10. November

MILNTHORPE — CUMBRIA

Als Lynley Deborah am frühen Morgen anrief, war er klug genug, in der Pension und nicht auf ihrem Handy anzurufen. Sie nahm den Hörer ab, denn sie sagte sich, Simon oder Tommy, selbst Zed würden sie garantiert auf dem Handy anrufen. Wenn also das Telefon in ihrem Pensionszimmer klingelte, bedeutete das sicherlich, dass jemand vom Personal wissen wollte, wie lange sie noch zu bleiben gedachte.

Sie stöhnte auf, als sie Lynleys wohltönenden Bariton erkannte. Und als er sagte:»Simon ist von uns beiden ziemlich enttäuscht«, konnte sie schlecht behaupten, er hätte sich verwählt.

Es war sehr früh, und sie lag noch im Bett. Auch das war ein kluger Schachzug von Tommy: Auf die Weise konnte sie ihm nur schwer aus dem Weg gehen.

Sie setzte sich auf, zog sich die Decke bis unters Kinn und sagte:»Tja, ich bin auch von Simon enttäuscht.«

«Ich weiß. Aber er hat recht, Deborah. Und er hat von Anfang an recht gehabt.«

«Er hat doch immer recht, oder?«, erwiderte sie schnippisch.»Wovon redest du überhaupt?«

«Von Ian Cresswells Tod. Er hätte nicht sterben müssen, wenn er an dem Abend ein bisschen besser darauf geachtet hätte, wo er sein Boot vertäut.«

«Und wie sind wir zu dieser Schlussfolgerung gelangt?«Deborah rechnete damit, dass er sagen würde, Simons unerträglich logische Auswertung und Darlegung der Fakten habe ihn zu der Schlussfolgerung gelangen lassen, aber er tat nichts dergleichen. Stattdessen berichtete er ihr von einem Familienstreit bei den Faircloughs, dessen Zeuge er geworden war, und von einem darauf folgenden Gespräch, das er mit Valerie Fairclough geführt hatte.

Abschließend sagte er:»Ich bin also hierhergebeten worden, um im Auftrag von Valerie ein bisschen Licht in die Machenschaften ihres Mannes zu bringen. Man hat mich sozusagen zum Narren gehalten. Und den guten Hillier ebenfalls. Er wird nicht erfreut sein, wenn ich ihm schildere, wie wir beide benutzt worden sind.«

Deborah schlug ihre Decke zurück, schwang die Beine aus dem Bett und warf einen Blick auf die Uhr.»Und du glaubst ihr?«, fragte sie. Ein Anruf von Tommy um halb sieben in der Früh konnte nur eins bedeuten, und sie wusste genau, was das war.

«Normalerweise würde ich ihr vielleicht nicht glauben. Aber nach dem, was der Coroner festgestellt hat, und nach allem, was Simon herausgefunden hat, klingt das, was Valerie mir erzählt hat …«

«Sie könnte dich belogen haben, Tommy. Schließlich hatten alle möglichen Leute ein Motiv.«

«Ein Motiv allein reicht nicht, um jemanden vor Gericht zu bringen, Deb. So ist das nun mal. Ehrlich gesagt, gibt es jede Menge Leute, die ein Motiv für einen Mord hätten. Viele nehmen sich sogar vor, einen Menschen zu töten. Und doch gehen sie nicht einmal so weit, demjenigen auch nur ein Haar zu krümmen. Und so verhält es sich anscheinend auch hier in diesem Fall. Es wird Zeit, dass wir nach London zurückkehren.«

«Obwohl die Sache mit Alatea Fairclough noch nicht geklärt ist?«

«Deb …«

«Hör mir einfach mal zu, Tommy, okay? Alles an Alatea riecht doch nach Geheimnistuerei. Und Leute mit Geheimnissen sind zu allem Möglichen bereit, um ihre Geheimnisse zu schützen.«

«Das mag durchaus sein, aber was auch immer sie getan hat oder tut, um ihre Geheimnisse zu schützen — vorausgesetzt, sie hat überhaupt welche —, sie hat auf keinen Fall Ian Cresswell ermordet. Um das herauszufinden sind wir hierhergekommen. Wir kennen jetzt die Wahrheit. Wie gesagt, es ist Zeit, nach Hause zurückzukehren.«

Deborah stand auf. Es war kalt im Zimmer. Zitternd schaltete sie die elektrische Kaminheizung ein, die sich in der Nacht abgeschaltet hatte. Die Fensterscheibe war beschlagen, und sie wischte sie ab, um nach draußen sehen zu können. Es war immer noch dunkel. Das Licht der Straßenlaternen und der Ampel an der Ecke spiegelte sich in dem nassen Asphalt.

Sie sagte:»Tommy, diese fehlenden Seiten aus der Zeitschrift waren von Anfang ein Hinweis darauf, dass mit Alatea etwas nicht stimmt.«

«Das bestreite ich ja gar nicht«, antwortete er.»Und wir wissen ja sogar ungefähr, um was es sich bei diesem Etwas handelt. Aber das wusstest du bereits. Es geht ums Schwangerwerden. Das hat Nicholas Fairclough dir doch bei eurem ersten Gespräch gesagt, oder?«

«Ja, aber …«

«Es ist doch vollkommen nachvollziehbar, dass sie über so etwas nicht mit einer Fremden reden möchte. Redest du etwa mit jedem über das Thema?«

Das war ein Schlag unter die Gürtellinie, und das wusste er genau. Aber Deborah hatte nicht vor, sich von ihren Gefühlen den Verstand vernebeln zu lassen.»Das ergibt doch alles keinen Sinn. Wenn Lucy Keverne nur deswegen in Conception inseriert hat, um sich als Eispenderin anzubieten, wie sie behauptet, was hatte sie dann zusammen mit Alatea Fairclough an der Uni in Lancaster zu suchen? Was wollte sie mit Alatea im George Childress Centre?«

«Vielleicht hat sie Alatea dort ein Ei gespendet«, sagte Lynley.

«Das Ei muss befruchtet werden. Hätte Nicholas dann nicht auch dort sein müssen?«

«Vielleicht hat Alatea Sperma von ihm mitgenommen.«

«In einem Marmeladenglas, oder was?«, fragte Deborah spitz.»Und warum musste Lucy dann dabei sein?«

«Um das Ei zu spenden?«

«Also gut. Meinetwegen. Aber warum war Nicholas dann nicht dabei, um frisches Sperma zu spenden, flinke kleine Schwimmer, die noch richtig fit sind?«

Lynley seufzte. Deborah fragte sich, wo er sich befand. Wahrscheinlich irgendwo an einem Festnetzapparat, denn die Verbindung war perfekt. Das ließ darauf schließen, dass er noch in Ireleth Hall war.»Deb«, sagte er.»Ich weiß es nicht. Ich habe einfach keine Ahnung, wie so etwas funktioniert.«

«Das ist mir klar. Aber ich weiß, wie es funktioniert, glaub mir. Und ich kann dir sagen, wenn die ein Ei von Lucy oder mehrere mit Samen von Nicholas befruchten, dann werden die Eier auf keinen Fall sofort eingesetzt. Wenn Lucy also, wie sie behauptet, tatsächlich Eispenderin ist, und wenn sie Alatea aus irgendeinem Grund Eier spendet, und wenn die Eier mit Nicholas’ Sperma befruchtet werden …«

«Das spielt alles keine Rolle«, fiel Lynley ihr ins Wort.»Denn nichts von alldem hat irgendetwas mit Ian Cresswells Tod zu tun. Wir müssen zurück nach London.«

«Du musst zurück nach London. Ich nicht.«

«Deborah. «In seiner Stimme lag ein ungehaltener Unterton. Wie bei Simon. Wie ähnlich die beiden sich doch waren, dachte sie.

«Ja?«, fragte sie gereizt.

«Ich fahre noch heute Vormittag nach London zurück. Du weißt genau, dass ich dich deswegen angerufen habe. Ich würde gern in Milnthorpe vorbeikommen, dir zur Autovermietung folgen und dich dann mit nach London nehmen.«

«Weil du mir nicht zutraust, dass ich alleine zurückfinde?«

«Ich hätte gern ein bisschen Gesellschaft«, sagte er.»Es ist eine lange Fahrt.«

«Sie hat gesagt, sie würde sich niemals als Leihmutter zur Verfügung stellen, Tommy. Wenn sie nichts weiter vorhat, als Alatea ein paar Eier zu spenden, warum sagt sie das dann nicht einfach? Warum erklärt sie mir, dass Leihmutterschaft für sie indiskutabel ist?«

«Ich habe keine Ahnung. Und es ist vollkommen unwichtig. Es spielt keine Rolle. Ian Cresswell ist aufgrund seiner eigenen Unachtsamkeit ums Leben gekommen. Er wusste von den lockeren Steinen im Bootshaus. So sieht es aus, Deb, und nichts, was die beiden Frauen in Lancaster gemacht haben, wird daran etwas ändern. Die Frage lautet also: Warum beißt du dich so sehr daran fest? Und ich glaube, wir kennen beide die Antwort.«

Er hatte das ganz ruhig gesagt, aber es passte nicht zu Tommy. Es zeigte, wie sehr Simon ihn auf seine Seite gezogen hatte. Eigentlich war das nur verständlich, dachte Deborah. Schließlich verband die beiden eine jahrzehntelange Freundschaft. Sie hatten gemeinsam einen schrecklichen Verkehrsunfall überlebt, und sie hatten einmal dieselbe Frau geliebt, die später ermordet worden war. Diese Dinge verbanden die beiden Männer auf eine Weise miteinander, gegen die sie nie würde ankommen können. Und deswegen blieb ihr nur eine Alternative.

Sie sagte:»Also gut, Tommy, du hast gewonnen.«

«Was soll das heißen?«

«Das soll heißen, dass ich mit dir nach London fahre.«

«Deborah …«

«Nein. «Sie seufzte geräuschvoll.»Ich meine es ernst, Tommy. Ich gebe auf. Wann genau brechen wir auf?«

«Meinst du das ernst?«

«Selbstverständlich. Ich bin stur, aber nicht blöd. Wenn es keinen Zweck hat, diese Sache weiterzuverfolgen, dann hat es keinen Zweck, fertig.«

«Du siehst also ein …«

«Ja. Gegen Forensiker kann man nicht argumentieren. So ist das nun mal. «Sie ließ ihm einen Augenblick Zeit, das zu verdauen. Dann fragte sie noch einmal:»Wann brechen wir auf? Du hast mich übrigens geweckt, ich brauche also noch etwas Zeit zum Packen, Duschen, Haare Fönen und so weiter. Außerdem würde ich gern frühstücken.«

«Zehn Uhr?«, schlug er vor.»Danke, Deb.«

«Es ist einfach besser so«, sagte sie.

WINDERMERE — CUMBRIA

Zed Benjamin hatte kaum geschlafen. Seine Geschichte zerbröselte ihm zwischen den Fingern. Was so heiß angefangen hatte, dass man es nur mit Ofenhandschuhen anfassen konnte, war jetzt so interessant wie kalte Pizza. Er hatte keinen blassen Schimmer, was er mit den Informationen anfangen sollte, die er zusammengetragen hatte, denn es war nichts darunter, was für eine spannende Story taugte. In seinen Tagträumen war es Titelseitenmaterial gewesen, eine Story, in der enthüllt wurde, wie New Scotland Yard heimlich gegen Nicholas Fairclough ermittelte und herausfand, dass er seinen Vetter ermordet hatte, weil der seinem Erfolg im Weg gestanden hatte. Es war die Geschichte eines Mannes, der es geschafft hatte, seine Eltern, seine gesamte Familie und seine Freunde hinters Licht zu führen, indem er den Wohltäter gespielt hatte, während er in Wirklichkeit einen Menschen aus dem Weg geräumt hatte, um sich Zugang zum Familienvermögen zu verschaffen. Der Artikel sollte von Fotos begleitet werden — DS Cotter, Fairclough, seine Frau, das Wehrturmprojekt, Fairclough Industries und so weiter — und auf Seite 3, 4 und 5 fortgesetzt werden. Und in der Verfasserzeile prangte natürlich sein Name: Zed Benjamin.

Aber damit all das Wirklichkeit wurde, musste der Artikel natürlich von Nicholas Fairclough handeln. Der Tag, den Zed mit DS Cotter verbracht hatte, hatte ihm allerdings bewiesen, dass Scotland Yard sich nicht die Bohne für Nicholas Fairclough interessierte. Und es hatte sich herausgestellt, dass seine Nachforschungen über Faircloughs Ehefrau in eine gewaltige Sackgasse geführt hatten.

Als er die rothaarige Polizistin gefragt hatte, was sie in Erfahrung gebracht hätte, hatte sie nur gemeint:»Ich fürchte nichts.«

«Was soll das heißen, ›nichts‹?«, hatte er zu wissen verlangt.

Worauf sie ihm erzählt hatte, die Frau — Lucy Keverne sei ihr Name — und Alatea hätten an der Uni einen Spezialisten aufgesucht wegen» Frauenproblemen«. Lucy sei diejenige mit den» Frauenproblemen«, und Alatea habe sie aus Freundschaft begleitet.

«Mist«, murmelte er.»Das bringt uns keinen Schritt weiter.«

«Es bedeutet, wir müssen wieder bei null anfangen«, erwiderte sie.

Nein, dachte er. Es bedeutete, dass sie wieder bei null anfangen musste. Für ihn bedeutete es, dass er um seinen Job fürchten musste.

Er musste unbedingt mit Yaffa reden. Sie war gescheit, und wenn es jemanden gab, der ihm sagen konnte, wie er aus dem Schlamassel rauskam und doch noch eine Story daraus machen konnte, die Rodney Aronson als angemessene Entschädigung für die Investitionen der Source betrachtete, dann war sie es.

Also rief er sie an, und schon als er ihre Stimme hörte, atmete er erleichtert auf.»Guten Morgen, Darling«, sagte er.

Sie sagte:»Hallo Zed!«, und dann:»Mama Benjamin, es ist unser Schatz«, um ihn wissen zu lassen, dass seine Mutter sich in Hörweite befand.»Du fehlst mir so, mein Liebling!«Dann lachte sie über eine Bemerkung seiner Mutter und sagte zu ihm:»Mama Benjamin findet, dass es keinen Zweck hat, ihren Sohn zu bezirzen. Sie meint, er ist ein unverbesserlicher Junggeselle. Stimmt das?«

«Nicht, wenn du versuchst, ihn eines Besseren zu belehren«, antwortete er.»Ich habe noch nie eine Frau gekannt, die so zum Anbeißen verführerisch war.«

«Also wirklich, du Schlimmer!«Dann:»Nein, nein, Mama Benjamin. Ich werde auf keinen Fall wiederholen, was Ihr Sohn zu mir gesagt hat. Aber ich muss gestehen, dass mir ein bisschen schwindlig wird von seinen Worten. «Und zu Zed:»Das meine ich ernst. Mir wird ganz anders …«

«Na, das will ich doch hoffen!«

Sie lachte. Dann sagte sie in einem vollkommen anderen Ton.»So, sie ist aufs Klo gegangen. Jetzt können wir reden. Wie geht’s dir, Zed?«

Er konnte sich gar nicht so schnell von Yaffa, der angeblichen Geliebten, auf Yaffa, die Mitverschwörerin, umstellen.»Du fehlst mit, Yaf«, sagte er.»Ich wünschte, du wärst hier.«

«Ich kann dir auch von hier aus helfen.«

Einen verrückten Moment lang dachte Zed tatsächlich, sie redete von Telefonsex, und in seinem derzeitigen Zustand hätte er noch nicht einmal etwas dagegen gehabt. Doch dann fragte sie:»Hast du inzwischen die Informationen, die du für deine Story brauchst?«

Das wirkte wie eine kalte Dusche.»Ach, diese verdammte Story«, stöhnte er. Er brachte Yaffa auf den neuesten Stand. Erzählte ihr alles, was er seit ihrem letzten Gespräch unternommen hatte. Abschließend sagte er:»Es gibt also nichts und wieder nichts zu berichten. Ich könnte natürlich schreiben, dass Scotland Yard hier oben ist und gegen Nick Fairclough ermittelt wegen des mysteriösen Todes von dessen Vetter Ian Cresswell, der für die Buchhaltung von Fairclough Industries verantwortlich war — und wir wissen ja alle, was das bedeutet, nicht wahr, liebe Leser? Aber jetzt sieht es so aus, als würde Scotland Yard gar nicht gegen Nick Fairclough ermitteln, sondern gegen dessen Frau Alatea, und dass sie in dem Fall bisher ungefähr so weit gekommen sind wie ich bei Nick Fairclough. Wir befinden uns in derselben Situation, Scotland Yard und ich. Mit dem einzigen Unterschied, dass diese Polizisten frohgemut nach London zurückkehren und ihren Vorgesetzten einen Abschlussbericht präsentieren können. Aber wenn ich ohne Story zurückkomme, bin ich erledigt. «Dann fügte er hastig hinzu:»Tut mir leid, ich wollte dich nicht volljammern.«

«Zed, du kannst jammern, so viel du willst.«

«Danke, Yaf. Du bist … Na ja, du bist eben, wie du bist.«

Er hörte, dass sie lächelte, als sie antwortete:»Danke. Aber jetzt lass uns mal scharf nachdenken. Wenn eine Tür zuschlägt, öffnet sich eine andere.«

«Und das bedeutet?«

«Es bedeutet, dass du vielleicht das tun solltest, was deine Berufung ist. Du bist ein Dichter, Zed, kein Klatschreporter. Wenn du bei dieser Zeitung bleibst, wirst du deine Kreativität verlieren. Es wird Zeit, dass du anfängst, Gedichte zu schreiben.«

Zed schaubte verächtlich.»Die Poesie ist eine brotlose Kunst«, sagte er.»Sieh mich doch an: Ich bin fünfundzwanzig und wohne immer noch bei meiner Mutter. Nicht mal als Journalist schaffe ich es, meinen Lebensunterhalt zu verdienen.«

«Ach Zed, sag nicht so was. Du brauchst nur jemanden, der an dich glaubt. Ich glaube an dich.«

«Und was nützt mir das? Du gehst doch bald wieder nach Tel Aviv zurück.«

Yaffa schwieg. Plötzlich klopfte es in Zeds Leitung. Er sagte:»Yaffa? Bist du noch da?«

«Äh, ja, ich bin noch da«, antwortete sie.

Es klopfte immer noch in der Leitung. Wahrscheinlich Rodney. Es war wohl an der Zeit, dass er sich den Tatsachen stellte.»Yaffa«, sagte er.»Da ruft mich jemand an. Ich muss …«

«Ich muss ja nicht zurückgehen«, sagte sie hastig.»Mich drängt nichts. Denk drüber nach, Zed. «Dann legte sie auf.

Einen Moment lang starrte er verdattert auf sein Handy. Dann nahm er den anderen Anruf entgegen.

Es war die Polizistin. Sie sagte:»Ich fahre noch mal nach Lancaster, um ein zweites Mal mit dieser Frau zu reden. Es steckt offensichtlich mehr dahinter. Und es wird Zeit, dass wir beide ihr die Daumenschrauben anlegen.«

BARROW-IN-FURNESS UND GRANGE-OVER-SANDS — CUMBRIA

Der Letzte, den Manette bei Fairclough Industries erwartet hätte, war Kaveh Mehran. Soweit sie sich erinnerte, war er noch nie in der Firma gewesen. Ian hatte ihn jedenfalls nie offiziell herumgeführt und vorgestellt. Natürlich wussten fast alle, dass Ian seine Frau wegen dieses jungen Mannes verlassen hatte, aber das war auch alles. Und als Kaveh jetzt in ihr Büro geführt wurde, war sie erst einmal verblüfft. Doch dann sagte sie sich, dass er wahrscheinlich gekommen war, um Ians persönliche Sachen abzuholen. Irgendjemand musste sich schließlich darum kümmern.

Es stellte sich jedoch heraus, dass er aus einem anderen Grund da war. Tim war verschwunden. Er war am Tag zuvor auf dem Weg zur Schule aus Kavehs Auto gesprungen und seitdem nicht nach Hause gekommen.

«Ist denn etwas vorgefallen?«, fragte Manette.»Warum ist er aus dem Auto gesprungen? War er in der Schule? Hast du schon in der Schule nachgefragt?«

Bereits am Tag zuvor, sagte Kaveh, habe jemand von der Schule bei ihm angerufen. Tim sei nicht zum Unterricht erschienen, und in so einem Fall wurden die Erziehungsberechtigten sofort informiert, weil … na ja, weil es eben so eine Schule sei, falls sie wisse, was er meine.

Natürlich wisse sie, um was für eine Schule es sich handelte. Die ganze Familie wusste über die Margaret Fox School Bescheid, das war kein Geheimnis.

Kaveh sagte, er sei am Morgen die Strecke von Bryanbarrow bis zur Margaret Fox School abgefahren, weil er dachte, Tim würde vielleicht an irgendeiner Kreuzung stehen und trampen. Er war nach Great Urswick gefahren, um zu sehen, ob der Junge vielleicht zu Manette gelaufen war und sich irgendwo auf ihrem Grundstück versteckt hatte, ohne dass sie davon wusste. Dann war er zur Schule gefahren. Und jetzt war er in die Firma gekommen, um nach Tim zu fragen.

«Natürlich ist er nicht hier«, sagte Manette.»Was sollte er denn hier in der Firma tun?«

«Hast du ihn denn sonst wo gesehen? Hat er bei dir angerufen? Bei Niamh habe ich noch nicht nachgefragt, wie du dir denken kannst. «Kaveh wirkte verlegen, aber Manette spürte, dass er ihr etwas Wichtiges vorenthielt.

«Ich habe nichts von ihm gehört«, sagte sie.»Bei uns in Great Urswick ist er auch nicht gewesen. Warum ist er aus deinem Auto gesprungen?«

Kaveh drehte sich kurz um, als überlegte er, ob er die Tür zu ihrem Büro schließen sollte. Manette wappnete sich, denn sie fürchtete, dass jetzt etwas kam, das sie nicht hören wollte.

«Ich glaube, er hat ein Gespräch zwischen mir und George Cowley mitbekommen.«

«Mit dem Bauern? Was zum Teufel …?«

«Es ging darum, was mit dem Haus und der Farm passieren soll. Ich denke, du weißt, dass Cowley das Haus kaufen wollte.«

«Ja, Ian hat mir davon erzählt. Und?«Warum sollte Tim sich dafür interessieren? fragte sie sich im Stillen.

«Ich habe Mr. Cowley gesagt, was ich mit dem Haus vorhabe«, sagte Kaveh.»Und ich fürchte, das hat Tim gehört.«

«Was hast du denn mit dem Haus vor? Willst du etwa Schafe züchten?«, fragte Manette spöttisch. Sie konnte sich nicht beherrschen. Tim und Gracie hätten das Haus erben müssen, und nicht dieser Mann, der die Familie der beiden zerstört hatte.

«Ich werde es behalten und dort wohnen bleiben. Und … Ich habe Cowley gesagt, dass Tim und Gracie zu ihrer Mutter zurückkehren werden. Das könnte Tim gehört haben.«

Manette zog die Brauen zusammen. Natürlich war das der logische Lauf der Dinge. Haus hin oder her, Tim und Gracie konnten nach dem Tod ihres Vaters nicht bei dessen Liebhaber wohnen bleiben. Sie würden es bei ihrer Mutter nicht leicht haben, aber solange sie minderjährig waren, gab es keine Alternative. Tim würde das verstehen. Er musste sogar damit gerechnet haben. Dass diese Neuigkeit ihn also dazu gebracht haben sollte, aus Kavehs Auto zu springen und abzuhauen … Das ergab irgendwie keinen Sinn.

«Ich möchte dir ja nicht zu nahetreten, Kaveh«, sagte sie,»aber ich kann mir nicht vorstellen, dass die Kinder bei dir wohnen bleiben wollen, jetzt, wo ihr Vater tot ist. Könnte es also sein, dass noch etwas anderes passiert ist? Etwas, das du mir verschweigst?«

Kaveh sah sie an.»Ich wüsste nicht was. Kannst du mir helfen, Manette? Ich weiß nicht, was ich sonst noch …«

«Ich kümmere mich darum«, sagte sie.

Nachdem er gegangen war, rief sie in der Schule an. Um lästige Fragen zu vermeiden, gab sie sich als Niamh aus. Sie erfuhr, dass Tim schon den zweiten Tag fehlte. In der Schule machte man sich Sorgen. Dass ein Schüler nicht zum Unterricht erschien, konnte alles Mögliche bedeuten, aber auf keinen Fall etwas Gutes.

Als Nächstes rief Manette bei Niamh an. Der Anrufbeantworter sprang an, und eine Ansage mit Niamhs lasziver Stimme, sicherlich gedacht als Sirenengesang für potentielle Verehrer, forderte sie auf, eine Nachricht zu hinterlassen. Manette kam der Aufforderung nach und sagte dann:»Tim? Bist du da? Falls du das hörst, nimm bitte ab! Ich bin’s, Manette!«

Natürlich passierte nichts, aber das musste nicht unbedingt etwas bedeuten. Falls Tim sich versteckte, würde er sich niemandem zu erkennen geben, der nach ihm suchte. Ihm musste klar sein, dass sie ihn suchte. Er musste damit rechnen, dass alle ihn suchten.

Ihr blieb nichts anderes übrig, als sich tatsächlich auf die Suche nach Tim zu machen, aber nicht allein. Sie ging zu Freddies Büro, um ihn um Hilfe zu bitten. Er war nicht da. Sie ging zu Ians Büro, wo Freddie vor Ians Computer saß und versuchte, aus den Finanztransaktionen schlau zu werden. Einen Moment lang schaute sie ihm zu. Lieber Freddie, dachte sie, und ihr Herz krampfte sich kurz zusammen, als wollte es sich zum ersten Mal seit Jahren bemerkbar machen.

Schließlich sagte sie:»Hast du einen Moment Zeit?«

Er blickte auf und lächelte sie an.»Was gibt’s?«Dann verdüsterte sich seine Miene, denn er kannte sie einfach zu gut. Er fragte:»Was ist passiert?«

Sie erzählte ihm, dass Tim verschwunden war und dass sie zu Niamh fahren wollte, weil sie glaubte, dass er sich nur dort versteckt haben konnte. Aber sie wolle nicht allein fahren, sagte sie. Besser gesagt, sie wolle sich nicht allein mit Tim auseinandersetzen. Der Junge sei ziemlich durcheinander. Sie würde sich wohler fühlen, wenn Freddie sie begleitete.

Selbstverständlich erklärte sich Freddie dazu bereit. Wann hatte er ihr schon einmal etwas abgeschlagen?» In zehn Minuten am Auto«, sagte er und begann, den Computer herunterzufahren und den Schreibtisch aufzuräumen.

Als er auf dem Parkplatz erschien, saß sie bereits am Steuer. Er öffnete die Beifahrertür und fragte:»Soll ich nicht lieber fahren?«

«Möglicherweise muss einer von uns aussteigen und ihn festhalten, und es wäre mir lieber, wenn du das machst«, sagte sie.

Sie fuhren über die Küstenstraße an der Bucht entlang und schafften es in kürzester Zeit nach Grange-over-Sands. Als sie vor dem weiß getünchten Haus hielten, verabschiedete Niamh sich gerade liebevoll von demselben Mann, dem Manette bereits bei ihrem letzten Besuch begegnet war. Charlie Wilcox, der Besitzer des berühmten China-Imbiss in Milnthorpe, dachte sie und nannte Freddie den Namen. Sie brauchte ihm nicht zu erklären, welche Rolle der Mann im Leben von Tims und Gracies Mutter spielte.

Niamh hatte ihren Morgenmantel nur nachlässig zugebunden, und es war eindeutig, dass sie nichts darunter anhatte. Charlie trug noch die Ausgehkleidung vom Vortag: schwarzes Jackett, schwarze Hose, weißes Hemd und eine Krawatte, die verwegen locker an seinem Hals baumelte. Als Niamh Manettes Auto erblickte, umschlang sie Charlie mit einem Bein und rieb sich mit dem Becken an ihm, während sie ihn leidenschaftlich küsste.

Manette seufzte. Sie schaute Freddie an. Er errötete und warf ihr einen vielsagenden Blick zu. Sie zuckte nur die Achseln.

Als die Knutscherei beendet war, stiegen sie aus, während Charlie mit entrücktem Blick zu seinem Saab ging, der in der Einfahrt stand. Im Vorbeigehen nickte er ihnen völlig unbefangen zu. Er schien hier ganz selbstverständlich ein und aus zu gehen, um Niamh zu geben, was sie brauchte, dachte Manette. Wie der Klempner, der die verstopften Rohre freilegt. Mit einem verächtlichen Schnauben ging sie zum Haus.

Niamh hatte die Tür offen gelassen, so dass Manette und Freddie eintreten konnten. Sie schlossen die Tür hinter sich.

«Ich komme gleich!«, rief Niamh.»Ich ziehe mir nur schnell was Anständiges an.«

Sie gingen ins Wohnzimmer, wo noch die Spuren des gestrigen Abends zu sehen waren: eine leere Weinflasche, zwei Gläser, eine Platte mit Käse- und Schokoladenkrümeln, Sofakissen auf dem Boden und daneben Niamhs Kleider auf einem Haufen. Offenbar wusste Niamh sich zu amüsieren, dachte Manette.

«Sorry, bin noch nicht zum Aufräumen gekommen.«

Manette und Freddie drehten sich um. Sie trug einen hautengen, einteiligen, schwarzen Gymnastikanzug und darunter offenbar keinen BH, so dass sich ihre Brustwarzen deutlich abzeichneten.

Manette warf Freddie einen Blick zu. Er schaute aus dem Fenster und genoss die herrliche Aussicht auf die Bucht. Es herrschte Ebbe, und im Watt tummelten sich Tausende von Regenpfeifern und Möwen, die Freddie, der sich eigentlich gar nicht für Vögel interessierte, aufmerksam beobachtete. Seine Ohren leuchteten knallrot.

Mit einem durchtriebenen Grinsen fragte Niamh:»Was kann ich für euch tun, ihr zwei?«, und begann, das Wohnzimmer aufzuräumen: Sie schüttelte die Kissen auf und stellte sie ordentlich aufs Sofa, sammelte die leere Weinflasche ein und trug sie zusammen mit den Gläsern und der Platte in die Küche, wo die Reste eines chinesischen Essens herumstanden. Offenbar versorgte Charlie Niamh in mehrerer Hinsicht. Der arme Trottel, dachte Manette.

