6. November

BRYANBARROW — CUMBRIA

Zu Zed Benjamins freudiger Überraschung entpuppte sich Yaffa Shaw als echtes Juwel. Es war nicht nur unterhaltsam, mit ihr zu telefonieren, sie leistete ihm auch unschätzbar wertvolle Unterstützung bei seinen Bemühungen. Er wusste nicht, wie, aber sie hatte es tatsächlich geschafft, einen Blick in Ian Cresswells Testament zu werfen. Sie hatte am Tag zuvor ihre Vorlesungen geschwänzt und war stattdessen nach York gefahren, zum Nachlassgericht gegangen und hatte dort einen Angestellten derart bezirzt, dass er ihr einen kurzen Blick auf das Testament gestattet hatte, und mehr hatte sie nicht gebraucht. Die Kleine hatte offenbar ein fotografisches Gedächtnis. Sie hatte ihm am Telefon alle Hinterlassenschaften aufgezählt und ihm damit eine Fahrt nach York und stundenlanges Warten erspart. Sie war einfach großartig.

Er sagte:»Ich bete dich an.«

Sie antwortete:»Huch, ich werd ja ganz rot«, und zu seiner Mutter, die natürlich mal wieder neben ihr stand, sagte sie:»Ihr Sohn bringt mich tatsächlich zum Erröten, Mrs. B. «Dann machte sie ein paar Küsschengeräusche ins Telefon.

Vor lauter Begeisterung über ihre Entdeckung vergaß sich Zed und tat es ihr nach. Dann riss er sich zusammen. Und erinnerte sich an Micah, der in Tel Aviv auf Yaffa wartete. War das Leben nicht voller Ironie? dachte er.

Nach einem angemessenen Austausch von Liebesbeteuerungen beendeten sie das Gespräch, und Zed dachte über die neuen Informationen nach. Entgegen Rodney Aronsons Anweisungen, nach dem Detective von Scotland Yard Ausschau zu halten, entschloss er sich zu einem Angriff auf die Flanke der gegnerischen Armee. Aber er würde sich nicht mit George Cowley darüber unterhalten, was der über das Haus wusste, sondern er würde sich dessen Sohn vorknöpfen.

Und so fuhr er schon am frühen Morgen nach Bryanbarrow Village. Da der Pub, von dessen Fenstern aus man die Bryan Beck Farm so gut im Blick hatte, noch nicht geöffnet war, parkte Zed am Rand des Dorfrasens und wartete im Auto.

Natürlich regnete es. Bei dem Wetter hier oben war es ein Wunder, dass der Lake District kein Sumpfgebiet war. Endlich tauchte der Junge auf. Zed vermutete, dass er in Windermere zur Schule ging, und das bedeutete entweder, dass sein Vater ihn hinbrachte, oder dass er mit dem Schulbus fuhr. Das spielte aber keine Rolle, denn Zed hatte in jedem Fall die Absicht, mit ihm zu reden. Er würde ihn entweder auf dem Weg ins Schulgebäude abfangen oder auf dem Weg zur Schulbushaltestelle, die sich garantiert nicht in diesem gottverlassenen Nest hier befand.

Daniel stapfte über den Rasen und bog auf die Straße, die aus dem Dorf hinausführte, den Kopf gesenkt und die Schuhe und Hosenbeine bereits voll Matsch. Also der Schulbus. Zed gab ihm zehn Minuten Vorsprung, denn er nahm an, dass der Junge zur Landstraße unterwegs war, die durch das Lyth Valley führte. Ein ziemlich weiter Fußmarsch.

Als er neben Daniel hielt, war der schon bis auf die Haut durchnässt, denn wie die meisten Jungs in seinem Alter würde er eher tot umfallen, als sich irgendwo mit einem Schirm blicken zu lassen. Das wäre sozialer Selbstmord. Als jemand, der während der eigenen Schulzeit täglich einen Spießrutenlauf absolviert hatte, konnte Zed den Jungen voll und ganz verstehen.

Er kurbelte sein Fenster herunter.»Kann ich dich irgendwohin mitnehmen?«

Daniel schaute ihn an. Zog die Brauen zusammen. Sah sich nach rechts und links um, während der Regen auf ihn niederprasselte. Schließlich sagte er:»Ich erinnere mich an Sie. Sind Sie ein Perverser oder was? Denn wenn Sie mich anrühren …«

«Entspann dich«, sagte Zed.»Heute ist dein Glückstag, heute steh ich auf Mädchen. Morgen wär’s vielleicht schon wieder gefährlich. Komm, steig ein.«

Daniel verdrehte die Augen über Zeds blöden Witz, öffnete jedoch die Tür und ließ sich tropfnass, wie er war, auf den Beifahrersitz fallen.»Sorry«, sagte er, als er sah, dass er das ganze Auto nass machte.

«Kein Problem.«

Zed fuhr langsam, denn er war entschlossen, alles aus dem Jungen herauszubekommen, was der wusste. Um seine Fahrweise zu rechtfertigen, stierte er auf die Straße und mimte den dummen Städter, der permanent Angst hatte, mit einem Schaf oder einem Kobold zu kollidieren.

Daniel fragte:»Was machen Sie überhaupt hier oben?«

Zed hatte bereits einen Aufhänger, den Daniel ihm selbst unbeabsichtigterweise geliefert hatte:»Du scheinst dich um das Lokalkolorit zu sorgen.«

«Hä?«Der Junge sah ihn verständnislos an.

«Angst vor Perversen.«

«Ist doch klar«, antwortete Daniel achselzuckend.»Von denen wimmelt’s hier oben.«

«Na ja, hier gibt’s doch eigentlich genug Schafe«, sagte Zed mit einem Augenzwinkern.»Aber vor einem Perversen ist wohl niemand gefeit.«

Der Junge bedachte ihn mit einem dieser für Jugendliche typischen Blicken, die Du bist ein Vollidiot viel eloquenter sagten, als Worte das könnten.

