die falsche Person.«

«Nein, nein, darum geht es nicht. Es hat mit der Universität in Lancaster zu tun«, sagte Deborah. Es war ein Schuss ins Blaue, doch offenbar hatte sie ins Schwarze getroffen.

«Wer sind Sie?«Lucy klang leicht beunruhigt.»Wer hat Sie hergeschickt?«

«Können wir uns irgendwo ungestört unterhalten?«, fragte Deborah noch einmal.»Haben Sie vielleicht ein Büro?«

Lucy Keverne schaute kurz zu dem Mann am Empfangstresen hinüber, während sie überlegte. Schließlich sagte sie:»Also gut, kommen Sie mit. «Sie führte Deborah in einen Wintergarten, von dem aus man in einen unerwartet großen Garten schaute. Mehrere alte Männer saßen dort über ihre Zeitung gebeugt, und zwei spielten an einem niedrigen Tisch Cribbage.

Sie gingen in den Garten hinaus.»Von wem haben Sie meinen Namen?«, wollte Lucy wissen.

«Ist das wichtig?«, fragte Deborah.»Ich brauche Hilfe, und ich dachte, die könnte ich von Ihnen bekommen.«

«Sie müssen sich schon ein bisschen genauer ausdrücken.«

«Natürlich«, sagte Deborah.»Ich möchte mich gern mit Ihnen über Fortpflanzung unterhalten. Ich versuche schon seit Jahren, ein Kind zu bekommen. Jetzt hat sich herausgestellt, dass ich nicht schwanger werden kann.«

«Das tut mir leid. Das muss sehr schwer für Sie sein. Aber wie kommen Sie auf die Idee, dass ich Ihnen helfen könnte?«

«Weil Sie mit einer anderen Frau zum George Childress Centre gegangen sind. Ich habe Sie gesehen und bin Ihnen gefolgt in der Hoffnung, mit Ihnen reden zu können.«

Lucys Augen wurden schmal. Wahrscheinlich überlegte sie, wie gefährlich Deborah ihr werden konnte. Bisher verständigten sie sich mit einer Art von Code, alles war vollkommen legal. Aber es war eine Gratwanderung, und ein einziger Schritt konnte sie in die Illegalität führen.

«Wir waren zu zweit«, sagte Lucy.»Warum sind Sie mir gefolgt und nicht der anderen Frau?«

«Ich hab’s drauf ankommen lassen.«

«Weil ich Ihnen fruchtbarer vorkam?«

«Nein, entspannter. Weniger verzweifelt. Nach ein paar Jahren kennt man die Blicke. Den Gesichtsausdruck. Irgendwie gierig. Das kriegt man bei einer anderen Frau mit, es ist wie ein biologischer Code. Ich weiß nicht, wie ich es anders ausdrücken soll. Wer es nicht erlebt hat, sieht es nicht. Ich weiß, wovon ich spreche.«

«Okay, gut möglich. Aber ich weiß trotzdem nicht, was Sie von mir wollen.«

Die Wahrheit, dachte Deborah. Aber sie wusste nicht, wie sie es anstellen sollte. Noch einmal versuchte sie es mit einem Teil ihrer eigenen Wahrheit.»Ich suche nach einer Leihmutter«, sagte sie.»Und ich glaube, Sie können mir helfen, eine zu finden.«

Lucy musterte Deborah. Sie waren einem Weg gefolgt, der zu einer großen Urne am Ende des Gartens führte. Jetzt blieb Lucy stehen und verschränkte die Arme vor der Brust.»Sie haben sich wohl nicht sehr intensiv mit dem Thema beschäftigt, nicht wahr?«

«Offensichtlich nicht.«

«Also, dann rate ich Ihnen, es zu tun. Es gibt Eispenderinnen, Samenspender, Leihmutterschaft mit dem Ei der biologischen Mutter und dem Samen eines Spenders, mit dem Ei der Leihmutter und dem Samen des biologischen Vaters und so weiter. Wenn Sie sich auf die eine oder andere Weise für diesen Weg entscheiden, müssen Sie als Erstes verstehen, wie das alles funktioniert. Und Sie müssen sich mit den juristischen Implikationen beschäftigen.«

Deborah nickte.»Sind Sie … Können Sie … Ich weiß nicht recht, wie ich es formulieren soll … Aber welche Rolle übernehmen Sie in der Regel?«

«Ich bin Eispenderin«, sagte Lucy.

Deborah erschauderte. Was für ein unpersönlicher, klinischer Ausdruck. Aber sie hatte gefragt, welche Rolle Lucy in der Regel übernahm. Vielleicht war sie ja auch offen für andere Rollen.»Und was ist mit Leihmutterschaft?«

«Das habe ich bisher noch nie gemacht.«

«Bisher? Diese Frau, mit der Sie zur Uni gefahren sind, die hat Sie also gefragt …?«

Lucy antwortete nicht sofort. Sie musterte Deborah, als versuchte sie, sie einzuschätzen.»Ich bin nicht bereit, über die Frau zu sprechen. Es handelt sich um eine sehr vertrauliche Angelegenheit. Das werden Sie sicherlich verstehen.«

«Selbstverständlich. «Deborah dachte, jetzt wäre ein bisschen verzweifeltes Händeringen angebracht, was ihr durchaus nicht schwerfiel.»Ich bin in mehreren Kliniken gewesen. Und da habe ich erfahren, dass man, was Leihmutterschaft angeht, ganz auf sich selbst gestellt ist. Also, wenn es darum geht, eine Leihmutter zu finden.«

«Ja«, sagte Lucy.»So ist es tatsächlich.«

«Man hat mir geraten, mich an eine Freundin, eine Schwester, an eine Kusine oder sogar an meine eigene Mutter zu wenden. Aber wo soll ich anfangen? Was soll ich tun? Ich kann doch schlecht jedes Gespräch mit einer gebärfähigen Frau anfangen mit: ›Würdest du in Erwägung ziehen, ein Kind für mich auszutragen?‹«Plötzlich war die Verzweiflung, die sie für Lucy Keverne hatte spielen wollen, ganz echt. Sie blinzelte, um ihre Tränen zurückzuhalten.»Tut mir leid. Verzeihen Sie.«

Das rührte Lucy Keverne offenbar, denn sie legte Deborah eine Hand auf den Arm und zog sie zu einer Bank an einem Teich, dessen Oberfläche mit Herbstlaub bedeckt war. Sie sagte:»Es ist ein idiotisches Gesetz. Es soll verhindern, dass Frauen aus Profitgier Kinder austragen. Es soll Frauen schützen. Natürlich wurde das Gesetz von Männern gemacht. Das finde ich, ehrlich gesagt, ziemlich ironisch: dass Männer Gesetze für Frauen machen. Als hätten die eine Ahnung, was gut für uns ist, wo sie doch im Allgemeinen selbst unser größtes Problem sind.«

«Darf ich fragen …«Deborah kramte in ihrer Tasche nach einem Taschentuch.»Sie sagten, Sie sind Eispenderin … Aber wenn Sie jemanden kennen würden … Eine Frau, die Ihnen nahesteht … Eine Frau, die verzweifelt ist … Würden Sie …«Wie sollte sie einer völlig Fremden eine solche Frage stellen, dachte Deborah.

Lucy Keverne wirkte nicht argwöhnisch, doch sie zögerte mit einer Antwort. Offenbar, dachte Deborah, waren sie in ihrem Gespräch an einem Punkt angelangt, der Lucys Verhältnis zu Alatea Fairclough berührte. Lucy selbst hatte die Möglichkeiten bereits aufgezählt: Entweder brauchte Alatea Lucy als Eispenderin oder als Leihmutter. Eine andere Möglichkeit sah Deborah nicht. Bestimmt hatten die beiden Frauen im George Childress Centre an der Uni von Lancaster keinen gemeinsamen Bekannten besucht.

«Wie gesagt, ich bin Eispenderin«, sagte Lucy.»Zu mehr wäre ich nicht bereit.«

«Sie würden sich also nicht als Leihmutter zur Verfügung stellen?«, fragte Deborah.

«Nein, tut mir leid. Das würde ich … emotional nicht verkraften, wenn Sie verstehen, was ich meine. Ich glaube nicht, dass ich das könnte.«

«Aber kennen Sie vielleicht jemanden? Eine Frau, mit der ich reden könnte? Eine Frau, die …?«

Lucy betrachtete ihre Stiefel. Sie waren schön, dachte Deborah, wahrscheinlich italienisch. Aber nicht teuer.»Sie könnten sich mal die Kleinanzeigen in der Zeitschrift Conception ansehen«, sagte Lucy schließlich.

«Sie meinen, Leihmütter werben in dieser Zeitschrift für sich?«

«Gott, nein. Das ist ja alles illegal. Aber manchmal … Auf diese Weise finden Sie vielleicht eine Eispenderin. Und eine Frau, die bereit ist, ihre Eier zu spenden, ist vielleicht auch zu mehr bereit. Oder sie kennt eine Frau, die Ihnen helfen kann.«

«Die ein Kind für mich austragen würde.«

«Ja.«

«Das ist bestimmt … unglaublich teuer.«

«Nicht teurer, als selbst ein Kind zur Welt zu bringen, abgesehen von einer In-Vitro-Befruchtung. Eine Leihmutter darf nicht viel mehr dafür verlangen. Alles andere würde gegen das Gesetz verstoßen.«

«Man muss also eine Frau finden, die außergewöhnlich viel Mitgefühl aufbringt«, sagte Deborah.»Die bereit ist, eine Schwangerschaft auf sich zu nehmen und sich dann von dem Kind zu trennen. Das müsste aber eine ganz außergewöhnliche Person sein.«

«Ja, das haben Sie vollkommen recht. «Lucy Keverne stand auf und reichte Deborah die Hand.»Ich hoffe, ich habe Ihnen weiterhelfen können.«

In gewisser Weise hatte sie das, dachte Deborah. Aber andererseits hatte sie auch wieder nicht viel erfahren. Sie stand auf und bedankte sich. Immerhin wusste sie jetzt mehr als vorher. Was das alles mit dem Tod von Ian Cresswell zu tun hatte — oder ob es überhaupt etwas damit zu tun hatte —, wusste sie jedoch immer noch nicht.

VICTORIA — LONDON

Der Name Raul Montenegro brachte Barbara Havers ein paar Schritte weiter. Sie fand ein Foto von dem Mann und dazu einen Artikel, der natürlich auf Spanisch war. Nachdem sie ein paar Links in dem Artikel angeklickt hatte, hatte sie schließlich ein Bild von Alatea Vasquez del Torres vor sich. Ein Rasseweib, dachte Barbara. Sah aus wie eine südamerikanische Filmschauspielerin. Schwer vorstellbar, was sie am Arm eines Typen zu suchen hatte, der mit all seinen Warzen aussah wie eine Kröte.

Das also war Raul Montenegro. Er war gut zwanzig Zentimeter kleiner als Alatea und mindestens dreißig Jahre älter. Er trug eine grässliche Elvis-Presley-Perücke und hatte eine monströse Warze auf der Nase. Aber er grinste wie ein Honigkuchenpferd, und Barbara hatte den Eindruck, dass sich in seinem Gesicht Besitzerstolz ausdrückte. Natürlich konnte sie das nicht mit Sicherheit wissen, doch es gab nur eine Möglichkeit, das herauszufinden.

Sie druckte die Seite aus und nahm ihr Handy aus der Tasche. Dann rief sie Azhar an der Uni an.

Selbstverständlich werde er ihr helfen, sagte er, als sie ihn an die Strippe bekam. Jemanden zu finden, der Spanisch sprach, dürfte kein großes Problem sein.

Auf die Frage, ob sie nach Bloomsbury kommen solle, antwortete Azhar, er werde ihr Bescheid geben. Er müsse die Person, die er um die Übersetzung bitten wolle, erst kontaktieren. Wo Barbara denn gerade sei?

«In der Höhle des Löwen«, antwortete sie.

«Ah«, sagte er,»also bei der Arbeit. Sollen wir dann lieber zu Ihnen kommen?«

«Im Gegenteil«, erwiderte Barbara.»Ich muss machen, dass ich hier wegkomme.«

In dem Fall werde er sie so bald wie möglich anrufen, damit sie einen Treffpunkt verabreden könnten, sagte Azhar. Dann fügte er noch hinzu:»Ich muss mich auch entschuldigen.«

«Wieso?«, fragte Barbara, aber im selben Augenblick fiel es ihr wieder ein: sein morgendlicher Streit mit Angelina.»Oh«, sagte sie.»Sie meinen wegen heute Morgen. Na ja, solche Dinge passieren. Man möchte ja immer meinen, die Liebe überwindet alles … In Büchern und in Filmen sind alle immer glücklich und zufrieden bis ans Lebensende. Und so weiter. Ich kenn mich auf dem Gebiet nicht aus, doch nach allem, was ich so mitbekomme, ist der Weg zum zufriedenen Glück bis ans Lebensende mit Schlaglöchern übersät. Scheint mir das Klügste zu sein, sich an das zu halten, was man hat, auch wenn es nicht immer leicht ist. Ich meine, was bleibt einem denn anderes als die Menschen, die man liebt?«

Er schwieg. Im Hintergrund waren Stimmen und Geschirrklappern zu hören. Wahrscheinlich hatte sie ihn in einer Cafeteria oder einem Restaurant erwischt. Plötzlich fiel ihr auf, dass sie seit Stunden nichts gegessen hatte.

Schließlich sagte er:»Ich rufe Sie so bald wie möglich an.«

«Alles klar. Und Azhar …?«

«Ja?«

«Danke für Ihre Hilfe.«

«Ist mir ein Vergnügen.«

Barbara überlegte, wie wahrscheinlich es war, dass sie ihrer Chefin noch einmal über den Weg lief, wenn sie sich auf die Suche nach etwas Essbarem machte. Wenn sie etwas einigermaßen Gesundes zu sich nehmen wollte, würde sie sich in die Kantine begeben müssen. Dann gab es natürlich noch die Automaten. Oder die Möglichkeit, den Yard zu verlassen und in irgendeinem Restaurant auf Azhars Anruf zu warten. Oder sie könnte erst mal eine rauchen, ein Gedanke, der ihr sehr verlockend erschien. Dazu müsste sie sich ins Treppenhaus schleichen und hoffen, dass sie nicht erwischt wurde. Oder sie müsste nach draußen gehen. Entscheidungen über Entscheidungen, dachte Barbara. Am Ende entschloss sie sich, sich zusammenzureißen und noch ein bisschen im Internet zu recherchieren. Vielleicht konnte sie ja noch etwas über Raul Montenegro in Erfahrung bringen.

BRYANBARROW — CUMBRIA

Tim würde diesmal ohne Protest in die Schule gehen, denn heute musste Kaveh ihn fahren. Es war die einzige Möglichkeit, Kaveh allein zu erwischen. Und das war unbedingt nötig, denn solange Gracie in der Nähe war, konnte er unmöglich mit ihm reden. Gracie war jetzt schon total durcheinander. Sie musste nicht auch noch erfahren, dass Kaveh vorhatte, seine Eltern und seine Ehefrau nach Bryanbarrow zu holen und sich die Altlasten namens Cresswell vom Hals zu schaffen.

Und so überraschte er Kaveh, indem er zeitig aufstand und sich fertig machte für die Margaret Fox School, die Sonderschule für unheilbar Verrückte wie ihn. Er stellte alles auf den Küchentisch, was Gracie gern zum Frühstück aß, und machte ihr zum Mitnehmen ein Sandwich mit Tunfischsalat, das er zusammen mit einem Apfel, einer kleinen Tüte Kartoffelchips und einer Banane in eine Tupperdose packte. Sie bedankte sich distanziert würdevoll, woraus er schloss, dass sie immer noch um Bella trauerte. Also ging er, anstatt zu frühstücken, in den Garten, grub die Puppe aus und stopfte sie in seinen Rucksack, um sie mit nach Windermere zu nehmen und dort reparieren zu lassen. Den Puppensarg legte er zurück in das kleine Grab und schaufelte es wieder zu. Dann eilte er ins Haus und stopfte sich noch schnell eine Scheibe Toast mit Marmite in den Mund.