Manette sagte:»Ich habe dich angerufen. Hast du das Telefon nicht gehört?«

Niamh machte eine wegwerfende Handbewegung.»Ich geh nie ans Telefon, wenn Charlie hier ist. Das tätest du doch auch nicht an meiner Stelle, oder?«

«Ich würde auf jeden Fall ans Telefon gehen, wenn ich mitbekäme, dass jemand eine Nachricht auf den Anrufbeantworter spricht, die etwas mit meinem Sohn zu tun hat.«

Niamh stand an der Küchenanrichte und untersuchte die Behälter aus dem China-Imbiss, um zu sehen, ob sie noch etwas Essbares enthielten.»Tim? Was ist mit ihm?«, fragte sie.

Manette spürte, wie Freddie hinter ihr in die Küche kam, und trat zur Seite, um ihm Platz zu machen. Sie schaute ihn an. Er hatte die Arme vor der Brust verschränkt und betrachtete das Chaos in der Küche. Freddie konnte so einen Saustall überhaupt nicht ausstehen.

Manette berichtete Niamh kurz, was sie wusste.»Ist er hier bei dir aufgetaucht?«, fragte sie, als sie geendet hatte.

«Nicht dass ich wüsste«, antwortete Niamh.»Aber ich war auch nicht die ganze Zeit zu Hause. Vielleicht war er hier und ist wieder gegangen.«

«Wir würden gern nachsehen«, sagte Freddie.

«Wieso? Glaubt ihr vielleicht, ihr findet ihn unterm Bett? Glaubt ihr, ich verstecke ihn vor euch?«

«Wir dachten, er versteckt sich vielleicht vor dir«, sagte Manette.»Was ihm niemand verdenken würde. Machen wir uns doch nichts vor, Niamh. Was ein Junge aushalten kann, hat seine Grenzen, und ich glaube, Tim hat diese Grenze erreicht.«

«Was willst du damit sagen?«

«Ich glaube, das weißt du ganz genau. Was du in letzter Zeit hier treibst …«

Freddie legte ihr eine Hand auf den Arm und sagte ruhig:»Vielleicht hat Tim sich ins Haus geschlichen, als du geschlafen hast. Oder er hat sich in der Garage verkrochen. Würde es dir etwas ausmachen, wenn wir mal nachsehen? Es dauert nicht lange, und dann bist du uns los.«

Manette sah Niamh an, dass sie das Gespräch gern weitergeführt hätte, aber dann würden sie unweigerlich wieder bei demselben leidigen Thema landen, und das wollte Manette sich ersparen. Niamh war davon überzeugt, dass Ian sie verraten hatte, dass er mit seinen Sünden ihre Familie zerstört hatte, und sie war nicht bereit, Gras über die Sache wachsen zu lassen und ihren Kindern zu helfen, die schlimmen Zeiten zu überwinden.

Sie sagte:»Tu, was du nicht lassen kannst, Freddie«, und machte weiter mit dem Aufräumen.

Das Haus zu durchsuchen nahm weniger als fünf Minuten in Anspruch. Im ersten Stock gab es drei Zimmer und ein Bad. Es war nicht anzunehmen, dass Tim sich im Zimmer seiner Mutter versteckt hatte, denn dann hätte er ihren Liebesspielen lauschen müssen. Also blieben die beiden Kinderzimmer, die Manette durchsuchte, während Freddie sich die Garage vornahm.

Zurück im Wohnzimmer sahen sie sich nur an und schüttelten wortlos den Kopf. Sie mussten woanders weitersuchen. Doch vorher wollte Manette noch ein Wörtchen mit Tims Mutter wechseln. Niamh kam gerade mit einer Tasse Kaffee aus der Küche. Ihren ungebetenen Gästen hatte sie keinen angeboten. Umso besser, dachte Manette, denn sie hatte nicht vor, sich länger als unbedingt nötig hier aufzuhalten.

«Es wird Zeit, dass die Kinder wieder nach Hause kommen«, sagte sie zu Niamh.»Du hast deinen Standpunkt klargemacht, und es gibt keinen Grund, weiterhin diese Show abzuziehen.«

«Ach du je«, sagte Niamh und bückte sich, um etwas aufzuheben, das unter einen Sessel gerutscht war.»Charlie und seine Spielchen …«

Manette sah, dass es sich um ein Sexspielzeug handelte, und zwar um einen Vibrator, den Niamh grinsend auf den Couchtisch legte.»Was wolltest du mir eben sagen, Manette?«, fragte sie.

«Du weißt genau, was ich dir sagen wollte. Du hast dir die Titten vergrößern lassen, und du bestellst diesen armen Trottel von Charlie jeden Abend hierher, damit er es dir besorgt …«

«Manette«, sagte Freddie.

«Nein, lass mich«, entgegnete sie.»Es wird Zeit, dass ihr mal jemand ordentlich den Kopf wäscht. Du hast zwei Kinder, Niamh, und diesen Kindern gegenüber hast du eine Pflicht als Mutter, und das hat nichts mit Ian zu tun und damit, dass er dich wegen Kaveh verlassen hat …«

«Hör auf!«, fauchte Niamh.»Dieser Name wird in meinem Haus nicht ausgesprochen!«

«Welcher? Der des Vaters deiner Kinder oder des Mannes, dessentwegen er dich verlassen hat? Ian hat dich verletzt — akzeptiert. Das wissen wir alle. Du hattest ein Recht, dich verletzt zu fühlen, und glaub mir, auch das wissen wir alle. Aber Ian ist tot, und die Kinder brauchen dich, und wenn du das nicht begreifst, wenn du dermaßen egozentrisch bist, wenn du so verdammt bedürftig bist, wenn du dir jeden Tag aufs Neue beweisen musst, dass ein Mann — irgendein Mann — dich begehrt … Was zum Teufel ist los mit dir? Bist du Tim und Gracie jemals eine Mutter gewesen?«

«Manette«, murmelte Freddie.»Ich glaube, es reicht.«

«Wie kannst du es wagen …«Niamh war bleich vor Wut.»Ausgerechnet du! Du hast deinen Mann abgelegt für …«

«Es geht nicht um mich.«

«Ach nein? Du bist wohl perfekt, was, und über uns alle erhaben? Hast du überhaupt eine Ahnung, was ich durchgemacht habe? Was glaubst du wohl, wie es ist herauszufinden, dass der Mann, den du liebst, es seit Jahren mit Männern treibt? Auf öffentlichen Toiletten, in Parks, in Nachtclubs, wo sie sich gegenseitig befummeln und in den Arsch ficken? Wie es sich anfühlt, wenn einem diese Erkenntnis dämmert? Wenn einem klar wird, dass die Ehe, in der man lebt, nur Fassade ist, und schlimmer noch, dass der Mann, den man liebt, seit Jahren ein Doppelleben führt und einen der Gefahr aussetzt, sich alle möglichen ekelhaften Krankheiten einzufangen? Erzähl mir nicht, wie ich mein Leben zu leben habe. Erzähl mir nicht, ich sei egozentrisch, bedürftig, erbärmlich oder was dir sonst noch alles einfällt …«

Sie hatte angefangen zu weinen und wischte sich mit dem Handrücken die Tränen fort.»Macht, dass ihr rauskommt, und lasst euch nie wieder hier blicken! Wenn du es noch einmal wagst, mein Haus zu betreten, Manette, dann rufe ich die Polizei, das schwöre ich dir. Macht, dass ihr wegkommt, und lasst mich in Ruhe!«

«Und Tim? Und Gracie? Was ist mit den Kindern?«

«Sie können nicht bei mir wohnen.«

«Was meinst du damit?«, fragte Freddie.

«Sie erinnern mich an alles. Immer wieder. Das ertrage ich nicht. Ich ertrage sie nicht.«

Plötzlich fiel es Manette wie Schuppen von den Augen.»Warum in aller Welt hat er sich für dich entschieden? Warum hat er nicht begriffen?«

«Was?«, fragte Niamh.»Was

«Von Anfang an hat sich für dich alles nur um dich selbst gedreht. Und daran hat sich nichts geändert.«

«Ich weiß nicht, wovon du redest«, sagte Niamh.

«Macht nichts«, entgegnete Manette.»Ich weiß es.«

LANCASTER — LANCASHIRE

Deborah hatte ein schlechtes Gewissen gegenüber Tommy, aber nur ein bisschen. Er würde zum Crow & Eagle in Milnthorpe kommen, und sie würde nicht da sein, aber er würde nicht wissen, dass sie nach Lancaster gefahren war, denn ihr Mietwagen würde noch auf dem Parkplatz stehen. Wahrscheinlich würde er zuerst annehmen, sie sei zu einem letzten kurzen Spaziergang aufgebrochen, vielleicht zum Markt oder zum Friedhof hinter der Kirche, oder ein Stück die Straße Richtung Arnside hinunter, um die Seevögel zu beobachten. Denn es herrschte gerade Ebbe, und sämtliche Wasservögel, die hier oben überwinterten, tummelten sich dort auf der Suche nach Nahrung. Oder er würde annehmen, sie sei noch schnell zur Bank auf der anderen Straßenseite gegangen. Oder er würde denken, dass sie noch beim Frühstück saß. Aber das spielte alles keine Rolle. Sie war nicht bereit, sich einfach von ihm abholen und zu Simon zurückbringen zu lassen, und nur das zählte. Natürlich hätte sie ihm eine Nachricht hinterlassen können. Doch sie kannte Tommy. Wenn er Wind davon bekam, dass sie unterwegs nach Lancaster war, um sich noch einmal mit Lucy Keverne über Alatea Fairclough zu unterhalten, würde er hinter ihr her sein wie der Teufel hinter der armen Seele.

Sie hatte ihr Zimmer für eine weitere Nacht gebucht und dann Zed Benjamin angerufen, der sich sofort auf den Weg gemacht hatte und in Rekordzeit bei ihr eintraf. Kaum war er auf den Parkplatz eingebogen, um zu wenden, war sie hinausgelaufen und in seinen Wagen gestiegen.

Sie erzählte ihm nicht, dass sie ihn über den Grund von Alatea Faircloughs und Lucy Kevernes Besuch im George Childress Centre belogen hatte. Einem Klatschreporter schuldete sie absolut nichts, fand sie. Weder die Wahrheit noch ein Lügengespinst noch eine faule Ausrede.

Sie erklärte Zed, sie sei zu dem Schluss gekommen, dass Lucy Keverne ihr am Tag zuvor die Unwahrheit gesagt hatte. Dass sie wegen» Frauenproblemen «in Begleitung von Alatea Fairclough zur Uni in Lancaster gefahren sein sollte, ergebe einfach keinen Sinn. Schließlich handle es sich beim George Childress Centre um ein Institut für Fortpflanzungsmedizin — wozu hätte sie bei einem Termin dort die Unterstützung einer Freundin gebraucht? Wenn es um künstliche Befruchtung ging, hätte sie vielleicht ihren Ehemann oder ihren Lebensgefährten zu dem Termin mitgenommen — aber eine Freundin? Nein, es sehe ganz so aus, als sei da mehr im Busch, sagte Deborah, und sie brauche Zed Benjamins Unterstützung, um herauszufinden, um was es sich dabei handelte.

Zed, ganz Klatschreporter auf der Suche nach einer Story, dachte sofort an eine heimliche lesbische Beziehung zwischen Lucy Keverne und Alatea Fairclough. Womöglich hatte Ian Cresswell davon erfahren und damit gedroht, Nicholas Fairclough zu informieren. Dann ging er mehrere Szenarien durch, wie die beiden Frauen das Problem gelöst haben könnten, die alle damit endeten, dass sie Ian Cresswell aus dem Weg geräumt hatten. Deborah war es ganz recht, dass er auf der ganzen Fahrt über nichts anderes redete, denn solange er sich in seine Fantasiegeschichten hineinsteigerte, würde er nicht auf die Idee kommen, sich zu fragen, weshalb um alles in der Welt eine Polizistin von Scotland Yard an der Unterstützung durch einen Journalisten der Source interessiert sein könnte.

Sie sagte ihm, dass es ihrer Meinung nach nur um Geld gehen konnte. Zed müsste nur eine gewisse Summe von seiner Zeitung auf den Tisch legen, dann hätte er seine Geschichte. Davon wusste er zwar noch nichts, aber er würde es bald erfahren.

Als sie das Invalidenheim erreichten, sagte sie:»Sie warten hier.«

«Moment mal«, meinte Zed, der zweifellos fürchtete, dass er mal wieder nur den Chauffeur spielen sollte, während sie Informationen sammelte, die sie an ihn weitergeben würde oder auch nicht. Eigentlich konnte sie ihm das nicht einmal übel nehmen, dachte Deborah, denn beim letzten Mal hatte er nicht viel mehr von ihrem Ausflug gehabt als einen halbleeren Tank.

«Ich rufe Sie an, sobald ich mit ihr allein bin«, sagte sie.»Wenn wir sie gemeinsam ansprechen, dann sagt sie uns kein weiteres Wort über Alatea Fairclough, das garantiere ich Ihnen. Warum sollte sie auch? Wenn sie etwas Illegales vorhat, wird sie es nicht hinausposaunen wollen.«

Zum Glück fragte er nicht, warum zum Teufel sie dann überhaupt hergekommen waren.

Am Empfangstresen saß derselbe alte Herr wie beim letzten Mal. Er erinnerte sich an sie wegen ihres roten Haarschopfs. Er fragte, ob sie wieder Miss Lucy Keverne sprechen wolle, und hielt einen Stapel Papier hoch.»Ich lese nämlich gerade ihr Stück, und wenn das nicht groß rauskommt, dann fress ich einen Besen.«

Lucy machte ein überraschtes Gesicht, als sie die Eingangshalle betrat und sah, wer am Tresen stand. Dann änderte sich ihre Miene, und sie sah Deborah misstrauisch an.

Deborah ging auf sie zu, legte ihr eine Hand auf den Arm und sagte leise:»Hören Sie, Ms. Keverne. Scotland Yard ermittelt hier in Cumbria, und ein Journalist von der Source treibt sich ebenfalls hier in der Gegend herum. Früher oder später werden Sie Ihre Geschichte erzählen müssen — die wahre Version —, und es liegt an Ihnen, wem Sie sie erzählen.«

«Ich kann nicht …«

«Ihnen bleibt gar nichts anderes übrig. Ich habe Ihnen gestern etwas vorgemacht. Dafür bitte ich Sie um Entschuldigung. Aber ich hatte gehofft, der Sache auf den Grund gehen zu können, ohne Sie in eine unangenehme Situation zu bringen. Gegen Alatea Fairclough wird ermittelt, und die Spur führt auf direktem Weg zu Ihnen.«

«Ich habe nichts Verbotenes getan.«

«Das sagen Sie«, meinte Deborah.»Und wenn das tatsächlich stimmt …«

«Es ist die Wahrheit!«

«… dann können Sie entscheiden, wer Ihnen mehr zu bieten hat.«

Lucys Augen wurden schmal.»Wovon reden Sie?«

Deborah sah sich verstohlen um.»Darüber kann ich hier nicht mit Ihnen reden.«

«Gut, dann kommen Sie mit.«

Noch besser, dachte Deborah.

Diesmal gingen sie nicht in den Garten, sondern in ein Büro, das Lucys zu sein schien. Es gab zwei Schreibtische, von denen nur einer in Benutzung war. Lucy schloss die Tür, verschränkte die Arme vor der Brust und fragte:»Wer bietet was?«

«Boulevardzeitungen bezahlen für eine gute Geschichte, das wissen Sie doch.«

«Sind Sie Journalistin?«

«Nein, aber ich habe einen mitgebracht, und wenn Sie sich bereit erklären, mit ihm zu reden, sorge ich dafür, dass er Sie dafür bezahlt. Meine Aufgabe ist es, den Wert einer Geschichte einzuschätzen. Sie erzählen mir die Geschichte, ich verhandle mit dem Journalisten.«

«Ich kaufe Ihnen nicht ab, dass das so funktioniert«, entgegnete Lucy.»Wer sind Sie? Eine Agentin der Source? Eine Art … Nachrichten-Scout oder was?«

«Ich glaube nicht, dass es eine Rolle spielt, wer ich bin«, sagte Deborah.»Wichtiger ist, was ich zu bieten habe. Ich kann den Scotland-Yard-Detective anrufen, der hier in Cumbria in einem Mordfall ermittelt, oder ich kann einen Journalisten anrufen, der hier reinkommt, sich Ihre Geschichte anhört, Sie dafür bezahlt und wieder verschwindet.«

«Wie bitte? Sagten Sie gerade Mord

«Das ist im Moment nicht wichtig. Es geht um das, was sich zwischen Ihnen und Alatea Fairclough abspielt. Es ist Ihre Entscheidung. Was wäre Ihnen lieber? Ein Besuch von einem Detective von Scotland Yard oder von einem Journalisten?«

Lucy Keverne dachte darüber nach. Auf dem Korridor wurde ein Teewagen vorbeigeschoben. Schließlich sagte sie:»Wie viel?«

Deborah atmete erleichtert auf.»Ich schätze, das hängt davon ab, wie sensationell Ihre Geschichte ist«, antwortete sie.

Lucy schaute aus dem Fenster in den Garten, wo sie ihr erstes Gespräch geführt hatten. Ein Windstoß fuhr in einen japanischen Ahorn und riss einige der letzten Blätter ab, die sich immer noch störrisch an die Zweige klammerten. Deborah wartete. Es war ihre letzte Möglichkeit, die Wahrheit zu erfahren. Wenn Lucy Keverne sich nicht darauf einließ, blieb ihr nichts anderes übrig, als unverrichteter Dinge nach London zurückzukehren.

Schließlich sagte Lucy:»Es gibt keine Geschichte. Jedenfalls keine, die die Source interessieren könnte. Es ist nichts weiter als eine Vereinbarung zwischen zwei Frauen. Glauben Sie mir, ich würde mehr daraus machen, wenn ich wüsste wie, denn ich könnte das Geld gut gebrauchen. Es ist nicht gerade mein Traum, hier zu arbeiten. Viel lieber würde ich zu Hause sitzen, in Ruhe meine Stücke schreiben und sie in London auf die Bühne bringen lassen. Aber daraus wird so bald nichts werden, und deswegen arbeite ich vormittags hier im Invalidenheim, schreibe nachmittags und verdiene mir hin und wieder ein bisschen dazu, indem ich Eier spende. Deshalb auch die Anzeige in der Conception, aber das habe ich Ihnen ja bereits erzählt.«

«Sie haben mir außerdem erzählt, Alatea Fairclough hätte Sie angesprochen, weil sie eine Leihmutter sucht, und Sie hätten abgelehnt.«

«Okay, das war gelogen. Ich habe zugesagt.«

«Und warum haben Sie das gestern abgestritten?«

«Weil es eine Privatangelegenheit ist.«

«Und das Geld?«

«Was ist damit?«

«Soweit ich weiß«, sagte Deborah,»bezahlt man Sie dafür, dass Sie Ihre Eier spenden. Aber wenn Sie sich als Leihmutter zur Verfügung stellen, werden Sie nicht dafür bezahlt. Sie bekommen nur Ihre Kosten erstattet. Ist es nicht so?«

Lucy schwieg. In die Stille hinein klingelte Deborahs Handy. Ungehalten nahm sie es aus der Tasche und nahm das Gespräch entgegen.

«Halten Sie mich für einen verdammten Idioten?«, fragte Zed.»Was zum Teufel geht da drinnen vor?«

«Ich rufe Sie gleich zurück.«

«Kommt gar nicht in Frage. Ich komme rein.«

«Das ist keine gute Idee.«

«Ach nein? Also, es ist die beste, die mir einfällt. Und wenn ich komme, hoffe ich, dass Sie eine Geschichte für mich haben, und zwar eine, die mit dem Mord an Cresswell zu tun hat.«

«Das kann ich Ihnen nicht versprechen …«Aber er hatte bereits aufgelegt. Deborah sagte zu Lucy:»Der Journalist kommt. Ich kann jetzt nichts mehr tun, es sei denn, Sie wollen mir noch etwas sagen. Etwas, das ich benutzen kann, um Ihnen den Mann vom Hals zu halten. Ich nehme an, es geht um Geld. Alatea ist bereit, Ihnen mehr zu geben als das, was Sie auslegen, nicht wahr? Was illegal wäre. Und es würde auch erklären, warum Sie mich gestern in die Irre geführt haben.«

«Sehen Sie mich an!«, sagte Lucy aufgebracht.»Sehen Sie sich diesen Job hier an! Ich brauche Zeit, um mein Stück fertig zu schreiben, zu proben, zu überarbeiten, aber ich habe weder Zeit noch Geld, und die Vereinbarung mit Alatea hätte mir beides garantiert. Wenn Sie wollen, können Sie daraus gern eine Geschichte machen, doch ich glaube kaum, dass sie die Verkaufszahlen irgendeiner Boulevardzeitung steigert! Sie etwa?«

Sie hatte natürlich vollkommen recht. Fairclough-Erbe sucht illegal Leihmutter würde niemanden hinter dem Ofen hervorlocken. Die Geschichte wäre erst interessant, wenn es Fotos von einem lächelnden Baby gäbe und eine Schlagzeile in typischer Source-Manier: Fairclough-Baby für 50 000 Pfund von Leihmutter an Eltern verkauft. Ein geplatzter Deal wäre keine Story, da sich nicht beweisen ließ, dass überhaupt Verhandlungen stattgefunden hatten. Selbst wenn Lucy aussagte, würde Alatea alles abstreiten. Ohne ein Kind als lebenden Beweis gab es keine Geschichte.

Andererseits wusste Deborah jetzt, warum Alatea Fairclough ihretwegen in Panik geraten war. Die einzige Frage war, ob Ian Cresswell irgendwie von der Sache erfahren und Alatea auf die einzige Weise unter Druck gesetzt hatte, die ihm zur Verfügung stand: übers Geld. Wenn Alatea vorhatte, Lucy für die Leihmutterschaft zu bezahlen, dann hätte das Geld von Ian Cresswell kommen müssen. Er hatte die Kontrolle über das Fairclough-Vermögen gehabt. Wenn sie nicht selbst über eine Menge Geld verfügte, hätte Alatea sich auf irgendeine Vereinbarung mit Ian einlassen müssen.

In dem Fall wäre es natürlich interessant zu wissen, welche Rolle Nicholas Fairclough bei dieser ganzen Sache spielte. Er hätte eingeweiht werden und das Geld letztlich auftreiben müssen.

«Was ist mit Nicholas, Alateas Ehemann?«, fragte Deborah Lucy.

«Er hat nur …«

Weiter kam Lucy nicht, denn in dem Moment stürmte Zed Benjamin ins Zimmer.»Mir reicht’s mit Ihren Scotland-Yard-Tricks! Entweder wir machen das zusammen oder gar nicht!«

«Scotland Yard?«, rief Lucy entsetzt.

«Für wen zum Teufel haben Sie sie denn gehalten?«, fragte Zed.»Für Dornröschen?«

ARNSIDE — CUMBRIA

Alatea hatte Nicholas überredet, zur Arbeit zu fahren. Er wäre lieber zu Hause geblieben, und es konnte gut sein, dass er wieder zurückkam. Aber im Moment klammerte sie sich an alles, was sich irgendwie wie Normalität anfühlte, und dazu gehörte, dass Nicky zur Arbeit und anschließend zu seinem Wehrturmprojekt fuhr.

Er hatte schon wieder die ganze Nacht kein Auge zugetan, vor lauter Zerknirschung darüber, dass er Raul Montenegro wieder auf ihre Spur gebracht hatte.

Nicky wusste, dass sie und Raul ein Paar gewesen waren, in dem Punkt hatte sie ihm nie etwas vorgemacht. Und er wusste, dass sie auf der Flucht vor Montenegro war. In einer Welt, in der zahlreiche Frauen sich vor Stalkern in Sicherheit bringen mussten, hatte Nicky bereitwillig geglaubt, dass sie vor diesem Millionär aus Mexiko beschützt werden musste, vor diesem mächtigen Mann, der entschlossen war, sich zu holen, was sie ihm versprochen hatte, dem Mann, mit dem sie fünf Jahre zusammengelebt hatte.

Aber Nicky hatte nie alles über sie und über Raul erfahren und darüber, was sie einander bedeutet hatten. Der Einzige, der die Geschichte vom Anfang bis zum Ende kannte, war Raul selbst. Er hatte sein Leben geändert, um mit ihr zusammen zu sein. Er hatte sie in eine Welt eingeführt, die sie ohne ihn nie kennengelernt hätte. Aber es gab Dinge, die Raul ihr verschwiegen hatte, ebenso wie es Dinge gab, die sie ihm verschwiegen hatte. Das Ergebnis war ein Alptraum gewesen, dem sie nur durch Flucht hatte entkommen können.

Während Alatea in der Küche auf und ab gegangen war und sich den Kopf zerbrochen hatte, welche Möglichkeiten ihr blieben, hatte Lucy Keverne angerufen. Die rothaarige Frau sei wieder bei ihr aufgetaucht, sagte sie, und diesmal sei sie nicht allein gewesen.»Ich musste ihr die Wahrheit sagen, Alatea. Zumindest weitgehend. Sie hat mir keine andere Wahl gelassen.«

«Was soll das heißen? Was haben Sie ihr gesagt?«

«Dass Sie keine Kinder bekommen können. Ich habe sie allerdings in dem Glauben gelassen, Ihr Mann wüsste Bescheid.«

«Sie haben ihr nichts von dem Geld gesagt, oder? Wie viel ich Ihnen angeboten habe … Und alles andere … Sie haben ihr doch nicht alles gesagt?«

«Das mit dem Geld hat sie sich allein zusammengereimt. Ich hatte ihr gestern erzählt, dass ich mich gegen Bezahlung als Eispenderin zur Verfügung stelle, da hat sie einfach zwei und zwei zusammengezählt und geschlussfolgert, dass ich das mit der Leihmutterschaft auch nicht kostenlos machen würde. Das konnte ich ja schlecht abstreiten.«

«Haben Sie ihr denn auch erzählt …«

«Mehr weiß sie nicht. Ich habe Ihnen gesagt, dass ich Geld brauche. Schluss. Aus.«

«Aber nicht …«

«Ich habe ihr nicht erzählt, was wir geplant haben, keine Sorge. Dass Sie die Schwangerschaft vortäuschen wollen. Sie weiß nichts von unserer ›Freundschaft‹, dem gemeinsamen Urlaub, der ›Frühgeburt‹. Das ist und bleibt unser Geheimnis. Von alldem weiß sie nichts.«

«Aber warum haben Sie …«

«Alatea, sie hat mir keine Wahl gelassen. Ich stand vor der Wahl, ihr alles zu erzählen oder verhaftet zu werden, und wenn ich im Gefängnis landen würde, könnte ich Ihnen wohl kaum helfen, wenn erst einmal Gras über diese Geschichte gewachsen ist … Falls das überhaupt noch möglich ist.«

«Aber wenn sie Bescheid weiß und irgendwann ein Kind geboren wird …«Alatea setzte sich ans Fenster. Das heitere Gelb des Wohnzimmers, in dem sie sich befand, konnte dem trüben, grauen Himmel nichts entgegensetzen.

«Das ist noch nicht alles«, sagte Lucy.

«Wie bitte?«, fragte Alatea.»Wie meinen Sie das?«

«In ihrer Begleitung war ein Journalist. Sie hat mich vor die Wahl gestellt, ihm meine Geschichte zu erzählen oder mich mit Scotland Yard …«

«O mein Gott. «Alatea ließ sich in einen Sessel sinken und fasste sich an die Stirn.

«… aber ich frage mich, warum Scotland Yard sich für Sie interessiert. Warum will ein Reporter von der Source einen Artikel über Sie schreiben? Ich frage Sie das, weil Sie mir garantiert haben, dass niemand jemals von unserer Vereinbarung erfahren würde …«

«Es geht nicht um mich. Und es geht auch nicht um Sie«, sagte Alatea.»Es geht um Nicky. Weil sein Vetter ertrunken ist.«

«Welcher Vetter? Was hat das mit Ihnen zu tun?«

«Nichts. Es hat weder etwas mit mir noch mit Nicky zu tun. Aber es ist der Grund, warum Scotland Yard hier in Cumbria ermittelt. Der Journalist war hier, weil er einen Artikel über Nicky und das Wehrturmprojekt schreiben wollte, aber das ist schon Wochen her, und ich habe keine Ahnung, warum er wieder aufgetaucht ist.«

«Das Ganze entwickelt sich allmählich zu einem Riesenschlamassel«, sagte Lucy.»Ich glaube allerdings nicht, dass der Journalist einen Artikel bringen wird. Worüber sollte er denn schon schreiben? Dass wir beide uns über Leihmutterschaft ausgetauscht haben? Aber die Frau … Sie hat behauptet, sie könnte den Detective von Scotland Yard jederzeit auf den Plan bringen, während der Journalist behauptet hat, sie sei von Scotland Yard, was sie wiederum abgestritten hat. Mehr wollte sie nicht sagen … Aber, um Himmels willen, Alatea, wer ist diese Frau? Was will sie von mir? Was will sie von Ihnen?«

«Sie sammelt Informationen«, sagte Alatea.»Sie will wissen, wer ich bin.«

«Was meinen Sie damit, wer Sie sind?«

Das Werkzeug eines anderen, dachte Alatea, nie die, die ich sein möchte.

VICTORIA — LONDON

Barbara Havers verbrachte auf Geheiß von Isabelle Ardery den ganzen Vormittag mit einem Angestellten des Crown Prosecution Service CPS, einer Abteilung der Staatsanwaltschaft, um sämtliche Zeugenaussagen im Fall des unaufgeklärten Todes einer jungen Frau abzugleichen, die im vergangenen Sommer auf einem Friedhof in Nordlondon ermordet worden war. Sie verabscheute diese Art von Arbeit, aber sie hatte keine Miene verzogen, als Ardery ihr die Aufgabe übertragen hatte. Sie musste sich mit ihrer Chefin gut stellen, und zwar nicht nur, was ihre äußere Erscheinung betraf, die im Übrigen heute tadellos war. Sie trug ihren ausgestellten Rock, eine marineblaue Strumpfhose, blankpolierte Pumps mit Blockabsatz, einen neuen Pullover aus feiner Wolle und ein kariertes Jackett. Dazu hatte sie das einzige Schmuckstück angelegt, das sie besaß, eine filigrane Halskette, die sie im vergangenen Sommer bei Accessorize auf der Oxford Street erstanden hatte.