Zed sagte:»Sollte ein Witz sein. Ist noch zu früh am Morgen. Wo willst du denn hin?«

«Zur Landstraße. Da hält der Schulbus.«

«Und wo gehst du zur Schule?«

«In Windermere.«

«Ich kann dich hinbringen, wenn du willst. Ich fahre sowieso in die Richtung.«

Der Junge sah ihn argwöhnisch an. Vielleicht war er ja doch an einen Perversen geraten.»Was wollen Sie überhaupt?«, fragte er.»Sie haben mir gar nicht gesagt, warum Sie schon wieder hier sind. Was soll das?«

Ein neunmalkluges Bürschchen, dachte Zed.»Verdammt, entspann dich«, sagte er.»Ich lass dich raus, wo du willst. Möchtest du jetzt gleich aussteigen?«

Daniel betrachtete den strömenden Regen.»Aber lassen Sie bloß die Finger von mir«, sagte er.»Ich verpass Ihnen sonst eine in den Adamsapfel, und denken Sie ja nicht, dass ich mich nicht trau. Ich weiß, wie das geht. Mein Vater hat’s mir beigebracht, und es funktioniert, glauben Sie mir. Besser als ein Tritt in die Eier. Viel besser.«

«Toller Trick«, sagte Zed. Er musste das Gespräch auf das von ihm gewünschte Thema bringen, bevor sie die Landstraße erreichten und bevor der Junge ausflippte.»Dein Vater scheint sich Sorgen um dich zu machen«, sagte er.

«Allerdings. Bei uns nebenan wohnen schließlich zwei Perverse. Die tun so, als würden sie bloß zusammenwohnen, aber wir wissen genau, was da abläuft. Mein Dad sagt, bei solchen Typen kann man gar nicht vorsichtig genug sein. Und jetzt ist es noch schlimmer.«

«Wieso schlimmer?«Hallelujah, dachte Zed.

«Weil einer von den beiden tot ist, und jetzt sucht der andere sich bestimmt jemand Neues.«

Die Information stammte offenbar von jemandem, der sich auskannte, dachte Zed.»Verstehe«, sagte er.»Könnte aber auch sein, dass der andere wegzieht, oder?«

«Darauf wartet mein Dad ja auch«, sagte Daniel.»Er will das Haus nämlich kaufen.«

«Was, das ganze Anwesen mit Schafen und allem Drum und Dran?«

«Ganz genau«, sagte Daniel. Er schob sich eine nasse Strähne aus der Stirn und begann zu plaudern. Jetzt wo nicht länger die Rede von den Perversen war, wie er sie nannte, war er sichtlich entspannter, denn er drehte die Heizung auf tropische Temperaturen hoch und kramte eine Banane aus seinem Rucksack, die er sich einverleibte. Er erzählte Zed, dass sein Vater das Haus hauptsächlich kaufen wolle, um es ihm, Daniel, später zu vererben. Was total bescheuert war, fand Daniel, denn er wolle eher tot umfallen, als Schafzüchter werden. Er werde bei der erstbesten Gelegenheit aus dem Lake District abhauen und zur Royal Airforce gehen. Die machten hier oben Übungsflüge, ob Zed das schon bemerkt habe? Geile Flugzeuge, die im Tiefflug durch das Tal donnerten, ganz plötzlich kamen die angerast, wenn man irgendwo langlief, und das war echt voll cool.

«Das hab ich meinem Dad schon tausendmal erklärt«, sagte Daniel.»Aber er meint, er könnte mich zu Hause behalten, wenn er diesen bescheuerten alten Kasten kauft.«

Er möge seinen Dad wirklich sehr, sagte Daniel, doch so leben wie er wolle er nicht. Seine eigene Mutter sei davongelaufen, weil sie es hier in dem Kaff nicht ausgehalten habe. Trotzdem wolle sein Vater es immer noch nicht kapieren.

«Ich sag ihm immer, er soll das machen, was er gut kann. Ich find, das gilt für jeden.«

Da musste er dem Jungen recht geben, dachte Zed.»Und was ist das?«, fragte er.

Daniel zögerte. Zed schaute ihn kurz an. Der Junge wirkte ziemlich verlegen. Das könnte der entscheidende Augenblick sein, dachte Zed. Der Junge würde gleich gestehen, dass George Cowley gut darin war, Typen, die in einem Haus wohnten, das er kaufen wollte, um die Ecke zu bringen. Zed würde die Story seines Lebens bekommen.

«Puppenstubenmöbel«, murmelte Daniel.

«Wie bitte?«

«Er baut Möbel für Puppenhäuser. Wissen Sie nicht, was das ist?«

Verfluchter Mist, dachte Zed.

«Und er ist verdammt gut«, fuhr Daniel fort.»Klingt bescheuert, ich weiß, aber das macht er nun mal. Er verkauft das Zeug übers Internet. Ich sag ihm immer, er soll sich voll darauf konzentrieren, anstatt bei den blöden Schafen im Dreck rumzustapfen. Er sagt, es ist ein Hobby, und ich soll endlich lernen, was der Unterschied ist zwischen einem Hobby und einer Arbeit, mit der man seinen Lebensunterhalt verdient. «Daniel schüttelte den Kopf.»Er hat sich nun mal auf das beknackte Haus versteift.«

Ach? dachte Zed. Und was würde Cowley tun, wenn er erfuhr, dass Ian Cresswell das Haus Kaveh Mehran vererbt hatte?

Daniel zeigte auf eine riesige Eiche hinter einer Steinmauer. Dort könne Zed ihn aussteigen lassen, sagte er. Und danke fürs Mitnehmen.

Zed hielt an, und Daniel stieg aus. Im selben Augenblick klingelte Zeds Handy. Ein Blick aufs Display sagte ihm, dass der Anruf aus London kam. Von Rodney Aronson. So früh am Tag war Rodney doch normalerweise noch gar nicht im Büro, das ließ also nichts Gutes ahnen. Zum Glück konnte Zed nach seinem Gespräch mit Daniel Cowley endlich Fortschritte vermelden.

«Seien Sie auf der Hut«, sagte Rodney ohne Vorrede.

«Wieso? Was ist passiert?«

«Scotland Yard weiß, dass Sie sich da oben rumtreiben. Also ziehen Sie den Kopf ein. Und behalten Sie Nick Fairclough im Auge. In dessen Nähe werden Sie nämlich auch denjenigen finden, der da raufgeschickt wurde, um Ian Cresswells Tod zu untersuchen.«

BARROW-IN-FURNESS — CUMBRIA

Manette wollte sich nicht mit der Tatsache auseinandersetzen, dass ihr Exmann in der vergangenen Nacht nicht nach Hause gekommen war. Noch weniger aber damit, welche Gefühle das bei ihr auslöste. Aber es fiel ihr schwer, das durchzuhalten.