Solange Gracie mit im Auto saß, sagte Tim kein Wort. Nachdem sie in Crosthwaite, wo sie zur Schule ging, ausgestiegen war, lehnte er sich gegen die Beifahrertür und musterte Kaveh. Er hatte das Bild vor Augen, wie Kaveh es mit seinem Vater trieb, bis die Körper der beiden im Dämmerlicht vor Schweiß glänzten. Dazu brauchte er noch nicht einmal seine Fantasie anzustrengen, denn er hatte die beiden einmal durch den Türspalt beobachtet und gesehen, wie sie in Ekstase aufs Bett gesunken waren und sein Vater heiser gestöhnt hatte, Gott, ja! Der Anblick hatte ihm den Magen umgedreht und mit Abscheu und Hass erfüllt. Aber es hatte auch etwas anderes in ihm berührt, etwas, womit er nicht gerechnet hatte, und einen Moment lang hatte das Blut wie wild in seinen Adern pulsiert. Und deswegen hatte er sich hinterher mit einem Taschenmesser eine Schnittwunde zugefügt und Essig in die Wunde geträufelt, um sein erhitztes Blut von der Sünde zu reinigen.

Er konnte sich sehr wohl vorstellen, wie alles angefangen hatte. Kaveh war ein gutaussehender Typ, und einem Perversen wie seinem Vater musste er einfach gefallen haben. Selbst wenn Kaveh, wie es nun den Anschein hatte, selbst gar nicht so pervers war.

Als sie sich Winster näherten, schaute Kaveh Tim kurz an. Offenbar spürte er den Abscheu, den Tim für ihn empfand.»Gut, dass du heute zur Schule gehst«, sagte er ein bisschen steif.»Dein Dad würde sich freuen.«

«Mein Dad«, sagte Tim,»ist tot.«

Kaveh erwiderte nichts. Noch einmal schaute er Tim an, aber die Straße war eng und kurvig, und so konnte er wirklich nur einen ganz kurzen Blick riskieren, um einzuschätzen, was Tim als Nächstes tun oder sagen würde.

«Was dir wohl sehr zupasskommt«, fügte Tim hinzu.

«Was?«

«Dass Dad tot ist. Was Besseres konnte dir doch gar nicht passieren.«

Zu seiner Überraschung bog Kaveh in eine Haltebucht ab und machte eine Vollbremsung. Sie befanden sich mitten im Berufsverkehr, jemand hupte und zeigte Kaveh den Stinkefinger, aber Kaveh bemerkte es nicht, oder vielleicht war es ihm auch egal.

«Wovon redest du?«, wollte Kaveh wissen.

«Du meinst, warum es gut für dich ist, dass mein Dad tot ist?«

«Ganz genau das meine ich. Wovon redest du?«

Tim schaute aus dem Fenster. Es gab nicht viel zu sehen. Sie standen neben einer Feldsteinmauer, aus der Farnwedel wuchsen wie Straußenfedern an Frauenhüten. Wahrscheinlich gab es hinter der Mauer Schafe, doch die konnte er nicht sehen, nur am Horizont einen Berggipfel mit einer Wolkenkrone.

«Ich habe dich etwas gefragt«, sagte Kaveh.»Und ich hätte gern eine Antwort.«

«Ich muss dir keine Fragen beantworten«, entgegnete Tim.»Dir nicht und auch sonst keinem.«

«Doch, das musst du, wenn du Anschuldigungen erhebst«, sagte Kaveh.»Und genau das hast du getan. Du kannst versuchen, so zu tun, als hättest du es nicht getan, aber damit wirst du nicht weit kommen. Also sag mir gefälligst, was du meinst.«

«Warum fährst du nicht weiter?«

«Weil ich es nicht muss.«

Tim hatte diese Konfrontation herbeigewünscht, jetzt jedoch war er sich nicht mehr so sicher, ob er sie wollte. Er saß allein in einem Auto mit dem Mann, für den sein Vater seine Familie zerstört hatte. War das nicht gefährlich? Ließ nicht die Tatsache, dass Kaveh Mehran es fertiggebracht hatte, an Tims Geburtstag bei ihnen aufzutauchen und die Karten auf den Tisch zu legen, darauf schließen, dass er noch zu ganz anderen Dingen fähig war?

Nein, sagte sich Tim. Er hatte keine Angst. Denn wenn irgendeiner Grund zur Angst haben musste, dann war es Kaveh Mehran. Der Mann war ein Lügner, ein Betrüger, ein Familienzerstörer und alles andere dazu.

«Wann ist denn die Hochzeit, Kaveh?«, fragte er.»Und was willst du deiner Zukünftigen erzählen? Hast du vor, sie darüber aufzuklären, was du hier so alles getrieben hast? Oder ist das der Grund, warum du Gracie und mich loswerden willst? Damit sie nichts von alldem erfährt? Ich nehm an, dass wir beide nicht zur Hochzeit eingeladen werden, das wär wohl ein bisschen zu viel verlangt. Dabei würde Gracie bestimmt gern Brautjungfer sein.«

Kaveh sagte nichts darauf. Tim rechnete es ihm hoch an, dass er erst nachdachte, anstatt ihn sofort anzuschnauzen, das gehe ihn alles nichts an. Wahrscheinlich überlegte er krampfhaft, wie Tim es geschafft hatte, die Wahrheit rauszufinden.

«Hast du meiner Mutter eigentlich schon Bescheid gesagt?«, fragte Tim.»Denn wenn nicht, kann ich dir gleich flüstern, dass sie bestimmt nicht begeistert sein wird.«

Tim wunderte sich über das, was er empfand, während er das alles sagte. Er wusste nicht, was das war. Es war ein Gefühl, das ihn total vereinnahmte, und er wollte, dass es wegging. Er fand es furchtbar, wenn so etwas passierte. Er fand es zum Kotzen, wenn er auf die Worte und Taten anderer Leute reagierte. Er wäre gern wie eine Glasscheibe, an der alles abprallte wie Regen, und es machte ihn fast verrückt, dass ihm das bisher noch nicht gelungen war. Es war, als wäre er auf ewig verflucht, dazu verdammt, in einer Hölle zu leben, in der er der Gnade der anderen ausgeliefert war und nicht umgekehrt.

«Gracie und du, ihr gehört zu eurer Mutter«, sagte Kaveh schließlich.»Ich habe euch gern bei mir. Und ich würde euch bei mir behalten, aber …«

«Aber das würde deiner Frau wohl nicht gefallen«, schnaubte Tim.»Außerdem würde es ein bisschen voll im Haus, da deine Eltern ja auch einziehen sollen. Mann, das ist echt perfekt gelaufen, was? Fast als hättest du es genau so geplant.«

Kaveh sah ihn durchdringend an.»Wovon genau redest du?«, fragte er.

Etwas Unerwartetes schwang in den Worten mit, etwas wie Wut, aber es war mehr als Wut. In dem Moment dachte Tim, dass Wut gefährlich sein konnte und dass es gefährlich werden konnte, wenn Leute wie Kaveh in Wut gerieten und sich vergaßen. Aber das war ihm egal. Sollte der Typ ruhig ausrasten, na und? Etwas Schlimmeres, als er bereits angerichtet hatte, konnte er sowieso nicht tun.

«Ich rede davon«, sagte Tim,»dass du heiraten willst. Wahrscheinlich sagst du dir, dass die Arschfickerei mit meinem Dad dir eingebracht hat, was du wolltest, und dass du dir jetzt eine Frau nehmen kannst und alles. Natürlich hast du ein Problem, solange Gracie und ich da sind, weil, ich könnte dich ja, wenn deine Frau und deine Eltern zufällig neben dir stehen, beiläufig fragen: ›Seit wann stehst du denn auf Frauen, Kaveh?‹«

«Du weißt nicht, wovon du redest«, sagte Kaveh. Er drehte sich nach hinten, um den Verkehr zu beobachten, und schaltete den Blinker ein.

«Ich rede davon, dass du dich von meinem Dad hast ficken lassen«, sagte Tim.»Und zwar jede Nacht. Glaubst du im Ernst, dass du eine Frau findest, die dich noch heiratet, wenn sie davon erfährt, Kaveh?«

«›Jede Nacht‹?«, wiederholte Kaveh stirnrunzelnd.»›Von deinem Dad ficken lassen‹? Wovon zum Teufel redest du, Tim?«Er machte Anstalten, sich in den Verkehr einzufädeln.

Blitzschnell streckte Tim die Hand aus und drehte den Zündschlüssel um.»Dass du mit meinem Dad gefickt hast, davon rede ich.«

Kaveh sah ihn an.»Ficken … Was ist eigentlich los mit dir? Was geht in deinem Kopf vor? Wie kommst du auf die Idee, dass dein Vater und ich …?«Kaveh setzte sich so hin, als richtete er sich auf ein längeres Gespräch mit Tim ein.»Dein Vater war mir ein guter, lieber Freund, Tim. Ich habe große Achtung vor ihm gehabt, und wir haben uns gemocht, wie das bei guten Freunden üblich ist. Aber dass da mehr gewesen sein soll … Dass er und ich … Glaubst du etwa, dein Vater und ich wären ein homosexuelles Paar gewesen? Wie kannst du nur so etwas annehmen? Er hat mir ein Zimmer in seinem Haus vermietet, und ich war sein Untermieter, mehr nicht.«

Tim starrte Kaveh entgeistert an. Der Mann wirkte vollkommen ernst. Er log so dreist und so geschickt, dass Tim einen Augenblick lang tatsächlich versucht war zu glauben, er und alle anderen hätten sich in Bezug auf Kaveh und seinen Vater geirrt, vor allem in Bezug auf das, was die beiden miteinander getrieben hatten. Aber Tim war dabei gewesen, als sein Vater vor der versammelten Familie erklärt hatte, dass er Kaveh Mehran liebte, er hatte seinen Vater mit Kaveh zusammen gesehen, und deswegen kannte er die Wahrheit.

«Ich hab euch beobachtet«, sagte er.»Durch den Türspalt. Du auf allen vieren und mein Vater, der dich in den Arsch gefickt hat … Das hast du nicht gewusst, stimmt’s? Das macht deine Situation ein bisschen komplizierter, nicht wahr? Ich hab euch beobachtet, okay? Ich hab euch beobachtet

Kaveh wandte sich ab. Dann seufzte er. Tim dachte schon, er würde endlich alles zugeben und ihn anflehen, seinen Eltern und seiner Zukünftigen nichts zu verraten. Aber Kaveh überraschte ihn erneut. Er sagte:»In deinem Alter hatte ich auch solche Träume. Sie kommen einem sehr real vor, nicht wahr? Man nennt sie Wachträume. Sie entstehen meist beim Einschlafen, und sie wirken so echt, dass man hinterher glaubt, man hätte das alles tatsächlich erlebt. Solche Träume führen dazu, dass die Leute alles Mögliche glauben: dass sie von Außerirdischen entführt wurden, dass sie jemanden ins Zimmer haben schleichen sehen, dass sie Sex mit einem Elternteil, einem Lehrer oder einem Freund hatten. Dabei hat sich das alles in ihrem Schlaf abgespielt. Genau wie bei dir, als du geglaubt hast, du hättest deinen Vater und mich beim Sex beobachtet.«

Tims Augen weiteten sich. Er wollte etwas sagen, doch Kaveh kam ihm zuvor.

«Und dass dein Traum, in dem du deinen Vater und mich gesehen hast, mit Sex zu tun hatte, hat mit deinem Alter zu tun, Tim. Bei vierzehnjährigen Jungs spielen die Hormone verrückt. Das ist ganz normal, das gehört zur Pubertät. In dem Alter träumen Jungen dauernd von Sex und ejakulieren sogar im Schlaf. Das ist ihnen peinlich, wenn niemand ihnen erklärt, dass das vollkommen normal ist. Aber dein Vater hat dir das doch erklärt, oder? Ganz bestimmt hat er das. Oder deine Mutter?«

Tim hatte das Gefühl, gleich zu explodieren, er wollte sich nicht zum Narren halten lassen.»Du verdammter Lügner!«, schrie er und spürte zu seinem Entsetzen, wie ihm die Tränen kamen. Plötzlich wurde ihm sonnenklar, wie es ausgehen würde, egal, was er tat oder was er Kaveh androhte oder was er irgendjemandem erzählte, vor allem Kavehs Eltern und seiner zukünftigen Frau.

Und es gab niemand anderen, der diesen Leuten die Wahrheit über Kaveh sagen konnte. Und selbst wenn es jemanden gäbe, der es könnte, würden Kavehs Verwandte gar nicht daran interessiert sein, sich von irgendeinem Wildfremden, der nicht mal Beweise für seine Behauptungen hatte, die Augen öffnen zu lassen. Außerdem war Kaveh der beste Lügner, den Tim je erlebt hatte. Tim konnte die Wahrheit sagen, er konnte schreien und toben, es würde alles nichts nützen, denn Kaveh würde ihm jedes Wort im Mund umdrehen.

Ihr dürft es Tim nicht übel nehmen, würde er mit ernster Miene sagen. Nehmt ihn einfach nicht ernst. Er geht auf eine Sonderschule, eine Schule für gestörte Kinder. Es kommt vor, dass er merkwürdige Sachen behauptet, seltsame Dinge tut … Zum Beispiel hat er der Lieblingspuppe seiner kleinen Schwester die Arme und Beine ausgerissen, und vor Kurzem hab ich ihn dabei erwischt, wie er den Enten im Bach den Hals umdrehen wollte.

Und die Leute würden ihm natürlich glauben. Erstens glaubten die Leute sowieso immer, was sie glauben wollten, und zweitens stimmte das alles ja tatsächlich. Es war, als hätte Kaveh die ganze Sache von Anfang an geplant, von dem Moment an, als er Tims Vater kennengelernt hatte.

Tim schnappte sich seinen Rucksack und machte die Beifahrertür auf.

«Was machst du da?«, fragte Kaveh.»Bleib hier. Du musst in die Schule!«

«Scher dich zum Teufel«, sagte Tim und knallte die Tür zu.

VICTORIA — LONDON

Raul Montenegro war jedenfalls keine Sackgasse, dachte Barbara. Sie hatte sich eine Stunde lang von Link zu Link geklickt und so viele Artikel über den Mann gefunden, dass sie mehrere Meter Papier gebraucht hätte, um sie alle auszudrucken. Sie musste sich also für einige wenige entscheiden. Natürlich waren sämtliche Artikel auf Spanisch, aber immerhin hatte Barbara so viel verstanden, dass der Mann ein reicher Industrieller war und dass er in Mexiko irgendetwas mit Erdgas zu tun hatte. Offenbar war Alatea Fairclough, geborene Alatea Vasquez del Torres, aus Argentinien nach Mexiko gegangen, auch wenn die Gründe dafür Barbara noch nicht klar waren. Alatea war entweder aus einem Ort, den Barbara noch nicht ermittelt hatte, nach Mexiko gezogen. Oder, was wahrscheinlicher war, wenn man die Reaktion der Frau in Argentinien bedachte, mit der Barbara zu telefonieren versucht hatte, sie war irgendwann aus Santa María de la Cruz, de los Ángeles y de los Santos verschwunden. Entweder war sie eine Nichte oder Kusine oder sonstige Verwandte des dortigen Bürgermeisters oder, was Barbara für wahrscheinlicher hielt, sie war mit einem von dessen Söhnen verheiratet gewesen. Das würde zumindest die Aufregung am anderen Ende der Leitung erklären, als es Barbara endlich gelungen war, im Haus des Bürgermeisters jemanden an die Strippe zu bekommen. Falls Alatea aus einer Ehe mit einem der Söhne des Bürgermeisters geflüchtet war, dann würde dieser Bürgermeistersohn sicherlich wissen wollen, wo sie steckte. Vor allem, sagte sich Barbara, falls die beiden immer noch verheiratet sein sollten.