Hadiyyah war total begeistert gewesen, als sie sie am Morgen gesehen hatte, woraus Barbara schloss, dass sie in puncto Äußeres allmählich Fortschritte machte. Das Mädchen hatte an ihre Tür geklopft, als sie sich gerade den Rest des Pop-Tart in den Mund stopfte, den sie sich zum Frühstück getoastet hatte, und heroisch die Zigarette übersehen, die qualmend im Aschenbecher lag.

Barbara fiel auf, dass Hadiyyah ihre Schuluniform nicht anhatte.»Hast du heute schulfrei?«

Hadiyyah hatte die Hände auf einen der Stühle gestützt, die an Barbaras winzigem Küchentisch standen, und trat von einem Fuß auf den anderen.»Mummy und ich …«, sagte sie.»Es ist was Besonderes, Barbara. Es ist eine Überraschung für Dad, deswegen konnte ich heute nicht zur Schule gehen. Mummy hat angerufen und gesagt, ich bin krank, und das ist nur eine kleine Notlüge, weil es ja eine Überraschung sein soll!«Sie strahlte Barbara an.»Wart’s nur ab!«

«Ich? Wieso?«

«Mummy sagt, ich darf’s dir verraten, aber du musst mir versprechen, dass du Dad kein Wort davon erzählst. Okay? Mummy sagt, die beiden haben sich gestritten, und jetzt will sie alles wiedergutmachen mit einer Überraschung. Und das machen wir heute.«

«Wollt ihr ihn bei der Arbeit besuchen?«

«Nein, nein! Wenn er nach Hause kommt.«

«Ein tolles Abendessen also.«

«Nein, was viel Besseres.«

Für Barbara gab es eigentlich nichts Besseres als ein besonderes Abendessen, vor allem, wenn sie es nicht selbst zubereiten musste.»Was denn?«, fragte sie.»Verrätst du’s mir? Ich schweige wie ein Grab.«

«Versprochen?«

«Hoch und heilig.«

Hadiyyah hüpfte auf und ab und drehte sich vor Aufregung einmal um sich selbst.»Meine Geschwister! Mein Bruder und meine Schwester! Wusstest du, dass ich einen Bruder und eine Schwester habe?«

Barbara hatte große Mühe, sich ihre Entgeisterung nicht anmerken zu lassen.»Du hast einen Bruder und eine Schwester? Wirklich?«

«Ja!«, rief Hadiyyah.»Dad war nämlich schon mal verheiratet, weißt du, und das wollte er mir nicht erzählen, weil er findet, dass ich für so was noch zu jung bin. Aber Mummy hat’s mir erzählt, und sie hat mir erklärt, dass das gar nichts Schlimmes ist, wenn man schon mal verheiratet war, und ich hab gesagt, ich finde das auch gar nicht schlimm, weil, in meiner Schule sind ’ne Menge Kinder, deren Eltern nicht mehr verheiratet sind. Da hat Mummy mir erzählt, dass dasselbe mit Dad passiert ist, nur dass seine Familie so sauer auf ihn war, dass seine Kinder ihn nicht mehr besuchen durften, und das ist doch nicht in Ordnung, oder?«

«Hm, da hast du recht«, sagte Barbara. Allerdings hatte sie ein ganz ungutes Gefühl, wohin diese Sache führen konnte. Wie zum Teufel hatte Angelina Azhars Kinder überhaupt gefunden? fragte sie sich.

«Und heute …«Hadiyyah machte eine theatralische Pause.

«Ja?«

«Heute holen Mummy und ich die beiden ab!«, rief Hadiyyah.»Das wird eine Überraschung, stell dir das mal vor! Du glaubst gar nicht, wie aufregend das alles ist! Und Dad wird seine Kinder endlich wiedersehen. Mummy weiß nicht mal, wie alt die Kinder sind. Aber sie glaubt, dass sie zwölf und vierzehn sind. Stell dir das bloß mal vor, Barbara: Ich hab einen großen Bruder und eine große Schwester! Glaubst du, die werden mich mögen? Ich hoffe es, denn ich weiß jetzt schon, dass ich sie mag!«

Barbara fehlten die Worte.»Tja, also …«, brachte sie mühsam heraus, während sie krampfhaft überlegte, was zum Teufel sie tun sollte. Ihre Freundschaft mit Azhar verlangte, dass sie ihn vor dem Desaster warnte, das ihm bevorstand: dass Angelina Upman vorhatte, ihn vor vollendete Tatsachen zu stellen, und ihm weder Zeit noch Gelegenheit bleiben würde, das zu verhindern. Aber reichte ihre Freundschaft tatsächlich so weit? fragte sie sich. Und wenn sie es ihm steckte, was würde er dann tun, und welche Auswirkungen würde das auf Hadiyyah haben, um die es hier in erster Linie ging?

Schlussendlich hatte Barbara nichts unternommen, weil ihr einfach nichts eingefallen war, was sie hätte tun können, ohne das Leben der Beteiligten auf den Kopf zu stellen. Mit Angelina zu reden bedeutete, Azhar zu verraten. Mit Azhar zu reden bedeutete, Angelina zu verraten. Und so hatte sie es vorgezogen, sich aus der Sache ganz herauszuhalten und der Natur — oder was auch immer es sein mochte — ihren Lauf zu lassen. Sie würde zur Stelle sein, um die Scherben aufzulesen, aber vielleicht gab es ja auch gar keine Scherben. Schließlich hatte Hadiyyah ein Recht darauf, ihre Geschwister kennenzulernen. Vielleicht endete das Ganze in Friede, Freude, Eierkuchen. Vielleicht.

Und so war Barbara wie gewohnt zur Arbeit gefahren. Sie hatte dafür gesorgt, dass Superintendent Ardery ihre Aufmachung zu Gesicht bekam, allerdings erst, nachdem sie sich der Anerkennung von Dorothea Harriman vergewissert hatte. Harriman war völlig aus dem Häuschen geraten —»Detective Sergeant Havers … Ihre Frisur! … Ihr Make-up! … Einfach umwerfend!«—, aber als sie angefangen hatte, von ihrem neuen Mineralpuder zu schwärmen, hatte Barbara sich schnell wieder verzogen. Sie war bei Superintendent Ardery vorstellig geworden, die ihr die Unterlagen für die Staatsanwaltschaft in die Hand gedrückt hatte, während sie jemanden am Telefon anfuhr:»Was ist das überhaupt für ein Schlamassel? Kriegen Sie da drüben eigentlich jemals was geregelt?«, woraus Barbara schloss, dass sie jemanden vom SO7 an der Strippe hatte und dass es irgendein Problem mit der Kriminaltechnik gab. Sie selbst machte sich an die Arbeit mit dem CPS-Mitarbeiter, und es dauerte eine ganze Weile, bis sie sich wieder um die Recherchen für Lynley kümmern konnte.

Das ging leichter als bisher, da Ardery sich offenbar um den» Schlamassel «kümmern musste, und falls es sich tatsächlich um ein Problem bei der Kriminaltechnik handelte, würde die Chefin den Rest des Tages auf der anderen Seite der Themse verbringen. Kaum hatte Barbara erfahren, dass die Ardery das Gebäude verlassen hatte, entschuldigte sie sich bei dem CPS-Mitarbeiter, der nichts dagegen hatte, eine ausgedehnte Mittagspause einzulegen, schnappte sich ihr Spanisch-Wörterbuch und flitzte nach oben in die Bibliothek.

Nachdem sie bereits genug Informationen über die beiden ältesten Söhne des Bürgermeisters — den Priester Carlos und den Zahnarzt Miguel — gesammelt und anhand eines Fotos von Miguels Frau festgestellt hatte, dass keine Schönheitsoperation der Welt sie in Alatea Fairclough hätte verwandeln können, wollte sie diesmal versuchen, etwas über Ángel, Santiago und Diego herauszufinden. Wenn keiner der Brüder in irgendeiner Verbindung zu Alatea stand, würde sie sich die restlichen Familienmitglieder vornehmen müssen, und das, so hatte ihr die Studentin aus Barcelona versichert, konnten gut und gern Hunderte sein.

Über Ángel, der, anders als sein Name vermuten ließ, offenbar das schwarze Schaf der Familie war, gab es kaum Informationen. Mit Hilfe ihres Wörterbuchs reimte sie sich in mühseliger Kleinarbeit zusammen, dass er einen Autounfall verursacht hatte, bei dem seine Beifahrerin, ein fünfzehnjähriges Mädchen, so schwer verletzt worden war, dass sie seitdem behindert war.

Barbara verfolgte die Spur — immerhin war die Fünfzehnjährige, abgesehen von Miguels hässlicher Ehefrau, das einzige weibliche Wesen, auf das sie bei ihren Nachforschungen bisher gestoßen war —, doch sie führte in eine Sackgasse. Von der jungen Frau war kein Foto aufzutreiben. Und das einzige Foto von Ángel, das sie fand, zeigte ihn als Neunzehnjährigen, aber das spielte auch keine Rolle, denn nach dem Unfall verschwand er aus dem Blickfeld der Öffentlichkeit. Wäre er Nordamerikaner gewesen, hätte er entweder eine Therapie gemacht oder Jesus entdeckt, aber der Bursche war Südamerikaner, und seit dem Unfall hatte sich keiner mehr für ihn interessiert. Ein zu kleiner Fisch wahrscheinlich.

Barbara knöpfte sich Santiago vor. Sie fand einen Artikel über die Erstkommunion des Jungen. Zumindest vermutete sie, dass es sich um die Erstkommunion handelte, denn auf dem Foto, das den Artikel begleitete, stand er aufgereiht unter lauter kleinen Jungs in schwarzen Anzügen und kleinen Mädchen in Brautkleidern, und entweder hatte die Mun-Sekte beschlossen, ihre Mitglieder bereits im Kindesalter zu verheiraten, oder diese Kinder waren als Katholiken in Argentinien gerade zu würdigen Empfängern des heiligen Sakraments aufgestiegen. Da sie es jedoch ziemlich merkwürdig fand, dass über eine Erstkommunion so ausführlich berichtet wurde, versuchte Barbara mit Hilfe ihres Wörterbuchs, ein bisschen mehr zu verstehen. Was ihr schließlich gelang: Die Kirche war abgebrannt, und man hatte die Erstkommunionsfeier im Stadtpark abhalten müssen. Es konnte aber auch sein, dass die Kirche von einer Flut oder einem Erdbeben zerstört oder Termiten zum Opfer gefallen war, so genau konnte Barbara das bei ihren mangelnden Spanischkenntnissen nicht eruieren, und sie fluchte vor sich hin über die Mühe, die es sie kostete, sich Wort für Wort durch all diese Texte zu arbeiten.

Mit zusammengekniffenen Augen betrachtete sie das Foto von den Kommunionkindern und sah sich die Mädchen an. Dann nahm sie das Foto von Alatea, das sie im Internet gefunden hatte, und verglich es mit jedem Gesicht auf dem Gruppenbild. Die Namen der Kinder waren angegeben, und es waren nur fünfzehn, und natürlich hätte sie jeden einzelnen Namen googeln können, doch das hätte Stunden gedauert, und so viel Zeit hatte sie nicht. Wenn Superintendent Ardery zurückkam und Barbara nicht gemeinsam mit dem CPS-Mitarbeiter über den Zeugenaussagen sitzen sah, dann gute Nacht.

Sie überlegte, ob sie die wahrscheinlichste Kandidatin unter den Kommunionkindern aussuchen und dann das Age-Progression-Verfahren anwenden sollte. Aber dazu reichte weder ihre Zeit noch ihre Befugnis. Also recherchierte sie weiter über Santiago, denn wenn sich herausstellte, dass da nichts mehr zu holen war, würde ihr nichts anderes übrig bleiben, als sich Diego vorzunehmen.

Sie fand ein Foto von dem jugendlichen Santiago in der Rolle des Othello ohne die übliche schwarze Schminke in dem gleichnamigen Shakespeare-Stück. Und noch ein letztes Foto von ihm als Schüler zusammen mit seiner Fußballmannschaft und einem riesigen Pokal. Und damit verlor sich seine Spur ebenso wie die von Ángel. Es war, als verlören die Medien vollkommen das Interesse an den jungen Männern, wenn sie nicht bis Anfang zwanzig irgendeinen vorzeigbaren Erfolg aufweisen konnten — wie in diesem Fall der Priesterseminarist und der angehende Zahnarzt. Oder sie waren für ihren Vater politisch nicht mehr nützlich. Denn der Vater war schließlich Politiker mit dem typischen Gehabe eines Politikers, der seine perfekte Familie im Wahljahr der Öffentlichkeit präsentierte.

Barbara dachte über das Thema nach: Familie, Politik, Wählergunst. Sie dachte an Ángel. Sie dachte an Santiago. Sie betrachtete noch einmal alle Fotos, die sie gefunden hatte, bis hin zu dem Foto von den Kommunionkindern im Stadtpark. Dann nahm sie noch einmal das Foto von Alatea Fairclough in die Hand.

«Was ist passiert?«, flüsterte sie.»Erzähl mir deine Geheimnisse, Kleine.«

Aber nichts geschah. Sie erhielt keine Antwort.

Fluchend griff sie nach der Maus, um den Computer auszuschalten. Mit Diego, dem jüngsten Bruder, würde sie sich später befassen. Sie warf einen letzten Blick auf das Foto mit der Fußballmannschaft und auf das von Othello. Dann betrachtete sie noch einmal das Foto von Alatea Fairclough. Dann das von Alatea an Montenegros Arm. Dann noch einmal das von den Kommunionkindern. Dann ging sie die Fotos von Alatea als Dessous-Model durch. Sie ging immer weiter zurück, Jahr um Jahr, und schließlich begriff sie.

Den Blick auf den Bildschirm geheftet, nahm sie ihr Handy und rief Lynley an.

BRYANBARROW — CUMBRIA

«Kann man sie zwingen?«, wollte Manette von Freddie wissen, der den Wagen mit hohem Tempo durch das Lyth Valley lenkte. Sie hatten gerade die Kurve ins südwestliche Ende des Tals genommen, wo sich hinter den staubigen Begrenzungsmauern auf beiden Seiten der Straße grüne Wiesen erstreckten. Die Gipfel der Berge am Horizont waren von Wolken umhüllt. Dort oben war es neblig. Bald würde der Nebel ins Tal sinken und im Lauf des Tages immer dichter werden.

Manette hatte die ganze Zeit über ihr Gespräch mit Niamh nachgedacht. Wie war es möglich, fragte sie sich, dass sie diese Frau seit Jahren kannte, ohne sie wirklich zu kennen?

Freddie schien dagegen mit seinen Gedanken ganz woanders gewesen zu sein, denn er schaute sie kurz an und fragte:»Wen? Wozu?«

«Niamh, Freddie. Kann man sie zwingen, die Kinder zurückzunehmen?«

Freddie machte ein skeptisches Gesicht.»Mit Familienrecht kenne ich mich nicht aus. Aber ganz davon abgesehen — was wäre das denn für eine Lösung? Ein Gericht einzuschalten?«

«Ach Gott, ich weiß es auch nicht. Wir sollten uns zumindest überlegen, welche Möglichkeiten bestehen. Denn die Vorstellung, dass sie Tim und Gracie einfach ihrem Schicksal überlassen könnte … vor allem die kleine Gracie … Meine Güte, Freddie, will sie die Kinder etwa in ein Heim stecken? Kann sie das überhaupt? Ich meine, könnte sie jemand zwingen …?«

«Anwälte, Richter, Sozialarbeiter …«, sagte Freddie.»Was glaubst du, welchen Eindruck das auf die Kinder machen würde? Tim ist doch so schon völlig verstört, so sehr, dass man ihn auf die Margaret Fox School geschickt hat. Ich fürchte, wenn er erleben müsste, dass ein Gericht seine Mutter zwingt, ihn wieder zu sich zu nehmen, würde er endgültig durchdrehen.«

«Und meine Eltern? Vielleicht könnten die die Kinder aufnehmen?«, sagte Manette.»Sie lassen doch gerade erst diesen riesigen Fantasiegarten anlegen. Meine Eltern würden das bestimmt machen. Die haben genug Platz, und den Kindern würde es dort gefallen, mit dem See in der Nähe und dem riesigen Spielplatz.«

Freddie ging vom Gas. Vor ihnen wurde eine Schafherde auf eine andere Weide getrieben, und zwar so, wie man es in Cumbria oft erlebte: Sie trotteten gemächlich mitten auf der Straße, ein Collie sorgte dafür, dass sie zusammenblieben, und der Schäfer schlenderte hinterher.

«Meinst du nicht, dass Tim aus dem Alter raus ist, auf Spielplätzen herumzutollen? Und jetzt, wo diese Geschichte mit Vivienne Tully ans Licht gekommen ist, kann ich mir nicht vorstellen, dass Ireleth Hall der ideale Ort für die beiden ist …«

«Da hast du natürlich recht. «Manette seufzte. Sie musste an das denken, was sie in den vergangenen vierundzwanzig Stunden über ihre Eltern erfahren hatte, vor allem über ihren Vater. Schließlich fragte sie:»Was glaubst du, was sie tun wird?«

«Deine Mutter?«Freddie schüttelte den Kopf.»Keine Ahnung.«

«Ich habe nie verstanden, was sie zu Dad hingezogen hat«, sagte Manette.»Und was Vivienne an ihm gefunden hat, ist mir völlig rätselhaft, glaub mir. Beziehungsweise, was sie an ihm findet, denn anscheinend haben die beiden ja schon seit Jahren ein Verhältnis. Was in aller Welt findet sie an meinem Vater attraktiv? Das Geld kann es nicht sein, denn das gehört meiner Mutter. Wenn es zu einer Scheidung käme, würde er zwar nicht in die Röhre kucken, aber er würde auch nicht gerade in Geld schwimmen. Natürlich hat er immer über Geld verfügt, und vielleicht weiß Vivienne ja gar nicht, dass es eigentlich meiner Mutter …«

«Wahrscheinlich hat sie gar nicht an Geld gedacht, als sie sich auf deinen Vater eingelassen hat«, fiel Freddie ihr ins Wort.»Er wird sie mit seinem selbstsicheren Auftreten beeindruckt haben. Das gefällt Frauen bei Männern, und dein Vater hat immer vor Selbstbewusstsein gestrotzt. Ich nehme an, dass sich auch deine Mutter deswegen zu ihm hingezogen gefühlt hat.«

Manette schaute ihn an. Er beobachtete immer noch die Schafe vor ihnen auf der Straße, aber seine Ohren verrieten ihn. Sie sagte:»Und?«

«Und was?«

«Das mit dem selbstsicheren Auftreten.«

«Ach so. Ja, also … Das habe ich immer an deinem Vater bewundert. Und ehrlich gesagt, hab ich mir immer gewünscht, ich könnte mir bei ihm eine Scheibe abschneiden. «Seine Ohren wurden noch tiefer rot.

«Du? Soll das heißen, dir mangelt es an Selbstbewusstsein? Wie kannst du denn so etwas sagen? Man braucht sich ja nur anzusehen, wie viele Frauen sich in letzter Zeit darum reißen, mit dir ins Bett zu gehen.«

«Ach, so was ist ein Kinderspiel, Manette. Das ist der Fortpflanzungstrieb. Frauen begehren einen Mann, ohne dass sie wissen, warum. Er muss es nur bringen. Und wenn ein Mann es nicht bringt, wenn eine Frau ihm die Hose runterzieht, um sich von ihm vögeln zu lassen …«

«Freddie McGhie!«Manette musste unwillkürlich lachen.

«Aber so ist es, meine Liebe. Die Spezies stirbt aus, wenn der Mann keinen hochkriegt, sobald eine Frau ihn anmacht, so einfach ist das. Reine Biologie. Einen hochzukriegen ist Routine. Die Technik selbst natürlich nicht, aber gute Techniken kann sich jeder aneignen. «Die Schafherde vor ihnen hatte die nächste Weide erreicht. Das Gattertor in der Feldsteinmauer stand weit offen, der Collie bugsierte seine Schützlinge hindurch, und Freddie legte den Gang ein.»Sagen wir also, dein Vater hat eine gute Technik entwickelt, aber zuerst musste er die Frauen natürlich auf sich aufmerksam machen, und das hat er mit seiner Selbstsicherheit getan. Er verfügt über die Art Selbstsicherheit, die einen glauben lässt, man könnte alles erreichen. Und er glaubt nicht nur daran, er beweist es auch noch.«

Manette verstand, was Freddie meinte, vor allem in Bezug auf die Ehe ihrer Eltern. Seit sie denken konnte, erzählte man sich in ihrer Familie, wie die beiden sich kennengelernt hatten, wie der Fünfzehnjährige auf die achtzehnjährige Valerie Fairclough zugegangen war und ihr seine Absichten erklärt hatte. Seine Dreistigkeit hatte Valerie beeindruckt, vor allem in einer Welt, in der seinesgleichen sich in der Regel damit begnügte, einen Kratzfuß zu machen. Diese Faszination war alles, was Bernie Dexter gebraucht hatte. Der Rest war Geschichte.

«Aber Freddie, du kannst doch auch alles erreichen, was du willst. Glaubst du das nicht von dir selbst?«

Er lächelte sie zweifelnd an.»Tja, dich konnte ich jedenfalls nicht halten. Und wie Mignon gestern gesagt hat: Ich hab immer gewusst, dass du eigentlich Ian haben wolltest. Vielleicht war das überhaupt unser Problem.«

«Nein, was für ein Unsinn«, widersprach Manette.»Als ich siebzehn war, habe ich für Ian geschwärmt, das ist richtig. Aber als ich erwachsen wurde, wollte ich nur dich.«

«Ah«, sagte er und schwieg.

Sie schwieg ebenfalls, obwohl sie spürte, wie sich ein Unbehagen zwischen ihnen ausbreitete, eine Spannung, die vorher nicht da gewesen war. Den Rest der Fahrt über sagte keiner etwas.

Als sie in Bryanbarrow eintrafen und vor dem alten Herrenhaus parkten, sahen sie, dass vor dem Haus, in dem George Cowley und sein Sohn Daniel wohnten, ein Umzugswagen stand. George Cowley hatte sie bemerkt und kam zu ihnen herüber, als sie aus dem Wagen stiegen.»Jetzt kriegt er also, was er von Anfang an wollte«, sagte er und spuckte auf den Weg, der an Gracies Trampolin vorbei zur Haustür führte.»Der wird sich noch wundern, wenn er erst mal merkt, dass die Farm keinen Penny abwirft.«

«Wie bitte?«, fragte Freddie. Er kannte George Cowley nicht. Manette kannte ihn zwar vom Sehen, hatte aber noch nie mit ihm gesprochen.

«Er hat ganz große Pläne«, sagte Cowley.»Wir räumen das Feld, Dan und ich. Die Schafe nehmen wir mit, soll er sehen, wie er zurechtkommt. Es wird sich ja zeigen, ob er noch mal einen Pächter findet, der bereit ist, in der Hütte da zu wohnen und auch noch ein Vermögen für den Spaß zu berappen. Dann werden wir ja sehen, wie er sich hier fühlt mit seinen Eltern und seiner Frau.«

Manette fragte sich, ob das Cottage groß genug war für einen Mann samt Frau und Eltern, aber sie sagte nichts dazu, sondern fragte nur:»Ist Tim hier, Mr. Cowley? Wir suchen nach ihm.«

«Keine Ahnung«, erwiderte George Cowley.»Jedenfalls stimmt mit dem Jungen irgendwas nicht. Und die Kleine ist auch ziemlich merkwürdig. Springt den ganzen Tag auf ihrem Trampolin rum. Ich bin heilfroh, wenn ich hier weg bin. Wenn Sie diesen Arschficker sehen, sagen Sie ihm das. Und sagen Sie ihm, ich glaube kein Wort von dem Blödsinn, den er verzapft, egal, wie viele Trümpfe er im Ärmel hat.«

«Selbstverständlich«, sagte Freddie. Er nahm Manettes Arm und bugsierte sie in Richtung Haustür.»Dem geht man am besten aus dem Weg, hm?«, murmelte er.

Manette nickte. Der Mann war offenbar nicht ganz richtig im Kopf. Wovon hatte der überhaupt geredet?

Im Herrenhaus schien niemand zu sein, aber Manette wusste, wo ein Hausschlüssel lag: unter einem von Flechten bedeckten Betonpilz am Fuß einer alten herbstlich kahlen Glyzinie, deren Stamm schon fast bis unters Dach reichte. Sie holten den Schlüssel und gingen ins Haus. Durch einen Flur gelangten sie in die blitzsaubere Küche. Die alten Holzschränke waren auf Hochglanz poliert. Überhaupt war alles noch ordentlicher als vor Ians Tod. Offenbar hatte Kaveh — oder jemand anders — einen gründlichen Hausputz gemacht.

Das beunruhigte Manette. In ihrer Vorstellung verursachte tiefe Trauer eher Lethargie anstatt einen Energieschub.

«Jedenfalls kann man nicht behaupten, dass er das Haus verfallen lässt«, sagte Freddie, während er sich umsah.

Manette rief:»Tim? Bist du hier?«

Eigentlich war es überflüssig, Tim zu rufen, denn selbst wenn er hier wäre, würde er sicher nicht angelaufen kommen und ihnen freudestrahlend um den Hals fallen, dachte Manette. Trotzdem suchten sie das Haus systematisch ab. Und jedes Zimmer, in das sie hineinschauten, war tipptopp sauber und aufgeräumt. Es sah ziemlich genauso aus wie zu Ians Lebzeiten, nur viel besser in Schuss, wie hergerichtet für Fotos in einem Artikel über Herrenhäuser im georgianischen Stil.

Sie gingen nach oben. So ein altes Haus verfügte über zahlreiche Ecken und Winkel, die sich als Verstecke eigneten. Freddie meinte, Tim sei wahrscheinlich längst über alle Berge, und das könne ihm keiner verdenken nach allem, was er durchgemacht hatte. Doch Manette wollte auf Nummer sicher gehen. Sie schaute unter den Betten und in den Schränken nach, tastete sogar einige Wände ab, um festzustellen, ob es irgendwo eine Geheimtür gab. Sie kam sich selbst albern dabei vor, aber sie konnte nicht anders. Irgendetwas stimmte in diesem Haus ganz und gar nicht, und sie wollte unbedingt herausfinden, was hier vor sich ging. Denn wenn sie das richtig sah, dann war Tim wegen irgendetwas abgehauen, das Kaveh getan oder gesagt hatte, auch wenn der hinterher den Besorgten gespielt und vorgegeben hatte, er würde den Jungen suchen.

Als Letztes nahmen sie sich Tims Zimmer vor. Auch hier war alles tipptopp aufgeräumt. Obwohl Tims Kleider noch im Schrank lagen, deutete nichts darauf hin, dass es sich um das Zimmer eines Vierzehnjährigen handelte.

«Ah«, sagte Freddie und trat an den Tisch unterm Fenster, auf dem ein Laptop stand, der aufgeklappt war, als wäre er vor Kurzem erst benutzt worden.»Vielleicht hilft uns der ja weiter. «Er setzte sich und ließ seine Fingergelenke knacken.»Wollen wir doch mal sehen.«

Manette trat neben ihn.»Aber wir kennen sein Passwort nicht. Wie sollen wir denn ohne Passwort da reinkommen?«

Freddie lächelte sie an.»Du Kleingläubige«, sagte er. Er begann, auf die Tastatur einzuhacken, um das Problem in Angriff zu nehmen, das sich als nicht existent entpuppte: Tim hatte sein Passwort gespeichert. Sie brauchten nur seinen Nutzernamen, den Manette kannte, weil sie regelmäßig mit Tim in E-Mail-Kontakt gestanden hatte.»Bingo«, murmelte Freddie.

Er grinste.»Wirklich schade, dass du nicht gerade mit was anderem beschäftigt warst«, sagte er.»Sonst hättest du mich am Ende vielleicht tatsächlich für ein Computergenie gehalten …«

Sie drückte seine Schulter.»Für mich bist du Genie genug, mein Lieber.«

Während Freddie sich Tims E-Mails vornahm, ging Manette die anderen Sachen durch, die auf dem Schreibtisch lagen. Schulbücher, ein iPod samt Docking Station und Lautsprechern, ein Notizheft gefüllt mit verstörenden Bleistiftzeichnungen von grotesken Außerirdischen, die dabei waren, Körperteile von Menschen zu verspeisen, ein Buch über das Beobachten von Vögeln — wie er wohl dazu kam, fragte sie sich —, ein Taschenmesser mit Resten von getrocknetem Blut an der größten Klinge und eine Landkarte, die Tim sich anscheinend aus dem Internet ausgedruckt hatte. Sie nahm die Karte in die Hand.»Freddie«, sagte sie,»könnte das vielleicht …«

Vor dem Haus wurden Autotüren zugeschlagen. Manette beugte sich über den Tisch, um aus dem Fenster zu sehen. Vielleicht war Kaveh ja nach Hause gekommen, vielleicht hatte er Tim gefunden und mitgebracht, was bedeutete, dass Freddie ganz schnell den Laptop würde ausschalten müssen. Aber neben dem Auto stand ein älteres, dunkelhäutiges Paar, vielleicht Iraner, wie Kaveh, und ein junges, schwarzhaariges Mädchen, das sich eine langfingrige Hand vor den Mund hielt und mit großen Augen an dem Herrenhaus hochschaute. Sie sah das ältere Paar fragend an. Dann nahm die Frau sie am Ellbogen, und zusammen gingen sie auf die Haustür zu.

Die Leute mussten irgendwie zu Kaveh gehören, dachte Manette. Hier oben in Cumbria lebten kaum Ausländer, erst recht nicht auf dem Land. Vielleicht waren sie überraschend zu Besuch gekommen. Oder vielleicht hatten sie auf einer längeren Fahrt einen Abstecher hierhergemacht. Aber darüber brauchte sie sich nicht den Kopf zu zerbrechen, denn es würde sowieso niemand auf ihr Klopfen hin öffnen, und dann konnten sie und Freddie sich wieder um das kümmern, weswegen sie hergekommen waren.

Aber es kam ganz anders. Offenbar hatten die Leute einen Hausschlüssel.»Was zum Teufel …?«, entfuhr es Manette.»Freddie, da ist jemand gekommen. Ein älteres Paar und ein junges Mädchen. Ich glaub, die gehören irgendwie zu Kaveh. Soll ich …?«

«Verdammt«, murmelte Freddie.»Ich bin hier gerade auf etwas gestoßen. Kannst du … Ich weiß nicht … Kannst du dich um die Leute kümmern?«

Manette verließ das Zimmer und schloss die Tür. Dann ging sie geräuschvoll die Treppe hinunter.»Hallo?«, rief sie.»Kann ich Ihnen helfen?«Sie fing die Leute im Flur zwischen Kaminzimmer und Küche ab.