Sie hatten im Lauf der Jahre lang und breit über ihre gescheiterte Ehe diskutiert, über alles, was mit ihnen passiert war, was hätte passieren können und was zweifellos passieren würde, wenn sie nichts änderten. Am Ende waren sie zu dem Schluss gekommen, dass ihnen die Romantik abhandengekommen war, dass sie sich zu sehr auf die Arbeit konzentriert hatten und dass ihr Leben keine Überraschungen mehr bereitgehalten hatte. Sie waren zu Eheleuten geworden, die ihren Terminkalender konsultieren mussten, um sich zum Geschlechtsverkehr zu verabreden, in dessen Verlauf sie einander jahrelang Gefühle vorgespielt hatten, die sie längst nicht mehr füreinander empfanden. Nach zahllosen, endlosen Gesprächen waren sie sich einig gewesen, dass Freundschaft auf lange Sicht sowieso wichtiger war als Leidenschaft, und hatten sich entschlossen, als Freunde zusammenwohnen zu bleiben, denn letztlich waren sie immer noch gern zusammen, und welches Paar konnte das nach über zwanzig Jahren noch von sich behaupten?

Aber jetzt war Freddie über Nacht ausgeblieben. Und wenn er zu Hause war, pfiff er neuerdings vor sich hin, bevor er morgens zur Arbeit ging. Schlimmer noch, er hatte sich angewöhnt, unter der Dusche zu singen — und zwar immer dasselbe verdammte Lied, und das trieb Manette die Wände hoch. Es war dieses Lied aus Die Elenden, mit dem die Bevölkerung zu den Waffen gerufen wurde, und Manette sagte sich, wenn sie die Zeile» Das Blut der Märtyrer wird Frankreichs Erde tränken!«noch ein einziges Mal hören musste, würde sie den Badezimmerboden mit Freddies Blut tränken.

Oder vielleicht auch nicht. Sie wäre nie in der Lage, Freddie auch nur ein einziges Haar zu krümmen.

Sie fuhr zur Arbeit und ging zu ihm ins Büro. Er hatte sein Jackett abgelegt und saß in seinem frischgebügelten weißen Hemd und der roten Krawatte über einen Riesenberg Computerausdrucke gebeugt. Er arbeitete sich in die Bücher ein, um vorbereitet zu sein, falls ihr Vater ihm Ians Job anbot. Was er tun würde, wenn er vernünftig war.

Sie blieb im Türrahmen stehen.»Und? Wie war’s im Scorpio?«

Freddie blickte auf. An seinem Gesichtsausdruck erkannte sie, dass er keine Ahnung hatte, wovon sie redete.

«Der Nachtclub«, sagte sie.»Wo du mit deiner neuesten Flamme verabredet warst.«

«Ah!«, sagte er.»Das Scorpio!«Er legte den Computerausdruck weg, den er gerade studiert hatte.»Wir sind gar nicht reingegangen. Wir haben uns vor der Tür getroffen.«

«Großer Gott, Freddie. Ihr seid schnurstracks ins Bett gegangen? Du bist ja ein ganz Schlimmer!«

Er errötete. Manette fragte sich, ab wann ihr nicht mehr aufgefallen war, wie schnell Freddie rot anlief. Dann lachte er.»Nein, nein. Aber die Leute, die da reingingen, waren alle höchstens neunzehn und angezogen, als wären sie der Rocky Horror Picture Show entsprungen. Wir sind stattdessen zu einem Italiener gegangen. Ich hatte Rigatoni puttanesca. Besonders gut war’s nicht. Bisschen viel Putta und dafür zu wenig Nesca. «Er grinste über den albernen Witz, und rührend ehrlich, wie er war, fügte er hinzu:»Das war nicht von mir. Das kam von Sarah.«

«Ah, sie heißt also Sarah?«Wenigstens ein richtiger Name und keine modische Abkürzung, dachte Manette.»Und?«, fragte sie, obwohl sie es eigentlich gar nicht so genau wissen wollte.»Gibt’s grausige Details? Da sich in meinem Leben nichts ereignet, wie du weißt, freue ich mich immer über erheiternde Erlebnisberichte. «Sie betrat das Zimmer und setzte sich provokativ in den Stuhl vor seinem Schreibtisch.

Er errötete erneut. Diesmal noch tiefer.»Sei nicht so neugierig«, sagte er.

«Aber ihr habt’s getan, oder?«

«Getan? Was soll das denn heißen?«

Sie legte den Kopf schief und sah ihn bedeutungsvoll an.»Freddie …«

«Also gut, ja. Ich meine, ich hab dir doch erklärt, wie das heutzutage läuft. Wenn Leute sich zu einem Date treffen. Also ja, wir haben’s getan

«Mehr als einmal?«Sie ärgerte sich über sich selbst, doch plötzlich musste sie es einfach wissen. Und der Grund, warum sie es wissen musste, war, dass sie und Freddie in all den Jahren, in denen sie zusammen gewesen waren — selbst ganz am Anfang, als sie zwanzig Jahre alt und ein halbes Jahr lang vollkommen verrückt aufeinander gewesen waren —, nie häufiger als einmal innerhalb von vierundzwanzig Stunden übereinander hergefallen waren.

Freddie war ganz der schockierte Gentleman.»Mein Gott, Manette«, sagte er.»Es gibt Dinge …«

«Also ja. Mehr als einmal. Öfter als mit Holly? Schützt du dich überhaupt, Freddie?«

«Ich würde das Thema jetzt gern beenden«, sagte Freddie.