Das waren natürlich alles Spekulationen, dachte Barbara. Azhar musste ihr unbedingt jemanden besorgen, der Spanisch lesen und ihr das Zeug übersetzen konnte, aber er hatte sich immer noch nicht bei ihr gemeldet. Also verfolgte sie weiterhin mühsam alle Spuren, die sie hatte, und schwor sich, bei Winston Nkata einen Intensivkurs in Internetrecherche zu belegen.

Sie fand heraus, dass Raul Montenegro steinreich war. Das entnahm sie einem online-Artikel von Hola!, dem Mutterschiff der englischen Zeitschrift Hello!. Beide Zeitschriften brachten in erster Linie Hochglanzfotos von Sternchen und Berühmtheiten mit strahlend weißen Gebissen, so dass man eine Sonnenbrille brauchte, wenn man sie betrachten wollte. Und natürlich trugen sie alle Designerklamotten und ließen sich in ihren palastartigen Villen oder — falls das eigene Heim für die Leser des jeweiligen Blatts zu bescheiden war — in teuren Szene-Hotels ablichten. Raul Montenegro mit der grauenhaften Nase war bereits mehrmals in Hola! porträtiert worden. Auf den Fotos posierte er auf seinem Anwesen irgendwo an der mexikanischen Küste, inmitten von Palmen und exotischer Vegetation und jeder Menge attraktiver junger Frauen und Männer, die sich an seinem Swimmingpool räkelten. Ein weiteres Foto zeigte Montenegro am Bug seiner Yacht, um ihn herum mehrere jugendliche Crewmitglieder in sehr engen weißen Hosen und genauso engen blauen T-Shirts. Barbara schloss daraus, dass Montenegro sich gern mit Jugend und Schönheit umgab, da auf sämtlichen Fotos nur junge Menschen zu sehen waren, die entweder schön oder umwerfend schön waren. Wo, fragte sie sich, während sie die Fotos betrachtete, kamen all diese schönen Menschen her? So viele braun gebrannte, schlanke, geschmeidige, appetitliche Menschen bekam man wahrscheinlich sonst nur bei einem Casting Call zu sehen. Was Barbara natürlich auf die Frage brachte, ob diese jungen Leute sich tatsächlich um irgendeine Rolle bewarben. Und falls dem so war, konnte sie sich auch schon denken, um was es sich handelte. Geld besaß doch immer eine unglaubliche Anziehungskraft. Und Raul Montenegro schien regelrecht in Geld zu schwimmen.

Interessant war allerdings, dass Alatea Fairclough geborene Soundso auf keinem einzigen der Fotos in Hola! auftauchte. Barbara verglich das Erscheinungsdatum der Zeitschrift mit dem Datum des Artikels, zu dem das Foto gehörte, auf dem Alatea an Montenegros Arm hing. Die Fotos in Hola! waren älter. Vielleicht hatte Montenegro sich ja geändert, nachdem er Alatea kennengelernt hatte. Alatea besaß die Art Schönheit, die es einer Frau erlaubte, die Gesetze zu bestimmen: Wenn du mich willst, musst du auf alle anderen verzichten.

Was Barbara wieder an die Situation in Santa María de la Cruz, de los Ángeles y de los Santos denken ließ, wie auch immer diese Situation aussehen mochte. Genau das musste sie herausfinden. Sie druckte den Hola! — Artikel aus und nahm sich noch einmal den Bürgermeister Ésteban Vega y de Vasquez von Santa María und so weiter vor. Erzählen Sie mir Ihre Geschichte, Señor, dachte sie. Im Moment würde mich alles interessieren.

LAKE WINDERMERE — CUMBRIA

«Ich habe Barbara Havers von deinem … wie soll ich es nennen, Thomas? … Fall … abgezogen.«

Lynley hatte am Straßenrand angehalten, um den Anruf entgegenzunehmen. Er war auf dem Weg nach Ireleth Hall, um die Ergebnisse, zu denen St. James gekommen war, mit Bernard Fairclough zu besprechen.»Isabelle«, sagte er mit einem Seufzer.»Du bist wütend auf mich. Aus gutem Grund. Es tut mir furchtbar leid.«

«Tja. Hm. Mir auch. Barbara hat übrigens Winston in den ›Fall‹ hineingezogen. War das in deinem Auftrag? Ich habe das sofort unterbunden, aber es hat mir gar nicht gefallen, sie in trauter Zweisamkeit über einen Computer gebeugt in der Bibliothek anzutreffen.«

Lynley betrachtete seine Hand auf dem Lenkrad des Healey Elliott. Er trug immer noch seinen Ehering und hatte in den Monaten seit Helens Tod nicht ein einziges Mal daran gedacht, ihn abzulegen. Es war ein schlichter goldener Ring, und auf der Innenseite waren ihre und seine Initialen sowie das Datum ihrer Hochzeit eingraviert.

Er wünschte sich nichts sehnlicher, als Helen wiederzuhaben. Diese Sehnsucht würde jede seiner Entscheidungen bestimmen, bis er irgendwann bereit war, Helen endlich und endgültig loszulassen und ihren Tod zu akzeptieren, anstatt sich Tag für Tag gegen die grausige Erkenntnis zu sträuben. Selbst im Zusammensein mit Isabelle war Helen immer da: mit ihrem Esprit und ihrem gesamten wunderbaren Wesen. Niemand war daran schuld, am wenigsten Isabelle. Es war einfach so.

Er sagte:»Nein. Ich habe Winston nicht um Unterstützung gebeten. Aber mach Barbara bitte nicht für all das verantwortlich, Isabelle. Sie versucht nur, mir ein paar Informationen zu besorgen.«

«Wegen dieser Sache in Cumbria.«

«Ja, wegen dieser Sache in Cumbria. Ich dachte, da sie ja noch ein paar Urlaubstage hatte …«

«Ich weiß, was du gedacht hast.«

Er wusste, dass Isabelle sich verletzt fühlte und sich zugleich darüber ärgerte, dass sie sich verletzt fühlte. Menschen in solchen Situationen hatten das Bedürfnis, andere zu verletzen, das war ihm klar, und das konnte er verstehen. Aber das alles war im Moment vollkommen unnötig, und das wollte er ihr so gern begreiflich machen.»All das hat nichts mit Verrat zu tun.«

«Wie kommst du auf die Idee, dass ich es als solchen auffassen könnte?«

«Weil ich es an deiner Stelle so auffassen würde. Du bist die Chefin. Ich habe kein Recht, deine Mitarbeiter um Unterstützung zu bitten. Und hätte ich eine andere Möglichkeit gehabt, mir die notwendigen Informationen in so kurzer Zeit zu beschaffen, dann hätte ich Barbara Havers aus dem Spiel gelassen, glaub mir.«

«Aber es gab eine andere Möglichkeit, und das ist es, was mich aufbringt. Dass du die andere Möglichkeit nicht gesehen hast und offenbar immer noch nicht siehst.«

«Du meinst, ich hätte mich an dich wenden sollen. Das ging leider nicht, Isabelle. Hillier hat das von Anfang an klargestellt. Ich sollte den Fall übernehmen, und niemand sollte davon erfahren.«

«Niemand.«

«Du meinst Barbara. Ich habe ihr nichts davon erzählt. Sie ist von selbst draufgekommen, weil ich sie um Informationen über Bernard Fairclough gebeten habe. Als sie angefangen hat, über den Mann zu recherchieren, hat sie zwei und zwei zusammengezählt. Sag mir eins: Was hättest du an meiner Stelle getan?«

«Ich möchte annehmen, dass ich dir vertraut hätte.«

«Weil ich dein Liebhaber bin?«

«Ja. So in etwa.«

«Aber das geht nicht«, sagte er.»Isabelle, denk doch mal nach.«

«Ich tue fast nichts anderes. Und das ist ein echtes Problem, wie du dir vorstellen kannst.«

«Ja, das kann ich. «Er wusste, was sie meinte, doch er wollte den Streit abwenden, auch wenn er nicht genau wusste, warum eigentlich. Wahrscheinlich hatte es mit der schrecklichen Leere zu tun, die er seit Helens Tod empfand, und damit, dass Menschen als geselligen Geschöpfen die Einsamkeit nicht guttat. Aber das war wahrscheinlich die krasseste Form der Selbsttäuschung, gefährlich sowohl für ihn als auch für Isabelle. Trotzdem sagte er:»Wir müssen das trennen, Isabelle, und zwar haarscharf. Das eine ist unser Beruf, und das andere ist unser Privatvergnügen. Wenn du die Stelle als Superintendent bekommst, wirst du immer wieder über Wissen verfügen — durch Hillier oder sonst wen —, in das du mich nicht einweihen darfst.«

«Ich würde es trotzdem tun.«

«Nein, Isabelle, das würdest du nicht.«

«Hast du es getan?«

«Hab ich was getan?«

«Ich meine Helen, Tommy. Hast du Helen immer alles erzählt?«

Wie sollte er ihr das erklären? Er hatte Helen nichts zu erzählen brauchen, weil Helen immer alles gewusst hatte. Sie war zu ihm ins Bad gekommen, hatte sich ein bisschen Massageöl auf die Hände geträufelt und angefangen, ihm den Rücken zu massieren und dabei gemurmelt:»Ah, David Hillier schon wieder, hm? Wirklich, Tommy. Ich glaube, noch nie hat sich ein Ritterschlag so inflationär auf das Selbstwertgefühl eines Mannes ausgewirkt. «Dann hatte er ihr vielleicht etwas erzählt, vielleicht auch nicht, aber der springende Punkt war, dass es für Helen keine Rolle gespielt hatte. Was er sagte, war für sie vollkommen unwichtig gewesen. Sie hatte nur interessiert, wer er war.

Das Schlimmste war, dass sie ihm so sehr fehlte. Er konnte es ertragen, dass er derjenige gewesen war, der die Entscheidung getroffen hatte, wann die lebenserhaltenden Maßnahmen eingestellt wurden. Er konnte es ertragen, dass sie ihr gemeinsames Kind mit ins Grab genommen hatte. Er gewöhnte sich mit der Zeit daran, dass ihr Tod ein sinnloser Zufallsmord gewesen war, der aus dem Nichts heraus geschehen und ohne jeden Sinn gewesen war. Aber die Leere, die ihr Tod in seinem Leben hinterlassen hatte, war so unerträglich, dass er manchmal nahe dran war, Helen dafür zu hassen.

Isabelle sagte:»Was soll ich aus deinem Schweigen schließen?«

«Nichts. Ich habe nur nachgedacht.«

«Und die Antwort?«

«Worauf?«Er hatte tatsächlich vergessen, was sie ihn gefragt hatte.

«Helen.«

«Ich wünschte wirklich, es gäbe eine Antwort«, sagte er.

Dann, völlig abrupt, wie es ihre Art war, zog sie andere Saiten auf. Es war ein Wesenszug an ihr, der ihn zugleich irritierte und anzog.»Gott, verzeih mir, Tommy«, sagte sie leise.»Ich mache dich nur fertig. Das hast du nicht verdient. Ich rufe dich an, obwohl ich eigentlich andere Dinge zu tun habe. Das ist der falsche Zeitpunkt für dieses Gespräch. Ich war sauer wegen Winston, aber daran bist du nicht schuld. Wir unterhalten uns später.«

«Ja«, sagte er.

«Kannst du schon sagen, wann du wieder zurück sein wirst?«

Das, dachte er, war ironischerweise die entscheidende Frage. Er schaute aus dem Fenster. Er befand sich auf der A 592 in einer dicht bewaldeten Gegend am Lake Windermere. Ein paar Blätter klammerten sich störrisch an die Äste von Ahornbäumen und Birken, aber dem nächsten stärkeren Wind würden sie nicht mehr standhalten.»Ich hoffe, bald. Vielleicht schon morgen. Oder übermorgen. Simon war ein paar Tage hier, und er hat seine forensischen Untersuchungen abgeschlossen. Deborah verfolgt noch eine Spur. Ich muss so lange hierbleiben, bis sie diese Sache beendet hat. Ich bin mir nicht sicher, ob es etwas mit dem Fall zu tun hat, aber sie hat sich nicht davon abbringen lassen, und ich kann sie nicht hier oben allein lassen.«

Isabelle schwieg eine Weile. Er wartete ab, wie sie darauf reagieren würde, dass er Simon und Deborah erwähnt hatte.»Es freut mich, dass die beiden dir helfen konnten«, sagte sie leichthin, aber er wusste, was es sie kostete, es so klingen zu lassen.

«Ja«, erwiderte er.

«Wir reden, wenn du wieder hier bist.«

«Machen wir.«

Nachdem sie das Gespräch beendet hatten, blieb er noch eine Weile in seinem Wagen sitzen und starrte ins Leere. Es gab Dinge und Gefühle, die er würde klären müssen. Doch zuerst musste er diesen Fall in Cumbria lösen.

Er fädelte sich wieder in den Verkehr ein und setzte seinen Weg nach Ireleth Hall fort. Das Tor stand offen. Als er die Einfahrt hochfuhr, sah er, dass vor dem Haus ein Auto stand. Er erkannte es als eins der beiden Autos, die er in Great Urswick gesehen hatte, und schloss daraus, dass Faircloughs Tochter Manette zu Besuch war.

Sie war jedoch nicht allein gekommen, wie er bald feststellte, sondern in Begleitung ihres Exmannes. Die beiden saßen zusammen mit den Faircloughs in der großen Eingangshalle, und alle waren nach einem Besuch von Nicholas Fairclough noch immer ganz erschüttert, wie er von Bernard erfuhr, der ihn eingelassen hatte.

Valerie ergriff das Wort:»Ich fürchte, wir waren Ihnen gegenüber nicht ganz ehrlich, Inspector. Und es sieht ganz so aus, als wäre jetzt der Zeitpunkt gekommen, Ihnen die Wahrheit zu sagen.«

Lynley schaute Fairclough an. Fairclough wandte sich ab. Lynley begriff sofort, dass man ihn benutzt hatte, und er spürte, wie ihn die Wut packte.»Wenn Sie die Güte hätten, mir das zu erklären«, sagte er zu Valerie.

«Selbstverständlich. Ich bin der Grund, warum man Sie nach Cumbria gebeten hat, Inspector. Außer Bernard hat niemand davon gewusst. Aber jetzt wissen es auch Manette, Freddie und Nicholas.«

Einen verrückten Augenblick lang rechnete Lynley tatsächlich damit, dass die Frau als Nächstes den Mord am Neffen ihres Mannes gestehen würde. Immerhin wäre die Kulisse dafür perfekt. Es erinnerte ihn an die Sorte Krimis, die an jedem Bahnhof verkauft wurden. Mit Titeln wie Tee im Pfarrhaus und Mord in der Bibliothek. Er konnte sich zwar nicht vorstellen, warum Valerie plötzlich ein Geständnis ablegen wollte, aber er hatte auch nie verstanden, warum die Figuren in diesen Krimis in aller Seelenruhe im Wohnzimmer oder der Bibliothek saßen, wohl wissend, dass am Ende der Ausführungen des Detektivs einer von ihnen als der Schuldige dastehen würde. Keiner von ihnen verlangte jemals nach einem Anwalt. Das hatte Lynley nie verstanden.