Ihr blieb nichts anderes übrig, als zu bluffen, dachte Manette. Sie lächelte, als wäre es das Selbstverständlichste auf der Welt, dass sie sich in diesem Haus aufhielt.»Ich bin Manette McGhie«, stellte sie sich vor.»Ich bin Ians Kusine. Sie sind sicher Freunde von Kaveh? Er ist gerade nicht hier.«

Sie waren keine Freunde von Kaveh, sondern dessen Eltern, die aus Manchester hergekommen waren. Sie hatten Kavehs Verlobte mitgebracht, die gerade aus Teheran eingetroffen war, damit sie sich ansehen konnte, wo sie nach der Hochzeit in wenigen Wochen einziehen würde. Sie und Kaveh kannten sich noch nicht. Eigentlich sei es nicht üblich, die Braut dem Bräutigam vor der Hochzeit vorzustellen, aber Kaveh habe darauf bestanden, deshalb seien sie jetzt hier. Eine kleine Überraschung vor der Hochzeit.

Das junge Mädchen hieß Iman, und sie hielt demütig den Blick gesenkt, während die Erwachsenen sich unterhielten, so dass ihr dichtes, schwarzes Haar nach vorne fiel und ihr Gesicht verbarg. Aber Manette hatte trotzdem gesehen, dass sie ausnehmend hübsch war.

«Kavehs Verlobte?«, fragte Manette entgeistert. Das erklärte zumindest den tadellosen Zustand des Hauses. Doch abgesehen davon war das junge Mädchen hier in einen furchtbaren Schlamassel geraten.»Ich wusste gar nicht, dass Kaveh verlobt ist. Ian hat nie etwas davon erwähnt.«

Der Ärger ging schon los.

«Wer ist Ian?«, fragte Kavehs Vater.

AUF DEM WEG NACH LONDON

Als Lynleys Handy klingelte, befand er sich mehr als hundert Kilometer von Milnthorpe entfernt, kurz vor der Abfahrt zur M56, und er war ziemlich geladen. Deborah St. James hatte ihn zum Narren gehalten, und das gefiel ihm absolut nicht. Er war wie verabredet um halb elf zum Crow & Eagle gefahren, in der Annahme, dass sie mit gepackten Koffern auf ihn wartete. Da ihr Mietwagen auf dem Parkplatz stand, hatte er sich zunächst nichts dabei gedacht, als er sie nicht in der Eingangshalle antraf.

«Würden Sie Mrs. St. James bitte Bescheid geben«, hatte er die junge Frau in der frischgestärkten weißen Bluse und dem schwarzen Wollrock gebeten, die an der Rezeption saß.

«Selbstverständlich, Sir. Wen darf ich anmelden?«

Als er geantwortet hatte» Tommy«, hatte sich ihr Gesichtsausdruck kaum merklich verändert. Womöglich, dachte Lynley, wurde das Crow & Eagle ja von den Angehörigen des Landadels als Stundenhotel genutzt. Hastig fügte er hinzu:»Sie hat mich gebeten, sie mit nach London zu nehmen. «Kaum hatte er das ausgesprochen, ärgerte er sich über sich selbst. Entnervt trat er an den Ständer mit Broschüren über die touristischen Ausflugsmöglichkeiten in Cumbria und tat so, als würde er sie studieren.

Nach einer Weile räusperte sich die junge Frau an der Rezeption und sagte:»Es meldet sich niemand, Sir. Vielleicht sitzt sie ja noch im Speiseraum.«

Aber dort war sie nicht. Und auch nicht in der Bar. Irgendwo in der Nähe musste sie jedoch sein, schließlich stand ihr Mietwagen auf dem Hotelparkplatz. Lynley setzte sich an einen Tisch im Speisesaal und wartete. Auf der anderen Straßenseite befand sich eine Bank, im Ort gab es einen Marktplatz, eine alte Kirche mit einem hübschen Friedhof … Vielleicht hatte sie noch einen kleinen Spaziergang gemacht vor der langen Fahrt.

Erst nachdem er eine Weile gewartet hatte, fiel ihm auf, dass Deborah offenbar noch gar nicht aus dem Hotel ausgecheckt hatte, denn sonst hätte die Frau an der Rezeption nicht in ihrem Zimmer angerufen. Ihn packte die Wut.

Er rief sie auf dem Handy an. Natürlich bekam er nur ihre Mailbox.»Dir ist bestimmt klar, dass ich einigermaßen sauer bin. Wir hatten eine Verabredung. Wo zum Teufel steckst du?«Mehr sagte er nicht. Er kannte Deborah. Wenn sie sich einmal in etwas verrannt hatte, dann hatte es keinen Zweck, sie eines Besseren belehren zu wollen.

Als kurz vor der Abfahrt auf die M56 sein Handy klingelte, dachte er zuerst, es sei Deborah, die anrief, um sich bei ihm zu entschuldigen. Ohne auf das Display zu sehen, nahm er das Gespräch entgegen und bellte:»Ja?«

«Äh, ja«, sagte Sergeant Havers.»Ihnen auch einen schönen guten Tag. Schlecht geschlafen?«

«Sorry«, sagte er.»Ich bin auf der Autobahn.«

«Unterwegs nach …?«

«Nach Hause, wohin sonst?«

«Keine gute Idee, Sir.«

«Wieso? Was ist los?«

«Rufen Sie mich an, sobald Sie auf einen Rastplatz gefahren sind. Ich möchte nicht, dass Sie Ihren teuren Schlitten zu Schrott fahren. Den Bentley hab ich ja schon auf dem Gewissen.«

Eine Viertelstunde später hielt Lynley vor einer schmuddeligen Raststätte. Er holte sich einen Kaffee, setzte sich damit an einen Tisch und rief Barbara an.

«Ich hoffe, Sie sitzen gut«, sagte sie, als sie das Gespräch entgegennahm.

«Ich saß auch schon gut, als Sie mich angerufen haben«, antwortete er.

«Okay, okay. «Sie berichtete ihm, wie sie es geschafft hatte, Isabelle Ardery aus dem Weg zu gehen und ihre Internetrecherchen durchzuführen, die ihr immer mehr Spaß machten. Sie erzählte ihm von einer Studentin aus Barcelona, von ihrem Nachbarn Taymullah Azhar, den Lynley flüchtig kannte, der Kleinstadt Santa María de la Cruz, de los Ángeles y de los Santos und den fünf Söhnen des Bürgermeisters jenes Kaffs. Die Pointe bewahrte sie sich bis zu Schluss auf:»Langer Rede kurzer Sinn: Es gibt keine Alatea Vasquez del Torres. Oder besser gesagt: Es gibt sie, und es gibt sie auch wieder nicht.«

«Hatten Sie nicht bereits festgestellt, dass Alatea wahrscheinlich aus einem anderen Zweig der Familie stammt?«

«Um mit einem meiner Lieblingssongs zu antworten, Sir: That was yesterday and yesterday’s gone.«

«Und das bedeutet?«

«Das bedeutet, Alatea gehört zu diesem Familienzweig, aber sie ist nicht Alatea.«

«Sondern?«

«Santiago.«

Lynley versuchte, diese Information zu verdauen. In seiner Nähe war eine Putzfrau dabei, den Boden zu schrubben. Sie warf ihm bedeutungsvolle Blicke zu, anscheinend in der Hoffnung, dass er sich einen anderen Platz suchte, so dass sie unter seinem Tisch wischen konnte. Schließlich fragte er:»Wie meinen Sie das, Barbara?«

«Ich meine genau das, was ich gesagt habe, Sir. Alatea ist Santiago. Santiago ist Alatea. Entweder das, oder die beiden sind eineiige Zwillinge, und wenn ich im Bio-Unterricht nicht gepennt hab, dann gibt es nur gleichgeschlechtliche eineiige Zwillinge.«

«Das heißt also … Was?«

«Crossdressing, Sir. Transsexualität. So was hält man doch lieber vor der Familie geheim, oder?«

«Ja, wahrscheinlich. Unter gewissen Umständen. Aber diese Umstände …«

«Sir«, fiel Barbara ihm ins Wort.»Santiagos Spur verliert sich, als er ungefähr fünfzehn ist. Ich schätze, in dem Alter hat er angefangen, als Alatea aufzutreten. Um dieselbe Zeit ist er von zu Hause abgehauen. Das habe ich unter anderem in einem Telefongespräch mit der Familie erfahren.«

Sie berichtete ihm, was die spanische Studentin ihr nach dem Gespräch mit Argentinien erklärt hatte: Die Familie wolle, dass Alatea nach Hause komme, ihr Vater und ihre Brüder würden sie jetzt verstehen, Carlos, der Priester, habe die Familie zur Einsicht gebracht, alle beteten für Alateas Rückkehr in den Schoß der Familie, die Angehörigen seien seit Jahren auf der Suche nach ihr, sie solle nicht länger vor ihnen weglaufen, ihr Verschwinden habe Elena María das Herz gebrochen …

«Wer ist Elena María?«Lynley schwirrte der Kopf.

«Eine Kusine«, sagte Barbara.»Ich schätze, Santiago hat die Mücke gemacht, weil er sich gern als Frau verkleidete, wovon sein Vater und seine Brüder wahrscheinlich nicht besonders begeistert waren. Latinos, Sie wissen schon. Macho, und so weiter. Irgendwann jedenfalls ist er Raul Montenegro über den Weg gelaufen …«

«Wer zum Teufel …«

«Ein reicher Typ aus Mexiko. Einer, der so viel Geld hat, dass er eine Konzerthalle bauen lassen und sie nach seiner Mutter benennen kann. Also, Santiago läuft Raul über den Weg, und Raul fährt auf ihn ab, denn der Typ ist vom anderen Ufer, wenn Sie verstehen, was ich meine. Und er steht vor allem auf möglichst junge Knaben, wenn man den Fotos glauben darf, die ich gefunden hab. Jedenfalls waren unsere zwei Hübschen im siebten Himmel. Auf der einen Seite Santiago mit seiner Vorliebe für Frauenkleider und auf der anderen Raul, der stockschwul ist, das aber nicht gern an die große Glocke hängen will. Raul tut sich also mit Santiago zusammen, der aussieht wie ein zum Anbeißen hübsches junges Mädchen, mit dem er sich sogar in der Öffentlichkeit blicken lassen kann. Und die beiden bleiben zusammen, bis sich was Besseres findet.«

«Und was sollte das sein?«

«Nicholas Fairclough, würd ich mal vermuten.«

Lynley schüttelte den Kopf. Das klang einfach allzu unglaublich.»Barbara, sagen Sie mal: Sind das alles Vermutungen, oder haben Sie irgendwelche Beweise für Ihre Behauptungen?«

Sie ließ sich nicht beirren.»Sir«, sagte sie,»es passt alles zusammen. Santiagos Mutter wusste genau, von wem die Rede war, als Engracia angerufen und nach Alatea gefragt hat. Aber da sie nur Söhne hat, dachten wir, Alatea müsse eine Nichte von ihr sein. Bis ich mir Santiago genauer unter die Lupe genommen und mir dann noch mal die jüngsten Fotos von Alatea als Dessous-Model angesehen habe, und … Glauben Sie mir, Sir, sie ist Santiago. Er ist abgehauen, hat sich als Frau ausgegeben, und keiner hat’s gemerkt, und als er dann Raul Montenegro begegnet ist, war die Sache geritzt. Wahrscheinlich haben die beiden glücklich und zufrieden zusammengelebt, bis Nicholas Fairclough aufgekreuzt ist.«

Lynley musste zugeben, dass das plausibel klang. Denn Nicholas Fairclough, ehemaliger Drogensüchtiger und Alkoholiker, würde seinen Eltern auf keinen Fall offenbaren, dass ein Mann sich als seine Frau ausgab, mit einer falschen Heiratsurkunde, dem einzigen Dokument, das der Person ein Aufenthaltsrecht im Land sicherte.

«Könnte es sein, dass Ian Cresswell irgendwie dahintergekommen ist?«, überlegte Lynley laut.

«Genau das hab ich mich auch gefragt«, sagte Barbara.»Wer, wenn nicht Ian Cresswell, wird auf den ersten Blick gesehen haben, wen er vor sich hatte?«

MILNTHORPE — CUMBRIA

Deborah fühlte sich elend, und das nicht erst, seitdem die Frau an der Rezeption im Crow & Eagle ihr Tommys Nachricht gegeben hatte. Denn alles, worum sie sich bemüht hatte, drohte in einem kompletten Chaos zu enden.

Sie hatte versucht, den widerwärtigen Zed Benjamin davon zu überzeugen, dass das, was Lucy Keverne ihnen erzählt hatte, nicht für eine Story in der Source reichte. Da Zed sie, Deborah, immer noch für eine Polizistin von Scotland Yard hielt, hatte sie gehofft, dass er, als sie gesagt hatte» Tja, meine Arbeit hier ist damit beendet«, ebenfalls zu dem Schluss gelangen würde, dass in Cumbria für ihn nichts zu holen war. Wenn die angebliche Polizistin der Meinung war, dass sich niemand etwas hatte zuschulden kommen lassen, dann schien es doch nur logisch, dass es auch keine Story gab. Aber Zed Benjamin hatte das anders gesehen. Er war der Meinung gewesen, dass alles erst anfing.

Entsetzt hatte sie ihn gefragt, an was für eine Story er denn denke.»Zwei Menschen sind bereit, einer Frau für eine Leihmutterschaft mehr zu bezahlen, als das Gesetz vorsieht«, hatte sie ihm gesagt.»Wie viele solche Menschen gibt es in England? Wie viele Menschen haben keine Freundin oder Verwandte, die bereit ist, sich aus lauter Mitgefühl als Leihmutter zur Verfügung zu stellen? Das Gesetz, das so etwas verbietet, ist lächerlich. Es gibt schlicht und einfach keine Story.«

Aber auch da war Zed anderer Meinung gewesen. Das Gesetz selbst sei die Geschichte, hatte er ihr erklärt. Denn es stürze Frauen in Verzweiflung, die daraufhin zu verzweifelten Mitteln griffen, um ihr Problem zu lösen.

«Verzeihen Sie, Mr. Benjamin«, hatte Deborah darauf erwidert,»aber ich glaube kaum, dass die Source sich auf Ihre Empfehlung hin zur Fürsprecherin aller unfruchtbaren Frauen aufschwingen wird.«

«Das werden wir ja noch sehen«, hatte er darauf knapp erwidert.

Sie hatten sich vor ihrem Hotel verabschiedet, und an der Rezeption hatte man ihr einen verschlossenen Umschlag überreicht, auf dem ihr Name in einer Handschrift geschrieben stand, die sie sofort wiedererkannte von den vielen Briefen, die Tommy ihr geschrieben hatte, als sie in Kalifornien Fotografie studierte.

Die Nachricht war kurz und knapp: Deb, was soll ich sagen? Tommy. Und es stimmte. Was hätte er sagen sollen? Sie hatte ihn belogen, sie hatte seine Anrufe ignoriert, und jetzt war er genauso sauer auf sie wie Simon. Gott, was hatte sie für einen Schlamassel angerichtet.

Sie ging auf ihr Zimmer und packte ihre Sachen, während sie darüber nachdachte, wie gründlich sie alles vermasselt hatte. Angefangen hatte es mit Simons Bruder David, den sie ewig hingehalten hatte in Bezug auf die offene Adoption, die er nur arrangiert hatte, weil er ihnen helfen wollte. Dann hatte sie Simon immer wieder vor den Kopf gestoßen, vor allem, als sie stur darauf beharrt hatte, weiterhin in Cumbria zu bleiben, obwohl klar gewesen war, dass ihre Aufgabe hier längst erledigt war. Und indem sie sich in Alatea Faircloughs Privatangelegenheiten eingemischt hatte, hatte sie wahrscheinlich auch deren Hoffnungen auf ein Kind zerstört.

Sie setzte sich aufs Bett. Seit einigen Jahren wurde ihr Leben von etwas bestimmt, das vollkommen außerhalb ihrer Kontrolle lag, dachte sie. Sie wünschte sich sehnlichst ein Kind, doch es war ihr nicht gegeben, sich diesen Wunsch zu erfüllen. Wahrscheinlich hatte Alatea Fairclough dasselbe durchgemacht wie sie.

Endlich begriff Deborah, warum die Argentinierin so ängstlich auf sie reagiert hatte und warum sie sich so gesträubt hatte, mit ihr zu reden. Alatea und ihr Mann waren bereit, eine Frau dafür zu bezahlen, dass sie ein Kind für sie austrug, und jetzt fürchteten sie, die Ärzte von der Uni in Lancaster hätten sie, Deborah, geschickt, um die Wahrheit über das Arrangement mit Lucy Keverne herauszufinden, ehe sie die Schritte in die Wege leiteten, die für eine Leihmutterschaft nötig waren. Das waren sicherlich eine ganze Reihe. Und die würden erst umgesetzt, wenn man Gewissheit über das Verhältnis zwischen Alatea und der zukünftigen Leihmutter hatte.

Deborah hatte die arme Frau verfolgt, seit sie nach Cumbria gekommen war, obwohl Alatea lediglich von derselben Sehnsucht getrieben war wie sie selbst, der Sehnsucht nach einer Schwangerschaft, die für andere Frauen das Natürlichste auf der Welt war und von manchen sogar als Fluch empfunden wurde.

Deborah wurde klar, dass sie einige Leute würde um Verzeihung bitten müssen für ihr Verhalten in den vergangenen Tagen. Anfangen würde sie bei Alatea Fairclough. Und deswegen würde sie, bevor sie sich auf den Heimweg nach London machte, Alatea noch einen Besuch abstatten.

MILNTHORPE — CUMBRIA

Was er der Polizistin von Scotland Yard gesagt hatte, war nichts weiter gewesen als Säbelrasseln, dachte Zed zerknirscht. Nachdem er sie zu ihrem Hotel gebracht hatte, war er nicht nach Windermere zurückgefahren, sondern zu dem Marktplatz in Milnthorpe. Er parkte neben einem Supermarkt und ging hinein. Der Laden war rappelvoll, und es war fürchterlich stickig dort drin, was seine schlechte Laune nicht gerade vertrieb.

Ziellos blätterte er in den Zeitungen und Zeitschriften, bis er nicht mehr widerstehen konnte und sich die neueste Ausgabe der Source kaufte. Damit ging er zur Frittenbude neben der Metzgerei, in deren Schaufenster appetitliche Wildpasteten auslagen.

In der Frittenbude bestellte er sich eine Portion Fish ’n Chips und dazu eine Dose Fanta, machte es sich an einem Tisch bequem, holte tief Luft, um sich zu wappnen, und faltete die Zeitung auseinander.

Mitchell Corsico, dieser Dillettant, hatte natürlich mal wieder die Titelstory geschrieben. Wie immer der totale Müll: eine Enthüllungsstory über irgendeinen unbedeutenden Spross der königlichen Familie, der ein uneheliches Kind in die Welt gesetzt hatte, noch dazu ein dunkelhäutiges. Das Kind, ein Mädchen, war mittlerweile fünf Jahre alt, und es gab mehrere Fotos von der Kleinen. Sie war hübsch, wie die meisten Mulatten. Ihr Vater würde jedoch nie den englischen Thron besteigen, es sei denn, das derzeitige Monarchenpaar würde mitsamt allen Angehörigen der weitverzweigten Verwandtschaft auf einem Luxusdampfer auf dem Atlantik eine Party feiern und der Dampfer würde mit einem Eisberg kollidieren. Diese unbedeutende Kleinigkeit entzog der Story jede vernünftige Grundlage. Aber das schien weder Mitchell Corsico noch Rodney Aronson gestört zu haben, der den Artikel immerhin auf die erste Seite gesetzt hatte, unabhängig davon, wie unbedeutend das Mitglied der königlichen Familie war.

Dass der Artikel auf der ersten Seite stand, bedeutete wahrscheinlich, dass es sich um die Enthüllungsstory des Jahres handelte, und die Source versuchte, auch noch das Letzte aus ihr herauszuquetschen. Rodney hatte das volle Programm durchgezogen: zwölf Zentimeter Schlagzeile, grobkörnige Fotos, namentliche Nennung des Verfassers und Verweis auf die Fortsetzung auf Seite acht, wo über die Mutter des Kindes berichtet wurde sowie über den adligen Kindsvater, der im Gegensatz zu zahlreichen Royals immerhin mit einem Kinn auf die Welt gekommen war.

Diese Geschichte würde doch niemanden vom Hocker reißen. Zed schloss daraus, dass zurzeit in der Gosse einfach nichts zu holen war, wenn Rodney sich schon auf eine solche Story als Aufmacher verlegen musste.

Und das bedeutete, dass er womöglich gute Chancen hatte, die Titelseite zu ergattern, wenn er alles, was er in Cumbria zusammengetragen hatte, zu einer guten Story verarbeitete. Er legte die Source beiseite, schüttete reichlich Essig auf seinen Fisch und seine Fritten, öffnete die Fantadose und ging noch einmal alles durch, was er über Nick Fairclough und die schöne Alatea zutage gefördert hatte.

Viel hatte er nicht, da musste er der Polizistin recht geben. Nick und Alatea Fairclough würden einer Frau mehr als nur ihre Ausgaben erstatten, damit sie für sie ein Kind austrug, was zwar nicht legal, aber auch noch keine Story war. Die Frage lautete: Wie konnte man eine Story daraus machen, oder wenigstens so einen Müll, wie Mitchell Corsico ihn fabriziert hatte?

Zed überlegte, welche Zutaten ihm zur Verfügung standen: Eier, Sperma, ein Mann, eine Frau, noch eine Frau und Geld. Wessen Eier, wessen Sperma, welcher Mann, welche Frau, wessen Geld? Das waren die Themen, aus denen er sich eine Geschichte zusammenreimen musste.

Es gab verschiedene Möglichkeiten. Vielleicht taugten die Eier der armen Alatea nichts — konnte das sein? — oder landeten nicht an der richtigen Stelle, um sich mit Nicks Sperma zu vereinigen. Also mussten die Eier einer anderen Frau her. Aber Nick und Alatea wollten nicht, dass die Familie davon erfuhr, weil … ja, warum eigentlich nicht? Wegen der Erbschaft? Was genau besagte das Erbrecht? Gab es überhaupt etwas zu vererben außer einer Firma, die Kloschüsseln und andere unappetitliche Dinge herstellte, deren Erwähnung die ganze Geschichte zu einem Lacher machen würde und Zed zum Deppen? Oder vielleicht war ja auch Nicks Sperma zu nichts zu gebrauchen. Vielleicht waren seine Samenzellen nach all den Jahren des Drogenkonsums total verkrüppelt? Also musste das Sperma eines Spenders her, und der daraus resultierende Sprössling würde trotz allem als echter Fairclough ausgegeben. Das wäre doch eine nette Geschichte.

Oder war es besser, sich auf das Geld zu konzentrieren, das Lucy Keverne bekommen sollte? In Anbetracht von Nicks Vergangenheit konnte es doch gut sein, dass er nicht nur mit Kloschüsseln, sondern auch noch mit anderen Dingen handelte, um sich das Honorar für die Leihmutter leisten zu können. Und mussten die Ärzte vielleicht auch geschmiert werden? Auch das war zumindest eine Möglichkeit.

Bis Zed seine Mahlzeit beendet hatte, war er zu dem Schluss gelangt, dass er bei Nick Fairclough ansetzen musste, wenn er einen Artikel über das geschmacklose Ansinnen schreiben wollte, sich einen Baby-Automaten zu kaufen — so würde er Rodney seine Story verkaufen. Er besaß genug Menschenkenntnis, um sich denken zu können, dass Lucy Keverne, kaum dass Sergeant Cotter und er gegangen waren, als Erstes bei Alatea Fairclough angerufen und ihr alles brühwarm berichtet hatte.

Also kam für ihn nur noch Nick in Frage. Er würde den Mann ein bisschen unter Druck setzen, und mit etwas Geschick würde er ihm die Einzelheiten über den Deal mit der Frau in Lancaster schon aus den Rippen leiern.

Er schnappte sich die Source und ging zu seinem Wagen. Um die Uhrzeit würde er Nicholas Fairclough wahrscheinlich bei seinem Wehrturmprojekt antreffen.

Er fuhr am Crow & Eagle vorbei in Richtung Arnside, vorbei an Milnthorpe Sands, wo derzeit wirklich nur Sand war — wenn auch ziemlich matschiger —, da Ebbe herrschte und der River Kent zu einem schmalen Flussband zusammengeschrumpft war, an dessen Ufern Brachvögel, Regenpfeifer und Wasserläufer auf ihrer endlosen Suche nach Futter umhertrippelten. Von Humphrey Head aus kroch der Nebel in Richtung Küste. Die Luft war so feucht, dass die Fenster der Häuser beschlagen waren. Die Straße war glitschig nass.

Zed parkte in der Nähe des Wehrturms. Es war niemand auf der Baustelle zu sehen. Aber als Zed ausstieg, hörte er im Kantinenzelt ein paar Männer laut lachen. Dort fand er sie alle versammelt. Sie saßen an den langen Tischen, waren jedoch nicht beim Essen, sondern hörten einem älteren Mann zu, der vor ihnen stand, einen Fuß auf einem Stuhl und einen Ellbogen auf dem Knie abgestützt. Die Geschichte, die er zum Besten gab, schien die Männer unglaublich zu amüsieren. Sie tranken Kaffee oder Tee, und die Luft im Zelt war erfüllt von Zigarettenqualm.

Zed entdeckte Nick Fairclough im selben Moment, als dieser ihn entdeckte. Er saß am hinteren Ende des Zelts, den Stuhl nach hinten gekippt, die Füße auf dem Tisch. Als ihre Blicke sich begegneten, sprang er auf und kam eilig auf Zed zu.

Er nahm Zed am Arm und bugsierte ihn nach draußen.»Das ist keine öffentliche Veranstaltung«, sagte er unwirsch. Anscheinend war Zed in eine Sitzung der Anonymen Alkoholiker oder einer ähnlichen Organisation geraten, dachte er. Und es war ziemlich offenkundig, dass Nick Fairclough nicht begeistert war über das Wiedersehen. Tja, das ließ sich nun mal nicht ändern.

«Ich würde mich gern mit Ihnen unterhalten«, sagte Zed.

«Da werden Sie sich noch etwas gedulden müssen«, entgegnete Nick.»Wie Sie sehen, bin ich gerade in einer Versammlung.«

«Ich fürchte, das kann nicht warten«, sagte Zed und zückte sein Notizheft.

Faircloughs Augen wurden schmal.»Was hat das zu bedeuten?«

«Ich möchte mit Ihnen über Lucy Keverne reden.«

«Wie bitte? Über wen?«

«Lucy Keverne. Oder vielleicht kennen Sie sie unter einem anderen Namen? Sie ist die Leihmutter, die Sie und Ihre Frau angeheuert haben.«

Fairclough sah ihn an, als fragte er sich, ob Zed den Verstand verloren hatte.

«Leihmutter?«, wiederholte Fairclough.»Was soll der Blödsinn?«

«Ich würde gern mit Ihnen darüber reden, was Sie mit Lucy Keverne vereinbart haben. Welchen Deal Sie mit ihr ausgehandelt haben.«

«Deal?«, sagte Nicholas Fairclough.»Es gibt keinen Deal. Wovon zum Teufel reden Sie überhaupt?«

Bingo, dachte Zed voller Genugtuung. Jetzt hatte er seine Story.

«Lassen Sie uns einen kleinen Spaziergang machen«, sagte er.

BRYANBARROW — CUMBRIA

Manette hatte Kavehs Eltern und Verlobte ins Kaminzimmer geführt und ihnen Tee und Kekse vorgesetzt. Als sie jetzt die Treppe hochging, versuchte sie immer noch zu verdauen, was sie soeben erfahren hatte. Der Himmel wusste, warum sie den Leuten Tee angeboten hatte, dachte sie, wahrscheinlich aus lauter Gewohnheit.

Die Verwirrung darüber, wer Ian Cresswell gewesen war, hatten sie schnell beseitigen können. Es hatte sich herausgestellt, dass Kaveh — soweit seine Eltern informiert waren — bei einem Herrenhausbesitzer zur Miete gewohnt hatte, dessen Vornamen ihr Sohn nie erwähnt hatte. Dann war der Mann bei einem Unfall ums Leben gekommen, und zu Kavehs großer Verwunderung hatte er in seinem Testament Kaveh als Alleinerben eingesetzt. Natürlich brauchte Kaveh gar kein Haus, wie seine Eltern ihm immer wieder zu verstehen gegeben hatten, denn er und seine Frau könnten zu seinen Eltern ziehen und es wie seine Landsleute halten, die traditionell in Großfamilien zusammenlebten. Aber Kaveh sei ein moderner junger Mann, beeinflusst vom europäischen Lebensstil, und in England zogen junge Männer nun mal nicht mit ihrer Frau zu den Eltern. In diesem Fall sei es sogar umgekehrt. Kaveh bestehe darauf, dass seine Eltern zu ihm zogen. Sie seien sehr glücklich, beteuerten sie, dass sie nun endlich die lang ersehnten Enkelkinder bekommen würden.

Wie wenig diese Leute über ihren Sohn wussten, war unglaublich, aber Manette wollte nicht diejenige sein, die diese Seifenblase zum Platzen brachte. Die junge Frau tat ihr leid, denn sie würde einen Mann heiraten, der wahrscheinlich ein ähnliches Doppelleben führen würde, wie Ian es getan hatte. Doch daran konnte Manette nichts ändern. Und selbst wenn sie sich ein Herz fasste und sagte:»Verzeihen Sie, wissen Sie denn nicht, dass Kaveh homosexuell ist?«, was würde das bringen, außer dass es die Eltern und die Verlobte in ein Chaos stürzte, das sie, Manette, nichts anging? Sollte Kaveh doch tun, was er wollte. Seine Angehörigen würden die Wahrheit schon irgendwann herausfinden. Oder auch nicht. Im Moment hatte Manette weiß Gott andere Sorgen. Sie musste Tim finden. Wenigstens wusste sie jetzt, warum er weggelaufen war. Zweifellos hatte Kaveh ihm von seinen Zukunftsplänen erzählt. Und das war für den armen Kerl zu viel gewesen.