«Und was ist heute Abend? Triffst du dich heute Abend wieder mit einer anderen?«

«Nein, heute Abend treffe ich mich wieder mit Sarah.«

Manette schlug die Beine übereinander. Sie wünschte, sie hätte eine Zigarette. Sie hatte geraucht, als sie jung war, und hatte seit Jahren nicht mehr an Zigaretten gedacht, aber plötzlich hätte sie gern etwas gehabt, um ihre Hände zu beschäftigen. Sie nahm den Behälter mit den Büroklammern vom Schreibtisch und begann, damit zu spielen.»Ich finde das interessant«, sagte sie.»Da ihr es schon getan, sozusagen hinter euch gebracht habt, was steht als Nächstes an? Familienfotos? Oder diskutiert ihr über Erbkrankheiten und darüber, wer wessen Namen annimmt?«

Er sah sie seltsam an. Wahrscheinlich dachte er über ihre Bemerkung nach und legte sich eine Antwort zurecht. Aber ehe er aussprechen konnte, was er garantiert sagen würde —»Warum regst du dich eigentlich auf? Wir sind schon seit Ewigkeiten geschieden, wir waren uns einig, dass wir als Freunde zusammenleben wollten, und obendrein habe ich nie ein Keuschheitsgelöbnis abgelegt«—, kam sie ihm zuvor:»Also, kommst du denn heute Abend nach Hause, oder übernachtest du wieder bei Sarah?«

Er zuckte die Achseln.»Das weiß ich noch nicht«, sagte er.

«Natürlich. Wie auch? Tut mir leid. Ich hoffe, du bringst sie mal mit. Ich würde sie gern kennenlernen. Sag mir einfach vorher Bescheid, damit ich nicht mit nacktem Hintern am Frühstückstisch erscheine.«

«Klar. Kein Problem. Das neulich war eine ziemlich spontane Geschichte gewesen. Das mit Holly, meine ich. Da wusste ich noch nicht, wie diese Dinge heutzutage ablaufen. Aber jetzt, wo ich … na ja … man arrangiert sich. Und irgendwann muss man sich halt erklären …«

Diesmal war Manette verdattert. Es passte nicht zu Freddie, so herumzustottern.»Was ist los?«, fragte sie.»Gott, Freddie, du hast doch nicht etwa irgendwas … irgendwas Verrücktes angestellt, oder?«Sie wusste selbst nicht, was sie sich darunter vorstellte, aber Verrücktheiten passten einfach nicht zu Freddie. Er war geradlinig, offen und ehrlich.

«Nein, nein«, erwiderte er.»Es ist nur so … ich hab ihr noch nicht … Also, ich hab ihr nichts von dir erzählt.«

«Wie bitte? Du hast ihr nicht gesagt, dass du geschieden bist?«

«Doch, das weiß sie natürlich. Aber ich hab ihr nicht gesagt, dass wir … na ja, dass wir immer noch unter einem Dach wohnen.«

«Holly wusste es doch. Sie schien kein Problem damit zu haben. Heutzutage wohnen viele Leute in WGs.«

«Ja, sicher. Aber Sarah … Bei ihr war es irgendwie anders. Ich wollte das Risiko einfach nicht eingehen. «Er nahm die Computerausdrucke und legte sie zu einem ordentlichen Stapel zusammen.»Ich bin schon lange aus der Übung, Manette, das weißt du ja wohl. Bei den Frauen, die ich kennenlerne, lasse ich mich einfach von meinem Gefühl leiten.«

«Davon bin ich überzeugt«, entgegnete Manette schnippisch.

Eigentlich war sie zu ihm gegangen, um mit ihm über Tim und Gracie zu reden und über das Gespräch mit ihrem Vater. Doch jetzt schien es ihr auf einmal nicht mehr der rechte Moment. Und Freddie hatte ja eben gerade gesagt, dass man sich am besten auf sein Gefühl verlassen sollte. Sie stand auf.

«Dann erwarte ich dich also heute Abend nicht«, sagte sie.»Pass auf dich auf, okay? Es würde mir leidtun, wenn … ich weiß nicht … wenn dir etwas passieren würde. «Ehe er etwas darauf erwidern konnte, verließ sie das Zimmer und machte sich auf die Suche nach ihrem Bruder. Freddie führte sein Leben und sie das ihre, sagte sie sich, und es wurde allmählich Zeit, dass sie es Freddie gleichtat und ein bisschen Farbe in ihr Leben brachte. Allerdings wusste sie noch nicht so recht, wie sie das anstellen sollte. Sich in die unbekannte Welt des Internet-Dating zu stürzen, konnte sie sich jedenfalls nicht vorstellen. Mit einem wildfremden Mann ins Bett gehen, um festzustellen, ob man zusammenpasste? Sie schüttelte sich. Da konnte sie sich ja gleich einem Serienmörder an den Hals werfen, dachte sie. Oder vielleicht hatte sie auch zu viele Krimis im Fernsehen gesehen.

Sie fand Nicholas in der Versandabteilung, in die er sich mittlerweile hochgearbeitet hatte. Vorher hatte er ein halbes Jahr lang Spülkästen, Kloschüsseln und Waschbecken in ihrem tönernen Rohzustand mit Glasur überzogen und sie dann in den riesigen Brennofen geschoben. In der Halle mit dem Brennofen herrschten unerträgliche Hitze und ohrenbetäubender Lärm, aber Nicholas hatte die Etappe erfolgreich durchlaufen. Eigentlich hatte er sich in allen Abteilungen der Firma bewährt, in denen er in den vergangenen zwei Jahren gearbeitet hatte.

Manette wusste, dass er sich vorgenommen hatte, sich in der Firma von der Pike auf hochzuarbeiten. Sie konnte nicht umhin, ihn dafür zu bewundern, auch wenn die Gründe für seine Entscheidung sie ein bisschen beunruhigten. Er nahm doch nicht etwa an, dass ein paar Jahre des Herumwerkelns bei Fairclough Industries mehr zählten als die Jahrzehnte, die sie und Freddie schon in der Firma arbeiteten? Er rechnete doch wohl nicht damit, zum Geschäftsführer ernannt zu werden, wenn sein Vater eines Tages abtrat? Der Gedanke war einfach lächerlich.

Nicholas war gerade dabei, eine Sendung Waschbecken zu überprüfen. Weil das große Tor an der Rampe offen stand, war es kalt in der Halle. Und es war laut, da aus riesigen Lautsprechern Musik von Santana dröhnte, als könnte das den Anwesenden einheizen.

Manette ging auf ihren Bruder zu. Er blickte auf und nickte zum Gruß. Sie musste gegen die Musik anbrüllen, um ihn zu fragen, ob sie kurz reden könnten.»Es dauert noch eine Weile, bis ich Pause habe«, antwortete er.

