7. November

BRYANBARROW — CUMBRIA

Hoffentlich Toy4You, dachte Tim, als sein Handy klingelte, denn er hatte das Warten satt. Aber es war die bescheuerte Manette. Benahm sich, als hätte er ihr überhaupt nichts getan. Sagte, es gehe um das Campingabenteuer. Sie nannte es tatsächlich Abenteuer, als würden sie nach Afrika fahren oder so was, und nicht auf die Viehweide von irgendeinem Bauern, zwischen Massen von Urlaubern aus Manchester.»Ich dachte, wir legen mal einen Termin fest«, sagte sie fröhlich.»Wir sollten nicht mehr allzu lange warten. Regen ist nicht so schlimm. Wenn es allerdings anfängt zu schneien, ist es vorbei. Was meinst du?«

«Lass mich einfach in Ruhe!«, fauchte er.

«Tim …«, sagte sie in diesem geduldigen Ton, den Erwachsene anschlugen, wenn sie fanden, dass er aggressiv wurde, was meistens der Fall war.

«Hör zu«, sagte er.»Vergiss es einfach. Und hör auf, so zu tun, als wär ich dir wichtig.«

«Aber du bist mir wichtig, Tim. Du bist uns allen wichtig. Meine Güte, Tim, du bist …«

«Erzähl mir keinen Scheiß! Der Einzige, für den du dich jemals interessiert hast, war mein Vater. Glaub ja nicht, ich wüsste das nicht! Alle haben sich nur für diesen perversen Dreckskerl interessiert, und jetzt ist er tot, und ich bin froh darüber. Also lasst mich endlich alle in Frieden!«

«Du weißt nicht, was du da redest.«

«O doch.«

«Nein, tust du nicht. Du hast deinen Vater geliebt. Er hat dir wehgetan, das weiß ich, aber was er getan hat, hatte nichts mit dir zu tun, mein Lieber. «Sie wartete auf eine Antwort, doch die Genugtuung würde er ihr nicht geben.»Tim«, fuhr sie fort.»Was passiert ist, tut mir leid. Aber er hätte es nicht getan, wenn er eine andere Möglichkeit gesehen hätte. Eines Tages wirst du es verstehen. Wirklich. Da bin ich mir ganz sicher.«

«Du hast doch keine blasse Ahnung.«

«Ich weiß, dass das alles schwer für dich ist, Tim. Das ist ganz normal. Aber dein Vater hat dich geliebt. Wir alle haben dich lieb. Wir möchten, dass es dir …«

«Halt die Klappe!«, schrie er.»Lasst mich endlich in Frieden!«

Zitternd vor Wut trennte er die Verbindung. Es war ihr ekelhaft sanfter, mütterlicher Ton. Der Scheißdreck, den sie ihm verzapfte. Sein ganzes, beschissenes Leben.

Er warf sein Handy aufs Bett. Sein ganzer Körper war zum Bersten angespannt. Er brauchte frische Luft. Er beugte sich zum Fenster vor und riss es auf. Draußen war es eiskalt, aber das war ihm egal.

George und Dan Cowley kamen gerade aus ihrem Cottage. Sie unterhielten sich, die Köpfe gesenkt, als hätten sie irgendwas Gott weiß wie Wichtiges zu bereden. Sie gingen auf Georges Schrotthaufen von Auto zu, einen schlammverkrusteten alten Land Rover, an dessen Reifen jede Menge Schafscheiße klebte.

George öffnete die Fahrertür und stieg ein, aber anstatt um das Auto herumzugehen und auf der anderen Seite einzusteigen, hockte Dan sich hin und betrachtete Kupplung, Gas- und das Bremspedal sowie die Füße seines Vaters. George sagte irgendwas, gestikulierte und trat auf den Pedalen rum. Dann stieg er aus, und Dan stieg ein. Trat auf den Pedalen rum, während George nickte, gestikulierte und noch nachdrücklicher nickte.

Dann ließ Dan den Motor an, während sein Vater weiter auf ihn einredete. George schlug die Tür zu, und Dan kurbelte das Fenster runter. Der Wagen war so geparkt, dass Dan nicht erst zurücksetzen musste, um loszufahren. George gestikulierte wie wild, anscheinend bedeutete er Dan, er solle eine Runde um den dreieckigen Dorfplatz drehen. Dan fuhr los. Der Wagen hoppelte und schlingerte. George rannte schreiend und mit den Armen fuchtelnd neben dem Auto her, bis Dan den Motor abwürgte.

George sagte etwas ins offene Fenster und langte hinein. Tim dachte, er würde Dan eine ordentliche Kopfnuss verpassen, aber stattdessen zauste er ihm das Haar und lachte, und Dan lachte auch. Er ließ den Motor wieder an. Sie gingen das Ganze noch mal von vorne durch. Diesmal blieb George stehen und rief Dan aufmunternd etwas zu. Dan schaffte tatsächlich eine Runde um den Platz, und George stieß triumphierend eine Faust in die Luft.

Tim wandte sich vom Fenster ab. Vollidioten, dachte er. Zwei Pfeifen. Wie der Vater, so der Sohn. Dan würde genauso enden wie sein Alter und irgendwo in Schafscheiße rumwaten. Er war ein Versager. Ein verdammter Scheißversager. Er war ein derartiger Versager, dass er zerquetscht gehörte, und das würde Tim am liebsten sofort erledigen. Jetzt gleich. Auf der Stelle. Mit einer Pistole oder einem Messer oder einem Knüppel aus dem Haus rennen und sich auf ihn stürzen, bloß dass er keine einzige Waffe hatte, wo er doch so dringend eine brauchte …

Tim rannte aus seinem Zimmer. Er hörte Gracie und Kaveh miteinander reden und ging in die Richtung, aus der die Stimmen kamen. Sie waren in Kavehs Arbeitszimmer im obersten Stock. Der Blödmann saß am Zeichentisch und arbeitete an irgendwas, und Gracie, diese dumme Göre, hockte auf dem Boden und spielte mit ihrer Puppe, wiegte sie in den Armen und redete tatsächlich mit ihr wie mit einem echten Baby, so was Bescheuertes. Es wurde wirklich Zeit, dass er seiner Schwester mal Verstand einbläute …

Gracie kreischte wie am Spieß, als er ihr die Puppe aus den Armen riss.»Verdammte, dämliche Pute!«, schrie er, schlug die Puppe gegen den Zeichentisch, riss ihr Arme und Beine aus und schleuderte sie zu Boden.»Werd endlich erwachsen, du arme Irre!«, schrie er und stürmte aus dem Zimmer.

Er rannte die Treppe runter und aus dem Haus, und hinter sich hörte er Gracie weinen, was ihm eigentlich Genugtuung hätte bereiten müssen, aber das tat es nicht. Dann hörte er Kaveh nach ihm rufen, hörte, wie Kaveh hinter ihm hergerannt kam, ausgerechnet Kaveh, der an allem schuld war.

George und Daniel Cowley standen neben dem Land Rover, und Tim ging extra so dicht an ihnen vorbei, dass er diesen Blindgänger von Daniel aus dem Weg schubsen konnte.»Was fällt dir ein?«, schrie George.

«Fick dich!«, brüllte Tim. Er brauchte etwas, er musste irgendetwas finden, denn es kochte in ihm, sein Blut kochte, und er wusste, wenn er nichts fand, würde sein Kopf explodieren, sein Blut und sein Gehirn würden rausspritzen, was ihm eigentlich egal wäre, doch so wollte er nicht enden. Und die ganze Zeit hörte er Kaveh rufen, er solle stehen bleiben, er solle warten, aber das wäre das Allerletzte, was er tun würde: auf Kaveh Mehran warten.

Er lief um den Pub herum und durch einen Garten bis zum Bach. Ein paar Enten dümpelten auf dem Wasser, und am anderen Ufer watschelten noch ein paar Enten durch das Gras auf der Suche nach Schnecken oder was zum Teufel die Viecher fraßen. Am liebsten hätte er denen allen den Hals umgedreht oder sie mit den Füßen totgetreten, egal, Hauptsache, er spürte irgendwas sterben.

Im nächsten Moment war er auch schon im Wasser. Die Enten flüchteten. Er versuchte, sie zu packen zu kriegen. Von überall her war Geschrei zu hören, und plötzlich merkte er, dass es teilweise aus seinem eigenen Mund kam, und dann wurde er gepackt. Starke Arme umschlangen ihn, und eine Stimme sagte dicht an seinem Ohr:»Nein, tu das nicht. Das willst du doch gar nicht. Es wird alles gut.«

Verdammt, das war diese Schwuchtel, dieser Perverse. Er hatte Tim umklammert und hielt ihn in den Armen, berührte ihn mit seinen Drecksfingern.

«Hau ab!«, schrie Tim. Er wehrte sich, aber Kaveh hielt ihn nur noch fester.

«Tim! Hör auf!«, rief Kaveh.»Du willst das doch gar nicht. Komm hier weg. Schnell.«

Sie rangen im Wasser miteinander, bis es Tim gelang, sich zu befreien, und Kaveh rückwärts ins Wasser fiel. Er landete auf dem Hintern, saß bis zum Bauch im Wasser und hatte Mühe, sich aufzurappeln. Und Tim triumphierte innerlich, denn das war es, was er wollte, dieses Arschloch am Boden sehen. Er wollte es ihm zeigen, ihm beweisen …

«Ich bin kein Arschficker!«, brüllte er.»Rühr mich nie wieder an, kapiert? Such dir einen anderen!«

Kaveh schaute ihn an. Er keuchte, und Tim keuchte auch, und dann änderte sich Kavehs Gesichtsausdruck, doch was sich darin spiegelte, war nicht das, was Tim sehen wollte, nämlich Verletzung, Verzweiflung, Zerstörung.

Kaveh sagte:»Natürlich bist du das nicht, Tim. Hast du das etwa gedacht?«

«Halt die Schnauze!«, schrie Tim und rannte davon.

GREAT URSWICK — CUMBRIA

Manette hatte es geschafft, das Zelt allein aufzubauen. Es war nicht ganz einfach gewesen, und sie hatte sich nicht sonderlich geschickt angestellt, so dass zu befürchten war, dass das Zelt irgendwann über ihr zusammenklappen würde. Trotzdem kroch sie hinein, setzte sich wie ein Buddha in die Öffnung und schaute auf den See hinaus.

Freddie hatte an die Badezimmertür geklopft und gesagt, er müsse mit ihr reden. Sie hatte gefragt, ob er ein paar Minuten warten könne, sie sei gerade dabei … bei irgendetwas eben. Selbstverständlich könne er warten, hatte er hastig geantwortet, als wäre das, was sie gerade im Badezimmer tat, das Letzte, was er wissen wollte, was ja eigentlich auch verständlich war. Manche Dinge waren wirklich zu intim.

Dabei hatte sie gar nichts getan. Sie hatte nur Zeit totgeschlagen. Schon am Vormittag, als sie sich am Kaffeeautomaten begegnet waren, hatte sie gespürt, dass Freddie irgendetwas auf den Nägeln brannte. Sie war aus ihrem Zimmer gekommen, er von draußen. Da er dasselbe anhatte wie am Abend zuvor, wusste sie sofort, dass er die Nacht bei Sarah verbracht hatte. Ein schlaues Luder, diese Sarah, dachte Manette. Hatte sofort erkannt, was für ein Goldstück sie sich da geangelt hatte.