Aber was hatte er jetzt vor? Sie ging zurück in Tims Zimmer in der Hoffnung, dass Freddie ihr inzwischen darauf eine Antwort würde geben können.

Freddie saß immer noch an Tims Laptop, doch er hatte ihn so gedreht, dass Manette, wenn sie zur Tür hereinkam, den Bildschirm nicht sehen konnte. Sein Gesichtsausdruck war ernst.

«Was hast du gefunden?«, fragte Manette.

«Pornofotos. Und nicht nur neueren Datums.«

«Was denn für Pornofotos?«Sie wollte hinter ihn treten, um einen Blick auf den Bildschirm zu werfen, aber er hob abwehrend eine Hand.»Das möchtest du nicht sehen, Darling.«

«Was ist es denn?«

«Es fängt relativ harmlos an, nackte Frauen, die die Beine breitmachen, das Übliche eben. Das ist normal, dass Jungs sich so was ansehen.«

«Du etwa auch?«

«Na ja, ich stand mehr auf Brüste. Aber die Zeiten ändern sich.«

«Und dann?«

«Nun ja, dann hab ich meine erste Freundin kennengelernt.«

«Freddie, ich rede von Tims Computer. Ist da noch mehr?«

«Ja. Dann kommen Bilder von Männern und Frauen beim Sex.«

«Das ist doch auch normal, oder?«

«Eigentlich ja. Aber dann folgen Bilder, auf denen Männer es mit Männern treiben.«

«Vielleicht wegen Ian und Kaveh? Oder vielleicht hat er selbst solche Neigungen?«

«Möglich. Sogar wahrscheinlich. Ich denke, dass Tim verstehen wollte. Die beiden. Sich selbst. Was weiß ich. «Doch Manette merkte Freddie an, dass das noch nicht alles war.

«Und was hast du noch gefunden, Freddie?«, fragte sie.

«Na ja, später sind es keine Fotos mehr, sondern Filme. Live-Aufnahmen. Und es sind andere Beteiligte. «Er rieb sich das Kinn, und das Geräusch, das durch seine Bartstoppeln entstand, hatte etwas Tröstliches, auch wenn sie nicht hätte sagen können, warum.

«Andere Beteiligte?«

«Männer und Jungs«, sagte Freddie.»Kleine Jungs, Manette. Vielleicht zehn, zwölf Jahre alt. Und die Filme …«Freddie sah sie voller Sorge an.»Kleine Jungs mit älteren Männern. Das heißt, es ist immer nur ein Junge, aber manchmal sind es mehrere Männer. Sie stellen berühmte Szenen nach, zum Beispiel das letzte Abendmahl, nur dass ›Jesus‹ seinen Jüngern nicht die Füße wäscht, und ›Jesus‹ ist vielleicht neun Jahre alt.«

«Großer Gott. «Manette versuchte zu verstehen, wie es gekommen war, dass Tim sich zuerst für nackte Frauen interessiert hatte, dann für Sex zwischen Männern und Frauen und dann für Sex zwischen Männern und schließlich für Sex zwischen Männern und kleinen Jungen. Sie wusste nicht genug über pubertierende Jungen, um zu wissen, ob das noch unter normale Neugier fiel oder nicht, aber sie fürchtete, dass das nicht mehr normal war.»Was sollen wir denn bloß …?«Sie brachte es nicht fertig, die Frage zu Ende auszusprechen, weil sie nicht wusste, ob sie irgendetwas tun konnten, außer die Polizei zu informieren und einen Psychologen einzuschalten und auf das Beste zu hoffen.»Dass er im Internet nach solchen Sachen sucht … Wir müssen es natürlich Niamh sagen. Andererseits, was soll das nützen?«

Freddie schüttelte den Kopf.»Er sucht das Zeug nicht im Internet, Manette.«

«Was? Woher hat er es denn sonst?«

«Ich habe jede Menge E-Mails von jemandem gefunden, der sich Toy4You nennt. Sie führen alle in einen Chatroom für Fotografie. Ich nehme an, dass es in diesem Chatroom verschiedene Zugänge zu unterschiedlichen Fototechniken oder zu Fotomodellen gibt, zu skurrilen Aufnahmen und Nacktfotos und zu bestimmten Personen, in deren private Chatrooms man gelangen kann. Das Internet heißt nicht zufällig Internet. Die Fäden des Netzes führen überallhin. Man braucht ihnen nur zu folgen.«

«Und was schreibt dieser Toy4You?«

«Was man von einem erwarten würde, der ein Kind vorsichtig anlockt: ›ein bisschen harmloser Spaß‹, ›unter Freunden‹, ›nur freiwillig‹, ›man muss volljährig sein‹, später dann ›Sieh’s dir an und sag mir, was du davon hältst‹ und ›Könntest du dir vorstellen‹ und so weiter.«

«Und Tim?«

Freddie trommelte mit den Fingern auf den Schreibtisch. Er schien sich zu überlegen, was er antworten sollte. Entweder das, oder er war noch dabei, die einzelnen Teile zu einem Gesamtbild zusammenzusetzen.

«Freddie?«, sagte Manette vorsichtig.

«Es sieht so aus, als hätte Tim mit diesem Typen einen Deal ausgehandelt.«

«Mit diesem Toy4You?«

«Mhmm. Der Typ — ich nehme jedenfalls an, dass es ein Mann ist — schreibt in seiner letzten Mail: ›Wenn du das machst, tu ich alles, was du willst.‹«

«Und was meint er mit ›das‹?«

«Er hat ein Video mitgeschickt.«

«Und?«

«Der Garten von Gethsemane«, sagte Freddie.»Aber die römischen Soldaten nehmen keinen fest.«

«Mein Gott«, entfuhr es Manette. Dann weiteten sich ihre Augen, und sie schlug sich mit der Hand vor den Mund.»O Gott, Freddie, glaubst du, Tim hat diesen Mann dazu angestiftet, Ian umzubringen?«

Freddie sprang so hastig auf, dass sein Stuhl beinahe umgefallen wäre.»Nein«, sagte er.»Die Mail ist nach Ians Tod gekommen. Was auch immer Tim von dem Mann will, es hat nichts mit dem Tod seines Vaters zu tun. Und ich glaube, dass er es bekommt, wenn er bereit ist, in diesem Porno mitzuwirken.«

«Was kann er bloß von dem Mann wollen, Freddie? Wir müssen ihn unbedingt finden.«

«Du sagst es.«

«Aber wie …?«Dann fiel ihr die Landkarte ein, die sie gesehen hatte, und sie durchsuchte die Sachen auf Tims Schreibtisch.»Moment«, sagte sie,»Moment. «Dann fand sie sie. Doch sie sah sofort, dass die Karte ihnen nichts nützen würde, denn es handelte sich um einen vergrößerten Ausschnitt aus einem Stadtplan, und wenn Freddie die Straßennamen nicht zufällig bekannt vorkamen, würden sie im Internet einen Straßenatlas suchen und irgendwie versuchen müssen herauszufinden, um welche Stadt es sich handelte.

«Ach Gott, Freddie, das sind nur ein paar Straßen«, jammerte sie und zeigte ihm den Ausdruck.»Was machen wir jetzt bloß? Wir müssen ihn finden!«

Freddie warf einen Blick auf die Karte, faltete sie zusammen und schaltete den Laptop aus.»Los, fahren wir«, sagte er.

«Aber wohin denn?«, fragte Manette.»Weißt du etwa, wo das ist?«Gott, dachte sie, wieso hatte sie sich von dem Mann scheiden lassen?

«Nein«, antwortete er,»aber ich glaube, ich weiß, wer es mir sagen kann.«

ARNSIDE — CUMBRIA

Lynley hatte die Strecke in kürzester Zeit zurückgelegt. Der Healey Elliott war ursprünglich als Rennwagen konstruiert worden, und trotz seines hohen Alters enttäuschte er Lynley nicht. Nach knapp einer Stunde fuhr er von der Autobahn ab. Inzwischen war es sehr diesig geworden, und er musste äußerst vorsichtig fahren.

Die Straße, die über Milnthorpe nach Arnside führte, war eng und kurvenreich, es gab nur wenige Haltebuchten, in die langsame Fahrer abbiegen konnten, um ihn vorbeizulassen, und an dem Tag schienen sämtliche Bauern Cumbrias mit ihrem Traktor unterwegs zu sein.

Lynley hatte das Gefühl, sich beeilen zu müssen. Der Himmel wusste, was Deborah vorhatte, und sie war dickköpfig genug, um irgendetwas Verrücktes zu unternehmen, was sie in Gefahr brachte. Dass Simon ihr immer noch nicht den Hals umgedreht hatte, grenzte an ein Wunder, dachte Lynley grimmig.

Auf halber Strecke zwischen Milnthorpe und Arnside sah er die Nebelbank, die sich mit erstaunlicher Geschwindigkeit über die Bucht schob, als würde sie von unsichtbaren Pferden gezogen.

In Arnside verlangsamte er sein Tempo. Er war noch nie bei den Faircloughs gewesen, aber von Deborahs Beschreibung her wusste er, wo ihr Anwesen lag. Er fuhr an einem Pier vorbei, der in das leere Bett des River Kent hineinragte, und bremste, um eine Frau die Straße überqueren zu lassen, die einen Kinderwagen schob und an deren Hose sich ein Kleinkind festhielt, das dick gegen die Kälte eingepackt war. Während er wartete — wenn man in Eile war, schien sich immer alles gegen einen zu verschwören —, las er die Warnhinweisschilder: Achtung, schnell steigende Flut! Achtung, Treibsand! Gefahr! Vorsicht! Warum in aller Welt, fragte er sich, zogen Leute an einem Ort Kinder groß, wo ein falscher Schritt genügte, um in einen nassen Tod gerissen zu werden?

Endlich ging es weiter. Er fuhr durch das Dorf und über die von viktorianischen Villen gesäumte Promenade, bis er die Einfahrt zu Arnside House erreichte. Das Haus, das von einem weitläufigen Rasen umgeben war, bot eine fantastische Aussicht, die allerdings heute durch den immer dichter werdenden Nebel behindert wurde.

Es sah verlassen aus. Nirgendwo im Haus brannte Licht, obwohl es so ein düsterer Tag war. Lynley wusste nicht, ob das ein gutes oder ein schlechtes Zeichen war. Dass kein Auto vor der Tür stand, ließ zumindest hoffen, dass Deborah sich nicht in eine dumme Situation gebracht hatte.

Er hielt auf dem mit Kies bedeckten Vorplatz. Als er ausstieg, stellte er fest, dass sich die Luft während der wenigen Stunden, die er fort gewesen war, verändert hatte. Sie war derart feucht, dass er das Gefühl hatte, Kiemen zum Atmen zu brauchen.

Er klingelte, obwohl er nicht damit rechnete, dass jemand öffnen würde. Doch dann hörte er drinnen Schritte auf dem Fliesenboden, und im nächsten Augenblick ging die Tür auf. Dann stand die schönste Frau vor ihm, die er je gesehen hatte.

Es traf ihn wie ein Schock: die dunkle Haut, die üppigen Locken, aus dem Gesicht gehalten mit Perlmuttkämmen, die großen, dunklen Augen, der sinnliche Mund, die femininen Kurven. Nur ihre Hände verrieten sie, und das auch nur durch ihre Größe.

Er konnte sich gut vorstellen, wie Alatea und Nicholas Fairclough es geschafft hatten, allen in ihrer Umgebung etwas vorzumachen. Wenn Barbara Havers ihm nicht geschworen hätte, dass es sich bei dieser Frau um Santiago Vasquez del Torres handelte, Lynley hätte es nicht geglaubt. Eigentlich konnte er es immer noch nicht glauben. Deswegen wählte er seine Worte mit Bedacht.

«Mrs. Fairclough?«, sagte er. Als sie nickte, zeigte er ihr seinen Dienstausweis.»DI Thomas Lynley, New Scotland Yard. Ich bin hier, um mit Ihnen über Santiago Vasquez del Torres zu sprechen.«

Sie erbleichte so schnell, dass Lynley fürchtete, sie würde in Ohnmacht fallen. Sie trat einen Schritt von der Tür zurück.

«Santiago Vasquez del Torres«, wiederholte Lynley.»Der Name scheint Ihnen bekannt vorzukommen.«

Sie tastete hinter sich nach der Eichenbank, die an der holzgetäfelten Wand stand, und setzte sich kraftlos darauf.

Lynley trat ein und schloss die Haustür. Durch vier kleine bleiverglaste Fenster mit einem Muster aus roten Tulpen und grünen Blättern fiel weiches Licht auf die Frau, die völlig in sich zusammengesunken war.

Lynley war sich immer noch nicht ganz sicher, wie verlässlich seine Informationen waren, doch er entschloss sich, einen Frontalangriff zu wagen.»Wir müssen miteinander reden. Ich habe Grund zu der Annahme, dass Sie Santiago Vasquez del Torres aus Santa María de la Cruz, de los Ángeles y de los Santos in Argentinien sind.«

«Bitte, nennen Sie mich nicht so.«

«Ist das Ihr wahrer Name?«

«Nicht mehr, seit ich in Mexiko war.«

«Bei Raul Montenegro?«

Sie richtete sich auf.»Hat er sie geschickt? Ist er hier?«

«Mich hat niemand geschickt.«

«Das glaube ich Ihnen nicht. «Sie stand auf, eilte an ihm vorbei und wäre beinahe über die Schwelle an der Tür gestolpert, die in einen langen, dunklen, eichengetäfelten Flur führte.

Lynley folgte ihr. Sie öffnete eine doppelflügelige Tür mit bleiverglasten Fenstern mit einem Muster aus Lilien und Farnwedeln und betrat einen großen Raum, der etwa zur Hälfte restauriert war. Alatea verkroch sich in der Kaminecke, wo sie sich mit angezogenen Knien auf eine Bank setzte.

«Bitte, gehen Sie«, sagte sie, mehr zu sich selbst als zu Lynley.»Bitte, lassen Sie mich in Frieden.«

«Ich fürchte, das geht nicht.«

«Sie müssen gehen. Verstehen Sie das nicht? Niemand hier weiß Bescheid. Sie müssen sofort gehen.«

Lynley konnte sich nicht vorstellen, dass kein Mensch Bescheid wusste. Ja, es schien ihm mehr als unwahrscheinlich.»Ich vermute, dass Ian Cresswell Bescheid wusste«, sagte er.

Sie hob den Kopf.»Ian?«, fragte sie verdattert.»Unmöglich. Woher soll er davon gewusst haben?«

«Als Homosexueller, der sich noch nicht geoutet hatte, führte er ein Doppelleben. Er wird mit Menschen wie Ihnen in Kontakt gekommen sein. Es wird ihm leichter gefallen sein als anderen …«

«Halten Sie mich etwa für einen Homosexuellen?«, fragte sie.»Für einen Transvestiten?«Dann schien ihr einiges zu dämmern.»Sie glauben, ich hätte Ian umgebracht, nicht wahr? Weil … Weil er etwas herausgefunden hatte? Weil er mir gedroht hat, er würde mich verraten, wenn … wenn was? Wenn ich ihm kein Geld gab? Was ich natürlich nicht hatte? O Gott, ich wünschte, es wäre so gewesen.«

Lynley begriff überhaupt nichts mehr.

«Ian wusste nichts«, sagte sie.»Niemand hier weiß etwas.«

«Wollen Sie damit sagen, dass auch Nicholas nichts weiß?«Lynley sah sie ungläubig an. Er versuchte, sich einen Reim auf das zu machen, was sie ihm zu sagen versuchte, aber das bedeutete, ein Territorium zu betreten, das ihm gänzlich unbekannt war. Er kam sich vor wie ein Blinder, der in einem Raum voller unförmiger Möbel nach einer Geheimtür tastete.»Falls ja, verstehe ich nicht, was Sie meinen. Wie kann es sein, dass er nichts weiß?«

«Ich habe es ihm nie gesagt.«

«Aber er hat schließlich Augen im Kopf …«Und dann begriff Lynley. Wenn sie Nicholas Fairclough nie von Santiago Vasquez del Torres erzählt hatte und wenn Nicholas Faircloughs Augen es ihm nie enthüllt hatten … dann konnte das nur eins bedeuten.

«Ja«, sagte sie. Offenbar hatte sie seine Gedanken gelesen.»Nur meine Eltern und meine Brüder in Argentinien wissen davon. Und eine Kusine, Elena María. Elena María hat von Anfang an Bescheid gewusst. Schon als wir noch Kinder waren. «Sie schob sich eine Strähne aus dem Gesicht, eine typisch weibliche Geste, was Lynley in Verlegenheit brachte, wie sie es vielleicht beabsichtigt hatte.»María und ich haben zusammen mit Puppen gespielt, und als wir größer wurden, hat sie mir ihre Kleider geliehen und mich ihr Schminkzeug benutzen lassen. «Alatea schaute aus dem Fenster, dann wandte sie sich Lynley wieder zu und sagte ernst:»Können Sie sich das vorstellen? Es war für mich eine Möglichkeit, ich selbst zu sein. Es war die einzige Möglichkeit für mich, ich selbst zu sein, und das hat María verstanden. Ich weiß nicht wie und warum, aber sie hat es wirklich verstanden. Sie hat als Erste gewusst, wer und was ich bin.«

«Eine Frau«, sagte Lynley.»Gefangen in einem Männerkörper. Aber trotzdem eine Frau.«

«Ja.«

Lynley brauchte einen Augenblick, um das zu verdauen. Er sah, dass sie ihn beobachtete. Und er sah, dass sie auf seine Reaktion wartete, dass sie sich vielleicht wappnete für den Fall, dass die Reaktion negativ ausfiel. Sie war einer von fünf Brüdern gewesen, in einer Welt, in der ein Mann zu sein bedeutete, dass man Privilegien genoss, die Frauen sich erst mühsam erkämpfen mussten. Ihr musste klar sein, dass kaum ein Mann verstehen würde, warum ein Mann in einer solchen Welt den Wunsch haben könnte, sein angeborenes Geschlecht abzulegen. Doch genau das hatte sie offenbar getan.

«Selbst als ich noch Santiago hieß, war ich eine Frau. Ich besaß zwar einen männlichen Körper, aber ich war kein Mann. Ein solches Leben zu führen … nirgendwo hinzugehören … in einem falschen Körper gefangen zu sein … einem Körper, den man verabscheut und unbedingt loswerden will, um sein zu können, wer man ist …«

«Also sind Sie eine Frau geworden«, sagte Lynley.

«Ich habe eine Geschlechtsumwandlung machen lassen«, sagte sie.»Ich bin aus Santa María weggegangen, weil ich als Frau leben wollte und das dort nicht möglich war. Wegen meines Vaters, wegen seiner gesellschaftlichen Position, wegen der Familie. Es gab viele Gründe. Und dann kam Raul. Er hatte das Geld, das ich brauchte, um eine Frau zu werden, und er hatte auch seine eigenen Bedürfnisse. Also haben wir einen Deal gemacht, er und ich. Niemand anders war daran beteiligt, und niemand anders wusste davon. «Sie schaute ihn an. Lynley hatte im Lauf der Jahre die Gesichter von verzweifelten, ausgekochten oder durchtriebenen Menschen gesehen, wenn sie versuchten, der Wahrheit auszuweichen. Sie glaubten alle, sie könnten sich verstellen, aber das gelang nur den Soziopathen. Denn in Wirklichkeit waren die Augen tatsächlich Fenster, durch die man in die Seele sehen konnte, und nur Soziopathen hatten keine Seele.

Lynley ging in die Kaminecke und setzte sich auf die Bank gegenüber von Alatea. Er sagte:»Ian Cresswells Tod …«

«Damit habe ich nichts zu tun«, fiel sie ihm ins Wort.»Wenn ich jemanden umbringen würde, dann wäre das Raul Montenegro. Aber ich will ihn nicht umbringen. Das wollte ich nie. Ich wollte nur vor ihm flüchten. Allerdings nicht, weil er damit gedroht hatte, mein Geheimnis zu verraten. Das hätte er nie getan, denn er brauchte eine Frau an seiner Seite. Keine echte Frau, wissen Sie, sondern einen Mann, der als Frau durchging. Schließlich war er sehr um seinen Ruf besorgt. Was er nicht verstanden hat und was ich ihm auch nicht erklärt habe, ist, dass ich mich als Frau fühlte. Mir fehlte nur noch die Operation.«

«Für die er bezahlt hat?«

«Im Austausch, so dachte er, für die perfekte Beziehung zwischen zwei Männern, von denen einer so aussieht wie eine Frau.«

«Eine homosexuelle Beziehung.«

«In gewisser Weise ja. Was natürlich unmöglich ist, wenn nicht beide Partner demselben Geschlecht angehören. Unser Problem — mein Problem — war, dass wir nicht wirklich verstanden haben, was wir voneinander wollten, bevor wir uns in dieses … Abenteuer begaben. Oder vielleicht habe ich absichtlich alles missverstanden, was er von mir wollte, weil ich verzweifelt war und er meine einzige Hoffnung darstellte.«

«Und warum glauben Sie, dass er jetzt hinter Ihnen her ist?«

«Wären Sie das nicht, Thomas Lynley?«, fragte sie ohne Ironie oder Überheblichkeit.»Der Mann hat immerhin sehr viel Geld ausgegeben, um mich zu dem zu machen, was ich heute bin, und er hat für seine Investition sehr wenig zurückbekommen.«

«Was weiß Nicholas?«

«Nichts.«

«Wie ist das möglich?«

«Meine letzte Operation war vor Jahren in Mexiko. Als mir klar wurde, dass ich für Raul nicht sein konnte, was er von mir erwartete, habe ich ihn verlassen. Ich bin aus Mexiko weggegangen. Ich habe an vielen Orten gelebt, nirgendwo lange. Irgendwann landete ich in Utah. Und da habe ich Nicky kennengelernt.«

«Aber Sie müssen ihm doch gesagt haben, dass …«

«Warum?«

«Weil …«Das war doch klar, dachte Lynley. Bestimmte Dinge würden biologisch nicht möglich sein.

«Ich dachte, es könnte immer so weitergehen, ohne dass Nicky je die Wahrheit erfahren müsste. Aber dann wollte er unbedingt nach England zurückkehren und sich seinem Vater gegenüber beweisen. Und er sah nur eine Möglichkeit, das zu bewerkstelligen, nur eine Möglichkeit, seinen Vater glücklich und zufrieden zu machen. Wir würden tun, was keine seiner Schwestern getan hatte, wir würden ihm ein Enkelkind schenken und damit alles wiedergutmachen, was Nicky seinen Eltern in all den Jahren zuvor angetan hat.«

«Das heißt also, dass Sie ihm jetzt reinen Wein einschenken müssen.«

Alatea schüttelte den Kopf.»Wie kann ich ihm einen solchen Verrat gestehen? Könnten Sie das?«

«Das weiß ich nicht.«

«Ich kann ihn lieben. Ich kann seine Geliebte sein. Ich kann ihm ein Zuhause schaffen und alles für ihn tun, was ein Mann sich nur von einer Frau wünschen kann. Nur das eine nicht. Wenn ich mich von einem Arzt untersuchen lasse, findet er heraus, warum ich immer noch nicht schwanger bin … Ich habe Nicky von Anfang an belogen, weil ich es gewöhnt war zu lügen, weil wir das alle tun, weil wir das tun müssen, um in der Welt zu bestehen. Der einzige Unterschied zwischen mir und all den anderen, die die ›Transition‹ vom Mann zur Frau durchgeführt haben, besteht darin, dass ich es vor dem Mann, den ich liebe, geheim gehalten habe, weil ich fürchtete, dass er mich nicht heiraten würde, wenn er die Wahrheit wüsste. Weil ich Angst hatte, dass er mich dann nicht an einen Ort mitnehmen würde, wo ich vor Raul Montenegro in Sicherheit wäre. Das ist meine Sünde.«

«Sie wissen, dass Sie es ihm sagen müssen.«

«Ja, irgendetwas werde ich unternehmen müssen«, antwortete sie.

ARNSIDE — CUMBRIA

Er nahm gerade seine Autoschlüssel aus der Tasche, als Deborah vorfuhr. Sie hielt neben dem Healey Elliott, stieg aus und schaute ihn an. Zumindest, dachte er, besaß sie den Anstand, reuig zu wirken.

«Tut mir leid, Tommy«, sagte sie.

«Hm«, erwiderte er.»Na ja.«

«Hast du die ganze Zeit auf mich gewartet?«

«Nein. Ich war schon auf dem Weg nach London, ungefähr eine Stunde von hier. Barbara hat mich auf dem Handy angerufen. Es gab noch ein paar ungeklärte Fragen. Deshalb bin ich zurückgekommen.«

«Was für Fragen?«

«Wie sich herausgestellt hat, keine, die etwas mit Ian Cresswells Tod zu tun haben. Wo warst du? Bist du noch mal nach Lancaster gefahren?«

«Du kennst mich zu gut.«

«Ja. Und das wird immer so bleiben, nicht wahr?«Er schaute zur Bucht hinunter. Die Nebelbank hatte die Ufermauer erreicht, wälzte sich darüber und breitete sich bereits über den Rasen aus. Er musste sofort losfahren, wenn er die Autobahn erreichen wollte, ehe der Nebel undurchdringlich wurde. Andererseits würde der Nebel das Autofahren in ganz Cumbria gefährlich machen, und er sagte sich, dass er sich nicht guten Gewissens ohne Deborah auf den Weg machen konnte.

«Ich musste noch einmal mit Lucy Keverne sprechen, aber ich wusste, dass du es mir nicht erlauben würdest«, sagte Deborah.

Lynley hob eine Braue.»Ich habe dir überhaupt nichts zu ›erlauben‹. Du bist ein freier Mensch, Deborah. Ich habe dir am Telefon gesagt, dass ich mir lediglich deine Gesellschaft auf der langen Fahrt gewünscht hätte.«

Sie ließ den Kopf hängen. Ihre prächtiges rotes Haar fiel über ihre Schultern nach vorne, und er sah, dass die feuchte Luft bereits dabei war, ihr Werk zu tun. Strähne um Strähne kringelte sich zu Löckchen, als führten sie ein Eigenleben. Medusa, dachte er. Diese Wirkung hatte sie immer schon auf ihn gehabt.

«Ich hatte übrigens recht«, sagte sie.»Ich meine damit, dass mehr hinter der Sache steckt, als Lucy Keverne mir anfangs gesagt hat. Aber ich glaube nicht, dass es ausreicht für ein Mordmotiv.«

«Und was hast du in Erfahrung gebracht?«

«Dass Alatea Lucy dafür bezahlen will, dass sie ein Kind für sie austrägt, also dass sie ihr nicht nur die Unkosten erstatten, sondern wesentlich mehr geben will. Die Geschichte ist also gar nicht so sensationell, wie ich dachte. Ich kann mir nicht vorstellen, dass jemand wegen so etwas einen Mord begehen würde.«

Daraus schloss Lynley, dass Lucy Keverne — wer auch immer sie sein mochte — entweder nicht die ganze Wahrheit über Alatea Fairclough wusste oder dass sie Deborah nicht die ganze Wahrheit gesagt hatte. Denn die wirkliche Geschichte war mehr als sensationell. Sie enthielt die drei Faktoren, die alles menschliche Verhalten bestimmten — Sex, Macht und Geld —, und jeder, der sie kannte, würde in Versuchung geraten, alles aus ihr herauszuholen, was sie zu bieten hatte. Aber Mord? Wahrscheinlich lag Deborah mit ihrer Einschätzung richtig. Das Einzige, was als Mordmotiv in Frage kam, war ein Detail, von dem Lucy Keverne nichts wusste, wenn man Alatea Fairclough glauben konnte. Und Lynley glaubte ihr.

«Und jetzt?«, fragte er Deborah.

«Ich bin hergekommen, um mich bei Alatea zu entschuldigen. Ich habe ihr tagelang die Hölle heißgemacht, und ich fürchte, ich habe ihre Pläne mit Lucy vereitelt. Das war nicht meine Absicht, aber dieser fürchterliche Journalist ist in unser Gespräch geplatzt und hat Lucy erzählt, ich sei eine Polizistin von Scotland Yard, die nach Cumbria geschickt wurde, um die Umstände von Ian Cresswells Tod aufzuklären …«Sie seufzte, schüttelte ihr Haar nach hinten und schob sich eine Strähne aus dem Gesicht, genau wie Alatea.»Ich glaube, ich habe Lucy Keverne Angst eingejagt, so dass sie sich jetzt nicht mehr traut, für Alatea ein Kind auszutragen. Ich habe Alatea schreckliches Unrecht angetan. Jetzt muss sie wieder ganz von vorne anfangen und sich eine neue Leihmutter suchen. Ich dachte … Na ja, wir haben doch etwas gemeinsam, sie und ich, nicht wahr? Wenigstens das möchte ich ihr gern sagen. Und sie um Verzeihung bitten. Und ihr sagen, wer ich wirklich bin.«

Sie meinte es gut, dachte Lynley, doch er fragte sich, ob sie es Alatea damit nicht noch schwerer machen würde. Andererseits kannte Deborah nicht die ganze Wahrheit, und von ihm würde sie sie nicht erfahren. Dazu bestand keine Notwendigkeit. Seine Arbeit hier in Cumbria war erledigt, Ian Cresswell war tot, und wer Alatea Fairclough war und was sie ihrem Mann anvertraute oder nicht, ging nur den lieben Gott etwas an.

«Wartest du auf mich?«, fragte Deborah.»Ich brauche nicht lange. Wir könnten uns im Hotel treffen.«

Er überlegte. Es schien die beste Lösung zu sein.»Aber falls du es dir anders überlegst«, sagte er,»gib mir diesmal Bescheid, okay?«

«Versprochen«, sagte sie.»Aber ich werde es mir nicht anders überlegen.«

MILNTHORPE — CUMBRIA

Zed fuhr nicht zurück zu seiner Pension in Windermere. Das hätte ihn viel zu lange aufgehalten bei dem, was ihm noch in seinem Hinterstübchen herumgeisterte. Und er hatte eine brandheiße Geschichte, die er so schnell wie möglich schreiben musste, damit er die Druckpressen noch rechtzeitig anhalten konnte. Schon lange hatte er nicht mehr so unter Spannung gestanden wie jetzt.