Valerie, die offenbar seine Verwirrung gespürt hatte, beeilte sich, Klarheit zu schaffen. Es sei ganz einfach: Nicht ihr Mann, sondern sie sei diejenige gewesen, die darauf bestanden habe, dass Ian Cresswells Tod genauer untersucht wurde.

Das, dachte Lynley, erklärte allerdings eine ganze Menge, erst recht nach allem, was sie bisher über Faircloughs Privatleben zutage gefördert hatten. Dennoch erklärte es nicht alles. Das Warum harrte immer noch einer Antwort. Warum Valerie? Warum überhaupt? Denn wenn sich herausstellte, dass es Mord gewesen war, dann war der Täter wahrscheinlich unter ihren Angehörigen zu suchen.

Lynley sagte:»Verstehe. Ich weiß nicht, ob das eine Rolle spielt. «Dann berichtete er ihnen von den Untersuchungen im Bootshaus. Alles, was er und Simon St. James dort hatten feststellen können, sagte er, decke sich mit dem Befund des Coroners. Demnach sei Ian Cresswell durch einen tragischen Unfall ums Leben gekommen. Dasselbe hätte jedem passieren können, der das Bootshaus benutzte. Der gemauerte Steg sei uralt und einige Steine darin locker. Die Steine, die sich aus dem Gemäuer gelöst hatten, seien nicht manipuliert worden. Wäre Cresswell aus einem anderen Bootstyp ausgestiegen, wäre er vielleicht nur gestolpert. Aber aus einem Skullboot auszusteigen, sei gefährlicher, weil es schwierig war, dabei die Balance zu halten. Hinzu seien die losen Steine gekommen, und beides zusammen hätte ihn das Leben gekostet. Er habe das Gleichgewicht verloren, sei mit dem Kopf auf die Steinmauer aufgeschlagen, ins Wasser gefallen und ertrunken. Es gebe keinerlei Anzeichen für Fremdeinwirkung.

Jetzt, dachte Lynley, hätte eigentlich ein allgemeines erleichtertes Aufatmen erfolgen müssen. Normalerweise hätte er erwartet, dass Valerie etwas wie» Gott sei Dank!«ausrufen würde. Stattdessen folgte ein langes, angespanntes Schweigen, woraus er schloss, dass der tatsächliche Grund für die Ermittlungen gar nicht Ian Cresswells Tod gewesen war.

Plötzlich ging die Haustür auf, und Mignon Fairclough trat ein, gestützt auf ihren Rollator.

«Freddie, machst du bitte die Tür zu, Darling?«, flötete sie.»Es fällt mir ein bisschen schwer. «Als Freddie McGhie aufspringen wollte, um ihrer Bitte nachzukommen, sagte Valerie scharf:»Ich denke, es dürfte dir nicht schwerfallen, die Tür selbst zuzumachen!«

Mignon legte den Kopf schief und sah ihre Mutter mit hochgezogenen Brauen an.»Also gut«, sagte sie, drehte sich mit ihrem Rollator betont umständlich um und schloss die Tür.»So«, sagte sie dann und wandte sich wieder ihrer Familie zu.»Das ist ja hier der reinste Taubenschlag, meine Lieben. Erst Manette und Freddie à deux. Wie aufregend! Mein Herz klopft bei dem Gedanken, was das alles bedeuten könnte. Dann kommt Nick angerauscht. Und rauscht wieder ab. Und jetzt ist unser gutaussehender Detective von Scotland Yard wieder unter uns und macht uns das Leben schwer. Verzeiht mir die Neugier, Mum und Dad, aber bei allem, was hier drinnen vor sich geht, habe ich es draußen keine Minute länger ausgehalten.«

«Das trifft sich gut«, sagte Valerie.»Denn wir reden gerade über die Zukunft.«

«Darf ich fragen, über wessen Zukunft?«

«Über unser aller Zukunft. Einschließlich deiner. Ich habe heute erfahren, dass dein monatlicher Unterhalt vor einiger Zeit beträchtlich erhöht wurde. Damit ist es jetzt vorbei. Du bekommst ab sofort überhaupt keinen Unterhalt mehr.«

Mignon schaute sie verdattert an. Damit hatte sie offenbar nicht gerechnet.»Aber Mum, meine Liebe … ich bin behindert. In meinem Zustand kann ich mich auf keine Arbeitsstelle bewerben. Du kannst mir also nicht einfach …«

«Da irrst du dich gewaltig, Mignon. Ich kann und ich werde.«

Mignon sah sich um, als suchte sie nach dem Grund für diese unerwartete Schicksalswende. Ihr Blick fiel auf Manette.»Du kleines Miststück«, sagte sie mit zusammengekniffenen Augen.»Das hätte ich dir wirklich nicht zugetraut.«

«Mignon!«, rief Freddie aus.

«Du hältst dich da raus«, fauchte sie ihn an.»Oder möchtest du vielleicht gern über Manette und Ian reden, Freddie?«

«Da gibt es nichts zu reden, das weißt du ganz genau«, sagte Manette.

«Es gibt einen Schuhkarton voll mit Briefen, Darling. Ein paar davon sind verbrannt, aber der Rest ist nach wie vor in einwandfreiem Zustand. Ich kann sie jederzeit herholen. Auf den Augenblick warte ich schon seit Jahren.«

«Okay, ich war als junges Mädchen in Ian verknallt. Versuch ruhig, mehr daraus zu machen, du wirst nicht weit kommen.«

«Und was ist mit ›Ich liebe dich mehr, als ich jemals einen anderen lieben werde‹ und ›Ach, bitte, ich möchte, dass du mein Erster bist‹?«

«Ich bitte dich«, sagte Manette angewidert.

«Ich könnte dir noch mehr davon zitieren, ich kenne jede Menge deiner Briefe auswendig.«

«Und keiner von uns will es hören«, fuhr Valerie sie an.»Es wurde genug gesagt. Es reicht.«

«O nein, es reicht noch lange nicht. «Mignon ging auf das Sofa zu, auf dem ihre Schwester und Freddie saßen. Sie sagte:»Wenn’s dir nichts ausmacht, Freddie«, und machte Anstalten, sich zu setzen. Ihm blieb gar nichts anderes übrig, als aufzustehen, wenn er seine Schwägerin nicht auf dem Schoß haben wollte. Er gesellte sich zu Bernard, der am Kamin stand.

Lynley sah ihnen allen an, dass sie versuchten, sich auf etwas Neues einzustellen. Sie ahnten, dass etwas auf sie zukam, auch wenn sie nicht wussten, was es war. Offenbar hatte Mignon jahrelang Informationen über sämtliche Familienmitglieder gesammelt. Bisher hatte sie davon keinen Gebrauch machen müssen, jetzt jedoch schien sie entschlossen, das zu tun. Sie schaute erst ihre Schwester und dann ihren Vater an. Dann sagte sie lächelnd, ohne ihren Blick von ihrem Vater abzuwenden:»Weißt du, Mum, ich glaube nicht, dass sich hier viel ändern wird. Und ich schätze, dass Dad das auch nicht glaubt.«

Valerie ließ sich nicht so leicht aus der Ruhe bringen.»Die Unterhaltszahlungen an Vivienne Tully werden ebenfalls eingestellt, falls du darauf anspielst. So ist es doch, nicht wahr? Ich nehme an, dass du deinen Vater schon seit Jahren mit Vivienne Tully erpresst. Kein Wunder, dass so viel Geld in deine Richtung geflossen ist.«

«Ach, und jetzt hältst du ihm die andere Wange hin?«, höhnte Mignon.»Sind wir schon so weit? Ist es schon so weit gekommen zwischen euch?«

«Was zwischen deinem Vater und mir ist, geht dich nichts an. Niemandes Ehe geht dich etwas an.«

«Ich möchte mich nur vergewissern, dass ich alles richtig verstanden habe«, sagte Mignon.»Er treibt’s mit Vivienne Tully in London, er kauft ihr eine Wohnung, er führt ein verdammtes Doppelleben — und jetzt soll ich dafür bezahlen, weil ich den Anstand besessen habe, dir nichts davon zu erzählen?«

«Stell dich nicht dar als die noble Retterin«, sagte Valerie.

«Hört, hört«, murmelte Freddie.

«Du weißt genau, warum du mir nichts davon erzählt hast«, fuhr Valerie fort.»Die Informationen waren dir nützlich, und du bist eine ganz gewöhnliche Erpresserin. Du solltest niederknien und dem Herrgott dafür danken, dass ich den Inspector nicht bitte, dich zu verhaften. Abgesehen davon ist alles, was mit Vivienne Tully zu tun hat, eine Angelegenheit zwischen deinem Vater und mir. Das alles geht dich nichts an. Das Einzige, womit du dich befassen solltest, ist die Frage, was du in Zukunft aus deinem Leben zu machen gedenkst. Denn es fängt morgen an, und das wird ganz anders aussehen als bisher.«

Mignon wandte sich an ihren Vater. Sie war sich dessen bewusst, dass sie alle Trümpfe in der Hand hielt.»Ist das in deinem Sinne?«, fragte sie ihn.

«Mignon«, seufzte er.

«Sprich dich aus, Dad. Es ist der perfekte Zeitpunkt dafür.«

«Hör auf, Mignon«, sagte Bernard.»Was du tust, ist unnötig.«

«Ich fürchte, da irrst du dich.«

«Valerie«, flehte Bernard seine Frau an. Der Mann musste gerade mitansehen, wie sein gewohntes Leben in Scherben ging, dachte Lynley.»Ich glaube, es ist alles Nötige gesagt worden. Wenn wir uns vielleicht darauf einigen können …«

«Worauf?«, fauchte Valerie.

«Darauf, ein bisschen Gnade walten zu lassen. Dieser schreckliche Sturz vor all den Jahren. In Launchy Gill. Es geht ihr nicht gut. Sie ist seitdem nicht mehr dieselbe. Du weißt, dass sie nicht in der Lage ist, für sich selbst zu sorgen.«

«Sie ist genauso gut dazu in der Lage wie ich«, schaltete Manette sich ein.»Wie jeder hier. Ehrlich, Dad, Mum hat recht, Herrgott noch mal. Es wird Zeit, dass wir mit diesem Unsinn aufhören. Das muss die teuerste Schädelfraktur aller Zeiten sein, wenn man bedenkt, wie viel Kapital Mignon daraus geschlagen hat.«

Aber Valerie beobachtete ihren Mann. Lynley sah, dass Fairclough der Schweiß auf die Stirn getreten war. Seine Frau hatte es offenbar ebenfalls bemerkt, denn sie wandte sich an Mignon und sagte leise:»Bringen wir es hinter uns.«

«Dad?«, sagte Mignon.

«Um Himmels willen, gib ihr, was sie will, Valerie.«

«Nein, das werde ich nicht«, entgegnete Valerie.»Auf gar keinen Fall.«

«Dann sollten wir uns jetzt über Bianca unterhalten«, sagte Mignon. Ihr Vater schloss die Augen.

«Wer ist Bianca?«, fragte Manette.

«Unsere kleine Halbschwester«, antwortete Mignon. Sie schaute ihren Vater an.»Willst du uns von ihr erzählen, Dad?«

ARNSIDE — CUMBRIA

Lucy Kevernes Anruf versetzte Alatea Fairclough in Alarmstimmung. Sie hatten vereinbart, dass Lucy sie niemals anrufen würde, weder auf dem Handy noch auf dem Festnetz. Alatea hatte ihr zwar die Nummern gegeben, doch sie hatte von Anfang an klargestellt, dass ein Anruf bei ihr der ganzen Sache ein Ende setzen würde, und das wollten sie beide nicht.

Worauf Lucy verständlicherweise gefragt hatte:»Und was soll ich im Notfall tun?«

«Dann müssen Sie eben anrufen. Aber Sie werden verstehen, dass ich dann nicht mit Ihnen sprechen kann.«

«Wir brauchen einen Code für diesen Fall.«

«Für was?«

«Für den Fall, dass Sie in dem Moment, wo ich anrufe, nicht mit mir sprechen können. Falls Ihr Mann in Hörweite ist, können Sie ja schlecht sagen: ›Ich kann jetzt nicht mit Ihnen sprechen.‹ Das würde ja erst recht seinen Verdacht erregen, oder?«

«Ja, da haben Sie recht. «Alatea überlegte.»Ich werde sagen: ›Nein, tut mir leid, ich habe nichts bei Ihnen bestellt‹, und dann rufe ich Sie bei der allernächsten Gelegenheit zurück. Aber das kann womöglich bis zum nächsten Tag dauern.«

Darauf hatten sie sich schließlich geeinigt, und bisher hatte Lucy auch keinen Grund gehabt, Alatea anzurufen. Als sie sich jetzt jedoch so kurz nach ihrem Treffen in Lancaster meldete, wusste Altea sofort, dass etwas nicht stimmte.

Wie brenzlig die Situation war, wurde ihr nach wenigen Sekunden klar. Man hatte sie zusammen an der Uni gesehen, berichtete ihr Lucy. Man hatte sie im George Childress Centre gesehen. Wahrscheinlich hatte es nichts zu bedeuten, aber eine Frau war ihnen von der Uni zum Invalidenheim gefolgt und hatte mit Lucy über Leihmutterschaft sprechen wollen. Sie sei auf der Suche nach einer Leihmutter, habe die Frau behauptet. Auch das müsse noch nichts Schlimmes bedeuten. Doch die Tatsache, dass die Frau nicht Alatea, sondern Lucy angesprochen habe …

«Sie meinte, Sie hätten ›diesen Blick‹«, fuhr Lucy fort.»Sie hat gesagt, es ist ein Blick, den sie von sich selbst gut kennt. Deswegen hätte sie sofort gewusst, dass sie nicht Sie, sondern mich auf die Möglichkeit einer Leihmutterschaft ansprechen musste.«

Alatea hatte das Gespräch in der Kaminnische des großen Wohnzimmers angenommen. Es war ein kuscheliges Plätzchen, wo sie die Wahl hatte, von der Eckbank aus in den Garten hinauszuschauen oder auf der anderen Seite des Kamins zu sitzen, wo jemand, der das Zimmer betrat, sie nicht gleich sehen konnte. Sie war allein im Haus und gerade dabei gewesen, in Architekturzeitschriften zu blättern, doch mit den Gedanken war sie ganz woanders gewesen, nämlich bei Lucy. Sie hatte überlegt, wie sie weiter vorgehen sollten. Schon bald, hatte sie sich gesagt, würde Lucy Keverne, eine mittellose Stückeschreiberin aus Lancaster, die in dem Invalidenheim arbeitete, um sich über Wasser zu halten, als eine Art neue Freundin in ihr Leben treten. Von da an würde alles einfacher werden. Es würde nie perfekt werden, aber das spielte keine Rolle. Man musste lernen, mit der Unvollkommenheit zu leben.

Als Lucy die Frau beschrieb, die ihnen gefolgt war, wusste Alatea sofort, wer sie war. Blitzschnell zählte sie zwei und zwei zusammen und kam zu dem Schluss, dass die rothaarige Frau namens Deborah St. James, die angeblich einen Dokumentarfilm drehen wollte, ihr nach Lancaster gefolgt war.

Anfangs hatten Alateas Ängste sich in erster Linie um den Journalisten gedreht. Sie kannte die Source, und sie wusste, dass das Blatt einen unstillbaren Hunger auf Skandale hatte. Der erste Besuch das Mannes in Cumbria hatte sie nervös gemacht, aber als er zum zweiten Mal aufgetaucht war, hatte sie Höllenqualen gelitten. Am meisten fürchtete sie ein Foto in der Zeitung, auf dem sie erkannt würde. Und jetzt war ihr auch noch diese Rothaarige auf den Fersen.

«Was haben Sie ihr gesagt?«, fragte Alatea so ruhig, wie es ihr möglich war.