«Herrgott noch mal, Nick«, schrie sie verärgert.»Du wirst schon nicht gleich gefeuert, wenn du deine Arbeit mal fünf Minuten lang unterbrichst.«

«Ich muss erst die Ladung hier abfertigen. Er wartet darauf. «Mit er war der Lastwagenfahrer gemeint, der herumstand und rauchte und nicht gerade den Eindruck machte, als hätte er es furchtbar eilig loszufahren.

«Ich muss mit dir reden«, insistierte sie.»Es ist wichtig. Frag um Erlaubnis, wenn du es für nötig hältst. Oder soll ich das für dich tun?«

Der Vorgesetzte ihres Bruders kam sowieso gerade an. Er schob sich den Hut in den Nacken, grüßte sie mit» Tag, Mrs. McGhie«, was ihr einen Stich versetzte, obwohl sie ja tatsächlich so hieß. Sie sagte:»Kann ich kurz mit Nicholas reden, Mr. Perkins? Es ist ziemlich wichtig. Eine Familienangelegenheit. «Letzteres fügte sie hinzu, um den Mann daran zu erinnern — als wäre das nötig —, wer Nicholas war.

Mr. Perkins warf einen Blick auf den Lastwagen, registrierte den untätigen Fahrer, sagte:»Okay, fünf Minuten, Nick«, und verschwand.

Manette ging voraus hinter die Halle, wo es nicht so laut war. Das war offenbar die heimliche Raucherecke, erkennbar an den zahllosen Kippen, die den Boden übersäten. Sie würde mit Freddie darüber reden. Dann überlegte sie es sich anders und nahm sich vor, sich selbst darum zu kümmern.

«Es geht um Tim und Gracie«, sagte sie zu ihrem Bruder und beschrieb ihm die ganze Situation: Niamhs Absichten, Kavehs Verantwortlichkeiten, die Haltung ihres Vaters, Tims Schwierigkeiten, Gracies Bedürfnisse.»Wir müssen unbedingt etwas unternehmen, Nick«, schloss sie.»Und zwar möglichst bald. Ich möchte nicht wissen, was Tim noch alles anstellt, wenn wir noch lange warten. Er ist vollkommen aus dem Lot.«

Ihr Bruder zog sich die Arbeitshandschuhe aus. Dann nahm er eine Tube Handcreme aus der Tasche und cremte sich die Hände damit ein. Das tat er für Alatea, dachte Manette. Alatea war eine Frau, für die ein Mann darauf achtete, dass seine Hände weich waren.»Wäre es nicht eigentlich Niamhs Aufgabe, sich darum zu kümmern, dass es ihren Kindern gutgeht?«

«Unter normalen Umständen ja, ist doch klar. Normalerweise sorgen Mütter für ihre Kinder. Aber Niamh benimmt sich nicht wie eine normale Mutter, und das tut sie nicht mehr, seit Ian sie verlassen hat, wie du sehr wohl weißt. «Manette sah zu, wie ihr Bruder die Creme in seine Haut einmassierte.»Jemand muss eingreifen. Ob du’s glaubst oder nicht, sie hat allen Ernstes vor, die Kinder bei Kaveh Mehran zu lassen.«

«Der Mann ist doch in Ordnung. Ich mag ihn. Du etwa nicht?«

«Es geht nicht darum, ob ich ihn mag. Herrgott noch mal, Nick, er gehört noch nicht mal zur Familie. Hör zu, ich bin wirklich ein aufgeschlossener Mensch, und als Ian noch lebte und die Kinder bei ihm waren, hatte ich kein Problem damit. Da hab ich mir gesagt, besser, sie wohnen in einem Haushalt, wo es noch Liebe gibt, als bei Niamh, die von morgens bis abends Zeter und Mordio schreit. Aber es funktioniert nicht, und Tim …«

«Na ja, das dauert halt seine Zeit«, fiel Nick ihr ins Wort.»So lange ist Ian doch noch gar nicht tot, dass wir jetzt schon sagen könnten, was das Beste für die Kinder ist.«

«Da magst du ja recht haben, aber bis wir das wissen, sollten sie bei jemandem aus der Familie sein. Wenn nicht bei ihrer Mutter, dann eben bei einem von uns. Nick, ich weiß, dass ihr euch nicht grün wart, du und Ian. Er ist ziemlich hart mit dir umgesprungen, er hat dir nicht getraut, und er wollte sogar Dad ausreden, dass er dir traute. Aber einer von uns muss diesen Kindern Sicherheit geben, eine Familie und …«

«Das könnten doch Mum und Dad machen, oder? Die haben ja weiß Gott genug Platz in Ireleth Hall.«

«Ich habe mit Dad gesprochen, ohne dass es etwas gebracht hätte. «Manette verspürte immer stärker das Bedürfnis, ihrem Bruder ihren Willen aufzuzwingen. Eigentlich hätte das ganz einfach sein müssen, denn Nicholas zu irgendetwas zu überreden war schon immer ein Kinderspiel gewesen. Sie sagte:»Hör zu, ich weiß, was du dir vorgenommen hast, und ich bewundere dich dafür. Das tut Dad auch. Das tun wir alle. Na ja, Mignon vielleicht nicht, aber das solltest du nicht persönlich nehmen, denn die interessiert sich sowieso nur für sich selbst.«

Er grinste. Er kannte Mignon genauso gut wie sie.

«Es wäre ein weiteres Plus auf deinem Weg zur Rehabilitation, Nick«, sagte sie.»Wenn du das tätest — wenn du die Kinder zu dir nimmst —, würde das deine Position stärken. Es wäre ein Zeichen für deinen Einsatzwillen, für deine Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen. Im Übrigen wohnst du näher an der Margaret Fox School als Kaveh, und du könntest Tim bequem auf dem Weg zur Arbeit zur Schule bringen.«

«Du wohnst doch noch viel näher an der Margaret Fox School«, sagte er.»Wieso nimmst du die Kinder also nicht zu dir?«

«Nick …«Manette blieb nichts anderes übrig, als ihm die Wahrheit zu sagen. Sie brachte es so knapp wie möglich hinter sich, erzählte ihm von Freddies Internet-Dates, dass es dabei anscheinend neuerdings darauf ankam, so schnell wie möglich miteinander ins Bett zu gehen, so dass man jeden Morgen mit einer anderen Fremden am Frühstückstisch rechnen musste. So etwas konnte man Kindern ja wohl kaum zumuten, oder?