Und als Freddie gesagt hatte, er müsse mit ihr reden, hatte sie mit dem Schlimmsten gerechnet. Dass er glaubte, in Sarah die Richtige gefunden zu haben. Dass er vorhatte, sie am Abend mitzubringen, dass sie bei ihnen einziehen würde. Und Manette hatte sich gefragt, wie sie wohl damit zurechtkommen würde.

Es würde ihnen nichts anderes übrig bleiben, als das Haus zu verkaufen und getrennter Wege zu gehen. Doch das wollte sie nicht, denn sie liebte dieses Haus. Das heißt, sie hing gar nicht so sehr an dem Haus selbst, das zugegebenermaßen ziemlich klein und schäbig war, sondern an diesem speziellen Ort, der schon seit Jahren ihre Zuflucht war. Dass sie ihn womöglich würde verlassen müssen, stimmte sie traurig.

Wahrscheinlich ging es sowieso immer nur um Wurzeln, die man irgendwo geschlagen hatte, und die Angst davor, sie auszureißen, weil nicht alle Pflanzen das überlebten, und Manette wusste nicht, wie es sich anfühlen würde, wenn sie gezwungen wäre, von hier fortzugehen. Von dem Haus und dem alten Ruderboot vorne am Steg, mit dem sie jederzeit auf den See hinausfahren und den Sonnenaufgang genießen oder im Regen sitzen konnte.

Es hatte nichts mit Freddie zu tun, sagte sie sich. Und auch nicht mit Sarah oder irgendeiner anderen Frau, für die Freddie sich irgendwann entschied. Und letztlich war sie es ja gewesen, die die Diskussion darüber entfacht hatte, dass ihnen die Liebe abhandengekommen war.

Manette konnte sich nicht mehr erinnern, wie Freddie sie angesehen hatte, als sie das Thema zum ersten Mal zur Sprache gebracht hatte. Hatte er ihr widersprochen? Sie wusste es nicht mehr. Er war immer so verdammt gefügig. Da hätte es sie nicht wundern sollen, dass er einfach so hingenommen hatte, ihre Ehe sei mausetot. Damals war sie erleichtert darüber gewesen. Aber jetzt wusste sie überhaupt nicht mehr, warum in aller Welt sie damals so erleichtert gewesen war. Was hatte sie denn von einer Ehe erwartet? Drama und Leidenschaft und wilden Sex jede Nacht? Wie sollte man so etwas durchhalten? Und wer wollte das denn überhaupt?

«Ihr lasst euch scheiden?«, hatte Mignon ungläubig gesagt.»Du und Freddie? Ehe du dich zu diesem Schritt entschließt, solltest du dich vielleicht mal gründlich umsehen …«

Es war nicht darum gegangen, Freddie gegen einen anderen Mann einzutauschen. Das interessierte Manette nicht. Es war darum gegangen, realistisch zu sein, sich ihr Leben anzusehen und sich zu fragen, ob es das war, was sie auf Dauer wollte. Sie waren gute Freunde gewesen, die ab und zu sich ein bisschen unter der Bettdecke vergnügten, und das hatte ihr nicht gereicht. So hatte das nicht weitergehen können, das war ihnen beiden klar gewesen. Also hatten sie die logischen Konsequenzen gezogen, und sie hatten sich beide befreit gefühlt. Oder nicht?

«Ach hier bist du! Was machst du denn hier draußen, Kleine?«

Sie riss sich aus ihren Gedanken. Freddie stand mit zwei Henkeltassen vor ihr. Er hockte sich hin und reichte ihr eine Tasse. Sie wollte hinauskrabbeln, aber er sagte:»Nein, bleib da. Ich bin schon seit Jahren nicht mehr in einem Zelt gewesen. «Er kroch ins Zelt und setzte sich neben sie.»Das wird aber nicht lange halten, fürchte ich«, sagte er mit einer Kinnbewegung in Richtung der schiefen Zeltstange.

«Ja, ich weiß. Ein Windstoß, und alles bricht zusammen. Aber es ist ein guter Platz zum Nachdenken, und ich wollte es mal ausprobieren.«

«Überhaupt nicht nötig«, sagte er. Er saß im Schneidersitz neben ihr, und ihr fiel auf, dass er noch genauso beweglich war wie sie: Seine Knie berührten beide den Boden, nicht wie bei manchen Leuten, deren Knie in der Position nach oben zeigten, weil sie viel zu steif waren.

Sie trank einen Schluck von der Hühnerbouillon, die er ihr mitgebracht hatte. Interessant. Als wäre sie krank.»Nicht nötig?«, wiederholte sie.

«Zelten«, sagte er.»Für den Fall der Fälle ins Zelt umzuziehen.«

Sie runzelte die Stirn.»Wovon redest du, Freddie?«

Er legte den Kopf schief. In seinen braunen Augen lag ein Funkeln, an dem sie erkannte, dass er sie auf den Arm nahm.»Na ja, du weißt schon, neulich diese Sache mit Holly. Das war ein einmaliger Ausrutscher. Wird nicht wieder vorkommen.«

«Soll das heißen, du gibst es auf?«

«Das Internet-Dating? Um Gottes willen, nein. «Und dann errötete er.»Ich meine, das macht mir ziemlich viel Spaß. Ich hatte ja keine Ahnung, dass die Frauen so … so direkt geworden sind, seit ich nicht mehr in Aktion bin. Nicht dass ich je in Aktion gewesen wäre.«

«Vielen Dank auch.«

«Nein, nein, so war das nicht gemeint. Ich meinte, du und ich, na ja, wir waren so jung, als wir uns kennengelernt haben … Du warst meine Allererste, weißt du. Meine Erste und meine Einzige. Und jetzt zu erleben, was so alles los ist in der Welt … Das ist echt ein Aha-Erlebnis, das kann ich dir sagen. Na ja, du wirst es ja demnächst selbst erleben.«

«Ich weiß nicht, ob ich das möchte«, sagte sie.

«Ach so. «Er schwieg. Nippte an seiner Bouillon. Es gefiel ihr, dass er nie laut schlürfte. Sie konnte lautes Schlürfen nicht ausstehen.»Na ja.«

«Zurück zu dir«, sagte sie.»Ich will dir nicht verbieten, Frauen mit nach Hause zu bringen, Freddie. Keine Sorge. Es wäre nur nett, wenn du mir vorher Bescheid sagen könntest. Ein kurzer Anruf, wenn sie sich die Nase pudern geht. Aber auch das ist keine Verpflichtung.«

«Das weiß ich«, sagte er.»Wer welche Rechte hat und so weiter. Ich weiß auch, wie ich mich fühlen würde, wenn ich morgens in die Küche käme und da säße ein Typ am Frühstückstisch. Irgendwie komisch. Also werde ich mich mit den Frauen woanders treffen, nicht hier zu Hause.«

«Wie mit Sarah.«

«Wie mit Sarah.«

Manette versuchte, etwas aus seinem Ton herauszuhören, aber es gelang ihr nicht. Sie fragte sich, ob ihr das je bei ihm gelungen war. Merkwürdiger Gedanke — konnte man überhaupt jemals behaupten, seinen Ehemann zu kennen? Dann fiel ihr ein, dass Freddie schon lange nicht mehr ihr Ehemann war.

Eine Weile gaben sie sich der abendlichen Stille hin, die nur unterbrochen wurde vom Geschrei einiger Enten, die über sie hinwegflogen. Schließlich fragte Freddie:»Wo kommt das Zelt überhaupt her? Das ist doch neu, oder?«

Sie erzählte ihm von ihren Plänen: dass sie mit Tim ein paar Tage in die Berge fahren wollte, um auf den Scout’s Scar zu wandern.»Aber er ist nicht gerade begeistert von meinem Vorschlag.«

«Der arme Junge«, sagte Freddie.»Dem hat das Leben wirklich übel mitgespielt.«

Allerdings, dachte Manette.

Auf dem See waren Schwäne aufgetaucht. Majestätisch und still glitten sie scheinbar ohne Anstrengung über das Wasser. Manette schaute ihnen zu und spürte, dass Freddie neben ihr das ebenfalls tat. Nach einer Weile sagte Freddie nachdenklich:»Manette, ich habe angefangen, mich in Ians Buchhaltungsprogramm einzuarbeiten.«

«Ja, ich weiß.«

«Hm. Ja. Mir ist da etwas aufgefallen. Eigentlich sind mir mehrere Dinge aufgefallen, und ich weiß noch nicht so recht, was ich von alldem halten soll. Ehrlich gesagt, bin ich mir nicht mal sicher, dass es sich um etwas Wichtiges handelt, aber trotzdem möchte ich der Sache auf den Grund gehen.«

«Worum geht es denn?«

Freddie schaute sie an. Er schien zu zögern. Dann sagte er:»Wusstest du, dass dein Vater alles finanziert, was mit Arnside House zu tun hat?«

«Er hat das Haus Nicholas und Alatea zur Hochzeit geschenkt.«

«Ja, sicher. Aber er kommt auch für die gesamten Restaurationskosten auf. Und die sind beträchtlich. Hast du eine Ahnung, warum er das tut?«

Sie schüttelte den Kopf.»Ist das denn wichtig? Dad hat doch Geld genug.«

«Stimmt. Ian hat deinen Vater garantiert dazu gedrängt, Nicholas das Geld nur als Kredit zur Verfügung zu stellen, und sei es zinslos und rückzahlbar in hundert Jahren. Und wie ich Ian kenne, hat er das alles irgendwo dokumentiert. Und denk doch bloß mal an Nicks Vergangenheit. Einem Junkie so viel Geld in die Hand zu drücken, das ist doch …«

«Ich glaube kaum, dass Dad ihm das Geld in die Hand gedrückt hat, Freddie. Wahrscheinlich bezahlt er einfach die Rechnungen. Außerdem ist Nick kein Junkie, sondern ein Exjunkie.«

«Ian hätte nicht gesagt Exjunkie. Nicht bei Nicks Geschichte.«

«Kann sein. Trotzdem … Nicholas wird irgendetwas von Dad erben. Vielleicht haben sie sich ja darauf geeinigt, dass Dad ihm sein Erbe schon jetzt auszahlt, damit Dad sich mit ihm daran freuen kann.«

Freddie wirkte nicht überzeugt.»Wusstest du, dass dein Vater Mignon seit Jahren Unterhalt zahlt?«

«Was bleibt ihm denn anderes übrig? Seit dem Sturz in Launchy Gill hat sie ihn doch in der Hand. Man sollte meinen, Dad hätte sie geschubst. Wahrscheinlich hätte er es tun sollen.«

«Die monatlichen Unterhaltszahlungen sind neuerdings gestiegen.«

«Anpassung an die gestiegenen Lebenshaltungskosten?«

«Was hat sie denn schon für Lebenshaltungskosten? Und er hat den Unterhalt nicht nur erhöht, er hat ihn verdoppelt. Das hätte Ian niemals zugelassen. Dagegen hätte er protestiert. Wahrscheinlich hat er sogar versucht, deinen Vater dazu zu überreden, dass er die Unterhaltszahlungen ganz einstellt.«

Manette überlegte. Sie wusste, dass Freddie recht hatte. Aber einige Dinge, die Mignon betrafen, hatte er noch nie verstanden.»Sie hatte doch vor Kurzem diese Operation«, sagte sie.»Die Kosten dafür hat der National Health Service bestimmt nicht übernommen. Also muss jemand anders die Operation bezahlt haben, und das kann ja wohl nur Dad gewesen sein.«

«Dann hätte er das Geld aber direkt an die Klinik überwiesen.«

«Vielleicht hat er es an Mignon überwiesen, damit sie die Rechnung selbst bezahlen konnte.«

«Aber warum überweist er ihr diese Summe jeden Monat? Warum zahlt er ihr überhaupt immer noch Unterhalt?«

Manette schüttelte den Kopf. Die Wahrheit war: Sie wusste es nicht.