«Die Wahrheit über das Thema Leihmutterschaft. Aber das meiste wusste sie schon.«

«Was meinen Sie mit Wahrheit?«

«Na ja, die verschiedenen Möglichkeiten, die es gibt, was legal ist und was nicht, und so weiter. Zuerst habe ich mir nichts dabei gedacht, irgendwie konnte ich nachvollziehen, was sie getan hatte. Ich meine, wenn eine Frau verzweifelt ist …«Lucy zögerte.

«Fahren Sie fort«, sagte Alatea.»Wenn eine Frau verzweifelt ist …?«

«Dann schreckt sie vor nichts zurück. Deswegen kam es mir alles in allem gar nicht so abwegig vor, dass eine Frau, die zu einer Beratung ins George Childress Centre gegangen war und uns irgendwo auf dem Korridor zusammen gesehen hatte, womöglich …«

«Womöglich was?«

«… eine Chance gewittert hatte. Letztlich haben wir beide uns ja auch auf diese Weise kennengelernt.«

«Nein. Ich habe mich auf eine Anzeige von Ihnen gemeldet.«

«Richtig. Aber ich spreche von dem Gefühl, das dahintersteckt. Von dieser Verzweiflung. Denn darüber hat sie die ganze Zeit geredet. Dachte ich zumindest.«

«Und dann?«

«Na ja, deswegen rufe ich Sie an. Nach dem Gespräch habe ich sie zur Tür begleitet, und wir haben uns verabschiedet. Sie ging die Straße hinunter, und von einem Fenster im Korridor habe ich dann zufällig gesehen, wie sie plötzlich auf dem Absatz kehrtgemacht hat und wieder zurückgegangen ist. Zuerst dachte ich, sie wollte mich noch etwas fragen, doch sie ist am Invalidenheim vorbeigegangen und in ein Auto gestiegen.«

«Vielleicht hatte sie vergessen, wo sie geparkt hatte«, sagte Alatea, obwohl sie das eigentlich selbst nicht glaubte.

«Das dachte ich auch zuerst. Aber offenbar saß jemand in dem Auto, denn sie ist auf der Beifahrerseite eingestiegen, und jemand hat ihr von innen die Tür aufgehalten. Also bin ich am Fenster stehen geblieben und habe gewartet, bis das Auto vorbeifuhr. Am Steuer saß ein Mann. Und das hat mich misstrauisch gemacht, verstehen Sie? Ich meine, wenn sie mit ihrem Mann hier war, warum haben die beiden dann nicht gemeinsam mit mir gesprochen? Warum hat sie ihn nicht erwähnt? Mir erzählt, dass er draußen im Auto wartet? Doch sie hat ihn mit keinem Wort erwähnt.«

«Wie sah der Mann aus, Lucy?«

«Ich konnte ihn nicht richtig sehen, es ging alles zu schnell. Aber es schien mir das Beste, Sie anzurufen, weil … Na ja, Sie wissen schon. Die ganze Sache ist sowieso schon riskant …«

«Ich kann Ihnen mehr bezahlen.«

«Das ist nicht der Grund, warum ich anrufe, um Gottes willen. Wir haben uns doch längst auf einen Preis geeinigt. Ich versuche nicht, noch mehr Geld aus Ihnen herauszuquetschen. Ich wollte nur, dass Sie wissen …«

«Dann sollten wir die ersten Schritte unternehmen. Und zwar möglichst bald.«

«Na ja, das ist es ja gerade, wissen Sie. Ich würde eher vorschlagen, dass wir noch ein bisschen länger warten. Ich glaube, wir müssen uns vergewissern, dass diese Frau, wer auch immer sie sein mag, uns nicht gefährlich wird. Dann können wir vielleicht in einem Monat …«

«Nein! Wir haben doch alles vorbereitet. Wir können nicht länger warten!«

«Doch, Alatea, ich finde, das sollten wir tun. Ich schlage Folgendes vor: Sobald sich herausstellt, dass es wirklich reiner Zufall war, dass diese Frau uns gesehen und mich angesprochen hat, legen wir los. Ich gehe schließlich ein größeres Risiko ein als Sie.«

Alatea fühlte sich wie benommen, das Atmen fiel ihr schwer.»Sie haben mich in der Hand«, sagte sie.

«Alatea, meine Liebe, es geht nicht um Macht. Es geht um Sicherheit. Um Ihre und meine. Schließlich bewegen wir uns am Rande der Legalität. Und es geht auch noch um eine Reihe anderer Dinge, über die wir aber jetzt nicht sprechen müssen.«

«Was für Dinge?«, wollte Alatea wissen.

«Nichts, nichts. Das war nur so dahingesagt. Hören Sie, ich muss zurück an die Arbeit. Wir sprechen uns in ein paar Tagen wieder. Machen Sie sich keine Sorgen, okay? Ich stehe Ihnen weiterhin zur Verfügung, nur nicht jetzt sofort. Nicht, solange wir nicht mit Sicherheit wissen, dass das Auftauchen dieser Frau nichts zu bedeuten hat.«

«Und wie werden wir das erfahren?«

«Wie gesagt: Ich werde es wissen, wenn sie nicht wieder bei mir auftaucht.«

Lucy Keverne riet ihr noch einmal, sich keine Sorgen zu machen, Ruhe zu bewahren, auf sich aufzupassen. Sie werde sich bei Alatea melden. Alles werde gut werden. Dann legte sie auf.

Alatea blieb in der Nische sitzen und überlegte, welche Möglichkeiten ihr blieben oder ob sie überhaupt noch etwas ändern konnte. Sie hatte von Anfang gespürt, dass die Rothaarige ihr gefährlich werden würde, egal, was Nicholas gesagt hatte. Und jetzt, wo Lucy diese Deborah St. James mit einem Mann zusammen gesehen hatte, wusste sie auch, wie die Gefahr aussah. Manche Menschen hatten nicht das Recht, so zu leben, wie sie es wünschten, und sie, Alatea, hatte das große Pech, einer von diesen Menschen zu sein. Sie war außergewöhnlich schön, doch das bedeutete ihr überhaupt nichts. Im Gegenteil, ihre Schönheit war ihr Untergang gewesen.

Sie hörte, wie irgendwo im Haus eine Tür zugeschlagen wurde. Sie sprang auf und schaute stirnrunzelnd auf ihre Armbanduhr. Nicky war zur Arbeit gefahren. Von dort müsste er eigentlich zu seinem Wehrturmprojekt weitergefahren sein. Aber als er ihren Namen rief und als sie die Panik in seiner Stimme hörte, wusste sie, dass er woanders gewesen war.

Sie eilte ihm entgegen und rief:»Hier, Nicky! Ich bin hier!«

Sie trafen sich in dem langen, eichengetäfelten Flur, wo trübes Dämmerlicht herrschte. Sie konnte seinen Gesichtsausdruck nicht erkennen. Doch seine Stimme jagte ihr Angst ein.»Ich bin schuld«, sagte er.»Ich habe alles kaputt gemacht, Allie. Und ich weiß nicht, wie ich mit diesem Wissen leben soll.«

Alatea erinnerte sich daran, wie verzweifelt Nicholas am Vortag gewesen war, nachdem er erfahren hatte, dass jemand von Scotland Yard die Umstände von Ian Cresswells Tod untersuchte. Einen schrecklichen Moment lang hielt sie Nicholas’ Worte für ein Geständnis, dass er seinen Vetter ermordet hatte, und ihr wurde ganz schwindlig bei dem Gedanken, was ihnen passieren konnte, wenn das herauskam. Wenn der Schrecken ein Wesen besaß, dann war es in dem düsteren Flur deutlich zu spüren.

Sie sagte:»Nicky, bitte«, und nahm seinen Arm.»Du musst mir genau erzählen, was passiert ist. Dann entscheiden wir gemeinsam, was zu tun ist.«

Unerklärlicherweise füllten sich seine Augen mit Tränen.»Ich glaube, das kann ich nicht«, sagte er.

«Warum nicht? Was ist passiert? Was kann denn so schrecklich sein, dass du es mir nicht sagen kannst?«

Er lehnte sich gegen die Wand. Ohne seinen Arm loszulassen, sagte sie:»Geht es um diese Scotland-Yard-Ermittlung? Hast du mit deinem Vater gesprochen? Glaubt er allen Ernstes …?«

«Das spielt alles keine Rolle«, erwiderte Nicholas.»Wir sind von lauter Lügnern umgeben. Meine Mutter, mein Vater, wahrscheinlich meine Schwestern, dann dieser Journalist von der Source und diese Frau von der Filmgesellschaft. Aber ich habe es nicht gesehen, weil ich an nichts anderes denken konnte als daran, mich zu beweisen. «Das letzte Wort hatte er voller Verachtung ausgesprochen.»Ego, Ego, Ego«, sagte er und schlug sich dabei jedes Mal mit der Faust an die Stirn.»Mich hat die ganze Zeit nichts anderes interessiert, als aller Welt — vor allem meiner Familie — zu beweisen, dass ich nicht mehr der bin, den sie bisher kannten. Keine Drogen mehr, kein Alkohol mehr. Sie sollten es sehen. Deswegen habe ich keine Gelegenheit ausgelassen, mich in ein gutes Licht zu rücken, und einzig und allein deswegen sind wir jetzt in dieser Situation.«

Alatea war vor Schreck fast die Luft weggeblieben, als er Deborah St. James erwähnt hatte.

Mehr und mehr drehte sich alles um diese Frau, die sie in blindem Vertrauen mit ihrer Kamera in ihr Haus gelassen hatten, mit der sie sich unterhalten, deren Fragen sie beantwortet hatten. Von Anfang an hatte Alatea gespürt, dass mit dieser Frau irgendetwas nicht stimmte. Und jetzt war sie sogar in Lancaster gewesen und hatte mit Lucy Keverne gesprochen. So schnell war sie ihr auf die Schliche gekommen. Das hätte Alatea nie für möglich gehalten.»Wie genau sieht denn die Situation aus, in der wir uns befinden, Nicky?«, fragte sie.

Er erklärte es ihr, und sie versuchte, seinen Ausführungen zu folgen. Er sprach von dem Journalisten, der die rothaarige Frau für eine Polizistin von Scotland Yard hielt, er sprach von seinen Eltern und darüber, dass er sich mit ihnen in Gegenwart von Manette und Freddie McGhie über genau das Thema gestritten hatte. Er sprach von seiner Mutter, die ihm eröffnet hatte, dass sie diejenige gewesen war, die sich an Scotland Yard gewandt hatte. Und er erzählte ihr, wie verblüfft sie alle gewesen waren, als er ihnen vorgeworfen hatte, diese Polizistin hätte Alatea völlig aus der Fassung gebracht … Dann verstummte er abrupt.

«Und dann?«, fragte Alatea vorsichtig.»Was haben sie dazu gesagt?«

«Die Frau ist gar nicht von Scotland Yard«, sagte er tonlos.»Ich weiß nicht, wer sie ist. Aber irgendjemand hat sie hergeschickt, um diese Fotos zu machen … Sie hat zwar behauptet, sie bräuchte keine Fotos von dir, dass du gar nicht in dem verdammten Film auftreten solltest, doch irgendjemand muss sie geschickt haben, denn diese Filmgesellschaft, in deren Auftrag sie angeblich hier ist, existiert überhaupt nicht. Verstehst du jetzt, warum ich an allem schuld bin, Allie? Alles ist meine Schuld. Ich fand es schon schlimm genug, dass meine Eltern meinetwegen einen Detective von Scotland Yard hergebeten haben, um die Umstände von Ians Tod noch einmal zu untersuchen. Aber zu erfahren, dass das, was diese Frau hier in diesem Haus getan hat, gar nichts mit Ians Tod zu tun hat, sondern nur passiert ist, weil ich so egoistisch bin … weil irgendein bescheuerter Artikel in irgendeinem Käseblatt jemanden auf uns aufmerksam gemacht hat …«

Plötzlich wusste sie, worauf er hinauswollte. Wahrscheinlich hatte sie es von Anfang an geahnt.»Montenegro«, flüsterte sie.»Du glaubst, er hat sie geschickt?«

«Wer sonst soll sie geschickt haben, Herrgott noch mal? Das habe ich dir angetan, Allie. Und jetzt sag mir: Wie soll ich damit leben?«

Er schob sich an ihr vorbei und ging ins Wohnzimmer. Dort konnte sie im schwindenden Tageslicht sein Gesicht besser sehen. Er sah entsetzlich aus, und eine Schrecksekunde lang fühlte sie sich für seinen Zustand verantwortlich, obwohl er es gewesen war, der die angebliche Mitarbeiterin einer Filmgesellschaft in ihr Leben gelassen hatte. Aber sie kam nicht dagegen an. Es war die Rolle, die sie in ihrer Beziehung übernommen hatte, genauso wie es seine Rolle war, sie so verzweifelt zu brauchen, dass er nie irgendetwas in Frage gestellt hatte, solange sie ihn ihrer Liebe versichert hatte. Und das war genau das gewesen, was sie gebraucht hatte: ein Zufluchtsort, wo ihr niemand die Art gefährlicher Fragen stellte, die aus einem kurzen Moment des Zweifels erwuchsen.

Draußen wurde es allmählich dunkel. Die Bucht war ein exaktes Spiegelbild des dunkelgrauen, von orangefarbenen Streifen durchzogenen Abendhimmels.

Nicholas ließ sich in einen der Sessel im Erker sinken und verbarg das Gesicht in den Händen.

«Ich habe dich enttäuscht«, sagte er.»Und ich habe vor mir selbst versagt.«

Alatea hätte ihren Mann am liebsten geschüttelt. Ihm gesagt, dass das nicht der richtige Zeitpunkt war, sich einzureden, er sei die Ursache aller Probleme, die sie hatten. Sie hätte ihn am liebsten angeschrien, dass er überhaupt keine Ahnung hatte, was für schlimme Dinge ihnen noch bevorstanden. Aber wenn sie das tat, würde er daraus unvermeidlich eine Schlussfolgerung ziehen, die es zu verhindern galt.

Nicholas glaubte, wenn Raul Montenegro wieder in ihr Leben trat, würde alles vorbei sein. Er konnte nicht ahnen, dass Raul Montenegro in Wirklichkeit erst der Anfang war.

BLOOMSBURY — LONDON

Barbara fuhr nach Bloomsbury, um in der Nähe der Uni zu sein, wenn Taymullah Azhar sich bei ihr meldete. Da sie noch mehr Informationen über Raul Montenegro sowie über den Ort Santa María de la Cruz, de los Ángeles y de los Santos brauchte, beschloss sie, in einem Internetcafé zu warten. So würde sie zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen.

Bevor Nkata die Bibliothek verlassen hatte, hatte er ihr zugeraunt:»Such nach Schlüsselbegriffen und klick dich weiter durch. Dafür muss man nicht studiert haben, man braucht nur ein bisschen Übung. «Mit Schlüsselbegriffen hatte er wahrscheinlich die Namen gemeint, die in den Artikeln auftauchten, dachte sie, und falls sie in der Nähe des British Museum ein Internetcafé fand, würde sie es damit versuchen.

Es war nicht der angenehmste Ort, um Internetrecherchen durchzuführen. Sie hatte sich unterwegs ein Wörterbuch Englisch/Spanisch gekauft, und jetzt saß sie zwischen einem übergewichtigen Asthmatiker in einem Mohairpullover und einer Kaugummiblasen produzierenden Gothic-Tussi mit Nasenring und Augenbrauenpiercings, die dauernd von jemandem auf ihrem Handy angerufen wurde, der offenbar nicht glaubte, dass sie in einem Internetcafé saß, denn sie fauchte immer wieder:»Herrgott noch mal, dann komm her und überzeug dich selbst, Clive … Stell dich nicht so bescheuert an. Ich schreib keine E-Mails an niemand. Wie auch, wenn du mich dauernd anrufst?«

In dieser Atmosphäre versuchte Barbara, sich zu konzentrieren. Und sie versuchte die Tatsache zu ignorieren, dass die Maus aussah, als sei sie noch nie in ihrem Leben desinfiziert worden. So gut es ging, berührte sie auch die vor Dreck starrende Tastatur beim Tippen nur mit den Fingernägeln, obwohl die dafür eigentlich viel zu kurz waren.