Nicholas schaute sie die ganze Zeit aufmerksam an.»Das tut mir leid«, sagte er, als sie geendet hatte. Und damit sie verstand, was genau ihm leidtat, fügte er hinzu:»Ich weiß, was Freddie dir bedeutet, Manette, auch wenn du es selbst nicht immer weißt.«

Sie wandte sich ab, denn sie kämpfte mit den Tränen.»Wie auch immer … Du siehst also …«

«Ich muss wieder an die Arbeit. «Er nahm sie in die Arme und küsste sie auf die Schläfe.»Ich muss erst mit Allie darüber reden, okay? Irgendwas liegt ihr auf dem Magen, ich weiß nicht, was es ist. Sie hat’s mir noch nicht gesagt, aber sie rückt schon noch damit heraus. Wir haben keine Geheimnisse voreinander. Also gib mir ein bisschen Zeit, einverstanden? Jedenfalls sage ich noch nicht Nein, was Tim und Gracie angeht.«

ARNSIDE — CUMBRIA

Er hatte keine Ahnung vom Angeln, aber das spielte keine Rolle. Er brauchte keinen Fisch zu fangen, er musste es nur so aussehen lassen, als würde er angeln. Also hatte Zed sich von seiner Hauswirtin eine Angel geliehen, was die alte Frau zum Anlass genommen hatte, ihm einen Vortrag über ihren verstorbenen Mann zu halten und darüber, wie viele Stunden er mit seiner Angel auf irgendwelchen Seen und Flüssen vergeudet hatte. Dann hatte sie ihm noch einen Angelkasten gegeben sowie eine Regenjacke und ein Paar Gummistiefel, alles so winzig, dass es ihm nichts nützte, und einen Angelhocker. Zum Schluss hatte sie ihm viel Glück gewünscht. Ihr Mann, sagte sie, habe so gut wie nie Glück gehabt. In fünfundzwanzig Jahren habe er gerade einmal fünfzehn Fische gefangen. Sie könne es beweisen, denn sie habe genau aufgeschrieben, wann ihr Mann aus dem Haus gegangen und ohne einen Fisch zurückgekehrt war. Vielleicht habe er ja eine Geliebte gehabt, meinte sie, denn wenn man sich die Sache genau überlege …

Zed hatte sich hastig bei der Frau bedankt und war nach Arnside gefahren, wo Gott sei Dank gerade Flut herrschte. Er hatte sich einen Platz an der Ufermauer gesucht, direkt unterhalb von Nicholas Faircloughs Haus, und seine Angel ausgeworfen. Dabei hatte er noch nicht einmal einen Köder am Haken befestigt, denn das Letzte, was er gebrauchen konnte, war, dass tatsächlich ein Fisch anbiss und er irgendetwas damit anstellen musste. Zum Beispiel anfassen.

Jetzt wo Scotland Yard wusste, dass er in der Gegend war, musste er Vorsicht walten lassen. Wenn die ihn erst einmal entdeckt hatten — wer auch immer sie sein mochten —, würde das seine Arbeit extrem erschweren. Er musste unbedingt herausfinden, wer sie waren — er ging jedenfalls davon aus, dass es mindestens zwei Polizisten waren, denn im Fernsehen arbeiteten sie ja auch immer in Teams.

Zed rechnete damit, dass sie irgendwann bei Nicholas auftauchen würden, und dann würde er zur Stelle sein.

Der Angelhocker war eine großartige Idee gewesen. So konnte er an seinem Platz an der Ufermauer abwechselnd stehen und sich ausruhen. Lange Zeit tat sich nichts Verdächtiges bei Nicholas Faircloughs Haus, doch dann trat Alatea Fairclough plötzlich aus der Tür.

Sie kam direkt auf ihn zu, und er konnte nichts anderes denken als verdammt, verdammt, verdammt. Er würde auffliegen, ehe er irgendetwas Brauchbares in Erfahrung gebracht hatte, was wirklich kein Wunder war bei dem Pech, das er in letzter Zeit hatte. Die Frau blieb jedoch mitten auf dem Rasen stehen und schaute auf die Bucht hinaus. Wahrscheinlich dachte sie an all die Menschen, die in dieser Bucht den Tod gefunden hatten, wie diese armen Chinesen — mehr als fünfzig, die im Dunkeln von der einsetzenden Flut überrascht worden waren und auf Rettung gehofft hatten, die nicht kam. Oder wie der Mann, der mit seinem Sohn bei einsetzender Flut in eine Nebelbank geraten war und vollkommen die Orientierung verloren hatte, während überall um ihn herum Nebelhörner ertönten. In Anbetracht all dessen war die Morecambe Bay wahrscheinlich ein schrecklich deprimierender Ort, sagte sich Zed, und Alatea Fairclough wirkte so deprimiert wie nur etwas.

Verdammt, dachte er, sie hatte doch nicht etwa vor, in dieses tückische Wasser zu gehen? Denn dann würde er sie retten müssen, und das würde für sie beide den sicheren Tod bedeuten.

Er war zu weit weg, um es zu hören, aber anscheinend klingelte Alateas Handy, denn sie nahm es aus ihrer Jackentasche und klappte es auf. Sie redete mit jemandem. Begann dabei, auf und ab zu gehen. Schließlich schaute sie auf ihre Armbanduhr, die er selbst auf die Entfernung glitzern sah. Dann schaute sie sich um, als fürchtete sie, beobachtet zu werden, und Zed zog den Kopf ein.

Gott, war sie schön, dachte er. Wie war sie bloß hier am Arsch der Welt gelandet? Eine Frau wie sie war doch gemacht für den Laufsteg oder wenigstens für einen von diesen Dessous-Katalogen von Victoria’s Secret, in denen Models mit üppigen Brüsten in hauchzarten BHs und dazu passenden Höschen posierten, lauter zarte Haut und straffe Schenkel und …

Zed riss sich zusammen. Was zum Teufel war mit ihm los? Man hätte meinen können, er sei ein richtiger Chauvi. Das war nicht nur den Frauen im Allgemeinen gegenüber unfair, sondern vor allem Yaffa gegenüber, die ihn von London aus unterstützte, die seine verrückte Mutter ertrug und … Andererseits, warum sollte er Rücksicht auf Yaffa nehmen, wo doch Micah in Tel Aviv auf sie wartete und Medizin studierte wie ein guter Sohn, der Zed überhaupt nicht war?