Sie schwiegen eine Weile. Als Freddie schließlich seufzte, wusste sie, dass noch etwas auf sie zukam. Sie fragte ihn danach. Er holte tief Luft.

«Was ist eigentlich aus Vivienne Tully geworden?«, fragte er.

Sie schaute ihn an, doch er betrachtete weiterhin die Schwäne auf dem See. Sie sagte:»Ich habe keine Ahnung. Warum?«

«Weil auch sie seit acht Jahren regelmäßige Zahlungen erhält.«

«Warum das denn?«

«Wenn ich das wüsste. Aber dein Vater wirft seit Jahren allen möglichen Leuten viel Geld hinterher, Manette. Und ich glaube, Ian war der Einzige, der davon wusste.«

AUF DEM WEG VON CHALK FARM NACH MARYLEBONE — LONDON

Barbara Havers gönnte sich gerade einen kleinen Imbiss, als Angelina Upman und ihre Tochter an ihre Tür klopften. Der Imbiss bestand aus einem Blaubeer-Pop-Tart und einer Portion Cottage Cheese — jede Mahlzeit sollte mindestens drei Nährstoffgruppen enthalten, und in dieser Kombi waren immerhin zwei vertreten. Barbara stopfte sich schnell den letzten Bissen des Gebäcks in den Mund, ehe sie die Tür aufmachte, denn sie wollte sich von Hadiyyah nicht beim Verzehren eines Pop-Tart erwischen lassen.

Außerdem rauchte sie beim Essen, und Hadiyyah entdeckte augenblicklich die Zigarette, die in einem Aschenbecher auf dem Tisch vor sich hinqualmte. Sie bedachte Barbara mit einem tadelnden Blick, verschränkte die Arme vor der Brust und tippte mit dem Fuß auf den Boden, sagte jedoch nichts. Dann schaute sie ihre Mutter an, eine tugendhafte Nichtraucherin, als wollte sie sagen:»Siehst du, mit was ich mich hier herumplagen muss?«

Angelina sagte:»Wir haben gute und schlechte Nachrichten. Dürfen wir reinkommen?«

O Gott, nein, dachte Barbara. Bisher war es ihr gelungen, Angelina von ihrer Bude fernzuhalten, und eigentlich hätte das so bleiben sollen. Sie hatte ihr Schlafsofa nicht eingeklappt, sie hatte das Geschirr nicht gespült, und über ihrer Spüle hingen an einer behelfsmäßigen Wäscheleine fünf Unterhosen zum Trocknen auf. Aber sie konnte ja schlecht in die Novemberkälte hinaustreten und sich anhören, was Angelina und ihre Tochter von ihr wollten.

Also trat sie zur Seite und sagte:»Ich wollte gerade mit dem Hausputz anfangen«— eine derart himmelschreiende Lüge, dass sie ihr beinahe im Hals stecken geblieben wäre.

Hadiyyah sah sie zweifelnd an, doch Angelina kannte Barbara noch nicht gut genug, um zu wissen, dass für Barbara ein Hausputz etwa so verlockend war wie ein Besuch beim Zahnarzt.

Barbara sagte:»Kaffee? Tee? Ich kann ein paar Tassen spülen. «In dem Berg aus schmutzigem Geschirr und Besteck befanden sich immerhin zehn Henkeltassen.

«Nein, nein, wir können nicht lange bleiben«, sagte Angelina.»Aber ich wollte Ihnen wenigstens wegen Dusty Bescheid sagen.«

Wie bitte …? fragte sich Barbara, bis ihr einfiel, dass das der Name des Frisörs in Knightsbridge war, der dazu ausersehen war, ihr eine neue Frisur zu verpassen.»Ah, ja«, sagte sie und drückte eilig die Zigarette aus, die immer noch im Aschenbecher qualmte.

«Ich habe Ihnen einen Termin bei ihm besorgt«, verkündete Angelina.»Aber der ist leider erst in einem Monat. Dusty ist immer restlos ausgebucht. So ist das nun mal bei erfolgreichen Friseuren, da stehen die Kundinnen Schlange.«

«Das kann ich mir vorstellen«, sagte Barbara, als hätte sie eine Ahnung von so etwas.»Mist. Tja, da hab ich wohl Pech gehabt.«

«Pech gehabt?«, wiederholte Hadiyyah.»Du musst unbedingt da hingehen, Barbara. Er ist der Beste. Du wirst staunen, wie schön er dir die Haare schneidet.«

«Das glaub ich dir aufs Wort, Kleine«, sagte Barbara,»aber ich hab meiner Chefin gesagt, dass ich einen freien Tag brauche, um zum Frisör zu gehen, und ich kann mir weder einen ganzen Monat freinehmen, noch ohne neue Frisur zur Arbeit erscheinen. Also …«Sie schaute Angelina an.»Kennen Sie vielleicht noch jemanden, den Sie mir empfehlen können?«

Angelina machte ein nachdenkliches Gesicht. Hob eine perfekt manikürte Hand und legte sie an ihre Wange.»Wissen Sie was, ich glaube, da lässt sich was machen. Vielleicht nicht bei Dusty, aber in seinem Salon. Er hat immer Leute da, die noch in der Ausbildung sind und unbedingt bei ihm lernen wollen … Vielleicht kann einer von denen Ihnen die Haare schneiden. Wenn ich mitkomme, kann ich Dusty bitten, zwischendurch mal einen Blick darauf zu werfen. Was halten Sie davon?«

In Anbetracht dessen, dass sie sich seit zwanzig Jahren die Haare in der Dusche absäbelte, konnte alles, was halbwegs professionell war, nur besser sein. Trotzdem fand Barbara es angebracht, sich ein bisschen skeptisch zu geben.»Hmm«, sagte sie.»Ich weiß nicht … Was meinen Sie? Das ist nämlich wichtig, weil meine Chefin die Angelegenheit sehr ernst nimmt.«

«Das haut bestimmt hin«, versicherte ihr Angelina.»Es ist immerhin einer der besten Frisörsalons, die nehmen nicht jeden als Lehrling an … Soll ich mich also darum kümmern?«

«Ja, Barbara«, zwitscherte Hadiyyah.»Bitte sag Ja. Vielleicht können wir nachher noch alle zusammen zum Tee in ein Café gehen. Wir machen uns fein und setzen uns Hüte auf und nehmen schicke Handtaschen mit und …«

«Ich glaube, heutzutage trägt niemand mehr einen Hut zum Tee«, fiel Angelina ihr ins Wort. Offenbar hatte sie das Entsetzen in Barbaras Gesicht gesehen.»Also, was meinen Sie, Barbara?«

Barbara hatte wirklich keine andere Wahl, denn in zwei Tagen musste sie wohl oder übel mit einer neuen Frisur zur Arbeit erscheinen, und wenn sie keinen Profi an ihren Kopf ließ, musste sie die Sache selbst in die Hand nehmen, was diesmal nicht in Frage kam. Sie sagte:»Klingt gut«, woraufhin Angelina fragte, ob sie ihr Telefon benutzen könne, dann würde sie den Anruf gleich erledigen, bevor wieder etwas dazwischenkomme.

Als Hadiyyah quer durch das Zimmer flitzte, um das Telefon hinter dem verstaubten Fernseher hervorzuholen, fiel Barbara zum ersten Mal auf, dass das Mädchen nicht wie üblich zwei lange, ordentlich geflochtene Zöpfe hatte, sondern ihr Haar offen trug, aus dem Gesicht gehalten von einem hübschen Haarreif.

Während Angelina mit dem Salon telefonierte, machte Barbara Hadiyyah ein Kompliment zu ihrem schönen Haar. Hadiyyah strahlte. Ihre Mummy habe ihr das Haar gebürstet, sagte sie. Ihr Daddy habe ihr immer nur Zöpfe geflochten, aber so habe sie ihr Haar immer getragen, bevor ihre Mummy nach Kanada gegangen war.

Barbara fragte sich, ob Hadiyyah das Haar schon seit Angelinas Rückkehr offen trug. Gott, wenn dem so war, was sagte es dann über sie aus, dass es ihr eben erst aufgefallen war? Darüber wollte sie lieber nicht intensiver nachdenken, denn die Antwort konnte nur lauten, dass ihre Aufmerksamkeit in den letzten vier Monaten vor allem Angelina gegolten hatte oder, schlimmer noch, Angelina und Taymullah Azhar.

«Sehr gut. Perfekt«, sagte Angelina gerade.»Wir werden pünktlich da sein. Und Sie sind sich ganz sicher, dass Cedric …«

Cedric? dachte Barbara.

«… seine Sache gut machen wird? … Sehr schön … Ja, danke. Bis dann. «Sie legte auf.»Heute Nachmittag um drei«, verkündete sie.»Dusty hat versprochen, sich Ihren Kopf anzusehen und die Frisur mit seinem Lehrling abzusprechen. Kümmern Sie sich einfach nicht um sein albernes Stargehabe, und nehmen Sie das alles nicht persönlich. Und hinterher gehen wir zum Tee in ein Café, wie Hadiyyah vorgeschlagen hat. Und zwar werden wir richtig vornehm mit dem Taxi zum Dorchester fahren. Ich lade Sie ein.«

«Wir gehen zum Tee ins Hotel Dorchester?«, quiekte Hadiyyah aufgeregt und schlug sich die Hände vor die Brust.»Au ja! Du musst Ja sagen, Barbara!«

Barbaras Bedürfnis, zum Tee ins Dorchester zu gehen, war etwa so groß wie ihr Bedürfnis, Drillinge in die Welt zu setzen. Aber Hadiyyah sah sie so hoffnungsvoll an, und Angelina hatte sich wirklich große Mühe gegeben. Wie konnte sie also Nein sagen?

«Tee im Dorchester, alles klar«, sagte sie, während sie sich fragte, was in drei Teufels Namen sie anziehen und wie sie das alles überleben sollte.

Nachdem der Plan besiegelt war, verabschiedete Barbara ihre Freundinnen, zog sich halbwegs gepflegt an und fuhr zum Twins Club. Sie hielt es für ziemlich wahrscheinlich, dass Lord Fairclough in seinem Club abstieg, wenn er in London war. Und sollte das der Fall sein, gab es dort garantiert jemanden, der aus dem Nähkästchen plaudern konnte.

Da Barbara noch nie einen privaten Club betreten hatte, war sie sich nicht ganz sicher, was sie erwartete. Sie rechnete mit von Zigarrenrauch geschwängerter Luft, alten Männern, die in persischen Pantoffeln umherschlurften, dem Klackern von Billardkugeln als Geräuschkulisse, mit ledernen Sesseln vor einem offenen Kamin und zerlesenen alten Ausgaben der Satire-Zeitschrift Punch auf niedrigen Beistelltischen.

Womit sie nicht gerechnet hatte, war die alte Frau, die auf ihr Klingeln hin die Tür öffnete. Die Frau sah aus, als würde sie schon hier arbeiten, seit der Club gegründet worden war. Ihr Gesicht war nicht faltig, sondern runzlig, ihre Haut erinnerte an Pergamentpapier, und ihre Augen waren trüb. Und anscheinend hatte sie ihr Gebiss vergessen. Oder sie besaß ganz einfach keins. Auch eine Möglichkeit, Diät zu halten, dachte Barbara.