Nick Fairclough hatte versucht, alles vor ihm zu verbergen, aber das war ihm so gut gelungen wie einem dicken Mann, der versuchte, sich hinter einem Laternenmast zu verstecken. Der arme Mann hatte nicht das Geringste von dem geahnt, was seine Frau mit Lucy Keverne ausgeheckt hatte. Zed vermutete, dass die beiden Frauen Nick erst hatten einweihen wollen, wenn Lucy die halbe Schwangerschaft schon hinter sich hatte und es zu spät war für eine Abtreibung. So genau wusste Zed nicht, wie die Sache ablaufen sollte, da Nick sich darüber ausschwieg, wie das mit seinem Sperma geplant war oder ob Alatea sich bereits welches besorgt hatte, aber das war auch alles nicht so wichtig. So wie Zed das sah, hatte er es mit einem Ehemann zu tun, der von zwei Frauen reingelegt worden war, und zwar aus irgendeinem äußerst interessanten Grund, der garantiert ans Tageslicht kommen würde, sobald der erste Teil der Geschichte auf der Titelseite der Source erschien. Normalerweise dauerte es danach nicht länger als vierundzwanzig Stunden, bis die üblichen Verdächtigen aus ihren Verstecken gekrochen kamen und ausplauderten, was sie wussten, und spätestens dann würde Zed alles über Nick, Lucy und Alatea erfahren. Man sollte nicht zu viele Metaphern miteinander vermischen, dachte Zed, aber bei dieser Art von Journalismus war es einfach so, dass eine Story auf die nächste folgte wie der Tag auf die Nacht und die Nacht auf den Tag. Zuerst musste er jedoch die Story, soweit er sie bisher hatte, auf die erste Seite der Source bringen. Und was für eine saftige Story das war: Scotland Yard ermittelte in Cumbria in einem Mordfall und stolperte dabei zufällig auf die perfide Verschwörung zwischen einer heuchlerischen Ehefrau und einer hinterlistigen Stückeschreiberin, die bereit war, ihren Unterleib wie ein billiges Zimmer zu vermieten. Wahrscheinlich konnte man auch noch Anspielungen auf Prostitution unterbringen, dachte Zed. Denn wenn Lucy Keverne einen Teil ihres Körpers gegen Geld zur Verfügung stellte, war es doch naheliegend, dass sie dasselbe auch mit anderen Körperteilen tat.

Da Zed auf seinem Weg sowieso am Crow & Eagle vorbeikam, fuhr er kurz auf den Parkplatz. Das Hotel verfügte bestimmt über einen Internetanschluss, denn das brauchte heutzutage jedes Hotel, um im Geschäft zu bleiben.

Er hatte keinen Laptop dabei, aber das spielte keine Rolle. Er würde einfach ein paar Scheinchen über den Rezeptionstresen schieben, und schon würde man ihn den Computer des Hotels benutzen lassen. Um diese Jahreszeit mussten garantiert nicht viele Anfragen von Touristen bearbeitet werden. Mehr als zwanzig Minuten würde er nicht brauchen. Nachdem Rod den Entwurf gelesen hatte, würde Zed sich an die Feinarbeit machen.

Zed schnappte sich seine Notizen und stieg aus. Im Hotel trat er an die Rezeption, zückte seine Brieftasche und zählte hundert Pfund ab. Die würde er später als Spesen abrechnen, sagte er sich.

Er beugte sich vor und legte die Geldscheine auf die Tastatur des Computers, vor dem eine junge Frau saß. Der Bildschirm war an, aber die junge Frau telefonierte gerade mit einem Kunden, der sich anscheinend über die Größe und Beschaffenheit jedes einzelnen Zimmers im Hotel erkundigte. Sie schaute erst Zed an, dann das Geld, dann wieder Zed. Sie sagte» Einen Augenblick bitte «zu ihrem Gesprächspartner, drückte sich den Telefonhörer an die knochige Schulter und wartete auf eine Erklärung.

Zed legte ihr sein Anliegen dar, und sie brauchte nicht lange, um sich zu entscheiden. Sie beendete ihr Telefongespräch, steckte das Geld ein und sagte:»Wenn das Telefon klingelt, beachten Sie’s einfach nicht — der AB ist an. Sie werden mich doch nicht verpfeifen?«

«Sie sind nach oben gegangen, um für mich nach einem Zimmer zu sehen«, beruhigte er sie.»Ich habe gerade eingecheckt, und Sie lassen mich in der Zwischenzeit Ihren Computer benutzen, damit ich meine Mails abrufen kann. Zwanzig Minuten?«

Sie nickte. Dann flitzte sie die Treppe hoch. Erst als sie im ersten Stock verschwunden war, begann er zu schreiben.

Die Story führte in alle möglichen Richtungen. Ihre Einzelteile waren wie die Nebenflüsse des Amazonas, Zed brauchte nur jeden einzelnen hinaufzupaddeln. Und er legte los.

Als Erstes nahm er sich den Scotland-Yard-Einsatz vor und ging auf die Ironie ein, die darin lag, dass eine Polizistin nach Cumbria geschickt worden war, um die Umstände von Ian Cresswells Tod aufzuklären, und dabei auf eine illegale Vereinbarung zur Leihmutterschaft stieß, die — darauf würde er wetten — zu einem ganzen Ring von illegalen Leihmüttern führte, der von der Verzweiflung kinderloser Paare profitierte. Dann ging er auf den künstlerischen Blickwinkel ein: die mittellose Dramatikerin, die um der Kunst willen bereit war, ihren Körper zu verkaufen. Weiter ging es mit den Themen Betrug und Verrat, und er war gerade dabei zu beschreiben, wie infam Alatea Fairclough und Lucy Keverne Nicholas Fairclough hintergangen hatten, als sein Handy klingelte.

Yaffa! dachte er. Er musste ihr unbedingt erzählen, dass alles in bester Ordnung war. Wahrscheinlich machte sie sich schon Sorgen. Bestimmt rief sie an, um ihn aufzumuntern. Er konnte es gar nicht erwarten, ihr von seinem bevorstehenden Triumph zu berichten.

«Hallo Schatz«, sagte er,»ich hab’s geschafft! Die Story ist heiß!«

«Ich wusste gar nicht, dass wir beide uns so nahe stehen«, bemerkte Rodney Aronson trocken.»Wo zum Teufel stecken Sie überhaupt? Warum sind Sie noch nicht zurück in London?«

Zed hörte auf zu tippen.»Ich bin noch nicht in London«, sagte er,»weil ich die Story habe. Und zwar die ganze Story. Von A bis Z. Halten Sie mir die erste Seite frei, denn das wird der Hammer.«

«Um was geht’s denn?«, fragte Rodney. Er klang eher skeptisch.

Zed fasste die Geschichte kurz zusammen: die illegale Leihmutterschaft, die hungerleidende Künstlerin, der ahnungslose Ehemann. Die Pointe hob er sich für den Schluss auf: der Journalist, der Hand in Hand mit Scotland Yard zusammenarbeitet.

«Die Polizistin und ich haben die Frau in Lancaster dingfest gemacht«, verkündete Zed.»Und nachdem sie uns erst einmal ins Netz gegangen war …«

«Moment«, unterbrach ihn Rodney.»Sagten Sie Polizistin?«

«Genau. Detective Cotter von Scotland Yard. Detective Sergeant. Sie ermittelt im Fall Ian Cresswell. In dem Zusammenhang hat sie Nick Fairclough und seine Frau vernommen, und dabei ist sie auf Dynamit gestoßen — na ja, kein Dynamit für sie, aber für mich.«

Rodney sagte nichts. Zed wartete auf ein Lob von seinem Chef, aber es kam nichts. Er dachte schon, Aronson hätte aufgelegt.»Rod?«, sagte er.»Sind Sie noch da?«

Schließlich sagte Rodney:»Sie sind ein verdammter Versager, Zedekiah. Das wissen Sie doch, oder? Ein Versager allererster Güte.«

«Wie bitte?«

«Es gibt keinen Detective Cotter, Sie Idiot.«

«Aber …«

«Detective Inspector Lynley ist in Cumbria, der Typ, dessen Frau letzten Winter von einem Zwölfjährigen abgeknallt wurde. Schon mal von gehört? Die Story war zwei Wochen lang in den Schlagzeilen. «Er ließ Zed gar nicht zu Wort kommen.»Gott, Sie sind doch wirklich zu nichts zu gebrauchen. Machen Sie, dass Sie zurück nach London kommen. Holen Sie sich Ihren Lohn ab. Ihre Zeit bei der Source ist abgelaufen.«

ARNSIDE — CUMBRIA

Alatea sah sie in der Einfahrt stehen. Die Körpersprache der beiden sagte ihr alles. Das war kein Gespräch zwischen Fremden, die sich zufällig über den Weg gelaufen waren. Sie waren Kollegen oder gar Freunde. Sie tauschten Informationen aus. Das sah sie daran, wie die Frau den Kopf schief legte und das Haus betrachtete, während sie etwas darüber sagte. Oder über jemanden, der in dem Haus wohnte. Wahrscheinlich über sie. Über ihre Vergangenheit und über das, was die Zukunft für sie bereithielt.

Alatea blieb nicht länger am Fenster stehen. Mehr brauchte sie nicht zu sehen. Ihre Welt brach zusammen wie ein Kartenhaus. Sie hätte die Flucht ergriffen, wenn es einen Ort gäbe, an den sie flüchten könnte, aber ihre Möglichkeiten waren sehr begrenzt, und deswegen zwang sie sich, sich zu beruhigen und nachzudenken.

Die Frau wollte Klarheit über Alateas Identität, und der Detective würde sie ihr geben, schließlich wusste er Bescheid, und zwar dank Alatea selbst, die alles hätte abstreiten können, die alles hätte abstreiten müssen, die sich aber hatte überrumpeln lassen. So viel war klar, denn was sonst hätten die beiden miteinander zu bereden? Die einzigen Fragen, die vielleicht noch blieben, waren die, die nur Alatea selbst stellen konnte. Hatte die Frau, die da draußen mit dem Detective sprach, bereits Fotos von Alatea an Raul Montenegro geschickt? Und wenn nicht, wäre sie offen für Bestechung? Wenn ja, wäre Alatea gerettet. Natürlich nur vorerst. Aber mehr konnte sie auch nicht erwarten.

Sie rannte die Treppe hoch und lief ins Schlafzimmer. Dort zog sie eine Kassette unter dem Bett hervor, nahm den Schlüssel dazu aus ihrem Nachttisch. Die Kassette enthielt Geld. Es war nicht viel, kein Vermögen, nicht die Summe, die Raul hingeblättert hatte, um sie zu finden. Doch zusammen mit ihrem Schmuck würde es vielleicht reichen, um die Frau in Versuchung zu führen.

Sie war bereits wieder unten, als es wie erwartet an der Tür klopfte. Die Frau konnte nicht wissen, dass Alatea sie mit dem Detective hatte reden sehen. Das verschaffte Alatea zunächst einen Vorteil, und sie war entschlossen, ihn zu nutzen.

Sie schloss die Augen, flüsterte Dios mío por favor, atmete tief durch und öffnete die Tür.

Die rothaarige Frau sagte:»Mrs. Fairclough, ich bin Ihnen gegenüber nicht ehrlich gewesen. Darf ich reinkommen, um es Ihnen zu erklären?«

«Was wollen Sie von mir?«, erwiderte Alatea steif und förmlich.

«Ich habe Sie verfolgt und beobachtet«, sagte Deborah St. James.»Sie sollen wissen, dass …«

«Wie viel zahlt er Ihnen?«, fragte Alatea.

«Es geht nicht um Geld.«

«Es geht immer um Geld. Ich kann Ihnen nicht so viel zahlen, wie er Ihnen bietet, aber ich bitte Sie … Ich flehe Sie an …«Alatea nahm die Kassette, die sie zusammen mit ihrem Schmuck auf der Bank abgestellt hatte, und reichte Deborah beides.»Nehmen Sie das hier.«

Deborah wich einen Schritt zurück.»Ich will das nicht. Ich bin nur gekommen, um …«

«Sie müssen es nehmen. Und dann gehen Sie bitte. Sie kennen ihn nicht. Sie ahnen nicht, zu was Männer wie er fähig sind.«

Deborah musterte Alatea mit zusammengezogenen Brauen. Sie schien zu überlegen. Alatea versuchte noch einmal, ihr die Kassette und den Schmuck zu geben.»Ich verstehe«, sagte Deborah.»Ich fürchte nur, es ist bereits zu spät, Mrs. Fairclough. Manche Leute lassen sich nicht mehr aufhalten, und ich glaube, dieser Mann gehört dazu. Er hat so etwas Verzweifeltes an sich … Er hat es nicht direkt gesagt, aber ich glaube, dass für ihn eine Menge auf dem Spiel steht.«

«Das macht er Ihnen nur vor. So ist er nun mal. Es war schlau von ihm, eine Frau zu schicken. Wahrscheinlich denkt er, auf diese Weise könnte er mich in Sicherheit wiegen. Obwohl er nur eins im Sinn hat, nämlich mich zu zerstören. Er hat die Macht dazu, und er wird es tun.«

«Aber es gibt keine Geschichte. Jedenfalls keine, die ein Sensationsblatt wie die Source drucken würde.«

«Und das soll mich beruhigen?«, fragte Alatea.»Was hat ein Artikel in der Source überhaupt damit zu tun? Was hat das mit dem zu tun, womit er Sie beauftragt hat? Sie haben mich fotografiert, nicht wahr? Sie sind mir gefolgt und haben Fotos von mir gemacht, und mehr Beweise braucht er nicht.«

«Ich verstehe nicht, was Sie meinen«, sagte Deborah.»Er braucht doch keine Beweise. Das brauchen diese Typen doch nie. Beweise bedeuten denen gar nichts. Die arbeiten hart an der Grenze der Legalität, und wenn sie die Grenze mal überschreiten, haben sie eine ganze Armee von Anwälten auf ihrer Seite, die sich um das Problem kümmern.«

«Dann verkaufen Sie mir Ihre Fotos«, sagte Alatea.»Wenn er mich auf den Fotos sieht …«Sie zog ihren Ring mit dem großen Diamanten vom Finger. Sie nahm die Ohrringe mit den Smaragden ab, die Valerie ihr zur Hochzeit geschenkt hatte.»Hier, nehmen Sie das. Und geben Sie mir dafür die Fotos.«

«Die Fotos sind wertlos. Ohne Text bedeuten sie überhaupt nichts. Und überhaupt, ich will Ihren Schmuck nicht und auch nicht Ihr Geld. Ich möchte Sie nur um Verzeihung bitten für … na ja, eigentlich für alles, aber vor allem dafür, dass ich Ihnen womöglich alles verdorben habe. Wir sind uns sehr ähnlich, Sie und ich.«

Alatea schöpfte Hoffnung. Dass die Frau sie um Verzeihung bat, bedeutete vielleicht, dass noch nicht alles verloren war.»Sie werden ihm also nichts sagen?«

Die Frau sah sie traurig an.»Ich fürchte, er weiß schon Bescheid. Das ist es ja gerade. Deswegen bin ich hergekommen. Ich möchte, dass Sie vorbereitet sind auf das, was auf Sie zukommt. Sie sollen wissen, dass es alles meine Schuld ist und dass es mir furchtbar leidtut. Ich habe versucht, ihm die Informationen vorzuenthalten, aber diese Leute sind gewieft, und seit er in Cumbria ist … Es tut mir so leid, Mrs. Fairclough.«

Alatea begriff, was das bedeutete, nicht nur für sie, sondern auch für Nicky und für ihr gemeinsames Leben.»Er ist hier«, fragte sie.»In Cumbria?«

«Ja, schon seit Tagen. Ich dachte, Sie wüssten das. Hat er Sie nicht …«

«Wo ist er jetzt?«

«Ich glaube, in Windermere.«

Jetzt musste sie handeln. Und zwar schnell. Alatea verabschiedete sich von Deborah und ging nach oben. Sie warf die Kassette und den Schmuck aufs Bett. Holte einen kleinen Koffer aus dem Wandschrank am Ende des Flurs. Ihr blieb nicht viel Zeit, um die Sachen zusammenzupacken, die sie brauchte.

Als sie gerade die oberste Schublade der Kommode öffnen wollte, die zwischen den beiden Fenstern stand, hörte sie, wie vor dem Haus eine Autotür zugeschlagen wurde. Sie schaute aus dem Fenster und sah, dass Nicky früher als erwartet nach Hause gekommen war. Ausgerechnet heute. Er unterhielt sich mit Deborah St. James und wirkte aufgebracht. Alatea hörte, wie er Deborah anschrie, konnte jedoch nicht verstehen, was er sagte.

Aber das brauchte sie auch nicht. Es reichte zu sehen, dass die beiden miteinander redeten. Nickys Gesichtsausdruck sagte ihr, worüber sie sich unterhielten. An Flucht war nicht mehr zu denken. Ihr Auto konnte sie nicht nehmen, denn Nicky und Deborah standen in der Einfahrt. Sie konnte auch nicht zu Fuß zum Bahnhof von Arnside gehen, auch dazu müsste sie das Haus durch die Haustür verlassen, vor der Nicky und Deborah standen. Verzweifelt ging sie im Zimmer auf und ab. Dann wusste sie plötzlich, was sie zu tun hatte. Sie eilte auf die andere Seite des Hauses, die zum Garten hin gelegen war, und schaute aus dem Fenster. Sie würde über den Rasen laufen, der bis zur Ufermauer reichte. Und jenseits der Mauer lag die Bucht.

Es herrschte gerade Ebbe. Das bedeutete, sie konnte die Bucht zu Fuß überqueren und so nach Grange-over-Sands gelangen. Das waren nur wenige Kilometer. Auch dort gab es einen Bahnhof.

Sie musste also nur ein paar Kilometer überwinden. Dann würde sie frei sein.

WINDERMERE — CUMBRIA

Tim hatte die Nacht am Seeufer unter einem Wohnwagen verbracht. Als er auf dem Weg vom Fotoladen bei der Feuerwehr von Windermere vorbeigekommen war, hatte er in einer offenen Tür einen Stapel nach Rauch stinkender Wolldecken entdeckt und davon eine geklaut. Jetzt brauchte er nur noch zu warten, bis Toy4You bereit war. Er jedenfalls war bereit. Bald, sagte er sich, würde er die Lösung für das Chaos haben, in dem er umherirrte, seit Kaveh Mehran in sein Leben getreten war.

Der Wohnwagen hatte ihm Schutz gegen den nächtlichen Regen geboten, und mit der Decke, in die er sich gewickelt hatte, war auch die Kälte erträglich gewesen. Am Morgen war er dann wieder in die Stadt gegangen und hatte sich die ganze Zeit irgendwo herumgetrieben, und als er am Nachmittag ins Einkaufszentrum zurückkehrte, sah er genauso schlimm aus, wie er sich fühlte, die Knochen taten ihm weh, und er stank wie ein Schwein.

Als Toy4You ihn erblickte, rümpfte er die Nase, zeigte auf die Toilette und raunzte ihn an, er solle sich gefälligst ein bisschen frisch machen. Anschließend drückte er ihm drei Zwanzig-Pfund-Scheine in die Hand und sagte:»Geh los und kauf dir was Anständiges zum Anziehen. Was hast du dir dabei gedacht? Wenn die anderen Darsteller dich so sehen, wollen sie nichts mit dir zu tun haben.«

«Wo ist das Problem?«, fragte Tim.»Wir werden doch sowieso nichts anhaben, oder?«

Toy4You sah ihn durchdringend an.»Und besorg dir auch was zu essen. Ich will nicht, dass du plötzlich mittendrin anfängst zu maulen, weil du Hunger hast.«

«Ich maule nicht.«

«Das sagen sie alle.«

«Du kannst mich mal«, sagte Tim, nahm das Geld aber trotzdem.

«So ist’s recht«, sagte Toy4You sarkastisch.»Ich sehe, wir haben uns verstanden.«

Tim zog los. Er stellte fest, dass er tatsächlich Hunger hatte. Eigentlich hatte er gedacht, dass er nie wieder etwas essen würde, doch als er wieder an der Feuerwehr vorbeikam und der Duft nach frischgebratenem Speck ihm entgegenwehte, überkam ihn plötzlich ein unbändiger Hunger. Der Duft erinnerte ihn an seine frühe Kindheit, an warme Brötchen und Rührei mit Speck. Sein Magen knurrte vernehmlich. Also gut, dachte er, dann würde er sich also etwas zu essen besorgen. Aber zuerst die Klamotten. Er kannte einen Oxfam-Laden im Zentrum, da würde er schon irgendeine Hose und einen Pullover finden. Auf keinen Fall würde er sich etwas Neues kaufen, das wäre reine Geldverschwendung. Ab morgen würde er sowieso keine Kleider mehr brauchen.

Bei Oxfam erstand er eine Cordhose. Sie war am Hintern etwas abgescheuert, doch sie passte, und das reichte ihm. Dazu kaufte er sich noch einen Rollkragenpullover, mehr brauchte er nicht, denn Schuhe, Socken und einen Anorak hatte er ja schon. Er hatte reichlich Geld übrig für eine Mahlzeit, aber er würde sich nur ein Sandwich kaufen, vielleicht noch eine Tüte Chips und eine Dose Cola. Den Rest würde er in einen Umschlag stecken und Gracie schicken. Er würde ihr eine Karte schreiben und ihr raten, vor allem auf sich selbst aufzupassen, denn niemand anders würde sich um sie kümmern, egal wie nett sie zu allen war. Dann würde er sie bitten, ihm das mit Bella zu verzeihen. Es tat ihm immer noch furchtbar leid, dass er die Puppe zerrissen hatte, und er konnte nur hoffen, dass die Frau in der Elektrowerkstatt sie wieder hinbekam.

Komisch, dachte Tim, als er in seinen neuen Sachen auf die Straße trat, es ging ihm schon viel besser. Er hatte eine Entscheidung getroffen und fühlte sich erleichtert. Unglaublich, wie lange er sich hundeelend gefühlt hatte, dabei hätte er nichts weiter zu tun brauchen, als eine Entscheidung zu fällen.

WINDERMERE — CUMBRIA

Auf der Polizeistation in Windermere mussten Manette und Freddie fast eine halbe Stunde warten. Sie hatten Tims Laptop mitgenommen und auch den Kartenausschnitt, den der Junge ausgedruckt hatte. Eigentlich hatten sie damit gerechnet, dass der Hinweis auf einen Kinderporno-Ring irgendjemandem Feuer unterm Hintern machen würde, aber das war nicht der Fall gewesen. Man hatte sie Platz nehmen lassen wie im Wartezimmer eines Arztes, und mit jeder Minute, die verstrich, wurde Manette nervöser.

«Es wird alles gut«, murmelte Freddie mehr als einmal. Er hielt ihre Hand und streichelte sie immer wieder, so wie er es zu Anfang ihrer Beziehung getan hatte.»Wir kriegen das schon hin.«

«Fragt sich nur, was das ist«, sagte Manette.»Womöglich ist es schon längst passiert. Oder es passiert, während wir hier sitzen und warten. Vielleicht ist er … vielleicht haben sie … Niamh ist an allem schuld.«

«Es bringt doch nichts, einen Schuldigen zu suchen«, sagte Freddie leise.»Das hilft uns nicht dabei, den Jungen zu finden.«

Als man sie endlich zu einem Polizisten vorließ, schaltete Freddie den Laptop ein und führte dem Constable den E-Mail-Verkehr zwischen Tim und Toy4You vor sowie die Fotos und Filme, die der Mann dem Jungen geschickt hatte. Ganz Gentleman sorgte Freddie dafür, dass Manette die Filme nicht sehen konnte, aber am Gesicht des Constable konnte sie ablesen, dass sie tatsächlich so schlimm waren, wie Freddie sie beschrieben hatte.

Der Polizist nahm den Telefonhörer ab und gab drei Ziffern ein. Dann sagte er:»Connie, ich habe hier einen Laptop, den müssen Sie sich unbedingt ansehen … Alles klar. «Er legte auf und sagte zu Freddie und Manette:»Fünf Minuten.«

«Wer ist Connie?«, fragte Manette.

«Superintendent Connie Calva«, sagte der Polizist.»Die Chefin der Sitte. Haben Sie sonst noch was?«

Manette fiel der Kartenausschnitt ein. Sie nahm ihn aus ihrer Tasche und gab ihn dem Constable.»Das lag auf Tims Schreibtisch. Freddie meinte, wir sollten es mitbringen. Ich weiß nicht, wie nützlich es ist … Ich meine, wir wissen nicht, wo genau das ist.«

«Ich dachte, Sie hätten vielleicht jemanden hier, der die Straßen wiedererkennt«, sagte Freddie.»Es ist ein vergrößerter Kartenausschnitt. Für jemanden, der sich mit Stadtplänen im Internet besser auskennt als ich, ist es vielleicht ganz leicht rauszufinden, um welchen Ort es sich handelt.«

Der Constable nahm zu Manettes großer Verwunderung eine Lupe aus seiner Schreibtischschublade. Wie Sherlock Holmes, dachte sie. Er hielt sie über den Kartenausschnitt, um die Straßennamen besser lesen zu können.»So was lassen wir meistens in Barrow machen. Da haben wir einen forensischen Computerspezialisten, der … Ah. Moment. Ich glaube, das ist ziemlich einfach.«

Er blickte auf, als eine Frau in Jeans, kniehohen Lederstiefeln und kariertem Jackett hereinkam, die Freddie und Manette für Superintendent Calva hielten. Sie nickte den beiden zum Gruß zu und fragte:»Was haben Sie für mich, Ewan?«

Der Constable schob den Laptop in ihre Richtung und wedelte mit dem Kartenausdruck.»Wenn Sie den Schmutz sehen, der da drauf ist, fallen Sie vom Glauben ab«, sagte er.»Und das hier ist ein Kartenausschnitt von der Gegend rund um das Einkaufszentrum.«

«Sie wissen, wo diese Straßen sind?«, fragte Manette. Sie konnte ihr Glück kaum fassen.

«Aber ja«, erwiderte Ewan.»Hier in der Stadt. Keine zehn Minuten von hier.«

Manette packte Freddie am Arm und sagte zu dem Constable:»Wir müssen sofort dahin. Wir wissen, dass sie ihn heute filmen wollen. Das passiert bestimmt dort. Wir müssen sie aufhalten.«

Der Constable hob eine Hand.»So einfach geht das nicht«, sagte er.

Superintendent Calva hatte sich mit dem Laptop an einen anderen Schreibtisch gesetzt und schob sich gerade einen Streifen Kaugummi in den Mund. Sie hatte den erschöpften Gesichtsausdruck einer Frau, der nichts mehr fremd war, aber der Ausdruck änderte sich, als sie die Bilder sah. Schließlich hörte sie auf zu kauen und starrte reglos auf den Bildschirm.

«In der Gegend dort stehen Wohnhäuser, jede Menge Pensionen, eine Feuerwehr und ein Einkaufszentrum. Da können wir nicht einfach so reinstürmen, da brauchen wir schon konkrete Beweise. Sicher, der Laptop ist voll damit, aber wo ist die Verbindung zwischen dem Zeug auf dem Laptop und dem Kartenausschnitt, abgesehen davon, dass Ihr Neffe oder wer auch immer den Ausschnitt im Internet gefunden und ausgedruckt hat? Verstehen Sie, was ich meine? Sie haben uns sehr wertvolle Informationen beschafft, und Superintendent Calva wird sich sofort darum kümmern. Und sobald wir mehr wissen …«

«Aber der Junge ist verschwunden«, sagte Manette.»Seit mehr als vierundzwanzig Stunden. Und jetzt haben wir diese Bilder auf seinem Computer gefunden und herausbekommen, dass er in einem Film mitwirken soll, bei dem Gott weiß was passieren kann … Er ist erst vierzehn!«

«Das habe ich verstanden«, sagte der Constable.»Aber das Gesetz …«

«Zum Teufel mit dem Gesetz!«, schrie Manette.»Unternehmen Sie was!«

Freddie legte ihr einen Arm um die Schultern.»Hm, ja«, sagte er.»Das verstehen wir.«

«Bist du verrückt geworden?«, fuhr sie ihn an.

«Die müssen sich an ihre Vorschriften halten, meine Liebe.«

«Aber Freddie …«

«Manette …«Er schaute zur Tür und hob die Brauen.»Überlassen wir das der Polizei, einverstanden?«

Er bat sie, ihm zu vertrauen, das verstand sie, doch im Moment traute sie niemandem. Trotzdem konnte sie ihren Blick nicht von Freddie abwenden. Sie wusste, dass er immer zu ihr hielt. Widerstrebend sagte sie:»Also gut, wenn du meinst. «Und nachdem sie dem Constable und Superintendent Calva alles gesagt hatten, was sie wussten, verließen sie die Polizeistation.

«Was hast du vor?«, fragte Manette, als sie draußen waren.

«Wir brauchen einen Stadtplan«, sagte er.

«Und dann?«

«Dann brauchen wir eine zündende Idee«, antwortete er,»oder jede Menge Glück.«

WINDERMERE — CUMBRIA

Sie hatten Glück. Das Polizeirevier lag außerhalb der Stadt, zwischen Bowness-on-Windermere und Windermere. Sie fuhren die Lake Road entlang in Richtung Windermere, als Manette Tim entdeckte. Er kam gerade aus einem kleinen Lebensmittelladen, in der Hand einen blau-weiß gestreiften Plastikbeutel, aus dem er eine Tüte Kartoffelchips zog, die er mit den Zähnen aufriss.

«Da ist er!«, rief Manette.»Halt an, Freddie!«

«Immer mit der Ruhe, meine Liebe«, sagte Freddie und fuhr weiter.

«Aber was …«Sie schnallte sich ab.»Wir verlieren ihn aus den Augen!«

Ein Stück weiter die Straße hinunter und in sicherer Entfernung von Tim, der in die entgegengesetzte Richtung weiterging, hielt Freddie an.»Hast du dein Handy dabei?«, fragte er Manette.

«Natürlich …«

«Hör zu, Darling. Hier geht es um mehr als darum, Tim aufzugabeln.«

«Aber er ist in Gefahr!«

«Wie viele andere Jugendliche auch. Stell dein Handy auf Vibrieren und folge ihm. Ich parke den Wagen und rufe dich an. Verstanden? Wenn er wirklich wegen des Films hergekommen ist, wird er uns zu dem Ort führen, an dem diese Filme gemacht werden.«

Das klang plausibel. Wie immer bewahrte Freddie einen kühlen Kopf.»Ja natürlich«, sagte sie.»Du hast recht. «Sie vergewisserte sich, dass ihr Handy auf Vibrieren eingestellt war, und stieg aus. Dann beugte sie sich noch einmal in den Wagen und schaute Freddie an.