Er schlug sich mit der Hand an die Stirn. Dann riskierte er einen Blick hinüber zu Alatea Fairclough. Offenbar hatte sie ihr Telefongespräch beendet, denn sie war auf dem Weg zurück ins Haus.

Das war also der Höhepunkt seines Tages. Großartig, dachte Zed. Wieder ein vertaner Tag in Cumbria. Er blieb noch zwei Stunden auf seinem Posten und tat so, als angelte er. Schließlich packte er seine Sachen und überlegte, was er als Nächstes tun könnte.

Aber als er auf dem Weg zu seinem Auto war, wendete sich das Blatt. Er hatte gerade das Ende der Ufermauer erreicht, die Nicholas Faircloughs Grundstück einfasste, als ein Wagen in die Einfahrt einbog.

Am Steuer saß eine Frau. Sie schien sich hier auszukennen. Schnell schlich Zed den Weg zurück, den er gekommen war.

Die Frau hatte rotes Haar, genau wie er. Sie trug Jeans, Stiefel und einen dicken, moosgrünen Pullover. Er hielt sie für eine Freundin von Alatea und rechnete damit, dass sie auf direktem Weg zur Haustür gehen würde. Aber das tat sie nicht, vielmehr schlich sie ums Haus herum wie eine dilettantische Einbrecherin. Dann zückte sie eine Kamera und begann zu fotografieren.

Schließlich ging sie zur Haustür und klingelte. Sie schaute sich um, als rechnete sie damit, dass sich jemand — wie Zed — im Gebüsch versteckte. Sie nahm ihr Handy aus der Tasche und schien nachzusehen, ob eine SMS angekommen war. Dann ging die Tür auf, und ohne viele Worte zu verlieren, bat Alatea die Frau ins Haus.

Aber Alatea wirkte alles andere als erfreut, stellte Zed fest. Und überglücklich stellte er fest, dass das Warten sich gelohnt hatte. Er hatte die Neuigkeit, die er brauchte, die Information, die seine Geschichte sexy machen würde. Denn jetzt wusste er, wen Scotland Yard aus London hergeschickt hatte.

ARNSIDE — CUMBRIA

Als Alatea die Tür aufmachte, sah Deborah das Entsetzen in ihren Augen. Es war, als hätte sie den Leibhaftigen erblickt, dachte Deborah bestürzt und wusste nicht, was sie sagen sollte.»Mr. Fairclough scheint nicht zu Hause zu sein«, brachte sie schließlich hervor.»Aber ich muss nicht unbedingt mit ihm sprechen.«

Das machte alles noch schlimmer.»Was wollen Sie?«, fragte Alatea schroff. Sie schaute über Deborahs Schulter, als rechnete sie damit, dass ein Angreifer um die Hausecke gerannt kam.»Nickie ist bei der Arbeit. «Sie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr, ein goldenes, mit Strasssteinen besetztes Schmuckstück, das an jeder anderen Frau lächerlich gewirkt hätte.»Das heißt, inzwischen ist er wahrscheinlich auf dem Weg zu seinem Turmprojekt.«

«Kein Problem«, erwiderte Deborah frohgemut.»Ich habe draußen ein paar Fotos gemacht, um dem Produzenten eine Vorstellung von der Kulisse zu geben — damit er sich überlegen kann, wo er die Interviews führen will. Der Rasen würde sich sehr gut eignen, vor allem bei Flut. Aber hier oben muss man natürlich immer damit rechnen, dass es in Strömen regnet, nicht wahr? Deswegen würde ich gern ein paar Innenaufnahmen machen. Wäre das möglich? Ich möchte Ihnen natürlich keine Unannehmlichkeiten bereiten. Es dauert auch nicht lange. Ich mache nur ein paar Schnappschüsse.«

Alatea schluckte. Sie rührte sich keinen Millimeter von der Tür weg.

«Nur eine Viertelstunde. «Deborah bemühte sich um einen heiteren Ton, der besagte: Von mir hast du nichts zu befürchten.»Ich interessiere mich in erster Linie für das Wohnzimmer. Da ist das Licht gut, und der Raum würde einen guten Hintergrund abgeben.«

Äußerst widerstrebend ließ Alatea Deborah eintreten. Die Frau war dermaßen angespannt, dass Deborah sich fragte, ob sie womöglich einen Liebhaber im Schrank versteckt hatte.

Sie durchquerten die Eingangshalle. Alatea öffnete die doppelflügelige Schiebetür, durch die sie in einen Flur gelangten, dessen Wände mit dunklen Holzpaneelen verkleidet waren. Durch mehrere bleiverglaste Fenster mit einem hübschen Muster aus roten Tulpen und grünen Blättern fiel nur wenig Licht.

Das Haus sei wirklich eindrucksvoll, sagte sie zu Alatea. Ob schon Fotoreportagen darüber in Zeitschriften erschienen seien? Die Arts-and-Crafts-Bewegung sei so schlicht und sympathisch gewesen, nicht wahr? Ob Alatea an einem Dokumentarfilm über die Restaurationsarbeiten interessiert sei? Und ob schon jemand von einer der zahllosen Fernsehsendungen an sie herangetreten sei, die über historische Häuser in England berichteten? Auf alle ihre Fragen erhielt sie einsilbige Antworten. Sich mit dieser Frau anzufreunden würde kein leichtes Unterfangen werden, sagte sich Deborah.

Im Wohnzimmer angekommen, versuchte sie es mit einem anderen Thema. Wie es Alatea in England gefalle? Es sei doch sicher völlig anders als in Argentinien?

Alatea schaute Deborah verblüfft an.»Woher wissen Sie, dass ich Argentinierin bin?«

«Ihr Mann hat es mir erzählt. «Am liebsten hätte Deborah hinzugefügt: Warum fragen Sie? Ist das ein Problem? Doch sie beherrschte sich. Sie ließ ihren Blick durch den Raum schweifen. Sie musste Alatea zu dem Erkerfenster locken, wo die Zeitschriften lagen. Deborah machte ein paar Aufnahmen von Stellen, die sich für ein Interview eigneten, und näherte sich dabei unauffällig dem Erkerfenster.