Sie mochte vielleicht zweitausend Jahre alt sein, aber sie war auf Draht. Sie musterte Barbara von oben bis unten und sagte dann völlig unbeeindruckt:»Zutritt für Nichtmitglieder nur in Begleitung eines Mitglieds, meine Liebe. «Ihre Stimme klang wie die einer wesentlich jüngeren Frau, was Barbara so verblüffte, dass sie sich beherrschen musste, um sich nicht nach einem Bauchredner umzusehen, der sich irgendwo versteckt hielt.

«Ich wollte mich um eine Mitgliedschaft bewerben«, sagte Barbara in der Hoffnung, wenigstens einen Fuß in die Tür zu bekommen. Hinter der Frau konnte sie dunkel getäfelte Wände und diverse Gemälde sehen, aber mehr auch nicht.

«Das ist ein Herrenclub«, klärte die Alte sie auf.»Frauen ist der Zutritt nur in Begleitung eines männlichen Mitglieds gestattet. Übrigens nur zum Speisesaal. Und zu den Toiletten natürlich.«

Tja, so kam sie nicht weiter, dachte Barbara, also nickte sie und sagte:»Da wär dann noch was anderes. «Sie zog ihren Scotland-Yard-Ausweis aus der Tasche.»Ich hätte da ein paar Fragen zu einem Ihrer Mitglieder. Wenn Sie mich jetzt eintreten lassen würden?«

«Eben haben Sie gesagt, Sie wollten sich um eine Mitgliedschaft bewerben«, entgegnete die Frau.»Was wollen Sie denn nun? Mitglied werden oder Fragen stellen?«

«Eigentlich beides. Aber da das mit der Mitgliedschaft ja nun nichts wird, werd ich mich auf die Fragen beschränken. Ich würde es aber vorziehen, sie nicht hier vor der Tür zu stellen. «Sie trat einen Schritt vor.

Normalerweise funktionierte das, diesmal jedoch nicht. Die alte Dame ließ sich nicht beirren.»Was für Fragen?«, wollte sie wissen.

«Ich muss sie demjenigen stellen, der für den Club zuständig ist«, sagte Barbara.»Wenn Sie ihm Bescheid sagen könnten? Ich warte dann in der Eingangshalle. Oder wo auch immer Sie Polizisten warten lassen.«

«Hier gibt es keinen Geschäftsführer. Es gibt einen Vorstand, und der setzt sich aus Mitgliedern zusammen, und wenn Sie sich mit einem von ihnen unterhalten wollen, dann müssen Sie nächsten Monat wiederkommen, wenn der Vorstand tagt.«

«Tut mir leid, aber das geht nicht«, erwiderte Barbara.»Es geht um polizeiliche Ermittlungen.«

«Und hier geht es um Clubregeln«, entgegnete die Frau.»Soll ich den Anwalt des Clubs anrufen und ihn herbitten? Denn das ist die einzige Möglichkeit, wie Sie durch diese Tür kommen werden, meine Liebe, wenn Sie mich nicht über den Haufen rennen wollen.«

Verdammt, dachte Barbara, die Alte hatte wirklich Stacheldraht auf den Zähnen.

«Hören Sie«, sagte Barbara.»Ich habe ein paar ernste Fragen über eins Ihrer Mitglieder, und zwar in einem Fall, bei dem es sich um Mord handeln könnte.«

«Verstehe. «Die Frau legte den Kopf schief und überlegte. Ihr dichtes Haar war schlohweiß. Barbara vermutete, dass sie eine Perücke trug. In dem Alter hatte niemand mehr einen so kräftigen Haarwuchs. Das gab’s einfach nicht. Nicht mal bei der Queen Mum.»Tja, meine Liebe«, sagte die Frau,»wenn aus könnte sich um Mord handeln irgendwann es handelt sich um Mord wird, dann reden wir weiter.«

Damit machte sie einen Schritt zurück und schloss die Tür. Barbara stand draußen und musste sich eingestehen, dass sie eine Schlacht verloren hatte, weil sie ein verflixtes Hilfsverb benutzt hatte.

Fluchend kramte sie eine Packung Players aus ihrer Tasche. Sie zündete sich eine an und überlegte, wie sie weiter vorgehen sollte. Es musste jemanden geben, der in diesem Club arbeitete, jemanden, der Informationen zu bieten hatte: ein Koch, ein Kellner, eine Putzfrau. Die alte Schachtel konnte unmöglich alles selber machen. Sie ging die Eingangsstufen wieder hinunter und betrachtete das Gebäude. Es war verriegelt und verrammelt, eine Festung, die die Privatsphäre ihrer Mitglieder schützte.

Barbara schaute sich um. Vielleicht gab es noch eine andere Möglichkeit. Ein Laden mit einer neugierigen Verkäuferin, die durchs Fenster genau beobachtete, wie die gutbetuchten Herren vorfuhren und in ihren Club gingen? Eine Floristin, die regelmäßig Blumen lieferte? Ein Tabakhändler, bei dem die Mitglieder ihre Zigarren und ihren Schnupftabak kauften? Aber das Einzige, was sie entdecken konnte, war ein Taxistand auf der anderen Straßenseite, nicht weit vom BBC-Gebäude entfernt.

Ein Taxistand war besser als nichts. Taxifahrer hatten ihre Lieblingsstrecken. Die wussten, wo sie die besten Kunden aufgabeln konnten. Einen Taxistand gab es nur da, wo es sich lohnte. Und in dieser Straße hier lohnte es sich vielleicht nicht nur wegen der BBC, sondern auch wegen des Twins Club.

Barbara ging über den Platz, um ein bisschen zu plaudern. Die ersten drei Fahrer konnten ihr nichts sagen. Beim vierten hatte sie Glück. Er kannte Lord Fairclough. Er kannte» die meisten feinen Pinkel«. Er plaudere gern mit ihnen, weil er ihnen damit auf die Nerven ging, und es mache ihm Spaß zu testen, wie lange es dauerte, bis sie ihm sagten, er solle die Klappe halten. Aber Fairclough sei einem Schwätzchen nie abgeneigt, wenn er allein war. Wenn er in Begleitung war, sehe das allerdings schon wieder ganz anders aus.

Barbara wurde hellhörig. Ob er jemand Bestimmten meine, fragte sie.

Ja, sagte der Fahrer, es sei immer dieselbe.

Seine Frau? fragte Barbara.

Der Mann lachte laut.

Ob er noch wisse, wo er die beiden hingefahren habe?

Der Fahrer grinste. Er tippte sich an die Stirn, der Ort, wo er seine Informationen speicherte. Er sagte, natürlich wisse er das noch, denn es sei immer dieselbe Adresse. Außerdem, fügte er mit einem Augenzwinkern hinzu, sei die Frau ziemlich jung.

Das wurde ja immer besser, dachte Barbara. Bernard Fairclough und eine junge Frau, die sich nach einem Stelldichein im Club immer zur selben Adresse fahren ließen. Sie fragte den Mann, ob er sie jetzt gleich zu dieser Adresse bringen könne.

Er schaute zu der Schlange aus Taxis vor seinem Wagen, und Barbara wusste, was das bedeutete. Wenn er jetzt einen Passagier aufnahm und losfuhr, würde er tierischen Ärger bekommen. Sie sagte, sie würde warten, bis er an der Reihe war. Dann zeigte sie ihm ihren Ausweis. Polizeiliche Ermittlungen, erklärte sie.

«Können Sie bezahlen?«, fragte er, und als sie nickte, sagte er:»Dann steigen Sie ein, Süße.«

AUF DEM WEG VON MILNTHORPE NACH LAKE WINDERMERE — CUMBRIA

«Verstehst du denn nicht, was das bedeutet, Simon?«

Wenn Deborah ihm diese Frage stellte, wusste St. James, dass er auf der Hut sein musste. Denn dann hatte sie sich längst etwas in den Kopf gesetzt, was sie von ihm bestätigt haben wollte, und in diesem Fall konnte dieses Etwas sie in eine gefährliche Situation bringen. Er sagte:»Ehrlich gesagt, nein, Liebling. Alatea Fairclough ist also völlig außer sich geraten, als du dich mit ihr unterhalten hast, aus Gründen, die uns nicht ganz klar sind, die aber sicherlich nichts mit Ian Cresswells Tod zu tun haben. Am besten, du rufst ihren Mann an, sagst ihm, es ist etwas dazwischengekommen und du musst nach London zurück.«

«Ohne zu erfahren, was er von mir will?«, fragte Deborah ungläubig und sah ihn misstrauisch an. Wie jede Ehefrau kannte sie die Schwachstellen ihres Mannes. Und sie wusste, dass seine größte Schwachstelle sie selbst war.»Warum in aller Welt sollte ich das tun?«

«Du hast selbst gesagt, sie weiß, dass du nicht die bist, als die du dich ausgegeben hast. Du kannst doch nicht annehmen, dass sie Nicholas nichts davon erzählt hat. Wenn er dich angerufen und gesagt hat, er möchte gern mit dir reden — das hat er doch getan, oder? — , dann wird er von dir wissen wollen, warum seine Frau so außer sich war, nachdem du gegangen warst.«

«Darüber würdest du mit mir reden wollen. Er will vielleicht über ganz andere Dinge mit mir reden. Und ich werde nie erfahren, welche Dinge das sind — es sei denn, ich rufe ihn zurück und verabrede mich mit ihm.«

Sie standen auf dem Parkplatz des Crow & Eagle neben St. James’ Mietwagen, und er musste los, weil er mit Lynley in Ireleth Hall verabredet war. Er war noch nicht wirklich spät dran, aber wenn dieses Gespräch noch länger dauerte, würde es knapp werden. Deborah war ihm nach draußen gefolgt, weil sie im Gegensatz zu ihm das Gespräch noch nicht als beendet betrachtete. Sie hatte ihren Mantel an, was ein schlechtes Zeichen war. Andererseits hatte sie weder ihre Handtasche noch ihre Kamera mit nach unten gebracht, was ihn hoffen ließ.

Deborah hatte ihm haarklein von ihrem Treffen mit Alatea Fairclough berichtet, und er war der Meinung, dass sie sich aus der Sache zurückziehen sollte, da ihre Tarnung aufgeflogen war. Deborah dagegen ließ nicht locker.

St. James erinnerte sie daran, dass ein Reporter der Source ebenfalls in der Gegend herumgeschnüffelt habe, und wenn jetzt auch noch eine Fotografin auftauchte, die sich unter falschen Vorgaben Zugang zu ihrem Haus verschaffte, sei es ja wohl verständlich, dass Alatea Faircloughs Nerven blank lagen. Was die Frau denn Deborahs Meinung nach zu verbergen habe? Einen Nazi in der Familie?

Dummes Zeug, sagte Deborah.

Dummes Zeug? St. James enthielt sich eines Kommentars und wartete ab.

«Ich glaube, das hat irgendwas mit dieser Zeitschrift zu tun, Simon. Alatea hatte kein Problem — okay, sie war vielleicht ein bisschen nervös, aber mehr nicht —, bis ich die Zeitschrift Conception erwähnt habe. Dabei habe ich nur versucht, ein bisschen Nähe herzustellen, hab ihr ein bisschen von unseren Problemen mit dem Schwangerwerden erzählt, das war alles. Und da ist sie komplett ausgeflippt und …«

«Deborah, das sind wir doch alles schon durchgegangen«, entgegnete er geduldig.