«Was ist?«, fragte er.

«Du bist einfach wunderbar, Freddie McGhie«, sagte sie.»Ich liebe dich.«

Bevor er etwas darauf erwidern konnte, schlug sie die Tür zu.

ARNSIDE — CUMBRIA

Als Nicholas Fairclough Deborah aus seinem Haus kommen sah, trat er auf die Bremse, sprang aus dem Wagen und stürmte auf sie zu.»Wer zum Teufel sind Sie?«, fuhr er sie an.»Was machen Sie hier?«Nichts erinnerte mehr an den freundlichen, gesitteten Gentleman, mit dem Deborah sich vor Kurzem unterhalten hatte. Seine Augen sprühten vor Zorn.»Wo ist er? Wie viel Zeit haben wir noch?«

Deborah fühlte sich so eingeschüchtert, dass sie nur noch stammeln konnte.»Ich weiß es nicht … Wie lange dauert so etwas denn? Hören Sie, Mr. Fairclough … Ich habe versucht, ihm klarzumachen, dass es keine Story gibt, Punkt aus. Es gibt keine Story.«

Fairclough wich einen Schritt zurück.»Story? Wer zum Teufel sind Sie? Verdammt, arbeiten Sie etwa auch für die Source? Sie wurden also gar nicht von Montenegro hergeschickt?«

Deborah runzelte die Stirn.»Die Source? Nein. Ich habe mit der Source nichts zu tun … Und wer in aller Welt ist Montenegro?«

Nicholas schaute zum Haus hinüber, dann sah er sie wieder an.»Wer zum Teufel sind Sie?«

«Deborah St. James. Wie ich Ihnen von Anfang an gesagt habe.«

«Aber es gibt gar keine Filmgesellschaft, und es wird auch keinen Dokumentarfilm geben. Das haben wir herausgefunden. Nichts von dem, was Sie uns erzählt haben, entspricht der Wahrheit. Also, was wollen Sie hier? Was wissen Sie? Sie sind mit diesem Typen von der Source in Lancaster gewesen. Das hat er mir selbst erzählt. Oder stimmt das etwa auch nicht?«

Deborah leckte sich die Lippen. Es war kalt und feucht, und der Nebel wurde immer dichter. Sie wollte sich an einem Kaminfeuer wärmen, wollte ein heißes Getränk, doch solange Fairclough ihr den Weg versperrte, kam sie hier nicht weg, und ihr blieb nichts anderes übrig, als ihm die Wahrheit zu sagen.

Sie sei in Cumbria, um einen Detective von Scotland Yard bei seiner Suche nach Informationen zu unterstützen, sagte sie. Sei sei mit ihrem Mann hergekommen, einem forensischen Spezialisten, der für die Polizei bei schwierigen Ermittlungen Beweismittel auswerte. Der Jounalist von der Source habe sie aus irgendeinem Grund für eine Polizistin gehalten, und sie habe ihn in der Annahme bestärkt, um ihn von dem echten Detective und ihrem Mann abzulenken, damit die beiden in Ruhe die Umstände von Ian Cresswells Tod untersuchen konnten.

«Ich kenne niemanden namens Montenegro«, sagte sie zum Schluss.»Ich habe den Namen noch nie gehört. Wer ist der Mann denn?«

«Raul Montenegro. Er versucht, meine Frau zu finden.«

«Das hat sie also gemeint«, murmelte Deborah.

«Sie haben mit ihr gesprochen?«

«Ja, aber ich fürchte, wir haben total aneinander vorbeigeredet«, sagte Deborah.»Sie muss gedacht haben, wir redeten über Raul Montenegro, während ich davon ausging, dass wir von diesem Journalisten von der Source sprachen. Ich habe ihr gesagt, er sei in Windermere. Aber ich meinte natürlich den Journalisten.«

«O Gott. «Fairclough eilte zur Haustür und rief über seine Schulter:»Wo ist sie jetzt?«

«Drinnen«, sagte Deborah.»Warten Sie, Mr. Fairclough, noch etwas!«

Er blieb stehen und drehte sich um.»Ich habe versucht, ihr das zu sagen. Ich habe sie um Verzeihung gebeten. Ich meine … Das mit der Leihmutter. Sie haben absolut nichts zu befürchten. Ich habe Mr. Benjamin gesagt, dass es keinen Stoff für eine Geschichte gibt. Außerdem kann ich Sie voll und ganz verstehen … Ihre Frau und ich … Wir haben dasselbe Problem.«

Er starrte sie an. Er war kreidebleich.

«Ich wünsche mir auch nichts sehnlicher als ein Kind, und ich …«

Aber er war verschwunden, ehe sie den Satz beenden konnte.

WINDERMERE — CUMBRIA

Als Tim in den Fotoladen zurückkehrte, stand Toy4You hinterm Tresen und plauderte mit einem anglikanischen Priester. Sie drehten sich beide um, als Tim eintrat, und der Priester musterte ihn von Kopf bis Fuß. Vermutlich war der Typ einer von denen, die in dem Film mitmachten, dachte Tim, und bei dem Gedanken wurde ihm ganz schlecht. Doch dann packte ihn die Wut. Ein verdammter Priester! dachte er. Genau so ein Heuchler wie alle anderen. Dieses Schwein stand jeden Sonntag in der Kirche vor seiner Gemeinde, verkündete das Wort Gottes, teilte die Kommunion aus, und hinter dem Rücken seiner Schäfchen …

«Daddy! Daddy!«Zwei Kinder kamen in den Laden gestürmt, ein Mädchen und ein Junge, beide in Schuluniform. Ihnen folgte eine Frau, die ziemlich gestresst wirkte und auf ihre Armbanduhr schaute.»Tut mir leid, Darling. Sind wir zu spät?«Sie trat zu dem Priester, küsste ihn auf die Wange und hakte sich bei ihm unter.

«Anderthalb Stunden, Mags«, sagte der Priester und seufzte.»Also wirklich. Du kommst viel zu spät. Wir werden einen neuen Termin vereinbaren müssen. William hat gleich noch einen anderen Termin, und ich muss ebenfalls weg.«

Die Frau entschuldigte sich wortreich, während die Kinder an den Händen ihres Vaters hingen. Es wurde ein neuer Termin für das weihnachtliche Familienfoto vereinbart.

Währenddessen drückte Tim sich in einer Ecke des Ladens herum und tat so, als interessierte er sich für die Digitalkameras in den Schaukästen. Nachdem der Priester und seine Familie sich verabschiedet hatten, ging Tim zum Tresen. William Concord stand auf dem Namensschild von Toy4You. Tim fragte sich, was es zu bedeuten hatte, dass der Typ das Namensschild diesmal nicht verschwinden ließ. Er konnte sich nicht vorstellen, dass er es vergessen hatte, so einer war der nicht.

Toy4You kam hinter dem Tresen hervor, verriegelte die Eingangstür und drehte das Schild um, so dass jetzt von außen Geschlossen zu lesen war. Dann schaltete er die Deckenlampen aus und bedeutete Tim mit einer Kopfbewegung, ihm ins Hinterzimmer zu folgen.

Tim sah sofort, warum Toy4You unmöglich ein Familienfoto von dem Priester und seiner Frau und seinen Kindern hätte machen können. Ein Mann und eine Frau waren gerade dabei, das Fotostudio komplett umzubauen. Anstelle der Säulen mit dem Himmel als Hintergrund entstand der Nachbau eines viktorianischen Kinderzimmers. Drei schmale Betten wurden in dem Moment hereingetragen, und in einem davon lag eine lebensgroße Schaufensterpuppe, die einen Schlafanzug mit Shrek-Motiven und seltsamerweise eine Schulmütze trug. Ans Fußende eines der beiden anderen Betten legte die Frau einen riesigen Plüschhund, der aussah wie ein Bernhardiner. Schließlich rollte der Mann eine Kulisse mit einem aufgemalten offenen Fenster herein, durch das ein sternengesprenkelter Nachthimmel zu sehen war und im Hintergrund eine dilettantische Darstellung von Big Ben, dessen Uhr Mitternacht anzeigte.

Tim konnte sich zunächst auf all das keinen Reim machen, bis ein Junge in ungefähr seinem Alter aus dem Lagerraum kam. Im Gegensatz zu Tim wirkte er außerordentlich selbstsicher. Er ging entschlossen über die Bühne, lehnte sich ans Kulissenfenster und zündete sich eine Zigarette an. Er war von Kopf bis Fuß in Grün gekleidet, mit Schnabelschuhen und einem Hut, der ihm keck auf dem Kopf saß. Er nickte Toy4You zum Gruß zu, während die beiden Erwachsenen im Lagerraum verschwanden, von wo Tim Gemurmel hörte und das Geräusch von Kleidern und Schuhen, die auf den Boden fielen. Während Toy4You noch an einem Stativ herumfummelte, auf das er eine ziemlich teuer aussehende Kamera geschraubt hatte, kamen der Mann und die Frau zurück auf die Bühne. Sie trug jetzt ein hochgeschlossenes weißes Nachthemd mit Rüschenkragen, und er war als Piratenkapitän verkleidet. Der Mann war der Einzige, der eine Maske trug, aber der Haken, der aus einem seiner Ärmel ragte, reichte aus, um auch noch dem letzten Deppen klarzumachen, wen er darstellte. Obwohl wahrscheinlich trotzdem noch einige Volldeppen übrig blieben, die sich nicht mal fragten, was Käpt’n Hook in einem viktorianischen Kinderzimmer zu suchen hatte und weshalb er nicht da war, wo er hingehörte, nämlich auf ein Segelschiff in Nimmerland.

Tim schaute zu Toy4You hinüber und fragte sich, welche Rolle ihm wohl zugedacht war. Dann entdeckte er auf einem der beiden leeren Betten ein Nachthemd und eine runde Nickelbrille, offenbar sollte er Peter Pans älteren Bruder spielen.

Das Ganze kam Tim reichlich bescheuert vor, andererseits war er auch ein bisschen erleichtert. Als er den Film mit dem letzten Abendmahl und den mit Jesus im Garten Gethsemane gesehen hatte, war er davon ausgegangen, dass auch diesmal irgendetwas total Blasphemisches vorgesehen war, auch wenn er sich nicht hatte vorstellen können, was. Ein bisschen hatte er sich Sorgen gemacht, dass im falschen Moment womöglich seine christliche Erziehung durchkommen würde und er nicht in der Lage wäre, den Regieanweisungen Folge zu leisten, obwohl ihm das Thema des Films eigentlich piepegal war.

Aber er hätte sich keine Sorgen zu machen brauchen. Als Wendy und Captain Hook ihre Positionen auf dem Set einnahmen, reichte Toy4You Tim ein kleines Glas Wasser. Dann nahm er ein Tablettenröhrchen aus der Tasche, schüttelte zwei Tabletten heraus, gab sie Tim und bedeutete ihm, sie zu schlucken.

«Was ist das?«, fragte Tim.

«Das ist gut für authentische Nahaufnahmen«, sagte Toy4You.»Unter anderem.«

«Was machen die?«

Ein Lächeln huschte über Toy4Yous Gesicht. Er hatte sich schlecht rasiert.»Die helfen dir bei dem, was wir gleich von dir verlangen. Los, mach schon, schluck sie runter. Du wirst schon sehen, wie sie wirken. Es wird dir bestimmt gefallen.«

«Aber …«

«Los, schlucken«, zischte Toy4You.»Es ist genau das, was du wolltest, also mach schon. Wir haben nicht die ganze Nacht Zeit.«

Tim schluckte die Tabletten. Er spürte nichts. Vielleicht machten sie, dass er sich entspannte. Oder vielleicht machten sie ihn bewusstlos. Er fragte:»Soll ich das Nachthemd anziehen?«

«Sieh mal an, du bist gar nicht dumm«, sagte Toy4You.»Bleib einfach neben der Kamera stehen und warte auf deinen Einsatz.«

«Einsatz?«

«Herrgott noch mal, halt die Klappe und wart’s ab. «Dann sagte er zu Peter Pan und zu Wendy:»Fertig?«Ohne auf eine Antwort zu warten, nahm er seinen Platz hinter der Kamera ein. Der Junge stellte sich ans Fenster, und die Frau im Nachthemd kniete sich auf ein Bett.

Das Nachthemd war so durchsichtig, dass alles an ihr zu sehen war. Tim schluckte und hätte sich am liebsten abgewendet, aber es gelang ihm nicht, denn die Frau zog sich das Nachthemd ganz langsam aus, während Peter Pan auf sie zuging. Sie hielt ihm ihre Brüste hin, und in dem Augenblick sagte Toy4You zu Tim:»Jetzt!«

«Aber was soll ich denn tun?«, fragte Tim. Er spürte, wie sein Glied steif wurde.

«Du gehst spät ins Bett«, murmelte Toy4You, während er filmte, wie Wendy Peter die Strumpfhose herunterzog und sich an ihm zu schaffen machte.»Hast mal wieder bis in die frühen Morgenstunden in der Bibliothek gehockt und gelesen und überraschst deine Schwester und Peter Pan bei ihren kleinen Spielchen. Aber du stehst ebenfalls auf Peter und bist ganz entzückt, als du siehst, was er zu bieten hat.«

«Und … was mach ich?«

«Verdammt, geh einfach auf den Set und tu, was dir in den Sinn kommt! Ich weiß doch, worauf du stehst! Das wissen wir doch beide!«

Und das Schlimmste war, dass es sogar stimmte. Denn er konnte sich gar nicht losreißen von dem, was die beiden da vor laufender Kamera miteinander trieben. Und er wusste nicht, was es bedeutete, dass er Peters steifes Glied wie gebannt anstarrte und irgendetwas wollte, ohne zu wissen, was.

«Los, geh schon!«, zischte Toy4You.»Peter und Wendy zeigen dir, was du tun sollst. «Er warf einen Blick auf Tims Hose und grinste.»Ah. Die Wunder der modernen Medizin. Mach dir keine Sorgen.«

«Und er?«, fragte Tim.

«Wer?«

«Der … der Käpt’n.«

«Um den brauchst du dir keine Gedanken zu machen. Er steht auf Peter. Und auf all die anderen verlorenen Jungs. Auf dich sowieso. Der kommt später und bestraft dich dafür, dass du mit Peter fickst, kaum dass Wendy das Zimmer verlassen hat. Okay? Kapiert? Und jetzt mach, dass du auf die Bühne kommst, wir verschwenden nur Zeit.«

«Und wie bestraft er mich?«

«Genauso, wie du es dir gewünscht hast«, sagte Toy4You gereizt.»Alles klar? Kapiert?«

«Aber du hast gesagt …«

«Herrgott noch mal, du kleiner Wichser. Was hast du denn erwartet? Den Tod auf einem Silbertablett? Und jetzt los — wird’s bald?«

MILNTHORPE — CUMBRIA

Als Deborah sich auf den Weg zum Crow & Eagle machte, wälzte sich der Nebel über die Straße wie eine dichte Rauchwolke. Die Eisenbahnbrücke, unter der Deborah hindurchfuhr, nahm sie nur noch schattenhaft wahr, das Watt war überhaupt nicht mehr zu sehen; nur noch einige Wattvögel in der Nähe des Ufers waren in dem trüben Grau vage auszumachen.

Das Scheinwerferlicht der Autos wurde vom Nebel reflektiert, und die wenigen Fußgänger, die sich bei dem Wetter noch vor die Tür wagten, tauchten so plötzlich aus dem dichten Nebel auf, als würden sie aus dem Boden schießen. Es war eine anstrengende Fahrt, und Deborah atmete erleichtert auf, als sie wohlbehalten auf den Hotelparkplatz einbog.

Tommy erwartete sie, wie versprochen. Er saß in der Bar, vor sich einen Kaffee, das Handy am Ohr. Er saß vornübergebeugt, so dass er sie nicht gleich sah, aber sie hörte das Ende seines Gesprächs mit.

«Ziemlich spät«, sagte er gerade.»Soll ich trotzdem zu dir kommen? Ich habe keine Ahnung, wann, und vielleicht solltest du lieber … Ja, in Ordnung … Ich freue mich auch, Isabelle, und es tut mir schrecklich leid, wie das alles … Ja. Also gut. Dann eben später. Ja …«Er hörte eine Weile zu und spürte anscheinend, dass Deborah sich näherte, denn er drehte sich um. Dann sagte er:»Sie ist gerade gekommen, ich nehme also an, dass wir in wenigen Minuten aufbrechen. «Er sah Deborah fragend an, und sie nickte.»Gut«, sagte er.»In Ordnung. Ich habe den Schlüssel dabei.«

Er beendete das Gespräch. Deborah wusste nicht, was sie sagen sollte. Vor zwei Monaten hatte sie bereits vermutet, dass Tommy mit seiner Vorgesetzten ins Bett ging. Aber sie war noch zu keinem Schluss gekommen, wie sie das finden sollte. Natürlich musste Tommy wieder in sein normales Leben zurückfinden, der Weg jedoch, den er dazu gewählt hatte, irritierte sie zutiefst.

«Kann ich noch einen Kaffee trinken, bevor wir fahren, Tommy?«, fragte sie.»Ich verspreche, ich werde ihn so schnell kippen wie der Priester den Altarwein.«

«Du brauchst ihn nicht zu kippen«, erwiderte er.»Ich trinke auch noch einen. Wir sollten beide hellwach sein, denn das wird eine lange Fahrt.«

Sie setzte sich, und er ging zum Tresen, um zu bestellen. Während des Telefongesprächs mit Isabelle Ardery hatte er auf einer Serviette herumgekritzelt. Er hatte ein Haus auf einer Wiese gezeichnet, dazu zwei kleinere Hütten, einen Bach und Berge auf beiden Seiten. Nicht schlecht, dachte sie. Sie hatte gar nicht gewusst, dass Tommy eine künstlerische Ader besaß.

«Du hast Talent«, bemerkte sie, als er zurückkam.

«Irgendein Haus in Cornwall.«

«Überlegst du zurückzugehen?«

«Noch nicht. «Er setzte sich und lächelte sie an.»Irgendwann vielleicht. «Er nahm die Serviette, faltete sie zusammen und steckte sie in seine Brusttasche.»Ich habe Simon angerufen«, sagte er.»Er weiß, dass wir zurückkommen.«

«Und?«

«Na ja, er findet, dass du einen fürchterlich auf die Palme bringen kannst. Aber das wissen wir ja.«

Sie seufzte.»Ja. Hm. Ich glaub, ich hab alles nur schlimmer gemacht, Tommy.«

«Zwischen dir und Simon?«

«Nein, nein, das bringe ich schon wieder in Ordnung. Schließlich bin ich mit dem nachsichtigsten Mann der Welt verheiratet. Nein, ich rede von Nicholas und Alatea Fairclough. Ich hatte eben ein seltsames Gespräch mit ihr und anschließend eins mit ihm.«

Sie berichtete ausführlich von dem, was vorgefallen war. Dass Alatea ihr Geld und Schmuck angeboten hatte und dass Nicholas einen Mann namens Montenegro erwähnt hatte. Wie immer hörte Tommy ihr aufmerksam zu.

Ihr Kaffee wurde serviert, und Tommy schenkte ihnen beiden ein.

«Alatea dachte also die ganze Zeit, wir würden über diesen Montenegro reden, während ich dachte, es ginge um den Source-Reporter. Letztlich wäre das nicht weiter wichtig gewesen, aber ich habe ihr gesagt, dass er in Windermere ist — zumindest glaube ich, dass er dort hingefahren ist, nachdem er mich hier abgesetzt hat —, und daraufhin ist sie komplett in Panik geraten, offenbar in der Annahme, ich meinte Montenegro. Und Nicholas ist ebenfalls in Panik geraten.«

Lynley schüttete ein Tütchen Zucker in seinen Kaffee. Nachdenklich rührte er um. Er wirkte so gedankenversunken, dass Deborah etwas begriff, was ihr schon viel früher hätte klar sein müssen.

«Du weißt, was mit diesen Leuten los ist, nicht wahr, Tommy? Wahrscheinlich hast du es von Anfang an gewusst. Egal, was es ist, ich wünschte, du hättest es mir gesagt. Dann wäre ich wenigstens nicht wie ein Elefant im Porzellanladen im Leben dieser armen Menschen herumgetrampelt.«

Lynley schüttelte den Kopf.»Nein. Ich wusste noch weniger als du, denn ich habe Alatea heute zum ersten Mal gesehen.«

«Sie ist schön, nicht wahr?«

«Sie ist …«Er schien nach einem passenderen Wort zu suchen. Er hob eine Hand, wie um zu sagen, dass kein Wort ihr gerecht werden konnte. Schließlich sagte er:»Sie ist eine bemerkenswerte Frau. Wenn ich es nicht gewusst hätte, hätte ich nie geglaubt, dass sie als Mann auf die Welt gekommen ist.«

Deborah fiel die Klappe herunter.»Wie bitte?«

«Santiago Vasquez del Torres. So lautet ihr ursprünglicher Name.«

«Was soll das heißen? Dass sie …«

«Eine Geschlechtsumwandlung hinter sich hat, und die hat dieser Montenegro finanziert. Sie sollte seine Geliebte spielen, damit er seinen Ruf wahren, privat aber eine homosexuelle Beziehung leben konnte.«

Deborah schluckte.»Großer Gott. «Sie dachte an Lancaster, an Lucy Keverne, an das, was die beiden Frauen geplant hatten.»Aber Nicholas weiß doch sicher Bescheid, oder?«

«Nein, sie hat es ihm nicht gesagt.«

«Ich bitte dich, Tommy, er muss es doch gemerkt haben. Ich meine … Gott o Gott … Sie wird doch Narben haben, oder?«

«Sie ist von einem Top-Chirurgen operiert worden. Da wird alles geändert, Deborah, selbst der Adamsapfel. Und wenn der Mann sowieso ein femininer Typ ist — vielleicht, weil er ein zusätzliches X–Chromosom hat —, ist es noch leichter.«

«Aber warum sollte sie Nicholas nicht die Wahrheit gesagt haben?«

«Aus Verzweiflung? Aus Angst vor Ablehnung? Wenn Montenegro hinter ihr her ist, und der Mann hat offenbar Geld genug, um die Suche endlos fortzusetzen, dann braucht sie einen Ort, an dem sie in Sicherheit ist. Und deswegen hat sie Nicholas glauben lassen, was er wollte. Er hat sie geheiratet, und das gibt ihr das Recht, solange sie will in England zu bleiben.«

Deborah sah den Zusammenhang.»Ian Cresswell«, sagte sie.»Hat sie ihn ermordet? Hat er es gewusst?«

Lynley schüttelte den Kopf.»Sieh sie dir doch an, Deborah. Sie ist ein Meisterwerk. Niemand würde etwas ahnen, es sei denn, er hätte einen Grund, in ihrer Vergangenheit zu graben, und dazu gab es keinen Grund. Sie ist Nicholas Faircloughs Ehefrau, Punkt, aus. Wenn wir jemanden mit Hinblick auf Ians Tod hätten überprüfen müssen, dann wäre es Nicholas gewesen. Das brauchten wir letztlich jedoch nicht zu tun, weil Simon und der Coroner von Anfang recht hatten. Es gibt nicht den geringsten Hinweis darauf, dass Ian Cresswells Tod etwas anderes als ein Unfall war. Vielleicht hat sich jemand seinen Tod gewünscht. Vielleicht kam sein Tod dem einen oder anderen gelegen. Aber niemand hat nachgeholfen.«

«Und jetzt schreibt dieser schreckliche Journalist einen Artikel über die Sache mit der Leihmutter, und die Zeitung wird ein Foto von Alatea bringen, und ich bin schuld daran. Was soll ich bloß tun?«

«An sein gutes Herz appellieren?«

«Er arbeitet für die Source, Tommy.«

«Tja, da hast du allerdings recht«, räumte er ein.

Ihr Handy klingelte. Deborah hoffte, dass es Zed Benjamin war, der anrief, um ihnen mitzuteilen, dass er es sich anders überlegt hatte. Oder vielleicht Simon, der anrief, um zu sagen, dass er verstehen konnte, was sie dazu getrieben hatte, so einen Schlamassel anzurichten. Aber es war Nicholas Fairclough, und er war in Panik.»Was haben Sie mit ihr gemacht?«

Deborahs erster Gedanke war, dass Alatea sich etwas angetan hatte.»Was ist passiert, Mr. Fairclough?«Sie schaute Tommy an.

«Sie ist weg. Ich habe das ganze Haus und das gesamte Grundstück abgesucht. Ihr Auto ist noch da, und sie hätte sowieso nicht wegfahren können, ohne dass wir sie gesehen hätten. Ich bin an der Ufermauer entlanggelaufen. Alatea ist weg!«

«Sie kommt bestimmt wieder zurück. Sie wird nicht weit weggegangen sein, vor allem bei dem Wetter.«

«Sie ist ins Watt rausgelaufen.«

«Bestimmt nicht.«

«Ich sage Ihnen, sie ist ins Watt rausgelaufen. Es ist die einzige Möglichkeit.«

«Wahrscheinlich ist sie spazieren gegangen, um nachzudenken. Sie kommt bald zurück, und wenn sie wieder da ist, dann sagen Sie ihr, dass ich von dem Journalisten gesprochen habe und nicht von Raul Montenegro.«

«Sie verstehen das nicht!«, rief er.»Herr im Himmel, Sie begreifen es nicht! Sie kommt nicht zurück! Sie kann nicht zurückkommen!«

«Warum denn nicht?«

«Wegen des Nebels. Wegen des Treibsands.«

«Aber wir können …«

«Nein, wir können gar nichts tun! Sehen Sie denn nicht, was Sie angerichtet haben?«

«Bitte, Mr. Fairclough, wir werden sie suchen. Wir rufen jemanden an, wir …«

«Nein, wir können niemanden anrufen.«

«Warum nicht?«

«Wegen der Flutwelle, Sie dumme Pute! Eben kam eine Flutwellenwarnung! Die Sirenen heulen schon!«

WINDERMERE — CUMBRIA

Bis ihr Handy endlich vibrierte, war Manette ein Nervenbündel. Sie hatte sich auf dem Parkplatz des Einkaufszentrums hinter einem Müllcontainer versteckt und behielt die Tür im Auge, hinter der Tim verschwunden war. Es war ein Laden namens Shots! — ein Fotostudio, vermutete Manette, denn im Schaufenster waren mehrere Großaufnahmen des herbstlichen Cumbria ausgestellt. Kurz nach Tim hatte eine gestresst wirkende Frau mit zwei Kindern das Geschäft betreten. Die Frau war wenige Minuten später am Arm eines anglikanischen Priesters wieder herausgekommen und zusammen mit dem Mann und den Kindern in einen Saab gestiegen. Nachdem die Familie weggefahren war, hatte jemand in dem Laden das Geöffnet-Schild umgedreht, und da Manette bis dahin immer noch nichts von Freddie gehört hatte, rief sie die Polizei an.

Ihr Gespräch mit Superintendent Connie Calva verlief kurz und ergebnislos, was Manette so wütend machte, dass sie ihr Handy am liebsten auf den Boden geknallt hätte. Sie hatte der Polizistin geschildert, was vorgefallen war, dass an der Tür von Shots! jetzt Geschlossen stand und Tim immer noch in dem Laden war, und der Junge sei erst vierzehn, und sie wüssten ja wohl beide, dass das nur bedeuten konnte, dass Tim hier war, um in einem von diesen grauenhaften Pornos mitzuwirken, deswegen müsse die Polizei herkommen, und zwar so schnell wie möglich.

Connie Calva hatte jedoch gesagt, sie müssten zuerst Tims Laptop nach Barrow bringen, wo ein Computerspezialist sich das Gerät vornehmen würde, um herauszufinden, von wo aus Toy4You seine Mails gesendet hatte, und dann würden sie einen Durchsuchungsbeschluss beantragen und …«

«Verflixt und zugenäht!«, war Manette ihr ins Wort gefallen.»Ich kann Ihnen ganz genau sagen, wo Tim ist, wo dieses Monster ist, wo die diese Filme drehen! Und ich verlange, dass Sie jemanden hierherschicken, und zwar jetzt sofort!«

Darauf hatte Superintendent Calva in einem ausnehmend freundlichen und geduldigen Tonfall geantwortet, woraus Manette schloss, dass sie Übung darin hatte, mit Leuten zu reden, die völlig durchgedreht waren — wahrscheinlich lernten die das schon auf der Polizeischule.»Hören Sie, Mrs. McGhie«, hatte sie gesagt,»ich weiß, dass Sie beunruhigt sind, aber wenn wir solche Leute dingfest machen und vor Gericht bringen wollen, dann müssen wir uns streng an die Vorschriften halten. Ich weiß, dass Ihnen das nicht gefällt, und mir gefällt es ebenso wenig wie Ihnen, wir haben jedoch keine andere Wahl.«

«Ich pfeife auf Ihre verdammten Vorschriften!«, fauchte Manette und beendete das Gespräch.

Dann rief sie Freddie an, denn sie wollte wirklich zu gern wissen, wo der steckte. Er ging sofort ran und sagte:»Verdammt, Manette, ich hab versucht, dich zu erreichen. Du solltest doch …«

«Ich hab die Polizei angerufen«, unterbrach sie ihn.»Tim ist in einem Fotostudio, Freddie. Herrgott noch mal, wo bleibst du?«

«Ich hab am Bahnhof geparkt und bin jetzt zu Fuß unterwegs ins Zentrum. Wo bist du?«

«Vor dem Fotoladen. «Sie erklärte ihm, wo er sie finden würde.»Bitte, beeil dich, Freddie. Die Polizei kommt nicht. Ich hab da angerufen, doch die haben mir erklärt, sie brauchen einen Durchsuchungsbeschluss, und dafür müssen sie zuerst Tims Laptop nach Barrow bringen und dann … Weiß der Teufel, was dann. Aber Tim ist da drin, und die werden ihn filmen. Ich weiß es, Freddie, ich weiß es einfach, aber sie hat mir nicht geglaubt.«

«Ich bin gleich da«, sagte er.

«Ich versuch, irgendwie in den Laden reinzukommen«, sagte sie.»Ich klopfe einfach an die Tür, dann hören die doch bestimmt auf mit dem, was sie da drinnen treiben, oder?«

«Manette, du tust überhaupt nichts. Hast du mich verstanden? Diese Leute sind gefährlich. Ich bin unterwegs. Warte auf mich!«

Manette wusste nicht, wie sie das schaffen sollte. Trotzdem versprach sie ihm, auf ihn zu warten, dann beendeten sie das Gespräch.