Aber als sie dort ankam, bemerkte sie sofort, dass die Zeitschrift Conception nicht mehr auf dem Tisch lag. Das würde die Sache etwas komplizierter, jedoch nicht unmöglich machen. Deborah schoss ein Foto von den beiden Sesseln und dem niedrigen Tisch vor dem Erkerfenster und stellte die Blende so ein, dass auch die Aussicht zu sehen war, die man vom Fenster aus hatte. Beiläufig sagte sie:»Wir haben übrigens etwas gemeinsam, Mrs. Fairclough. «Sie blickte von ihrer Kamera auf und lächelte Alatea an.

Die stand an der Tür, als wollte sie jeden Augenblick die Flucht ergreifen. Höflich erwiderte sie Deborahs Lächeln, sah sie jedoch zweifelnd an. Offenbar hatte sie keine Ahnung, was sie mit Deborah gemeinsam haben könnte, abgesehen davon, dass sie beide Frauen waren und sich zufällig im selben Zimmer ihres Hauses aufhielten.

Deborah sagte:»Wir wünschen uns beide ein Kind. Ihr Mann hat es mir erzählt. Ihm war aufgefallen, dass ich die Zeitschrift Conception auf Ihrem Tisch gesehen hatte. Ich lese sie schon ewig«, log sie.»Na ja, seit fünf Jahren. Seit Simon — mein Mann — und ich versuchen, ein Baby zu bekommen.«

Alatea sagte nichts dazu, aber Deborah sah, wie sie schluckte und wie ihr Blick zu dem Tisch wanderte, auf dem die Zeitschrift gelegen hatte. Deborah fragte sich, ob Alatea oder Nicholas das Heft weggenommen hatte. Und sie fragte sich, ob Nicholas sich genauso große Sorgen um den Seelenzustand seiner Frau machte, wie Simon um sie besorgt war.

Während sie eine weitere Aufnahme machte, sagte sie:»Anfangs haben wir uns einfach darauf verlassen, dass die Natur es schon richten würde. Dann haben wir es mit dem Eisprungkalender versucht, mit der Temperaturmethode, mit Mondphasen. «Sie rang sich ein Lachen ab. Es fiel ihr nicht leicht, solche Dinge einer Fremden anzuvertrauen, aber sie wusste, wie wichtig es war, Vertrauen aufzubauen, und zudem hatte sie das Gefühl, dass ihr Geständnis tröstend wirken könnte.»Und dann haben wir uns untersuchen lassen, was Simon alles andere als angenehm fand, das kann ich Ihnen flüstern. Und schließlich die endlosen Diskussionen über Alternativen, Besuche bei Spezialisten. «Sie ließ ihre Kamera sinken und zuckte die Achseln.»Es hat sich herausgestellt, dass ich kein Kind werde austragen können. Konstruktionsfehler. Jetzt denken wir über eine Adoption nach. Ich würde eine Leihmutter bevorzugen, doch davon will Simon nichts wissen.«

Die Argentinierin hielt sich immer noch auf Distanz. Deborah fiel auf, dass sie etwas blasser wirkte und dass sie ihre eleganten Hände immer wieder zu Fäusten ballte. In ihren Augen glänzten unvergossene Tränen.

Deborah begriff, was in der Frau vorging. Jahrelang hatte sie sich genauso gefühlt.»Verzeihen Sie«, sagte sie hastig.»Es tut mir leid. Wie gesagt, ich habe bei meinem ersten Besuch die Zeitschrift hier liegen sehen. Ihr Mann hat mir gesagt, dass Sie versuchen, schwanger zu werden. Dass Sie seit zwei Jahren verheiratet sind und … Mrs. Fairclough, es tut mir wirklich leid. Ich wollte Sie nicht verletzen. Bitte, setzen Sie sich doch.«

Alatea setzte sich, aber nicht dahin, wo Deborah es gern gehabt hätte, sondern auf die Bank neben dem offenen Kamin. Ihr krauses Haar glänzte im Licht, das durch das Bleiglasfenster fiel. Deborah ging zu ihr, achtete jedoch darauf, eine gewisse Distanz zu wahren.»Es ist schwer, ich weiß. Ich hatte sechs Fehlgeburten, bis ich erfahren habe, was mit meinem Körper nicht stimmt. Vielleicht kann man irgendwann etwas daran machen, bei all der Forschung, die auf dem Gebiet betrieben wird, aber bis dahin bin ich bestimmt zu alt.«

Eine Träne lief über Alateas Wange. Sie änderte ihre Körperhaltung, als könnte das verhindern, dass sie vor einer Fremden noch mehr Tränen vergoss.

«Merkwürdig, nicht wahr«, sagte Deborah,»dass etwas für die einen das Natürlichste auf der Welt und für die anderen ein Ding der Unmöglichkeit sein soll.«

Deborah hoffte die ganze Zeit, dass Alatea nicht nur mit Tränen reagierte, sondern irgendwie zu erkennen gab, dass es ihr ähnlich erging. Aber sie tat es nicht. Deborah hätte jetzt noch darauf eingehen können, warum sie sich so dringend ein Kind wünschte. Es hatte teilweise damit zu tun, dass ihr Mann behindert war — er selbst bezeichnete sich als Krüppel —, und teilweise damit, dass diese Behinderung sein Selbstwertgefühl als Mann beeinträchtigte. Doch über dieses Thema wollte sie eigentlich nicht mit Alatea Fairclough reden. Es fiel ihr schwer genug, sich das alles selbst einzugestehen.

Deswegen schnitt sie ein ganz neues Thema an.»Ich glaube, dass dieses Zimmer besser geeignet ist für ein gefilmtes Interview als alles, was ich draußen gesehen habe. Und da, wo Sie gerade sitzen, ist das Licht besonders gut. Wenn es Ihnen nichts ausmacht, würde ich gern ein Foto von Ihnen machen, um dem Produzenten zu zeigen …«

«Nein!«Alatea sprang auf.

Deborah wich einen Schritt zurück.»Es ist für …«

«Nein! Nein! Sagen Sie mir, wer Sie sind!«, schrie Alatea.»Sagen Sie mir, warum Sie wirklich hier sind! Sagen Sie es mir endlich!«

Загрузка...