«Ich habe ihr gesagt, dass ich freiberufliche Fotografin bin. Ich habe ihr erklärt, was das bedeutet. Ich habe ihr erzählt, die Firma Query Productions hätte mich angeheuert, eine Start-up-Firma, die bisher noch keinen Film produziert hat. All das ist mir mitten in dem ganzen Stress eingefallen, denn als Nächstes wird sie in Erfahrung bringen, dass es gar keine Firma namens Query Productions gibt, wie wir beide sehr wohl wissen. Wenn ich das geschafft habe, dann werde ich auch mit Nicholas Fairclough fertigwerden.«

«Du befindest dich in einer ganz schlechten Position«, sagte St. James, die Hand bereits auf dem Griff der Fahrertür.»Du solltest die Finger davon lassen. «Er verbot ihr nicht, an der Sache dranzubleiben. Er sagte nicht, dass er sich wünschte, sie würde nichts weiter unternehmen. Die Erfahrung hatte ihn gelehrt, dass er sie damit nur auf die Palme brachte, deshalb versuchte er, sie auf sanfte Weise umzustimmen. Letztendlich hatte er einfach nur schreckliche Angst, sie zu verlieren, aber das konnte er ihr nicht sagen. Denn darauf würde sie nur kontern, was er für einen Quatsch rede, er werde sie nicht verlieren. Woraufhin er sie an Helens Tod erinnern würde und an den Krater, den ihr Tod in Lynleys Leben gerissen hatte. Doch Helens Tod war ein Thema, das er nicht anrühren wollte. Er würde es nicht ertragen, darüber zu reden, und er wusste, dass sich daran nie etwas ändern würde.

«Ich kann auf mich aufpassen«, sagte sie.»Was kann er denn schon tun? Mich von einer Klippe stoßen? Mir eins überbraten? Irgendetwas stimmt nicht mit Alatea, und ich stehe kurz davor herauszufinden, was das ist. Wenn es sich um etwas von Bedeutung handelt und Ian Cresswell dahintergekommen ist … Verstehst du, was ich meine?«

Das Problem war, dass er nur zu gut verstand, was sie meinte. Aber das konnte er ihr nicht sagen, denn das würde nur zu einer Schlussfolgerung führen, die er vermeiden wollte. Also sagte er stattdessen:»Ich bin bald wieder zurück. Dann reden wir weiter, einverstanden?«

Dieser Blick. Gott, war die Frau stur. Sie wandte sich ab und ging ins Gasthaus zurück. Doch damit war die Sache noch lange nicht aus der Welt, das war ihm klar. Er wünschte, er hätte die Geistesgegenwart besessen, ihre Autoschlüssel mitzunehmen.

Ihm blieb nichts anderes übrig, als nach Ireleth Hall zu fahren, denn alle Vorkehrungen waren bereits getroffen. Valerie würde bei Mignon im Turm sein und ihre Tochter ablenken und von den Fenstern fernhalten. Lynley und Lord Fairclough erwarteten ihn mit den Lampen, die sie aufgetrieben hatten, um das Innere des Bootshauses auszuleuchten.

St. James brauchte nicht lange für den Weg und fand Ireleth Hall ohne Probleme. Das Tor stand offen, und er fuhr die Auffahrt hoch. In der Ferne grasten Damhirsche, die hin und wieder die Köpfe hoben, um zu wittern. St. James war beeindruckt von der hügeligen Parklandschaft mit den prächtigen Eichen, Platanen, Buchen und Birkenwäldchen inmitten ausgedehnter Rasenflächen.

Lynley und Bernard Fairclough traten aus dem Haus, als St. James hielt, und Lynley stellte die beiden Männer einander vor. Fairclough ging voraus zum Bootshaus, unter dem Arm ein paar große Handtücher. Er erklärte, sie hätten den Strom von der Außenbeleuchtung abgezapft, ein paar Lampen aufgestellt und für alle Fälle zusätzlich mehrere starke Taschenlampen besorgt.

Der See lag spiegelglatt da, und die Stille hier draußen wurde nur unterbrochen von Vogelgezwitscher und dem entfernten Geräusch eines Motorboots, das irgendwo auf dem Wasser herumkurvte. Die Tür zum Bootshaus stand offen, und St. James fiel auf, dass sie über kein Schloss verfügte. Zweifellos hatte Lynley das bereits gesehen und seine Schlüsse daraus gezogen.

Im Innern waren mehrere Baustrahler so aufgestellt worden, dass sie die Stelle beleuchteten, wo Ian Cresswell ins Wasser gestürzt war. Die Strahler warfen lange Schatten in alle Richtungen außer auf die Stelle, die sie untersuchen mussten, deswegen schalteten Lynley und Fairclough ihre Taschenlampen ein, um die verschatteten Bereiche auszuleuchten.

An einer Wand stand eine Werkbank, die, dem strengen Geruch nach zu urteilen, wahrscheinlich dazu diente, Fische auszunehmen. Und dazu brauchte man Werkzeug, dachte St. James, darum würden sie sich auch noch kümmern müssen. Vier Boote waren im Bootshaus vertäut: Ian Cresswells Skullboot, ein Ruderboot, ein Motorboot und ein Kanu. Das Ruderboot gehöre Valerie Fairclough, erklärte man ihm. Die anderen Boote wurden von allen Mitgliedern der Familie hin und wieder benutzt.

Vorsichtig näherte sich St. James der Stelle, wo die Steine herausgebrochen waren. Er bat um eine Taschenlampe.

Er sah gleich, wie leicht sich jemand eine Schädelfraktur hatte zuziehen können, der hier gestürzt war. Die Steine waren grob behauen von der Art, wie sie häufig in Cumbria für Gemäuer benutzt wurden. Es handelte sich um Schiefer mit Graniteinsprengseln, und sie wurden durch Mörtel in Position gehalten. Aber der Mörtel war alt und an einigen Stellen brüchig. Es wäre kein Problem gewesen, die Steine zu lockern. Sie hätten sich allerdings auch ganz von allein gelockert haben können, schließlich stiegen hier ewig lange schon Menschen aus ihren Booten.

St. James suchte nach Spuren, die auf die Verwendung eines Brecheisens hinweisen könnten. Der Mörtel war jedoch in derart schlechtem Zustand, dass sich nur sehr schwer würde feststellen lassen, ob eine Beschädigung auf das Alter des Gemäuers oder auf die Anwendung eines Werkzeugs zurückzuführen war. Eine glänzende Stelle wäre ein Hinweis auf den Einsatz eines Werkzeugs gewesen, aber St. James konnte keine solche Stelle finden.

Nachdem er den Bereich, wo die Steine fehlten, Zentimeter um Zentimeter abgesucht hatte, erhob er sich.

«Und? Was meinen Sie?«, fragte Fairclough.

«Nichts zu sehen.«

«Sind Sie sich ganz sicher?«Fairclough wirkte erleichtert.

«Nicht die geringste Spur von Manipulation. Wir könnten natürlich noch stärkere Lampen einsetzen und alles noch einmal mit der Lupe absuchen. Dass man es für einen Unfall gehalten hat, leuchtet mir indes durchaus ein. Bisher jedenfalls.«

Fairclough schaute Lynley an.»Bisher?«

«Dass am Mörtel keine Spuren zu entdecken sind«, erklärte ihm Lynley,»heißt nicht, dass es keine Spuren an den fehlenden Steinen gibt. «Er bedachte seinen Freund mit einem schiefen Blick.»Ich hatte eigentlich gehofft, darum herumzukommen.«

St. James grinste.»Ich auch. Aber ich stelle fest, dass behindert zu sein auch Vorteile hat.«

Lynley reichte Fairclough seine Taschenlampe und zog sich bis auf die Unterhose aus. Dann verzog er das Gesicht und ließ sich ins Wasser gleiten.»Verflucht«, murmelte er, als das Wasser ihm bis zur Taille reichte. Offenbar hatte er Boden unter den Füßen, denn er fügte hinzu:»Zum Glück ist es nicht tief.«

«Das spielt sowieso keine Rolle«, sagte St. James.»Jetzt kommt der beste Teil, Tommy. Die Steine sind bestimmt leicht zu finden, denn es sind die einzigen ohne Algen.«

«Ich weiß«, knurrte Lynley.

Er tauchte unter. St. James hatte recht, es war ganz einfach. Lynley fand die gesuchten Steine ohne Probleme, holte sie aus dem Wasser und legte sie auf den Anleger. Er blieb jedoch im Wasser.»Da ist noch etwas. Können Sie Ihre Taschenlampe auf diese Stelle hier richten?«, sagte er zu Fairclough und tauchte erneut unter.

Während Fairclough die von Lynley angegebene Stelle beleuchtete, untersuchte St. James die Steine. Er war gerade zu dem Schluss gekommen, dass sie keine Hieb- oder Kratzspuren aufwiesen, als Lynley wieder auftauchte und etwas auf den Anleger knallte. Dann hievte er sich aus dem Wasser und begann zitternd, sich abzutrocknen.

St. James betrachtete den Gegenstand, den Lynley aus dem Wasser geholt hatte. Fairclough fragte:»Was haben Sie denn da gefunden?«

Es war ein Filetiermesser, das man zum Ausnehmen von Fischen benutzte. Es hatte eine dünne, knapp fünfundzwanzig Zentimeter lange Klinge. Und es hatte nicht lange im Wasser gelegen.

MILNTHORPE — CUMBRIA

Deborah fragte sich, was zum Teufel ihr nach Simons Meinung passieren konnte, wenn sie Nicholas Fairclough zurückrief. Die Konfrontation mit Alatea hatte sie absolut souverän gemeistert, und dasselbe gedachte sie zu tun, wenn sie sich mit Nicholas traf.

Als sie ihn anrief, bat er um ein Treffen. Er fragte sie, ob sie noch mehr Informationen von ihm brauche, und sagte, er wisse, dass Filmemacher immer an Bildern interessiert seien, die ihr Thema illustrierten, und da gebe es ja jede Menge Möglichkeiten. Er schlug vor, mit ihr nach Barrow-in-Furness zu fahren und ihr einige Gegenden zu zeigen, wo Obdachlose nächtigten. Das könnte einen wichtigen Aspekt zum Gesamtbild beitragen.

Deborah war einverstanden. Das war eine zusätzliche Gelegenheit, Informationen auszugraben, und das war es doch, worum Tommy sie gebeten hatte. Wo sie sich treffen sollten, fragte sie Nicholas.

Er würde sie an ihrem Gasthaus abholen, sagte er.

Sie sah darin keine Gefahr. Schließlich hatte sie ihr Handy, und Simon und Tommy waren beide in der Nähe. Sie hinterließ ihrem Mann einen Zettel mit Nicholas Faircloughs Handynummer und ging nach draußen.

Zwanzig Minuten nach ihrem Gespräch fuhr Nicholas in einem alten Hillman vor. Deborah hatte vor dem Gasthaus auf ihn gewartet, und als er vorschlug, noch irgendwo einen Kaffee zu trinken, ehe sie nach Barrow-in-Furness aufbrachen, hatte sie nichts dagegen.