Nachdem sie ein paar unergiebige Spuren verfolgt hatte, fand sie einen Artikel über den Bürgermeister von Santa María und so weiter, der ein Foto enthielt. Es sah aus wie ein Jubiläumsfoto — vielleicht ein Schulabschluss? — , aber auf jeden Fall schien es ein Foto von einer Familienfeier zu sein, denn sie hatten sich alle auf den Stufen eines unidentifizierbaren Gebäudes aufgestellt: der Bürgermeister, seine Frau und ihre fünf gemeinsamen Söhne. Barbara betrachtete das Foto genauer.

Auch ohne eine Übersetzung des Textes war ihr eins sofort klar: Als im Himmel die Schönheit verteilt wurde, hatten die fünf Brüder ganz laut Hier! gerufen. Barbara las ihre Namen: Carlos, Miguel, Ángel, Santiago und Diego. Der Älteste war neunzehn, der Jüngste sieben Jahre alt. Aber dann entdeckte Barbara, dass das Foto bereits vor zwanzig Jahren aufgenommen worden war, was bedeutete, dass mindestens die drei ältesten Söhne mittlerweile verheiratet sein konnten, einer von ihnen vielleicht mit Alatea. Wenn Barbara Nkatas Rat richtig verstanden hatte, bestand der nächste Schritt jetzt darin, die fünf Söhne zu überprüfen. Sie fing mit Carlos an.

Er war leichter zu finden als erwartet, aber er war nicht verheiratet, sondern zu ihrer Überraschung katholischer Priester. Sie fand einen Artikel über seine Priesterweihe, wieder mit einem Foto von der ganzen Familie, die diesmal auf den Stufen einer Kirche posierte. Carlos’ Mutter klammerte sich an seinen Arm und schaute ihn voller Bewunderung an, sein Vater grinste breit, eine Zigarre im Mundwinkel, während die Brüder dreinblickten, als wären sie von all dem Zirkus eher peinlich berührt. Carlos konnte sie also abhaken, dachte Barbara.

Sie nahm sich Miguel vor. Auch diesmal brauchte sie nicht lange. Es ging so leicht, dass Barbara sich fragte, warum sie eigentlich nicht seit Jahren ihre Nachbarn ausspionierte. Sie fand ein Foto von Miguels Verlobung. Seine Zukünftige erinnerte Barbara an einen afghanischen Windhund, viel Haar, schmales Gesicht und eine verdächtig fliehende Stirn, was nicht gerade auf übermäßig viel Grips schließen ließ. Miguel war Zahnarzt, vermutete Barbara. Oder er brauchte einen Zahnarzt — das konnte sie mit Hilfe ihres kleinen Wörterbuchs nicht genau eruieren. Aber es schien auch keine Rolle zu spielen, denn es brachte sie keinen Schritt näher an Informationen über Alatea.

Sie wollte gerade Ángels Namen als Suchbegriff eingeben, als die ersten Takte von Peggy Sue ertönten. Sie klappte ihr Handy auf und sagte:»Havers. «Azhar hatte endlich jemanden aufgetrieben, der ihr die spanischen Texte übersetzen konnte.»Wo sind Sie gerade, Barbara?«, fragte er.

«In einem Internetcafé gleich um die Ecke vom British Museum«, sagte sie.»Ich komme zu Ihnen, das ist einfacher. Gibt’s bei Ihnen eine Cafeteria oder so was?«

Er schwieg einen Moment. Schließlich sagte er, es gebe ein Weinlokal am Torrington Place in der Nähe von Chenies Mews und der Gower Street. Dort könnten sie sich in einer Viertelstunde treffen.

«Alles klar«, sagte sie.»Das finde ich. «Sie druckte die Dokumente, die sie gefunden hatte, schnell aus und ging damit nach vorne, wo der junge Mann an der Kasse ihr einen exorbitanten Preis nannte.»Farbdrucker«, sagte er nur, als Barbara protestierte.

«Farbwucher würd ich eher sagen«, entgegnete Barbara, schob die Ausdrucke in einen großen Briefumschlag und ging in Richtung Torrington Street. In dem Weinlokal, das leicht zu finden war, wartete Azhar am Tresen auf sie. Neben ihm stand eine langbeinige junge Frau in einer Strickjacke aus Kaschmir, deren üppige schwarze Locken ihre Schultern umspielten.

Die junge Frau hieß Engracia, ein Nachname wurde nicht genannt, und sie war eine Studentin aus Barcelona.»Ich werde Ihnen helfen, so gut ich kann«, sagte sie zu Barbara, die vermutete, dass die Studentin in erster Linie Azhar gefällig sein wollte, und das konnte sie ihr nicht verdenken. Die beiden waren ein hübsches Paar. Aber dasselbe galt für Azhar und Angelina Upman. Oder für Azhar und fast jede andere Frau.

«Danke«, sagte Barbara.»In meinem nächsten Leben werde ich Dolmetscherin.«

«Dann lasse ich Sie beide jetzt allein«, sagte Azhar.

«Müssen Sie noch arbeiten?«, fragte Barbara.

«Nein, ich fahre nach Hause«, antwortete er.»Und vielen Dank, Engracia.«

«De nada«, murmelte die junge Frau.

Sie setzten sich an einen Tisch, und Barbara nahm die Ausdrucke aus dem Umschlag. Als Erstes gab sie Engracia den Artikel mit dem Foto von der Bürgermeisterfamilie.»Ich hab mir ein Wörterbuch besorgt«, sagte sie,»aber das hat mich nicht viel weitergebracht. Ich meine, ein bisschen hat’s schon geholfen, aber …«

«Natürlich. «Engracia hielt das Blatt mit dem Artikel in der einen Hand und spielte beim Lesen mit der anderen an einem goldenen Ohrring. Nach einer Weile sagte sie:»Das hier hat etwas mit Wahlen zu tun.«

«Mit den Bürgermeisterwahlen?«

«. Der Mann — Esteban — kandidiert für den Bürgermeisterposten in dieser Stadt, und dieser Artikel stellt ihn vor. Es ist ein Artikel ohne Lob … wie nennt man das?«

«Lobhudelei?«

Engracia lächelte. Sie hatte sehr schöne Zähne und sehr glatte Haut. Sie trug Lippenstift, aber der war so gut gewählt, dass er kaum auffiel.»Ja. Lobhudelei«, sagte sie.»Hier steht, der Mann hat sehr viele Verwandte in der Stadt, und wenn die alle zur Wahl gehen, wird er gewinnen. Aber das ist wohl ironisch gemeint, denn die Stadt hat immerhin fünfundsiebzigtausend Einwohner. «Sie las ein bisschen weiter.»Hier steht etwas über seine Frau Dominga und über ihre Familie. Beide Familien leben offenbar schon seit Generationen in Santa María de la Cruz, de los Ángeles y de los Santos.«

«Und die Söhne?«

«Die Söhne … Ah. Carlos besucht das Priesterseminar, Miguel möchte Zahnarzt werden, Ángel will Architektur studieren, und die anderen beiden sind noch zu klein, um Berufswünsche zu haben, obwohl Santiago sagt, er möchte mal Schauspieler werden. Und Diego …«Sie las noch ein paar Zeilen und lachte.»Hier steht, er möchte Astronaut werden, falls Argentinien irgendwann ein eigenes Raumfahrtprogramm entwickelt, was er für ziemlich unwahrscheinlich hält. Ich glaube, das ist ein kleiner Scherz. Der Journalist hatte wohl Spaß an dem Jungen.«

Das brachte sie leider nicht viel weiter, dachte Barbara. Sie nahm die nächsten beiden Artikel aus dem Umschlag, die ebenfalls von Raul Montenegro handelten, und reichte sie Engracia.»Sehen Sie sich die mal an. «Sie fragte Engracia, ob sie ein Glas Wein oder etwas anderes trinken wolle. Schließlich nahmen sie einen Tisch in einem Weinlokal in Anspruch, und man erwartete von ihnen, dass sie etwas konsumierten.

Engracia bat um ein Glas Mineralwasser. Barbara ging zum Tresen, bestellte das Wasser und für sich ein Glas Hauswein. Als sie mit den Getränken an den Tisch zurückkehrte, konzentrierte Engracia sich gerade auf den Artikel mit dem Foto von Alatea in Montenegros Arm. Es handle sich um einen Bericht über einen einflussreichen Geldspender in Mexico City, sagte Engracia, und über den Bau einer Konzerthalle. Der Mann auf dem Foto habe die größte Summe für das Projekt gespendet, weswegen ihm die Ehre zuteilwurde, dem Gebäude einen Namen zu geben.

«Und?«, fragte Barbara in der Erwartung, dass die Halle nach Alatea benannt war, da sie auf dem Foto so strahlend lächelte.

«Die Halle heißt Musikzentrum Magdalena Montenegro«, sagte Engracia.»Das ist der Name seiner Mutter. Lateinamerikanische Männer stehen in der Regel ihrer Mutter sehr nahe.«

«Was ist mit der Frau, die mit ihm auf dem Foto abgebildet ist?«

«Hier steht nur, dass sie seine Begleiterin ist.«

«Nicht seine Frau? Seine Geliebte? Seine Lebensgefährtin?«

«Nein, nur Begleiterin.«

«Könnte es sich um eine beschönigende Umschreibung für Geliebte oder Lebensgefährtin handeln?«

Engracia betrachtete das Foto.»Schwer zu sagen. Aber ich glaube nicht.«

«Es könnte also sein, dass sie ihn nur an diesem einen Abend begleitet hat? Oder dass es sich um eine Frau von einem Escort-Service handelt?«

«Gut möglich«, sagte Engracia.»Vielleicht hat sie sich auch nur für das Foto neben ihn gestellt.«

«Verdammt«, murmelte Barbara. Als Engracia sie daraufhin zerknirscht anschaute, fügte sie hastig hinzu:»Oh, tut mir leid. Ich fluche nicht über Sie. Nur über das Leben im Allgemeinen.«

«Das alles scheint sehr wichtig für Sie zu sein. Kann ich Ihnen sonst irgendwie helfen?«, fragte Engracia.

Barbara überlegte. Es gab tatsächlich noch eine Möglichkeit. Nachdem sie schnell die Zeitdifferenz ausgerechnet hatte, sagte sie:»Sie könnten für mich mit jemandem telefonieren. «Sie nahm ihr Handy aus der Tasche.»Da drüben spricht niemand Englisch.«

Sie erklärte Engracia, dass sie die Privatnummer des Bürgermeisters von Santa María und so weiter gewählt habe, wo es jetzt früher Nachmittag sei, und bat sie, sich nach einer gewissen Alatea Vasquez del Torres zu erkundigen, falls sich jemand meldete.

«Die Frau auf dem Foto«, sagte Engracia und zeigte auf den Artikel über Raul Montenegro.

«Ganz genau«, sagte Barbara.

Als es am anderen Ende zu klingeln begann, reichte Barbara der jungen Spanierin das Telefon. Das Einzige, was Barbara in dem nun folgenden Gespräch aufschnappen konnte, war der Name Alatea. Aber aus dem Handy hörte sie eine Frauenstimme. Sie klang schrill und aufgeregt, und an Engracias Gesicht konnte sie ablesen, dass dieser Anruf in Santa María de la Cruz, de los Ángeles y de los Santos sich gelohnt hatte.

Dann entstand eine Pause in dem Gespräch, und Engracia schaute Barbara an.»Das war eine Kusine«, sagte sie zu Barbara.»Elena María.«

«Also haben wir die falsche Nummer?«

«Nein, nein. Sie ist gerade zu Besuch. Dominga, die Frau des Bürgermeisters, ist ihre Tante. Sie holt sie gerade. Sie war schrecklich aufgeregt, als sie Alateas Namen gehört hat.«

«Bingo«, murmelte Barbara.

«Wie bitte?«

«Sorry, nur so ein Spruch. Sieht so aus, als würden wir Fortschritte machen.«

«Ah. «Dann meldete sich wieder eine Stimme vom anderen Ende der Welt, und Engracia begann wieder wie ein Schnellfeuergewehr Spanisch zu sprechen. Barbara schnappte hin und wieder ein» entiendo«, ein» sabes?«, ein» no sé«, viele» sí«und» gracias «auf.

Nachdem Engracia das Gespräch beendet hatte, sagte Barbara:»Und? Was gibt’s Neues?«

«Eine Nachricht für Alatea«, sagte Engracia.»Diese Dominga bittet uns, Alatea zu sagen, sie soll nach Hause kommen. Wir sollen ihr ausrichten, dass ihr Vater sie versteht. Und die Jungs auch. Sie sagt, Carlos hat sie alle für Alateas glückliche Heimkehr beten lassen.«

«Und hat die Frau Ihnen gesagt, wer zum Teufel Alatea ist?«

«Sie scheint irgendwie zur Familie zu gehören.«

«Eine Schwester, die aus irgendeinem Grund auf diesem alten Foto fehlt? Eine Schwester, die geboren wurde, nachdem das Foto aufgenommen wurde? Die Frau von einem der jungen Männer? Eine Kusine? Eine Nichte?«

«Das hat sie nicht gesagt, zumindest nicht eindeutig. Aber sie hat mir erzählt, dass Alatea mit fünfzehn von zu Hause weggelaufen ist. Sie dachten, sie wäre nach Buenos Aires gegangen, und haben sie dort jahrelang gesucht. Vor allem Elena María hat nach ihr gesucht. Dass Alatea verschwunden ist, hat ihr das Herz gebrochen, auch das sollen wir ihr ausrichten.«

«Seit wann genau ist Alatea denn verschwunden?«, wollte Barbara wissen.

«Seit dreizehn Jahren.«

«Und jetzt ist sie in Cumbria gelandet«, murmelte Barbara.»Wie zum Teufel …?«

Sie hatte mit sich selbst gesprochen, aber Engracia nahm noch einmal einen der Ausdrucke in die Hand, die sie vorhin gelesen hatte, einen der Artikel über Raul Montenegro, und sagte:»Vielleicht hat er ihr ja geholfen? Wenn der Mann genug Geld hat, um für den Bau einer Konzerthalle zu spenden, dann hat er auch genug Geld, um einer schönen Frau ein Flugticket nach London zu spendieren, oder? Oder ein Flugticket wer weiß wohin. An irgendeinen Ort der Welt, der ihr gefällt.«

LAKE WINDERMERE — CUMBRIA

Etwa dreißig Sekunden lang wirkten sie wie ein Standbild, auch wenn diese dreißig Sekunden viel länger zu dauern schienen. Mignon ließ ihren Blick von einem zum Nächsten wandern, und ihr Gesicht drückte einen Triumph aus, auf den sie offenbar jahrelang gewartet hatte. Manette kam sich vor wie eine Figur in einem Theaterstück. Dieser Moment war der Höhepunkt des Dramas, und jetzt würde wie in jeder griechischen Tragödie die Katharsis folgen.

Valerie war die Erste, die aus ihrer Erstarrung erwachte. Sie stand auf und sagte auf ihre übliche kultivierte Art:»Wenn ihr mich bitte entschuldigen wollt. «Dann verließ sie den Raum.