Doch sosehr sie sich auch bemühte, sie konnte sich nicht beherrschen. Nach drei Minuten gab sie es auf.

Sie lief über den Parkplatz und rüttelte an der Tür des Fotostudios, die natürlich geschlossen war. Sie schlug mit der Faust dagegen. Die Tür war aus Glas, aber die Scheibe war dick, und die Tür gab kein bisschen nach. Dass sie mit ihrem Gepolter irgendjemanden bei Filmaufnahmen stören würde, war unwahrscheinlich, denn die Tür, die in die hinteren Räume führte, war geschlossen. Und falls da drinnen tatsächlich gerade Filmaufnahmen gemacht wurden, wäre das sicherlich auch mit Geräuschen verbunden.

Manette kaute auf ihren Nägeln. Sie schaute sich um. Sie überlegte. Es musste noch einen Hinterausgang geben. Schließlich musste laut Brandschutzgesetz jedes öffentliche Gebäude über einen Notausgang verfügen.

Sie lief auf die Rückseite des Einkaufszentrums, wo sich tatsächlich eine Reihe von Türen befanden. Dummerweise war keine davon gekennzeichnet. Sie hatte gar nicht daran gedacht, die Läden abzuzählen. Also lief sie noch einmal zurück, und als sie um die Ecke bog, kam Freddie auf den Parkplatz gerannt.

Sie warf sich ihm in die Arme. Er war völlig außer Atem.»Ab morgen«, keuchte er,»geh ich aufs Laufband. «Dann:»Wo? Welcher Laden?«

Sie berichtete ihm, dass die Ladentür verriegelt war, dass es eine Tür gab, die nach hinten führte, und dass sich auf der Rückseite des Gebäudes Notausgänge befanden. Manette schlug vor, sie würde mit den Fäusten an die Hintertür trommeln, dann brauche Freddie sich nur vor dem Vordereingang zu postieren und zu warten, bis sie alle herausgerannt kamen.

«Kommt nicht in Frage«, widersprach er.»Mit den Leuten können wir es nicht alleine aufnehmen. Wir brauchen die Polizei.«

«Aber die kommt nicht!«, jammerte Manette.»Das hab ich dir doch gesagt. Die kommen erst, wenn sie einen verdammten Durchsuchungsbeschluss haben.«

Freddie sah sich auf dem Parkplatz um. Dann entdeckte er den Müllcontainer.»Wir werden denen schon einen Grund geben herzukommen«, sagte er.

Er lief zu dem Container und stemmte sich mit der Schulter dagegen. Als Manette begriff, was er vorhatte, eilte sie ihm zu Hilfe. Sie rollten den Container auf den Laden zu. Zum Glück war der Boden etwas abschüssig, und der Container nahm immer mehr Fahrt auf.»Volle Kraft voraus, Darling«, murmelte Freddie.»Und hoffen wir, dass die ihre Alarmanlage eingeschaltet haben.«

Das hatten sie. Die Mülltonne krachte in die Glastür des Fotostudios, und im selben Moment ging die Alarmanlage los.

Freddie zwinkerte Manette zu und stützte sich keuchend auf den Knien ab.»Geschafft!«

Sie grinste.

MORECAMBE BAY — CUMBRIA

Alatea rührte sich nicht vom Fleck. Fast drei Kilometer von der Stelle entfernt, wo sie über die Ufermauer in das wasserlose Bett des River Kent geklettert war, blieb sie reglos wie eine Statue stehen. Als sie losgegangen war, hatte sie zwar die Nebelbank gesehen, jedoch immer noch die Halbinsel Holme Island ausmachen können, und sie wusste, dass dahinter Grange-over-Sands lag, und dahinter die Freiheit.

Sie hatte ihre Wanderschuhe angezogen und einen Anorak, für mehr hatte die Zeit nicht gereicht. Dann hatte sie sich ihre Handtasche geschnappt, war zur Terrassentür hinausgeschlüpft, hatte den Rasen überquert, war über die Ufermauer geklettert und losgelaufen, so schnell sie konnte.

Das Wasser hatte sich vollkommen aus der Bucht zurückgezogen, und der River Kent war nur noch ein Rinnsal. Sie würde genug Zeit haben, auf die andere Seite zu gelangen, sagte sie sich, sie musste nur vorsichtig sein. Sie hatte einen Wanderstab mitgenommen, mit dem sie den tückischen Treibsand ertasten konnte, für den die Bucht berüchtigt war. Zum Glück wusste sie, was man im Notfall tun musste, um sich daraus zu befreien.

Womit sie nicht gerechnet hatte, war der Nebel. Sie hatte ihn zwar im Nordwesten von Arnside aufziehen sehen und gewusst, dass er sich auf die Küste zubewegen würde, aber sie hatte nicht geahnt, dass es so schnell gehen würde. Die Nebelbank kam angerollt wie eine gigantische Walze, die lautlos und unaufhaltsam alles in ihrem Weg auslöschte. Als der Nebel sie erreichte, erkannte Alatea sofort die tödliche Gefahr. Zuerst umhüllte sie nur ein kühler, feuchter Schleier, der sich jedoch in kürzester Zeit in eine undurchdringliche weiße Brühe verwandelte und ihr jede Sicht raubte.

Sie hatte keine andere Wahl als umzukehren, da der größere Teil der Strecke noch vor ihr lag. Aber nach wenigen Minuten blieb sie stehen, weil sie einfach nicht mehr wusste, in welche Richtung sie sich bewegte.

Sie lauschte auf Geräusche, die ihr hätten helfen können, sich zu orientieren, doch sie konnte unmöglich ausmachen, woher sie kamen. Sie hörte einen Zug über die Brücke donnern, die Arnside mit Grange-over-Sands verband. Aber sie hätte nicht sagen können, aus welcher Richtung der Zug kam, ja nicht einmal, in welcher Richtung die Brücke lag. Wenn sie sich auf dem Weg zurück nach Arnside befand, müsste die Brücke eigentlich zu ihrer Linken liegen. Es hatte sich allerdings so angehört, als käme das Geräusch von irgendwo hinter ihr, was bedeuten würde, dass sie gerade auf das offene Meer zuging.

Sie änderte ihre Richtung und ging weiter. Geriet in eine Pfütze und versank mit einem Bein bis fast ans Knie. Zog es hastig aus dem Sand. Irgendwo rief jemand etwas. Sie konnte nicht ausmachen, woher das Rufen kam, aber es hörte sich an, als käme es aus der Nähe, was beruhigend war. Sie ging darauf zu.

Ein Traktormotor heulte auf. Zumindest hörte es sich so an. Und zwar direkt hinter ihr. Also musste dort die Küste liegen. Sie wandte sich in die Richtung und rief:»Hallo? Hallo? Ist da jemand?«Aber niemand antwortete. Nur der Traktormotor heulte und stotterte, als müsste er eine schwere Last bewegen.

Dann ertönte eine Hupe. Dort musste also die Straße liegen. Doch eigentlich hatte sie in der Richtung das Meer vermutet, und das bedeutete, dass sie dort das Verderben erwartete. Sie würde über Sandbuckel und durch Pfützen stolpern und irgendwann im Treibsand versinken.

Wieder blieb sie stehen. Sie drehte sich um. Lauschte. Rief. Als Antwort kam der Schrei einer Möwe. Einen Augenblick später wurde die Luft von einem Knall zerrissen, der sich anhörte wie ein Gewehrschuss oder eine Fehlzündung. Dann totale Stille.

Und da begriff Alatea, dass es kein Entrinnen für sie gab. Sie begriff, dass es für sie nie ein Entrinnen gegeben hatte. Vielleicht bestand ja tatsächlich die Möglichkeit, dass sie doch noch aus der Bucht gerettet wurde. Aber aus ihrem Leben und aus dem Lügengebäude, das sie um sich herum errichtet hatte, konnte sie niemand retten. Es wurde Zeit, dass sie das akzeptierte, sagte sie sich. Ihr Leben war von der Angst bestimmt, entdeckt zu werden, auch wenn sie sich stets an die törichte Hoffnung geklammert hatte, auf Dauer unerkannt bleiben zu können. Doch jetzt war diese Hoffnung endgültig zerstoben, und dieser Wahrheit musste sie ins Auge sehen.

Also gut. Sie würde ihr Schicksal akzeptieren, denn sie hatte es nicht anders verdient. Sie öffnete ihre Reisetasche. Sie fand ihre Handtasche, ihr Portemonnaie, ihr Schminktäschchen, aber nicht ihr Handy. Sie hatte es in der Küche liegen lassen, wo es am Ladegerät hing. Wie benommen starrte sie in ihre Tasche. Sie würde Nicholas nicht mehr die Wahrheit sagen können.

Jetzt konnte sie sich nur noch in das Unvermeidliche fügen. Wie hatte sie je glauben können, dass ihr etwas anderes vergönnt war? Hatte sie nicht jeder Schritt, den sie gegangen war, seit sie vor ihrer Familie davongelaufen war, unaufhaltsam an genau diesen Ort, in genau diese Situation geführt?

Es hatte nie ein Entrinnen für sie gegeben, nur einen Aufschub, das wurde ihr endlich bewusst. Zwar hatte die moderne Chirurgie sie aus ihrem körperlichen Gefängnis erlöst und sie zu einer Fremden in einem fremden Land gemacht, aber niemals würde sie all ihren schrecklichen Erinnerungen entfliehen können.

Das Schlimmste, dachte sie, waren die Boxstunden, die ihr verordnet worden waren, weil ihr Vater der Meinung gewesen war, ihre Brüder könnten nicht ewig die Kämpfe für Santiago Vasquez del Torres ausfechten. Es sei an der Zeit, dass er lerne, sich selbst gegen Rüpel zur Wehr zu setzen. Er hatte stirnrunzelnd und sorgenvoll dreingeblickt, wenn Santiago keine Lust hatte, mit seinen Brüdern Unsinn zu machen, Forts zu bauen und Soldaten zu spielen, sich zu balgen und beim Weitpinkeln mitzumachen. Und seine Mutter hatte entsetzt dreingeblickt, wenn sie Santiago in Mädchenkleidern erwischt hatte, wenn sie gesehen hatte, wie er und seine Kusine mit Puppen spielten.

Die Gesichter von Santiagos Eltern hatten dasselbe ausgedrückt, nämlich die bange Frage: Was haben wir da bloß in die Welt gesetzt? Der Vater, ein Mann, der von seiner Kultur, seiner Religion, seiner Erziehung geprägt war, hatte nur eine Angst: dass sein Sohn homosexuell sein könnte. Die Mutter dagegen hatte sich ängstlich gefragt, wie ihr Santiago in einer Welt zurechtkommen sollte, die ihn nicht verstehen würde.

Damals war Elena María Santiagos Zuflucht gewesen. Ihr hatte er alles erzählt. Dass er in einem Körper lebte, den er nicht als den seinen betrachtete. Er schaue an sich hinunter und sehe, dass es ein männlicher Körper ist, aber er funktioniere nicht wie ein Mann, und er wolle auch nicht, dass er so funktioniere. Er könne es nicht einmal ertragen, seinen eigenen Körper zu berühren, weil es sich so anfühle, als berühre er einen Fremden.

Ich weiß nicht, was das ist, hatte er zu Elena María gesagt. Ich weiß nicht, was es bedeutet, aber ich will diesen Körper nicht, ich kann mit diesem Körper nicht leben, ich muss ihn loswerden, und wenn das nicht geht, dann will ich sterben.

Bei Elena María hatte Santiago sich wohlgefühlt. Während dieser wenigen gemeinsamen Stunden, während der Tagesausflüge in eine der größeren Städte oder an den Wochenenden am Strand, wo sie heranwachsende Mädchen sein konnten, erkannte der junge Santiago, was es war, wonach er sich sehnte und was er sein wollte. Aber das war unmöglich in einer Welt, in der sein Vater glaubte, ihn abhärten zu müssen. Um so leben zu können, wie es ihm seine Natur vorgab, hatte Santiago schließlich von zu Hause fliehen müssen, und er war geflohen und in den Armen von Raul Montenegro gelandet.

Waren die Boxstunden wirklich das Schlimmste gewesen? fragte sich Alatea jetzt. Oder war die Sache mit Raul Montenegro das Schlimmste gewesen, die Verwandlung, die Raul ihr verheißen hatte, und die Forderung, ihren Teil der Abmachung einzuhalten? Sie war sich nicht sicher. Doch sie wusste, dass Raul Montenegro ein Mann war, der sich nicht beirren ließ. Genauso wie er sein Versprechen rückhaltlos eingehalten hatte, die Träume seines jungen Geliebten Santiago zu erfüllen, würde er seinen Vorsatz, Alatea zu finden, niemals aufgeben.

Und jetzt stand sie hier, so verloren, wie sie ihr ganzes Leben lang schon verloren gewesen war, vor der Wahl, weiterzugehen oder zu sterben. Sie ging in die Richtung, in der sie Arnside vermutete. Nach wenigen Schritten geriet sie in den Treibsand, den sie so gefürchtet hatte, und in kürzester Zeit war sie bis an die Oberschenkel darin versunken. Ihr war so schrecklich kalt.

Sie brauchte nicht in Panik zu geraten, sagte sie sich. Sie wusste, was sie zu tun hatte. Nicholas hatte es ihr erklärt. Vor langer Zeit, während eines Spaziergangs durch die Bucht bei Ebbe. Sie erinnerte sich genau an seine Worte. Es ist völlig gegen den Instinkt, Darling, hatte er gesagt, aber du musst es tun.

Das wusste sie. Sie wappnete sich.

Da ertönte die Sirene.

ARNSIDE — CUMBRIA

«Sind Sie ganz sicher, Sir?«, wollte der Mann von der Küstenwache in Walney Island von Lynley wissen. Er sprach mit der ruhigen Bestimmtheit, die den Anrufer, der einen Notfall meldete, beruhigen sollte. Er war der Einzige, der die Befugnis besaß, Maßnahmen zu ergreifen.»Ich möchte kein Boot in die Bucht schicken, solange wir nicht mit Sicherheit wissen, dass die Frau wirklich da draußen ist«, sagte er.»Das ist lebensgefährlich. Hat sie angerufen? Hat sie eine Nachricht hinterlassen?«

«Weder noch. Aber wir sind uns dennoch ganz sicher. «Lynley beschrieb die Lage des Hauses und was sie bisher unternommen hatten, um Alatea zu finden. Und er fügte hinzu, sie habe allen Grund gehabt, die Bucht zu durchqueren.

«Und was ist das für ein Grund, Sir?«, fragte der Mann von der Küstenwache.

Lynley erklärte ihm, er ermittle in einem Todesfall durch Ertrinken, bei dem es sich nach den Erkenntnissen von Scotland Yard vermutlich um Mord handelte. Das war natürlich glatt gelogen, aber er sah keine andere Möglichkeit, den Mann zum Handeln zu bewegen.

Fairclough hatte inzwischen an der Ufermauer ein großes Feuer angezündet hatte, das Deborah mit allem in Gang hielt, dessen sie habhaft werden konnte: Holzscheite, Zweige, Zeitungen, Zeitschriften, alte Möbel. Das Feuer hatte nicht nur die Aufmerksamkeit der Küstenwache, sondern auch der Bürger von Arnside auf sich gezogen, die dabei halfen, die Flammen am Lodern zu halten, in der Hoffnung, dass sie Alatea den Weg nach Hause wiesen.

Aber das Feuer war eher eine Beschäftigungstherapie als eine nützliche Maßnahme, das wusste Lynley. Denn wenn Alatea sich draußen in der Bucht befand, würde sie der Flut nicht entkommen können. Aus dem Grund hatte er die Küstenwache informiert.

Der Mann auf Walney Island sagte:»Sir, ich kann ein Boot rausschicken, aber ich will Ihnen nichts vormachen. Die Sichtweite beträgt keine sieben Meter. Die Bucht hat eine Größe von mehr als dreihundert Quadratkilometern. Bei dem Nebel, der da draußen herrscht, und bei der Flutwelle, die da anrollt … Ich schicke meine Leute nicht wegen einer fixen Idee da raus.«

«Ich versichere Ihnen, das ist keine fixe Idee«, entgegnete Lynley.»Wenn Ihre Leute Kurs auf Arnside nehmen, können Sie vielleicht …«

«Also gut, wir versuchen es«, unterbrach ihn der Mann.»Aber sie hat keine Chance, Sir, das wissen wir beide. Will sagen, rufen Sie den Rettungsbootdienst an, vielleicht können die uns unterstützen. Und Sie sollten den Wattführer um seine Meinung bitten.«

Der Wattführer hatte seinen Stützpunkt auf der anderen Seite der Bucht, südlich von Grange-over-Sands, in einer kleinen Enklave namens Berry Bank. Er klang sehr liebenswürdig, als Lynley ihn anrief. Seit fast fünfzig Jahren, so erklärte er Lynley, führe er jetzt schon neugierige Urlauber über die Bucht, und seit er denken könne, sammle er Muscheln im Hafen des Fischerdorfs Flookburgh und fange Krabben im River Leven, daher kenne er die Bucht und sei mit dem Sand vertraut, und wenn eine Frau aus welchen Gründen auch immer bei dem Nebel da rausgelaufen sei, dann sei sie dem Tod geweiht,»so leid es mir tut, Sir.«

Ob man denn gar nichts tun könne, wollte Lynley wissen. Die Küstenwache von Walney Island habe ein Boot rausgeschickt, und er werde als Nächstes die Royal National Lifeboat Institution um Entsendung einer Rettungsmannschaft bitten.

«Kommt drauf an, nach wie vielen Leichen Sie suchen wollen, wenn der Nebel sich verzieht«, antwortete der Mann und erklärte, dass er sich auf keinen Fall einem Trupp von Leichtsinnigen anschließen werde, die sich auf die Suche nach der vermissten Frau machten.

Ebenso wenig waren die Helfer vom RNLI gewillt, sich auf eine riskante Rettungsaktion einzulassen. Sie seien alle Freiwillige, erklärte man Lynley am Telefon. Sie seien dazu ausgebildet, Leben zu retten, und sie seien auch jederzeit gern bereit zu helfen, aber um mit ihren Booten rauszufahren, bräuchten sie Wasser, und derzeit herrsche nunmal leider Ebbe. Zwar habe die Flut bereits eingesetzt, und sie würden hinausfahren, sobald der Wasserstand es zulasse, doch es sei zwecklos, sorry, Sir. Die Frau werde nicht überleben, denn sie werde entweder ertrinken oder erfrieren.

Und so wurde das Feuer geschürt. Jemand hatte ein Megafon herbeigeschafft, mit dem immer wieder Alateas Name gerufen wurde. Inzwischen kam die Flutwelle näher. Der Anblick allein sei schon furchterregend, hörte Lynley jemanden murmeln. Aber von ihr erfasst zu werden, bedeute den sicheren Tod.

WINDERMERE — CUMBRIA

Die Alarmanlage war laut genug, um Tote aufzuwecken, und sie konnten sich nur schreiend verständigen. Mit aller Kraft schoben sie die Mülltonne so weit in den Laden, dass sie sich Zugang verschaffen konnten. Dann schrie Freddie:»Warte hier!«Aber natürlich dachte Manette gar nicht daran.

Er rüttelte an der Tür zum Hinterzimmer. Sie war verriegelt.»Aufmachen! Polizei!«, brüllte Freddie. Und:»Tim! Tim Cresswell!«Nichts rührte sich.

«Ich muss sie aufbrechen«, sagte Freddie. Zumindest glaubte Manette, das von seinen Lippen ablesen zu können.

«Womit denn?«, schrie sie, denn auch wenn Freddie viele Qualitäten besaß, so war er doch nicht der Typ, der über die rohe Kraft verfügte, eine Tür aufzubrechen. Und das hier war keine Bühnentür, die zwar stabil aussah, sich aber ganz leicht mit einem einzigen Tritt eintreten ließ, nein, das war eine Tür, die einen Zweck erfüllte, nämlich den, Eindringlinge fernzuhalten.

Trotzdem legte Freddie sich ins Zeug. Zuerst trat er zu. Dann warf er sich mit der Schulter gegen die Tür. Dann wechselten sie sich ab. Und die ganze Zeit über schrillte die Alarmanlage. Nach mehreren Minuten gab die Tür endlich nach. Freddie schrie:»Manette, du bleibst da!«, und stolperte vorwärts.

Auch diesmal ignorierte sie seine Anweisung. Wenn er sich in Gefahr begab, würde sie ihn nicht allein gehen lassen.

Sie befanden sich in einem Fotolabor, von dem aus man durch eine Tür in einen Lagerraum gelangte. Zwei Gänge führten zwischen Regalreihen hindurch, an deren Ende helle Lampen brannten. Der vordere Teil des Raums lag im Dunkeln. Ein kühler Luftzug, der ihnen entgegenwehte, verriet ihnen, dass die Vögel durch die Hintertür ausgeflogen waren. Sie hofften inständig, dass sie Tim zurückgelassen hatten.

Am Ende des Lagerraums, wo das Licht am hellsten war, entdeckten sie den Filmset: drei Betten, ein Fenster, Big Ben im Hintergrund, ein Plüschhund. Dann bemerkten sie eine Gestalt in einer Art Nachthemd, die auf der Seite lag. Aber das Nachthemd hatte man der Gestalt über den Kopf gezogen und mit einer grünen Strumpfhose zugebunden wie einen Sack. Der Junge lag auf der Seite, die Hände vor dem Körper gefesselt, die Genitalien entblößt. Sein Penis war eregiert. Ein X auf dem Boden vor dem Bett ließ erkennen, wo die Kamera gestanden hatte.

«O Gott«, flüsterte Manette.

Freddie packte sie an den Schultern.»Bleib hier!«, schrie er.»Bleib hier

Diesmal blieb sie, wo sie war, denn sie war vor Angst wie gelähmt. Wenn Tim tot war, würde sie den Anblick nicht ertragen.

Freddie trat an das Bett. Er blutet!, las Manette von seinen Lippen ab. Und: Tim, mein Junge! Tim, hörst du mich!, während er die Strumpfhose aufknotete, die das Nachthemd über Tims Kopf hielt.

Tim zuckte zusammen und wehrte sich. Freddie redete beruhigend auf ihn ein, und schließlich gelang es ihm, das Nachthemd herunterzuziehen und den Körper des Jungen damit zu bedecken. An Tims Augen und an seinem Gesichtsausdruck erkannte Manette sofort, dass er unter Drogen stand, und dafür war sie dem Himmel dankbar, denn es bedeutete vielleicht, dass er sich nicht an das erinnern würde, was ihm hier widerfahren war.

Ruf die Polizei an!, schrie Freddie.

Aber das brauchte sie nicht, denn in dem Moment verstummte die Alarmanlage, und sie hörte eine Stimme im Vorraum.

«Verdammter Schlamassel«, sagte jemand.

Wie wahr, dachte sie.

MORECAMBE BAY — CUMBRIA

Was man tun musste, um im Treibsand zu überleben, so hatte ihr Nicky erklärt, widersprach jedem Instinkt. Sobald man hineingerät, erstarrt man intuitiv, weil es den Anschein hat, als würde man, je mehr man sich wehrt, umso schneller darin versinken. Aber du musst dir ein paar wichtige Dinge merken, Darling. Erstens kann man nicht wissen, wie tief der Sand ist. Du steckst nur in einer Mulde, und auch wenn es welche gibt, die ein Pferd oder einen Traktor oder sogar einen kompletten Bus verschlucken können, sind die meisten ganz seicht, und man versinkt nur knietief oder höchstens bis zu den Hüften darin. Trotzdem darfst du nicht einmal bis an die Hüften und erst recht nicht bis zur Brust im Sand versinken, denn wegen der Sogkraft ist es unmöglich, dich da rauszuziehen, wenn die Retter eintreffen. Dann kommst du nur noch mit Hilfe von Wasser wieder da raus, entweder durch Wasser, das mit Hilfe eines Feuerwehrschlauchs in den Sand gepumpt wird, oder mit Hilfe der Flut, die den Sand wegspült. Du musst also schnell handeln, wenn du in Treibsand gerätst. Wenn du Glück hast, ist er nicht tief, und du schaffst es, darüber wegzulaufen oder umzukehren, ehe er deine Schuhe ansaugt und nicht mehr freigibt. Wenn das nicht geht, musst du dich hinlegen. Du wirst sofort merken, dass du nicht tiefer einsinkst. Und dann kannst du dich von der Stelle wegrollen.

Aber sosehr ihr Nicky, der in diesem seltsamen Teil der Welt aufgewachsen war, das alles ans Herz gelegt hatte, die Vorstellung erschien Alatea wie der reine Wahnsinn. Sie steckte bereits bis zu den Oberschenkeln im Sand, an schnelles Handeln war also nicht mehr zu denken. Sie musste sich hinlegen. Aber sie konnte sich einfach nicht dazu überwinden.»Du musst es tun, du musst«, sagte sie sich, aber sie fürchtete nur, dass der Sand ihren Körper verschlingen, ihr in Ohren und Nase dringen würde.

Sie hätte so gern gebetet, aber ihr Verstand brachte keine Worte zustande, mit denen sie hätte ein Wunder erbitten können. Stattdessen tauchten Bilder vor ihrem geistigen Auge auf, und das Eindrücklichste war eins des dreizehnjährigen Santiago Vasquez del Torres, der von zu Hause weggelaufen und nur bis zur nächsten Stadt gekommen war. In einem Kleid von Elena, zurechtgemacht mit Schminkzeug von Elena, mit einem Tuch über dem Kopf, das sein Haar bedeckte, Haar, das zu kurz war für ein Mädchen und zu lang für einen Jungen, hatte er in der Kirche Zuflucht gesucht. In der Tasche, die er bei sich trug, befanden sich ein bisschen Kleingeld, ein paar Kleider zum Wechseln und drei Lippenstifte.

Als der Priester sie entdeckt hatte, hatte er sie Tochter genannt und gefragt, ob sie gekommen sei, um zu beichten. Eine Beichte schien der richtige Weg zu sein —»Geh, Santiago«, hatte Elena gesagt,»geh den Weg, den Gott dir zeigt.«—, und Santiago Vasquez del Torres hatte gebeichtet. Keine Sünden, sondern den Wunsch nach Hilfe, denn wenn er nicht sein dürfe, was er sein müsse, werde er seinem Leben ein Ende setzen.

Der Priester hatte zugehört. Er hatte von der schweren Sünde der Verzweiflung gesprochen. Er hatte gesagt, Gott mache keine Fehler. Und dann hatte er gesagt:»Komm mit mir, Kind«, und sie waren zusammen ins Pfarrhaus gegangen, wo der Priester ihm die Absolution erteilte und ihm eine warme Mahlzeit aus Kartoffeln und Fleisch vorsetzte, die er ganz langsam gegessen hatte, während er sich unter den misstrauischen Blicken der Haushälterin des Priesters in der einfachen Küche umgesehen hatte. Nach dem Essen hatte der Priester ihn in ein Wohnzimmer geführt, wo er sich ausruhen sollte von der langen, beschwerlichen Wanderung. Und da er tatsächlich furchtbar erschöpft gewesen war, war er auf dem Sofa eingeschlafen.

Sein Vater hatte ihn geweckt. Mit versteinerter Miene hatte er gesagt» Danke, Pater «und seinen missratenen Sohn am Arm gepackt.»Danke für alles. «Dann hatte er der Kirche oder vielleicht auch dem Priester persönlich eine große Summe gespendet für seinen Verrat und Santiago wieder mit nach Hause genommen.

Um ihn zu kurieren, hatte sein Vater ihn verprügelt. Dann hatte er ihn in ein leeres Zimmer gesperrt, um ihm Zeit zu geben, über die Sünde nachzudenken, die er gegen Gottes Gebote und gegen seine Familie und deren guten Namen verübt hatte. Und erst wenn er gelobe, mit diesen Verrücktheiten aufzuhören, werde er ihn wieder freilassen, hatte der Vater gedroht.

Und so hatte Santiago versucht, ein Mann zu werden. Aber die Bilder von nackten Frauen, die die Brüder sich heimlich anschauten, hatten in ihm nur den Wunsch verstärkt, selbst einen weiblichen Körper zu besitzen.

Er entwickelte sich nicht wie seine Brüder: keine Behaarung an Armen und Beinen, keine Behaarung an der Brust, kein Bartwuchs. Es war offensichtlich, dass etwas mit ihm nicht stimmte, doch für seinen Vater lag die einzige Lösung des Problems darin, ihn abzuhärten. Er schickte ihn zum Boxen, nahm ihn mit auf die Jagd, zum Bergsteigen und Skilaufen, damit er sich zu dem Mann entwickelte, zu dem Gott ihn bestimmt hatte.

Zwei endlose Jahre lang quälte Santiago sich ab. Zwei Jahre lang sparte er jeden Peso. Und mit fünfzehn lief er wieder von zu Hause weg, diesmal für immer. Er fuhr mit dem Zug nach Buenos Aires, wo niemand sein Geheimnis kannte.

Alatea dachte an die Zugfahrt, an das Geräusch der Lokomotive, an die vorbeifliegende Landschaft. Sie erinnerte sich daran, wie sie den Kopf gegen die kühle Fensterscheibe gelegt hatte. Wie sie die Füße auf ihrem Koffer abgestellt hatte. Wie der Schaffner gekommen war, ihren Fahrschein abgeknipst und gesagt hatte: Gracias, señorita. Und wie sie von da an immer nur eine Señorita gewesen war.

Die Erinnerung war so lebhaft, dass sie beinahe meinte, die Lokomotive wieder zu hören. Das Rumpeln und Kreischen der Räder des Zugs, der sie in die Zukunft entführte, fort von ihrer Vergangenheit.

Als das Wasser kam, begriff sie, dass es die Flut gewesen war, was sie gehört hatte. Und jetzt begriff sie auch, warum vor einer Weile die Sirenen geheult hatten. Das war die Flutwelle, die so schnell kam wie eine Herde galoppierender Pferde. Das bedeutete, dass das Wasser sie aus dem Treibsand befreien würde. Gleichzeitig wurde ihr bewusst, dass es Dinge gab, von denen nichts und niemand sie jemals befreien konnte.

Sie war froh, dass sie nicht im Sand ersticken würde, wie sie befürchtet hatte. Und als das Wasser sie traf, wusste sie, dass sie auch nicht ertrinken würde. In solchem Wasser ertrank man nicht. Man legte sich einfach hin und schlief ein.

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