Sie fuhren nach Milnthorpe, das einen hübschen Marktplatz besaß. An der einen Seite des Platzes erhob sich auf einer kleinen Anhöhe eine Kirche, während sich an zwei der anderen drei Seiten Läden, Restaurants und Cafés aneinanderreihten. Neben einem Schnellimbiss namens Milnthorpe Chippy, der alles im Angebot hatte, was sich frittieren ließ, befand sich ein kleines Café, das Nicholas ansteuerte. Kurz bevor sie es erreichten, rief Nicholas plötzlich:»Niamh! Niamh!«Eine Frau, die gerade aus einem China-Imbiss trat, drehte sich um.

Die Frau war klein und zierlich und kam Deborah in Anbetracht der Tageszeit übertrieben aufgedonnert vor, denn sie trug Stilettos und ein kurzes Cocktailkleid, das ihre wohlgeformten Beine zur Geltung brachte. Das tiefe Dekolletee gab den Blick auf üppige Brüste frei, bei deren Form offenbar künstlich nachgeholfen worden war. In der Tür hinter ihr stand ein Mann, der eine Schürze mit dem Logo des China-Imbiss trug. Offensichtlich hatten die beiden irgendetwas miteinander zu tun, wie Deborah aus dem schmachtenden Blick schloss, mit dem der Mann der Frau in die Augen schaute, als sie sich noch einmal umdrehte, um ihm etwas zu sagen.

«Wenn Sie mich kurz entschuldigen würden?«, sagte Nicholas zu Deborah und lief zu der Frau hinüber. Die wirkte alles andere als erfreut über die Begegnung, denn sie bedachte ihn mit einem eisigen Blick. Sie sagte etwas zu dem Mann in der Schürze, der daraufhin erst sie, dann Nicholas musterte und dann in dem Imbiss verschwand.

Nicholas sagte etwas zu der Frau, die ihm schweigend zuhörte, während Deborah sich langsam den beiden näherte in der Hoffnung, etwas von dem Gespräch aufzuschnappen.

«… geht dich nichts an«, sagte Niamh gerade.»Und Manette ebenso wenig.«

«Natürlich nicht. «Nicholas klang freundlich und umgänglich.»Aber sie gehören nun mal zur Familie, Niamh, und du wirst verstehen, dass sie sich Sorgen macht. Und ich auch.«

«Sie gehören zur Familie?«, sagte Niamh sarkastisch.»Dass ich nicht lache. Was habt ihr denn unternommen, als er abgehauen ist? Gehörten sie auch zu eurer Familie, als er unsere zerstört hat?«

Nicholas schien peinlich berührt.»Ich wüsste nicht, wie wir das hätten verhindern können.«

«Ach nein? Dann will ich dir mal auf die Sprünge helfen. Dein verdammter Vater hätte ihm androhen können, dass er ihn aus der Firma wirft, wenn er nicht zur Vernunft kommt! Dein verdammter Vater hätte ihm sagen können, wenn du das tust, bin ich fertig mit dir! Und ihr anderen hättet dasselbe tun können. Aber das habt ihr nicht, weil Ian euch alle unter Kontrolle …«

«Das stimmt nicht«, fiel Nicholas ihr ins Wort.

«Keiner von euch hat es je gewagt, sich mit ihm anzulegen. Keiner!«

«Hör zu, ich will mich nicht darüber streiten. Wir sind in mancher Hinsicht einfach unterschiedlicher Meinung, das ist alles. Ich wollte dir nur sagen, dass es Tim wirklich dreckig geht und …«

«Glaubst du etwa, das wüsste ich nicht? Ich, die ich eine Schule für ihn finden musste, wo seine Mitschüler nicht mit dem Finger auf ihn zeigen, weil sein Vater es heimlich mit einem Scheißaraber getrieben hat? Ich weiß, dass es ihm dreckig geht, und ich werde mich darum kümmern. Haltet euch gefälligst aus unserem Leben raus! Das habt ihr ja auch getan, als Ian noch gelebt hat!«

Damit drehte sie sich um und stöckelte auf die Autos zu, die am Straßenrand geparkt standen. Nicholas blieb einen Moment lang nachdenklich stehen, ehe er zu Deborah zurückkehrte.

«Verzeihen Sie. Familienangelegenheiten.«

«Ah«, sagte sie.»War das eine Verwandte von Ihnen?«

«Die Frau meines Vetters. Er ist vor Kurzem ertrunken, und es fällt ihr schwer … mit dem Verlust umzugehen. Sie hat zwei Kinder.«

«Das tut mir leid. Wollen wir …?«Sie zeigte auf das Café.»Oder wäre Ihnen ein andermal lieber?«

«Nein, nein«, sagte er.»Ich möchte wirklich mit Ihnen reden. Diese Sache mit Barrow war, ehrlich gesagt, ein Vorwand, weil ich Sie unbedingt sehen wollte.«

Deborah war klar, dass sein Bedürfnis, sie zu sehen, nichts mit ihrem Charme zu tun hatte, und so wappnete sie sich für das, was kommen würde. Als er sie angerufen und um ein Treffen gebeten hatte, war sie davon ausgegangen, Alatea hätte ihm nicht die Wahrheit über ihr Gespräch mit Deborah gesagt, aber da hatte sie sich offenbar getäuscht.

Sie folgte ihm in das Café, bestellte sich eine Tasse Kaffee und ein Stück Kuchen und bemühte sich, vollkommen entspannt zu wirken.

Erst nachdem die Kellnerin ihre Bestellungen gebracht hatte, kam er auf Alatea zu sprechen.»Ich weiß nicht, wie ich das Thema anschneiden soll«, sagte er,»und daher werde ich einfach ganz direkt sein. Sie müssen sich von meiner Frau fernhalten, wenn das mit dem Dokumentarfilm etwas werden soll. Das gilt auch für die Filmleute, das müssen Sie denen sagen.«

Deborah setzte ein verblüfftes Gesicht auf.»Ihre Frau?«, sagte sie und fügte hinzu, als würde ihr allmählich dämmern, worauf er anspielte:»Ich habe sie gestern aus der Fassung gebracht, und sie hat Ihnen davon erzählt, nicht wahr? Ehrlich gesagt hatte ich gehofft, sie würde es für sich behalten. Es tut mir sehr leid, Mr. Fairclough. Es war wirklich nicht meine Absicht, Alatea zu verstimmen. Ziemlich ungeschickt von mir, muss ich zugeben. Es war diese Zeitschrift, nicht wahr?«

Zu ihrer Überraschung fragte er ziemlich schroff:»Welche Zeitschrift?«

Merkwürdige Reaktion, dachte Deborah.»Conception«, sagte sie. Am liebsten hätte sie gefragt: Gibt es denn noch eine andere Zeitschrift, die ich mir ansehen sollte? Sie überlegte krampfhaft, welche anderen Zeitschriften auf dem Tisch gelegen hatten, aber diese eine hatte sie so sehr interessiert, dass sie die anderen gar nicht weiter beachtet hatte.

Nicholas sagte:»Ach die. Nein, nein, das ist nicht … Ach, vergessen Sie’s.«

Was sie natürlich nicht konnte. Sie entschloss sich, ganz direkt vorzugehen.»Mr. Fairclough«, sagte sie,»stimmt irgendetwas nicht? Wollen Sie mir irgendetwas mitteilen? Oder mich etwas fragen? Kann ich Sie in irgendeiner Weise beruhigen …?«

Er befingerte den Henkel seiner Kaffeetasse und seufzte.»Es gibt Dinge, über die Alatea partout nicht sprechen will, und dazu gehört unter anderem ihre Vergangenheit. Ich weiß, dass Sie nicht hergekommen sind, um die Vergangenheit meiner Frau zu erforschen, aber genau das befürchtet sie.«

«Verstehe«, sagte Deborah.»Hm, das einzige Thema des Films ist Ihr Wehrturm-Projekt. Aber in dem Zusammenhang könnten natürlich Dinge über Sie erwähnt werden … Sind Sie ganz sicher, dass Ihre Frau nicht einfach um Sie besorgt ist? Dass sie um Ihren Ruf fürchtet?«

Er lachte spöttisch.»Ich habe mir selbst so viel geschadet, als ich Drogen genommen habe, da kann kein Film noch größeren Schaden anrichten. Nein, es geht darum, womit Alatea sich durchgeschlagen hat, bevor wir uns kennengelernt haben. Ich verstehe überhaupt nicht, warum sie sich so darüber aufregt. Es war vollkommen harmlos. Ich meine, es ist ja nicht so, als hätte sie Pornos gedreht oder so etwas Ähnliches.«

Deborah nickte ernst. Sie sah Nicholas mitfühlend an, sagte jedoch nichts. Sie hatte den Eindruck, dass er ganz kurz davorstand, das Geheimnis auszuplaudern. Er brauchte nur noch einen ganz kleinen Schubs.

Schließlich sagte sie nachdenklich:»Sie haben sich in Utah kennengelernt, nicht wahr? Ich habe ein paar Jahre in den USA studiert. In Santa Barbara. Kennen Sie die Stadt? Das ist ein sehr teures Pflaster, und ich … Na ja, ich hatte sehr wenig Geld, und es gibt immer Möglichkeiten, sich etwas nebenbei zu verdienen …«Sie überließ es seiner Fantasie, womit sie sich über Wasser gehalten hatte. In Wahrheit hatte sie sich ausschließlich auf ihr Studium konzentriert, aber das konnte er unmöglich wissen.

Er schürzte die Lippen, vielleicht überlegte er, wie viel er ihr anvertrauen konnte. Er trank einen Schluck Kaffee, stellte seine Tasse ab und sagte:»Bei ihr waren es Dessous.«

«Dessous?«

«Alatea hat als Dessous-Model gearbeitet. Für Kataloge. Und für Werbeanzeigen in Zeitschriften.«

Deborah lächelte.»Und sie möchte nicht, dass ich davon erfahre? Aber das ist doch nichts Ehrenrühriges, Mr. Fairclough. Und ehrlich gesagt, sie hat die Figur dafür, sie ist eine schöne Frau und …«

«Sexy Dessous«, sagte er. Er ließ einen Augenblick verstreichen, vielleicht, um Deborah Zeit zu geben, sich über die Bedeutung dieser Information klarzuwerden.»Es ging um Kataloge für Leute mit einem speziellen Geschmack, verstehen Sie? Anzeigen in ganz bestimmten Zeitschriften. Es war nicht … sie waren nicht … Ich meine, es ging da nicht gerade um Edelmode. Heute ist ihr das alles unglaublich peinlich, und sie hat Angst, dass jemand davon erfahren und sie demütigen könnte.«

«Verstehe. Also, da können Sie Ihre Frau wirklich beruhigen. Ich interessiere mich nicht im Geringsten für ihre Vergangenheit. «Sie schaute aus dem Fenster, das zum Marktplatz hin gelegen war. Dort herrschte Hochbetrieb, und vor einem dunkelgrünen Imbisswagen mit der weißen Aufschrift Sue’s Hot Food Bar hatte sich eine Schlange gebildet. An mehreren Campingtischen saßen Leute und ließen sich die dampfenden Gerichte schmecken, die Sue auf Pappteller schaufelte.

«Ich dachte, dass ich sie auf die Zeitschrift Conception angesprochen habe, hätte Ihre Frau so aus dem Häuschen gebracht«, sagte Deborah.»Aber da habe ich wohl von mir auf andere geschlossen. Ich hätte das Thema nicht anschneiden sollen. Richten Sie ihr doch bitte aus, dass es mir leidtut.«

«Nein, das war es nicht«, entgegnete Nicholas.»Sie wünscht sich ein Kind, das ist richtig, doch eigentlich bin ich im Moment derjenige, der dauernd davon anfängt, und das macht sie ein bisschen empfindlich. Das Problem ist diese Geschichte mit den Dessous und ihre Angst, dass die Fotos irgendwann irgendwo auftauchen könnten.«

Er schaute aus dem Fenster und betrachtete den Imbissstand und die Tische davor, und plötzlich änderte sich sein Gesichtsausdruck. Sein Blick wurde eisig, und er sagte:»Bitte entschuldigen Sie mich einen Moment. «Ehe Deborah etwas erwidern konnte, war er schon draußen.