Mignon konnte sich nicht mehr halten vor Lachen.»Willst du denn nicht mehr wissen, Mum?«, rief sie.»Du kannst doch jetzt nicht gehen. Willst du nicht auch noch den Rest hören?«

Nach kurzem Zögern drehte Valerie sich um und schaute Mignon an.»Du wärst ein gutes Argument für den Brauch, Säuglingen direkt nach der Geburt den Hals umzudrehen«, sagte sie und ging.

Lynley folgte ihr. Plötzlich zeigte sich alles in einem ganz neuen Licht, dachte Manette, und wahrscheinlich würde der Inspector alles, was er bisher über Ians Tod herausgefunden hatte, noch einmal überdenken müssen. Sie selbst jedenfalls tat genau das, denn wenn Ian von dem Kind ihres Vaters gewusst hatte … wenn er ihren Vater mit diesem Wissen erpresst hatte … wenn ihr Vater vor der Wahl gestanden hatte, die Wahrheit ans Licht kommen zu lassen oder weiterhin mit einer Lüge zu leben … Manette konnte sich gut vorstellen, dass das Leben ihres Vetters unter diesen Umständen in Gefahr gewesen war, und das würde der Inspector bestimmt genauso sehen.

Sie wollte nicht glauben, was Mignon über dieses Kind gesagt hatte, aber das Gesicht ihres Vaters zeigte ihr, dass es die Wahrheit war. Sie wusste nicht, was sie davon halten sollte, und auch nicht, wie lange sie brauchen würde, um das alles zu verdauen. Aber sie sah genau, was Mignon von der Sache hielt: Für sie war es ein Grund mehr, ihren Vater für alles verantwortlich zu machen, was ihr im Leben fehlte.

«Ach du je, Dad«, sagte Mignon grinsend.»Aber wenigstens gehen wir beide gemeinsam unter, nicht wahr? Das ist dir doch bestimmt ein Trost. Dem Untergang geweiht zu sein und zugleich zu sehen, dass dein Lieblingskind — das bin ich doch, oder? — mit dir untergeht. Wie König Lear und Cordelia. Die Frage ist nur: Wer spielt den Narren?«

Bernards Miene war wie versteinert.»Ich fürchte, du irrst dich, Mignon«, sagte er.»Auch wenn du mit der List einer Schlange an das viele Geld gekommen bist.«

Mignon ließ sich überhaupt nicht beirren.»Glaubst du im Ernst, die Vergebung in einer Ehe geht so weit?«

«Ich glaube, du weißt weder etwas über die Ehe noch über Vergebung.«

Manette schaute Freddie an. Er beobachtete sie mit dunklen Augen. Sie wusste, dass er um sie besorgt war, dass er sich fragte, wie sie damit zurechtkam, Zeugin der Zerstörung ihrer Familie zu werden. Sie hätte ihm gern gesagt, dass sie damit zurechtkommen würde, aber sie wusste zugleich, dass sie das nicht allein durchstehen wollte.

Mignon sagte zu ihrem Vater:»Hast du wirklich geglaubt, du könntest Bianca ewig geheim halten? Gott, was musst du für ein Ego besitzen. Und sag mal, Dad, was hast du eigentlich gedacht, wie die arme kleine Bianca damit fertigwird, wenn sie eines Tages von der anderen Familie ihres Vaters erfährt? Von seiner richtigen Familie. Aber so weit hast du wohl nicht in die Zukunft geblickt. Solange Vivienne sich an deine Regeln gehalten hat, hast du wahrscheinlich an nichts anderes gedacht als daran, wie gut sie es dir im Bett besorgt und wie oft du sie sehen kannst.«

«Vivienne«, erwiderte Bernard,»kehrt nach Neuseeland zurück. Und damit ist dieses Gespräch beendet.«

«Ich bestimme, wann dieses Gespräch beendet ist«, sagte Mignon.»Nicht du. Deine Vivienne ist jünger als wir. Sie ist sogar jünger als Nick.«

Bernard ging zur Haustür und musste dazu an Mignon vorbei. Sie versuchte, ihn am Arm zu packen, aber er riss sich los. Manette rechnete schon damit, dass ihre Schwester das ausnutzen würde, um sich vom Sofa fallen zu lassen und sich mal wieder zum Opfer väterlicher Gewalttätigkeit zu stilisieren, doch Mignon sagte lediglich:»Ich werde mit Mum reden. Ich werde ihr alles erzählen. Seit wann du es schon mit Vivienne treibst … Seit zehn Jahren, Dad? Oder noch länger? Wie alt war sie, als es angefangen hat? Vierundzwanzig, nicht wahr? Oder noch jünger? Und wie es dazu kam, dass Bianca geboren wurde. Sie wollte ein Kind, nicht wahr? Und du wolltest es auch, stimmt’s, Dad? Denn als Vivienne schwanger wurde, war Nick immer noch auf seinem Drogentrip, und du hast immer noch gehofft, dass irgendjemand dir irgendwann einen Sohn schenkt, nicht wahr? Und was glaubst du, wie Mum sich freuen wird, wenn sie das alles erfährt!«

Bernard sagte:»Richte möglichst viel Schaden an, Mignon. Es ist ja das Einzige, was du kannst.«

«Ich hasse dich«, sagte sie.

«Wie immer«, erwiderte er.

«Hast du mich gehört? Ich hasse dich!«

«Für meine Sünden«, sagte Bernard,»ich weiß. Und vielleicht habe ich das sogar verdient. Und jetzt verlasse mein Haus.«

Alle zuckten zusammen, und Manette dachte schon, ihre Schwester würde sich weigern. Mignon starrte ihren Vater an, als wartete sie auf etwas, von dem Manette wusste, dass es nicht passieren würde. Schließlich schob sie ihren Rollator zur Seite. Dann stand sie auf und schlenderte lächelnd aus dem Leben ihres Vaters hinaus.

Nachdem die Tür sich hinter ihr geschlossen hatte, nahm Bernard ein linnenes Taschentuch aus seiner Tasche. Zuerst putzte er damit sein Brille, dann wischte er sich damit das Gesicht ab. Manette sah, dass seine Hände zitterten. Für ihn stand plötzlich alles auf dem Spiel, unter anderem seine vierzigjährige Ehe.

Schließlich schaute er zuerst Manette, dann Freddie, dann wieder Manette an.»Es tut mir leid, meine Liebe. Es gibt so vieles …«

«Ich glaube, das spielt alles keine Rolle mehr. «Wie seltsam, dachte Manette. Ihr Leben lang hatte sie auf diesen Augenblick gewartet: sich einmal ihrem Vater gegenüber in einer überlegenen Position wiederzufinden. Aber auf einmal wusste sie gar nicht, warum ihr das alles so wichtig gewesen war. Sie wusste nur, dass sie nicht das empfand, was sie erwartet hatte, als ihr die Anerkennung ihres Vaters endlich zuteilwurde.

Bernard nickte.»Freddie …«

«Wenn ich gewusst hätte, was hier passieren würde«, sagte Freddie,»hätte ich wahrscheinlich versucht, es zu verhindern. Oder vielleicht auch nicht, was weiß ich? Ich bin mir gar nicht so sicher.«

«Du bist ein anständiger, ehrlicher Mann, Freddie. Bleib so. «Bernard entschuldigte sich. Manette und Freddie hörten, wie er mit schweren Schritten die Treppe hochstieg. Dann wurde irgendwo über ihnen leise eine Tür geschlossen.

«Am besten, wir gehen jetzt«, sagte Freddie.»Das heißt, wenn du dazu in der Lage bist.«

Er ging zu ihr, und sie ließ es geschehen, dass er ihr auf die Beine half, nicht, weil sie nicht allein aufstehen konnte, sondern weil es ihr guttat, seine starken Arme zu spüren.

Erst als sie im Auto saßen und auf das Tor zufuhren, kamen ihr die Tränen. Sie versuchte, lautlos zu weinen, doch Freddie bemerkte es sofort. Er hielt an und nahm sie in die Arme.

«Das ist ziemlich heftig. Seine Eltern so zu erleben. Zu wissen, dass einer den anderen kaputt gemacht hat«, sagte er.»Ich schätze, deine Mutter hat immer gewusst, dass irgendetwas nicht stimmte, aber vielleicht war es leichter für sie, es einfach zu ignorieren.«

Das Gesicht an seiner Schulter vergraben, schüttelte sie den Kopf.

«Was ist?«, sagte er.»Okay, deine Schwester ist komplett verrückt, aber das ist doch nichts Neues, oder? Allerdings frage ich mich manchmal, wie es möglich ist, dass du so … na ja, so normal bist, Manette. Das ist fast ein Wunder, wenn man sich’s recht überlegt.«

Das brachte sie nur noch mehr zum Schluchzen. Es war alles zu spät.

LAKE WINDERMERE — CUMBRIA

Lynley fand Valerie Fairclough in ihrem noch nicht fertiggestellten Fantasiegarten. Als er sich zu ihr gesellte, begann sie zu sprechen, als wären sie an ebendieser Stelle in ihrem Gespräch unterbrochen worden. Sie zeigte ihm das im Bau befindliche Schiffswrack, dessen Takelage später den größeren Kindern zum Klettern und Schaukeln dienen sollte. Sie zeigte ihm eine Kletterburg und ein kleines Karussell. Sie führte ihn zu einem Spielplatz für die ganz Kleinen, wo Pferde, Kängurus und Frösche auf schweren Federn auf ihre kleinen Reiter warteten. Es würde auch ein Fort errichtet, sagte sie, denn Jungs spielten doch so gern Soldaten, nicht wahr? Und für die Mädchen würde ein Miniaturhaus gebaut mit Möbeln und allem, was sich in einem richtigen Haus befand, denn, Emanzipation hin oder her, letztendlich blieben Mädchen doch am liebsten im Haus und spielten Mutter und Kind, nicht wahr?

Über ihre letzte Bemerkung lachte sie freudlos. Auf jeden Fall, schloss sie, würde der Fantasiegarten ein richtiges Kinderparadies werden.

Lynley fand das alles ziemlich merkwürdig. Was sie dort anlegen ließ, war viel eher geeignet für einen öffentlichen Park als für einen Privatgarten. Er fragte sich, was sie sich davon erwartete, ob sie größere Pläne hatte und Ireleth Hall der Öffentlichkeit zugänglich machen wollte, wie so viele Herrenhausbesitzer es taten. Es war, als hätte sie seit Langem geahnt, dass ihr große Veränderungen bevorstanden.

«Warum haben Sie mich nach Cumbria gebeten, Valerie?«, fragte er schließlich.

Sie schaute ihn an. Mit ihren siebenundsechzig Jahren war sie immer noch eine eindrucksvolle Frau. In ihrer Jugend musste sie eine große Schönheit gewesen sein. Schönheit und Geld: eine eindrucksvolle Kombination. Sie hatte bestimmt zahlreiche Verehrer aus ihren eigenen Kreisen gehabt, aber sie hatte sich für Bernard entschieden.

Sie sagte:»Ich habe Sie nach Cumbria kommen lassen, weil ich schon lange einen Verdacht habe.«

«Einen Verdacht?«

«Ja. Dass Bernard irgendetwas treibt. Dass er es mit Vivienne Tully ›treibt‹, hätte ich wahrscheinlich auch wissen müssen. Ich bin der Frau zweimal begegnet, danach hat er sie nie wieder mit einem Wort erwähnt. Dann fuhr er jedoch immer häufiger nach London, und die Stiftung nahm mehr und mehr von seiner Zeit in Anspruch … Es gibt immer Hinweise, Inspector. Es gibt immer Indizien, Warnsignale oder wie auch immer man das nennen mag. Aber in der Regel ist es einfacher, die Augen davor zu verschließen, als sich dem Unbekannten zu stellen, das einen erwartet, wenn eine langjährige Ehe in die Brüche geht. «Sie hob einen Plastikbecher vom Boden auf, den einer der Arbeiter weggeworfen hatte, und steckte ihn stirnrunzelnd ein. Dann schaute sie auf den See hinaus, eine Hand schützend über die Augen gelegt. Über den Bergen im Westen brauten sich Gewitterwolken zusammen.»Ich bin von Lügnern und Gaunern umgeben«, sagte sie.»Die wollte ich aus ihren Verstecken scheuchen. Und dazu brauchte ich Sie, Inspector«, fügte sie lächelnd hinzu.

«Was ist mit Ian?«

«Der arme Ian.«

«Mignon könnte ihn umgebracht haben. Sie hatte ein Motiv, ein ziemlich starkes sogar. Wie Sie selbst gesagt haben, war sie im Bootshaus. Sie könnte vorher dort gewesen sein und die Steine so gelockert haben, dass man es nicht sah. Sie könnte ihn sogar im Bootshaus erwartet haben, als er von seiner Ruderpartie zurückkam. Sie könnte ihn aus dem Boot gezerrt und ins Wasser …«

«Inspector, eine solche Art Racheaktion liegt außerhalb von Mignons Vorstellungskraft. Außerdem hätte sie keinen finanziellen Gewinn davon gehabt, und Geld ist das Einzige, was Mignon jemals interessiert hat. «Sie wandte sich Lynley wieder zu und schaute ihn an.»Ich wusste, dass die Steine locker sind, und ich habe Ian mehr als einmal darauf hingewiesen. Da er und ich die Einzigen waren, die das Bootshaus regelmäßig benutzten, habe ich mit niemand anderem darüber gesprochen. Dazu bestand keine Notwendigkeit. Ich habe ihm geraten, beim Ein- und Aussteigen aus seinem Boot sehr vorsichtig zu sein. Er sagte mir, ich solle mir keine Sorgen machen, er werde schon aufpassen, und bei nächster Gelegenheit werde er sich darum kümmern, dass der Steg repariert würde. Aber ich glaube, an dem Abend hatte er andere Sorgen. Es war ziemlich ungewöhnlich, dass er so spät noch zum Rudern ging. Ich glaube, er war einfach unachtsam. Es war ein Unfall, Inspector, das habe ich von Anfang an gewusst.«

Lynley überlegte.»Und das Filetiermesser, das wir gefunden haben?«

«Das habe ich ins Wasser geworfen. Um Sie zu beschäftigen. Für den Fall, dass Sie zu früh zu dem Schluss gelangten, dass es ein Unfall war.«

«Verstehe«, sagte er.

«Sind Sie mir jetzt sehr böse?«

«Das sollte ich sein. «Sie machten kehrt und begaben sich auf den Rückweg. Hinter einer langen Mauer erhoben sich die grünen Skulpturen des Formschnittgartens und dahinter, etwas weiter weg, das sandsteinfarbe, geschichtsträchtige Gemäuer von Ireleth Hall.

«Fand Bernard das nicht merkwürdig?«, erkundigte sich Lynley.

«Was?«

«Dass Sie eine Untersuchung der Umstände von Ians Tod wollten?«

«Vielleicht. Aber was hätte er denn sagen sollen? ›Das möchte ich nicht‹? Dann hätte ich ihn gefragt, warum nicht. Er hätte versucht, es mir zu erklären. Vielleicht hätte er argumentiert, Nicholas, Manette und Mignon zu verdächtigen sei unfair. Ich hätte ihm jedoch entgegengehalten, dass es immer besser ist, die Wahrheit über seine Kinder zu wissen, als mit einer Lüge zu leben, und das, Inspector, hätte uns viel zu dicht an die Wahrheit gebracht, die Bernard vor mir verbergen wollte. Es blieb ihm also nichts anderes übrig, als das Spiel mitzuspielen und dabei zu hoffen, dass Sie nicht auf Vivienne stoßen würden.«

«Sie kehrt ja jetzt nach Neuseeland zurück.«

Valerie sagte nichts dazu.»Wissen Sie, was merkwürdig ist?«, fragte sie und hakte sich bei ihm unter.»Nach mehr als vierzig Jahren Ehe wird ein Mann zu einer Angewohnheit. Ich muss mir überlegen, ob Bernard eine Angewohnheit ist, die ich ablegen möchte.«

«Und?«

«Vielleicht. Aber zuerst brauche ich ein bisschen Zeit zum Nachdenken. «Sie drückte seinen Arm und lächelte ihn an.»Sie sind ein sehr attraktiver Mann, Inspector. Es tut mir leid, dass Sie Ihre Frau verloren haben. Sie haben doch hoffentlich nicht vor, allein zu bleiben.«

«Darüber habe ich noch nicht so richtig nachgedacht«, gab er zu.

«Das sollten Sie aber. Jeder muss sich irgendwann entscheiden.«

WINDERMERE — CUMBRIA

Tim wartete in dem Geschäftszentrum stundenlang auf den richtigen Zeitpunkt. Nachdem er am Morgen aus Kavehs Auto gestiegen war, hatte er nicht lange bis Windermere gebraucht. Er war über eine niedrige Feldsteinmauer gesprungen, über eine unebene Weide bis zu einem Wald gerannt, hatte sich dort im Gestrüpp hinter einem umgestürzten Baum versteckt und gewartet, bis Kaveh weggefahren war. Dann war er zur Straße zurückgegangen und in die Stadt getrampt.

Einen Puppendoktor hatte er trotz intensiver Suche nicht finden können, dafür aber eine Werkstatt namens J. Bobak & Sohn, die Elektrogeräte reparierte. Zwischen Regalen hindurch, die vollgestopft waren mit kaputten Küchengeräten, ging er in den hinteren Teil der Werkstatt, wo sich der Tresen befand. J. Bobak entpuppte sich als ältere Frau mit grauen Zöpfen und hellrosa Lippenstift, der in die winzigen Fältchen um ihre Lippen herum auslief, und der Sohn als junger Mann mit Downsyndrom. Die Frau reparierte gerade etwas, das aussah wie ein Waffeleisen, während der Sohn an einem alten Röhrenradio von der Größe eines Austin Mini herumbastelte. Um die beiden herum standen alle möglichen reparaturbedürftigen Geräte: Fernseher, Mikrowellen, Mixer, Toaster und Kaffeemaschinen, die alle so aussahen, als warteten sie schon ewig darauf, dass sich jemand ihrer annahm.

Als Tim Mrs. J. Bobak Gracies Puppe gezeigt hatte, hatte die nur den Kopf geschüttelt. Da sei nichts zu machen, sagte sie, selbst wenn sie auf die Reparatur von Spielzeug spezialisiert wären, was nicht der Fall war. Er solle lieber ein bisschen sparen und seiner Schwester eine neue Puppe kaufen. Ganz in der Nähe gebe es ein Spielzeuggeschäft, das …

Es müsse diese Puppe sein, hatte er J. Bobak erklärt. Er wusste, dass es unhöflich war, jemanden zu unterbrechen, und er entschuldigte sich bei der Frau. Die Puppe, erklärte er ihr, habe sein Vater seiner kleinen Schwester geschenkt, und sein Vater sei jetzt tot. Das erregte J. Bobaks Mitleid. Sie legte die Einzelteile der Puppe auf dem Tresen nebeneinander, schürzte die pinkfarbenen Lippen und betrachtete Bella nachdenklich. Dann war ihr Sohn dazugekommen.»Hallo«, sagte er zu Tim.»Ich geh nicht mehr zur Schule, aber du müsstest doch eigentlich in der Schule sein, oder? Hast wohl geschwänzt, was?«Seine Mutter sagte:»Kümmer dich um deine Angelegenheiten, Trev, mein Schatz«, und klopfte ihm auf die Schulter. Daraufhin war er zu seinem Radio zurückgeschlurft.

«Bist du dir ganz sicher, dass du keine neue Puppe kaufen willst?«, fragte sie Tim.

Vollkommen, erwiderte Tim. Ob sie Bella reparieren könne? Es gebe in der Stadt keinen Puppendoktor. Er habe überall gesucht.

Schließlich versprach sie ihm, die Puppe so gut wie möglich zusammenzuflicken. Er sagte, er werde ihr die Adresse aufschreiben, an die sie sie schicken solle, wenn sie fertig war, dann nahm er eine Handvoll zerknitterte Geldscheine aus der Tasche, die er mit der Zeit aus der Handtasche seiner Mutter, der Brieftasche seines Vaters und einem Marmeladenglas in der Küche geklaut hatte, in dem Kaveh immer etwas Bargeld aufbewahrte für den Fall, dass ihm das Geld ausging und er keine Zeit hatte, auf dem Heimweg von der Arbeit am Geldautomaten anzuhalten.

«Was?«, fragte J. Bobak.»Du willst sie nicht selbst abholen kommen?«

Nein, antwortete Tim, bis dahin werde er nicht mehr in Cumbria sein. Er sagte, sie solle sich so viel von dem Geld nehmen, wie sie wolle, den Rest könne sie mit der Puppe zusammen an seine Schwester schicken. Dann schrieb er ihr Gracies Namen und Adresse auf: Bryan Beck Farm, Bryanbarrow bei Crosthwaite. Womöglich wohnte Gracie bis dahin längst wieder bei ihrer Mutter, dachte er, aber Kaveh würde ihr die Puppe bestimmt zukommen lassen. Das würde er tun, egal, was für ein verlogenes Leben er mit seiner Frau und seinen Eltern führte. Und Gracie würde sich freuen, Bella wiederzuhaben. Vielleicht würde sie Tim sogar verzeihen, dass er Bella kaputt gemacht hatte.

Nachdem das also erledigt war, hatte er sich von seinem restlichen Geld eine Tüte Marshmallows, einen Kitkatriegel, einen Apfel und eine Portion Nachos mit Salsa und Bohnen gekauft, sich zwischen einem verdreckten weißen Ford Transit und einer mit Styroporresten überquellenden Mülltonne versteckt und alles aufgegessen. Dann war er zu dem Geschäftszentrum gegangen und hatte dort gewartet.

Als ein Laden nach dem anderen zumachte und der Parkplatz sich zu leeren begann, duckte er sich hinter eine Mülltonne, von wo aus er den Fotoladen im Auge behalten konnte. Kurz vor Ladenschluss lief er hinüber und betrat den Laden.

Toy4You hielt gerade die Schublade mit dem Geld in den Händen, die er aus der Kasse genommen hatte, so dass er sein Namensschild nicht entfernen konnte. Tim gelang es, einen Teil davon zu lesen, ehe der Mann sich abwandte: William Con … Der Mann verschwand im Hinterzimmer und kam gleich darauf ohne Geldschublade und ohne Namensschild wieder heraus. Und er war alles andere als gutgelaunt.

«Ich hab dir gesagt, ich würde dir eine SMS schicken«, sagte er.»Was hast du hier zu suchen?«

«Es passiert heute Nacht«, antwortete Tim.

«Hör mir gut zu: Ich spiele keine Machtspielchen mit einem Vierzehnjährigen. Ich hab gesagt, ich gebe dir Bescheid, sobald ich alles vorbereitet habe.«

«Dann kümmer dich jetzt darum. Du hast gesagt, diesmal nicht allein, und das heißt, dass du jemanden kennst. Hol ihn her. Wir machen es hier. «Tim schob sich an dem Mann vorbei. Er sah, wie dessen Gesicht sich verdüsterte. Es war Tim egal, ob es so weit kam, dass Toy4You ihn schlug. Schläge konnte er wegstecken. So oder so würde von jetzt an alles seinen Lauf nehmen.

Er war schon oft im Hinterzimmer des Ladens gewesen, also konnte ihn hier nichts überraschen. Es war ein kleiner Raum, der in zwei Bereiche aufgeteilt war. Im vorderen Bereich standen ein Drucker und alles, was man zur Bearbeitung von Fotos brauchte. Der hintere Bereich diente als Fotostudio, wo man sich vor unterschiedlichen Hintergrundbildern fotografieren lassen konnte.

Diesmal war das Studio eingerichtet wie ein Salon aus dem vorigen Jahrhundert, in dem die Leute früher steif für Fotos posiert hatten, entweder stehend oder sitzend. Es gab eine Chaiselongue, zwei Säulen, auf denen jeweils ein Topf mit einem künstlichen Farn stand, mehrere Sessel, schwere Samtvorhänge, die von dicken Seilen mit Troddeln zurückgehalten wurden, und eine Kulisse, die die Szenerie so wirken ließ, als hätte jemand oben auf einer Klippe, vor einem tiefblauen Himmel voller weißer Kumuluswolken, Möbel arrangiert.

Tim hatte inzwischen kapiert, dass diese Kulisse etwas mit Kontrast zu tun hatte. Und Kontrast, das hatte er auch gelernt, bestand darin, dass zwei Dinge in einer Art Widerspruch zueinander standen. Als Toy4You ihm das bei seinem ersten Besuch erklärt hatte, musste er sofort an den Kontrast zwischen dem denken, was er einmal für sein Leben gehalten hatte — eine Mutter, ein Vater, eine Schwester, ein Haus in Grange-over-Sands —, und das, was aus seinem Leben geworden war, nämlich nichts. Als er jetzt hier stand, dachte er an den Kontrast zwischen dem Leben, das Kaveh Mehran mit seinem Vater geführt hatte, und dem scheinheiligen Leben, das Kaveh in Zukunft führen würde. Dann riss er sich von dem Gedanken los und konzentrierte sich stattdessen auf den wirklichen Kontrast, der vor ihm lag, zwischen dieser unschuldigen Kulisse und dem Inhalt der Fotos, die hier entstehen würden.

Toy4You hatte ihm das alles erklärt, als er zum ersten Mal für ihn posiert hatte. Manche Menschen, hatte er gesagt, fänden Gefallen daran, sich Fotos von nackten Jungs anzusehen. Fotos, auf denen diese Jungen auf ganz bestimmte Weise posierten. Vor allem würden diese Leute sich für ganz bestimmte Körperteile interessieren. Manchmal reiche die bloße Andeutung eines Körperteils aus, aber manchmal müsse er direkt zu sehen sein. Manche Kunden legten Wert darauf, auch das Gesicht des Jungen zu sehen, andere nicht. Ein Schmollmund komme immer gut. Ebenso ein Blick, der sagte: Du kannst mich haben, wie Toy4You sich ausdrückte. Noch besser sei es, wenn er sich einen hochholte für die Kamera. Manche Leute seien bereit, eine Menge Geld für diese Art Fotos zu bezahlen.

Tim hatte sich darauf eingelassen. Schließlich hatte er etwas von Toy4You gewollt und nicht umgekehrt. Es ging ihm nicht um Geld. Er wollte etwas anderes, und das hatte Toy4You ihm immer noch nicht gegeben. Das würde sich jetzt ändern.

Toy4You war ihm ins Hinterzimmer gefolgt.»Du musst verschwinden«, sagte er zu Tim.

«Ruf deinen Freund an und sag ihm, ich warte hier auf ihn. Sag ihm, er soll herkommen. Wir machen die Fotos jetzt gleich.«

«Das wird er nicht tun. Er lässt sich von keinem Vierzehnjährigen herumkommandieren. Er sagt uns, wenn es so weit ist, und nicht umgekehrt. Wieso kapierst du das nicht?«

«Ich hab keine Zeit! Wir machen es jetzt! Ich kann nicht länger warten. Wenn du willst, dass ich’s mit einem Typen mache, dann solltest du die Gelegenheit nutzen, denn es wird keine andere geben.«

«So, so«, sagte Toy4You.»Jetzt sieh zu, dass du wegkommst.«

«Ach? Glaubst du etwa, du findest einen anderen Idioten, der das macht?«

«Es gibt immer Jungs, die Geld brauchen.«

«Für ein Foto kriegst du sie vielleicht. Sie lassen sich nackt von dir fotografieren, vielleicht sogar mit ’nem Steifen. Aber das andere? Glaubst du, du findest einen, der das andere auch macht?«

«Glaubst du etwa, du bist der Einzige, der mich im Internet gefunden hat? Hältst du mich für einen Anfänger? Glaubst du im Ernst, du bist der Erste? Der Erste und Einzige? Es gibt Dutzende von deiner Sorte, die alles tun, was ich von ihnen verlange, weil sie das Geld brauchen. Die halten sich sogar an die Regeln. Und eine der Regeln lautet, dass keiner von euch hier aufkreuzt und Forderungen stellt, so wie du es jetzt schon zum zweiten Mal tust, du kleiner Wichser.«

Toy4You war näher gekommen und stand jetzt ganz dicht vor Tim. Er war nicht groß, und Tim hatte immer gedacht, er könnte es mit ihm aufnehmen, wenn es darauf ankäme, aber als der Mann ihn am Arm packte, spürte Tim, wie ihn der Mut verließ.

«Ich spiele keine Spielchen«, sagte Toy4You.»Und ich lasse mir von kleinen Wichsern wie dir nicht auf der Nase herumtanzen.«

«Wir hatten eine Abmachung und …«

«Scheiß drauf. Es ist vorbei.«

«Du hast es versprochen!«

«Mir reicht’s.«

Toy4You zerrte ihn in Richtung Tür. Er würde ihn tatsächlich rauswerfen, dachte Tim. Das durfte nicht passieren. Er hatte zu viel darin investiert und war schon zu weit gegangen. Er riss sich los.

«Nein!«, schrie er.»Du hast es mir versprochen, und ich will es jetzt!«Er begann, sich die Kleider vom Leib zu reißen.»Du hast es versprochen! Und wenn du dein Versprechen nicht hältst, geh ich zu den Cops, das schwör ich dir! Dann erzähl ich denen, was ich getan hab, was du von mir verlangt hast. Ich erzähl denen von den Fotos. Von deinen Freunden. Wie sie dich finden können. Es ist alles auf meinem Computer und …«

«Halt die Klappe!«Toy4You warf einen Blick in Richtung Fotostudio. Dann knallte er die Tür zum Laden zu.»Herrgott noch mal, beruhige dich!«, fauchte er Tim an.»Ist ja gut, du kriegst, was du willst. Aber nicht jetzt. Kapierst du das endlich?«

«Ich will … ich schwöre dir … Ich hetz dir die Cops auf den Hals.«

«Alles klar. Die Cops. Ich hab’s kapiert. Ich glaube dir. Hauptsache, du kommst endlich auf den Teppich. Hör zu. Ich mache einen Anruf. Jetzt. In deinem Beisein. Ich arrangiere alles für morgen. Dann machen wir die Fotos. «Er schien einen Moment zu überlegen, dann musterte er Tim.»Aber diesmal werden wir es filmen. Alles live. Diesmal gehen wir aufs Ganze. Kapiert?«

«Aber du hast gesagt …«

«Ich bin derjenige, der ein Risiko eingeht!«, schrie Toy4You.»Und du wirst dafür sorgen, dass es sich für mich lohnt. Also, ja oder nein?«

Tim wand sich. Aber er überwand seine Angst und sagte:»Ja.«

«Also schön. Zwei Typen und du. Alles klar? Du und zwei Typen und aufs Ganze. Live gefilmt. Du weißt hoffentlich, was das bedeutet? Denn bild dir ja nicht ein, du kannst mittendrin plötzlich sagen, du hast es dir anders überlegt. Das läuft nicht. Du und zwei Typen. Sag, dass du das kapiert hast.«

Tim biss sich auf die Lippe.»Ich und zwei Typen. Alles klar.«

Toy4You starrte ihn an. Tim hielt seinem Blick stand. Toy4You nickte kurz und tippte eine Telefonnummer ein.

«Und hinterher … wenn es vorbei ist«, sagte Tim.»Du hast es mir versprochen.«

«Versprochen. Wenn’s vorbei ist, stirbst du. Genauso, wie du es willst. Und für den letzten Akt darfst du die Regeln bestimmen.«

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