Er ging auf einen Mann zu, der an einem der Tische saß und aß. Der Mann zog den Kopf ein, offenbar in der vergeblichen Hoffnung, dass Nicholas ihn nicht sehen würde. Als Nicholas ihn an der Schulter packte, stand er auf.

Der Mann war ein Hüne, mindestens zwei Meter groß. Beim Aufstehen stieß er mit dem Kopf an den Sonnenschirm, der über dem Tisch aufgespannt war, so dass ihm seine Mütze herunterrutschte und sein feuerrotes Haar zum Vorschein kam.

Deborah nahm ihre Kamera aus der Tasche, während der Mann vom Tisch wegtrat und sich anhörte, was Nicholas ihm zu sagen hatte. Nicholas schien vor Wut zu kochen. Der Mann zuckte die Achseln.

Deborah hob ihre Kamera und begann, die beiden miteinander streitenden Männer zu fotografieren.

KENSINGTON — LONDON

Barbara Havers kam sich vor wie ein Glückspilz, als das Taxi von Portland Place nur bis Rutland Gate, südlich von Hyde Park fuhr. Genauso gut hätte die Adresse in Wapping oder noch weiter draußen liegen können. Zwar hätte Lynley ihr die Fahrtkosten sicherlich erstattet, aber sie hätte gar nicht genug Bares dabei gehabt, um eine längere Fahrt zu bezahlen, und sie bezweifelte, dass der Fahrer einen Zungenkuss als Entgelt akzeptiert hätte. An all das hatte sie gar nicht gedacht, als sie frohgemut in das Taxi gestiegen war, aber sie hatte erleichtert aufgeatmet, als der Fahrer in Richtung Westen gefahren und schließlich kurz hinter dem Hochhaus der Hyde Park Barracks links abgebogen war.

Er zeigte auf eine imposante weiße Stadtvilla. Die vielen Klingelschilder neben dem Eingang ließen erkennen, dass das Haus in Eigentumswohnungen umgewandelt worden war. Barbara stieg aus und bezahlte den Fahrer, der ihr noch mit einem Augenzwinkern erzählte, dass das Paar jedes Mal hier ausgestiegen sei und dass offenbar beide einen Hausschlüssel besaßen, wie er beobachtet hatte.

Nachdem das Taxi weggefahren war, überlegte Barbara, wie sie weiter vorgehen sollte.

Wohnungen bedeutete, dass sie den Namen des entsprechenden Eigentümers erst in Erfahrung bringen musste. Sie zündete sich eine Zigarette an und ging vor dem Haus auf und ab. Das Nikotin, sagte sie sich, würde sie auf Ideen bringen. Eine Zigarettenlänge reichte aus.

Sie trat an die Haustür und betrachtete die Klingelschilder, auf denen, wie es typisch war für London, keine Namen, sondern Nummern standen. Aber an einer Klingel stand Portier, ein richtiger Glücksfall, denn nicht in vielen Wohnhäusern gab es einen Portier. Es war ein Service, der die Wohnungen in dem Gebäude aufwertete, jedoch auch eine Stange Geld kostete.

Eine männliche Stimme erkundigte sich nach ihrem Begehr. Sie erklärte dem Portier, sie wolle sich nach einer Wohnung erkundigen, von der sie gehört habe, dass sie demnächst verkauft werde. Ob er kurz Zeit habe?

Der Mann wirkte nicht gerade begeistert, ließ sich jedoch erweichen. Er betätigte den Türöffner und sagte ihr, sein Büro liege im hinteren Teil des Gebäudes, am Ende des Flurs.

Es war vollkommen still im Haus, abgesehen von den gedämpften Verkehrsgeräuschen von der Kensington Road, die am Ende der Straße Rutland Gate querte. Lautlos ging sie über den verschossenen türkischen Läufer, der auf dem Marmorboden lag. In der Eingangshalle lagen sich die Türen zu zwei Wohnungen gegenüber, und unter einem großen Spiegel mit vergoldetem Rahmen stand ein Tisch mit Sortierfächern für die Post. Sie warf einen kurzen Blick auf die Fächer, aber ebenso wie die Klingelschilder waren sie lediglich mit Nummern versehen.

Hinter dem Treppenhaus und dem Aufzug fand sie schließlich eine Tür mit der Aufschrift Portier. Barbara klopfte. Der Mann, der ihr öffnete, sah aus wie ein Rentner, und er trug eine Uniform, die ihm am Hals zu eng und am Bauch zu weit war. Er musterte Barbara von oben bis unten und bedachte sie dann mit einem Blick, der besagte, falls sie die Absicht hatte, in diesem Gebäude eine Wohnung zu kaufen, dann solle sie sich auf eine Verhandlungsbasis gefasst machen, die sie aus ihren roten Sportschuhen hauen würde.

«Ich weiß nichts von einer Wohnung, die verkauft werden soll«, sagte er ohne Umschweife.

«Es handelt sich um eine Art Präventivschlag, wenn Sie verstehen, was ich meine. Darf ich …?«Sie zeigte auf sein Büro und schenkte ihm ein liebenswürdiges Lächeln.»Ich werde Sie nicht lange aufhalten.«

Er trat von der Tür zurück und neigte den Kopf in Richtung seines Schreibtischs in einer Ecke des Zimmers. Er hatte es sich hier richtig gemütlich gemacht, dachte Barbara, halb Büro, halb Wohnzimmer komplett mit Fernseher. Gerade lief ein alter Film, in dem Sandra Dee und Troy Donahue sich als Jugendliche in den Armen lagen, eine verbotene Liebe, untermalt von der berühmten Filmmusik. Es dauerte einen Moment, bis ihr der Titel des Films einfiel. Summer Place, genau. Herzschmerz und Verzweiflung. Was gab es Schöneres? Gebt mir die Kugel, dachte Barbara.

Der Portier folgte ihrem Blick und schaltete den Fernseher hastig aus, vielleicht, weil er das Gefühl hatte, dass der Film zu viel über ihn aussagte. Dann setzte er sich hinter seinen Schreibtisch. Barbara musste stehen, aber das hatte er wohl beabsichtigt.

Barbara bedankte sich, wie sie fand, angemessen für die Bereitschaft des Portiers, mit ihr zu reden. Sie stellte ein paar Fragen zum Gebäude, Fragen, die einem potentiellen Käufer in den Sinn kommen würden, bevor er sein sauer verdientes Geld für eine hoffnungslos überteuerte Immobilie in Kensington ausgab. Baujahr, Gesamtzustand, Probleme mit Heizung, Wasserleitungen, Lüftung, Probleme zwischen den Bewohnern, unerwünschte Personen im Haus, das Viertel selbst, Lärmbelästigung, Angebot an Kneipen, Restaurants, Märkten, kleinen Läden und so weiter und so fort. Nachdem sie alles abgefragt hatte, was ihr einfiel, und sich seine Antworten in ihrem kleinen Notizbuch mit Spiralbindung aufgeschrieben hatte, warf sie ihren Köder aus:»Großartig. Vielen herzlichen Dank. Das stimmt fast alles mit dem überein, was Bernard mir erzählt hat.«

Er biss an.»Bernard? Ist das Ihr Immobilienmakler? Wie gesagt, ich weiß nichts von einer Wohnung, die verkauft wird.«

«Nein, nein, Bernard Fairclough. Er hat mir erzählt, eine Bekannte von ihm wohnt hier, und die hat ihm gesagt … Mir fällt nicht mehr ein, wie sie hieß …«

«Das muss Vivienne Tully sein«, sagte er.»Sie wohnt in Nummer sechs. Aber ich glaube nicht, dass sie ihre Wohnung verkauft. Die ist doch viel zu praktisch für sie.«

«Ah, ja«, sagte Barbara.»Nicht Viviennes Wohnung. Ich dachte erst, es würde ihre sein, und war schon ganz aufgeregt, aber Bernie …«Ein schlauer Einfall, ihn Bernie zu nennen, dachte sie.»… meinte, sie fühlt sich sehr wohl hier im Haus.«

«Ja, das kann ich bestätigen«, sagte der Portier.»Eine sehr nette Frau, möchte ich meinen. Denkt Weihnachten immer an mich, und das kann ich nicht von allen hier behaupten. «Er schaute kurz zum Fernseher hinüber und schluckte. Barbara sah, dass auf einem Tischchen neben einem Sessel ein Teller mit Bohnen auf Toast wartete. Zweifellos wollte er sich nicht nur seinem Abendessen, sondern auch Sandra, Troy und ihrer verbotenen Liebe widmen. Sie konnte es ihm nicht verdenken. Leidenschaftliche und verbotene Liebe machten das Leben doch erst interessant …

LAKE WINDERMERE — CUMBRIA

Lynley trank gerade einen Aperitif mit Valerie und Bernard Fairclough, als Mignon plötzlich vor ihnen stand. Sie saßen in einem Zimmer, das Valerie als Salon bezeichnet hatte, wo ein Kohlefeuer im Kamin brannte und die Kälte vertrieb. Da keiner von ihnen gehört hatte, wie Mignon ins Haus gekommen war, waren sie alle ziemlich überrascht, als die Tür aufflog.

Mignon schob ihren Rollator vor sich her. Es hatte wieder angefangen zu regnen, aber Mignon hatte sich ohne Regenmantel auf den Weg gemacht — und zwar mit voller Absicht, wie Lynley vermutete. Ihre Haare klebten ihr am Kopf, aus ihrem Alice-im-Wunderland-Haarband lief ihr das Wasser über die Stirn in die Augen, und ihre Kleider und Schuhe waren vollkommen durchnässt. Wahrscheinlich hatte sie sich für diesen dramatischen Auftritt eine ganze Weile in den strömenden Regen gestellt. Bei ihrem Anblick sprang ihre Mutter entsetzt auf. Lynley erhob sich höflich.

«Mignon!«, rief Valerie aus.»Warum hast du denn keinen Schirm mitgenommen?«

«Ich kann ja wohl schlecht einen Schirm halten, wenn ich dieses Ding hier benutze«, erwiderte Mignon und verwies auf ihren Rollator.

«Ein Regenmantel hätte auch ausgereicht«, sagte ihr Vater. Lynley fiel auf, dass er nicht aufgestanden war. Anscheinend durchschaute er Mignons Masche.

«Daran hab ich nicht gedacht«, sagte Mignon.

«Komm«, sagte Valerie,»setz dich ans Feuer, Liebes. Ich hole dir ein Handtuch.«

«Lass nur«, entgegnete Mignon.»Ich gehe gleich wieder zurück. Ihr esst doch gleich zu Abend, oder? Da ich für heute nicht eingeladen bin, möchte ich euch nicht unnötig stören.«

«Du brauchst doch keine Einladung«, sagte Valerie.»Du bist hier immer willkommen. Aber da du lieber … wegen …«Es war klar, dass sie in Lynleys Gegenwart nicht mehr sagen wollte.

Mignon dagegen schon.»Ich wurde wegen Adipositas operiert, Thomas. Ich war fett wie eine Kuh. Sie machen sich keine Vorstellung. Das Fett, das ich über zwanzig Jahre mit mir rumgeschleppt habe, hat mir die Knie ruiniert. Die werden als Nächstes ersetzt. Dann bin ich wieder so gut wie neu, und dann kommt bestimmt bald ein netter Mann vorbei und erlöst meine Eltern von meiner Last. Das hoffen sie zumindest.«

Sie durchquerte das Zimmer und setzte sich in den Sessel, den ihre Mutter ihr angeboten hatte.»Ich könnte einen Sherry vertragen«, sagte sie zu ihrem Vater. Dann wandte sie sich an Lynley:»Anfangs dachte ich, deswegen wären Sie hier. Dumm von mir, ich weiß, aber Sie dürfen nicht vergessen, wer mein Vater ist. Der führt immer etwas im Schilde. Als ich Sie gesehen habe, wusste ich sofort, dass Sie Teil eines seiner Pläne sind. Ich habe mich nur in der Natur des Plans geirrt und gedacht, Sie wären meinetwegen gekommen.«

«Also wirklich, Mignon«, sagte ihre Mutter.

«Ich glaube, ich hätte jetzt doch gern ein Handtuch. «Es schien Mignon zu gefallen, ihre Mutter springen zu lassen, denn sie lächelte voller Genugtuung, als Valerie aus dem Zimmer eilte. Ihr Vater hatte sich immer noch nicht gerührt, und sie sagte zu ihm:»Bekomme ich denn nun einen Sherry, Dad?«

Bernard, dachte Lynley, sah aus, als wäre er drauf und dran, etwas zu sagen, was er später bedauern würde. Unter anderen Umständen hätte Lynley abgewartet, um zu erfahren, um was es sich handelte, aber sein Anstandsgefühl gewann die Oberhand. Er stellte sein Glas auf einem Beistelltisch ab und machte Anstalten, sich zu erheben.»Bleiben Sie sitzen, ich mache das schon«, sagte Bernard.

«Gib mir einen großen«, sagte Mignon.»Ich hatte gerade ein aufregendes Liebesintermezzo mit Mr. Seychellen und würde mich gern volllaufen lassen, sozusagen statt der Zigarette danach.«

Fairclough sah seine Tochter so unverhohlen angewidert an, dass Mignon lachte.

«Ist dir das peinlich?«, fragte sie.»Ach, das tut mir aber leid.«

Ihr Vater füllte ein großes Glas mit Sherry. Die Menge, dachte Lynley, würde durchaus für einen Vollrausch ausreichen, falls die Frau das Glas austrank, und sie schien tatsächlich die Absicht zu haben.

Als Fairclough seiner Tochter das Glas reichte, kam Valerie mit dem Handtuch. Sie ging zu Mignon und trocknete ihr zärtlich das Haar. Lynley rechnete damit, dass Mignon ihre Mutter ärgerlich wegstoßen würde, aber das tat sie nicht. Im Gegenteil, sie ließ sich genüsslich Haare, Gesicht und Hals abtrocknen.

Sie sagte:»Meine Mutter kommt mich nie besuchen, wussten Sie das, Thomas? Also, sie kommt schon rüber, um mir mein Essen zu bringen — wie die Schlossherrin, die den Armen Almosen bringt —, aber einfach so zum Plaudern? Das ist seit Jahren nicht mehr passiert. Und als sie heute plötzlich dastand, war ich völlig von den Socken. Ich dachte, was kann die Gute nur wollen?«

Valerie ließ das Handtuch sinken. Sie schaute ihren Mann an. Er sagte nichts. Sie schienen sich beide für irgendeinen Angriff zu wappnen, und Lynley fragte sich, wie in aller Welt sie sich ihrer eigenen Tochter gegenüber in diese Position gebracht hatten.

Mignon trank einen ordentlichen Schluck Sherry. Sie hielt das Glas mit beiden Händen wie ein Priester den Kelch.»Sehen Sie, meine Mutter und ich haben uns einfach nichts zu sagen«, fuhr sie fort.»Sie interessiert sich nicht für mein Leben, und ich interessiere mich nicht für ihres, glauben Sie mir. Da gibt es dann nicht viel Gesprächsstoff. Man tauscht sich übers Wetter aus und dann? Worüber soll man noch reden? Abgesehen von ihrem langweiligen Formschnittgarten und ihrem noch langweiligeren Fantasiegarten?«

Endlich griff ihr Vater ein.»Mignon, bist du gekommen, um mit uns zu Abend zu essen, oder hat dein Besuch einen anderen Grund?«

«Treib mich nicht in eine Enge«, sagte Mignon.»Du wirst es bereuen.«

«Darling«, sagte ihre Mutter.

«Ich bitte dich. Falls es einen Darling in der Familie gibt, wissen wir doch beide, dass ich das nicht bin.«

«Das stimmt nicht.«

«Gott. «Mignon verdrehte die Augen.»Es heißt immer nur Nicholas hier, Nicholas dort, seit dem Tag, an dem er geboren wurde, glauben Sie mir, Thomas. Endlich der ersehnte Sohn! Aber deswegen bin ich nicht hier. Ich will über diesen erbärmlichen kleinen Krüppel reden.«

Lynley verstand nicht gleich, was sie meinte. Er dachte natürlich an St. James, der behindert war seit einem Unfall, den er, Lynley, verursacht hatte. Den Mann, mit dem er seit der Schulzeit befreundet war, als erbärmlich und klein zu bezeichnen, war indes so unpassend, dass er glaubte, Mignon redete von jemand ganz anderem. Sie belehrte ihn eines Besseren, als sie fortfuhr.

«Meine Mutter ist nicht so lange bei mir geblieben, wie sie es Ihrem Auftrag gemäß hätte tun sollen. Und nachdem sie weg war, habe ich mich gefragt, was sie bei mir gewollt hatte, und es war wirklich nicht schwer, das zu erraten. Ich habe euch alle vom Bootshaus raufkommen sehen. Dich, Dad, Sie, Thomas, und diesen Krüppel. Und mit den nassen Haaren und dem Handtuch um die Schultern sah Thomas ganz so aus, als wäre er ins Wasser gefallen. Aber nicht der Krüppel. Der war trocken. So wie du, Dad. «Sie trank noch einen kräftigen Schluck Sherry, dann fuhr sie fort:»Das Handtuch sagte mir, dass Thomas nicht aus Versehen ausgerutscht und ins Wasser gefallen war. Seine Kleider waren nämlich trocken. Das bedeutet, dass er absichtlich ins Wasser gesprungen ist. Da die Badesaison längst vorbei ist, muss er also einen anderen Grund dafür gehabt haben. Und ich nehme an, dass der Grund etwas mit Ian zu tun hat. Na, wie bin ich?«

Lynley spürte, dass Fairclough ihn ansah. Valerie schaute abwechselnd ihre Tochter und ihren Mann an. Lynley sagte nichts. Er wollte Fairclough die Entscheidung überlassen, ob er die Vermutungen seiner Tochter bestätigen oder bestreiten wollte. Er selbst hielt es für klüger, die Karten auf den Tisch zu legen, was die Gründe für seine Anwesenheit in Ireleth Hall anging, anstatt weiterhin eine Scharade zu spielen.

Aber Fairclough sagte nichts. Offenbar interpretierte sie sein Schweigen als Bestätigung.»Du glaubst also nicht, dass Ians Tod ein Unfall war, hab ich recht, Dad? Das war jedenfalls das Erste, was ich dachte, als ich euch drei vom See raufkommen sah. Ich habe übrigens nur wenige Sekunden gebraucht, um im Internet rauszufinden, wer unser Besucher in Wirklichkeit ist. Hättest du mir seine Identität vorenthalten wollen, hättest du dir besser ein Pseudonym für ihn ausgedacht, Dad.«

«Niemand hat dir irgendetwas vorenthalten, Mignon«, sagte Fairclough.»Tommy ist hier als mein Gast. Die Tatsache, dass er außerdem Polizist ist, hat nichts …«

«Er ist Detective«, fiel sie ihm ins Wort,»und zwar bei Scotland Yard, Dad, und ich gehe davon aus, dass du das weißt. Du hast ihn hierher eingeladen, und jetzt schleicht er zusammen mit diesem anderen Typen hier auf dem Gelände herum — also, ich kann immer noch zwei und zwei zusammenzählen. «Sie änderte ihre Sitzposition und schaute Lynley an. Ihre Mutter war einen Schritt zurückgetreten und stand stumm da, das Handtuch in der Hand.»Sie führen also hier still und heimlich eine kleine Ermittlung durch. Im Auftrag von …? Doch nicht von Dad, oder?«

«Mignon«, sagte Fairclough.

«Denn das würde bedeuten, dass Dad unschuldig ist«, fuhr sie unbeirrt fort.»Und das halte ich, ehrlich gesagt, für ziemlich unwahrscheinlich.«

«Mignon!«, stieß Valerie hervor.»Wie kannst du so etwas sagen!«

«Dad hätte einen guten Grund gehabt, unseren lieben Ian um die Ecke zu bringen, stimmt’s, Dad?«

Fairclough antwortete seiner Tochter nicht. Sein Blick verriet nichts. Entweder er war solche Konfrontationen mit ihr gewöhnt, oder er wusste, dass sie nicht mehr preisgeben würde. Einen Moment lang herrschte angespannte Stille. Der Wind fegte irgendetwas gegen die Fenster des kleinen Salons. Valerie zuckte zusammen.

«Aber das gilt auch für mich«, sagte Mignon schließlich.»Nicht wahr, Dad?«Sie lehnte sich in ihrem Sessel zurück, es war nicht zu übersehen, dass sie die Situation genoss. Sie schaute ihren Vater an und sagte zu Lynley:»Dad weiß nicht, dass ich weiß, dass Ian meine Unterhaltszahlungen einstellen wollte, Thomas. Unser guter Ian hat immer über den Büchern gebrütet und nach Möglichkeiten gesucht, Kosten einzusparen. Tja, und ich verursache nun mal ziemlich hohe Kosten. Allein der Turm hat ein Vermögen verschlungen, und seine Instandhaltung ist nicht gerade billig. Plus mein monatlicher Unterhalt. Und wie Sie mit Ihrem detektivischen Spürsinn herausgefunden haben werden, macht es mir Spaß, Geld auszugeben. Im Vergleich zu dem, was Dad über die Jahre mit der Firma verdient hat, brauche ich gar nicht viel. Doch Ian fand, dass ich selbst das bisschen nicht verdient hatte. Ich muss meinem Vater zugutehalten, dass er Ian nie beigepflichtet hat. Aber wir wissen beide — Dad und ich —, dass er es sich jederzeit hätte anders überlegen und seine Zahlungen an mich hätte einstellen können. Habe ich recht, Dad?«

Fairclough saß da mit versteinerter Miene. Valerie verfolgte das Geschehen sehr aufmerksam. Das war aufschlussreicher für Lynley als alle Informationen, die sie ihm freiwillig gegeben hätte.

«Valerie«, sagte Bernard schließlich, ohne den Blick von seiner Tochter abzuwenden.»Ich glaube, es ist Zeit fürs Abendessen, meinst du nicht auch? Mignon möchte jetzt gehen.«

Mignon lächelte. Sie kippte ihren Sherry und sagte spitz:»Ich glaube, ich brauche Hilfe auf dem Weg dorthin, Dad.«

«Ich bin überzeugt, dass du das sehr gut alleine schaffst«, entgegnete ihr Vater.

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