... Friede, Friede rufend, wenn es keinen Frieden gibt.
JEREMIAS 6,14; 8,11
Die ganze Nacht hindurch regnete es in Washington. Kurz vor Tagesanbruch des 23. Mai - ein Dienstag - erwachte George Hazard in seiner Suite im Willard-Hotel. Er legte eine Hand auf die warme Schulter seiner Frau und lauschte.
Kein Regen mehr.
Die Stille war ein gutes Omen für diesen Feiertag. Heute morgen begann eine neue Ära, eine Ära des Friedens, mit einer geretteten Union.
Warum hatte er dann dieses Gefühl drohenden Unheils?
George glitt aus dem Bett. Das Flanellnachthemd umflatterte seine behaarten Waden, als er sich aus dem Zimmer stahl. George war jetzt einundvierzig, ein untersetzter Mann mit kräftigen Schultern, dessen unterdurchschnittliche Größe ihm bei seinen Klassenkameraden in West Point den Spitznamen >Stumpf< eingetragen hatte. Grau durchsetzte sein dunkles Haar und den sauber gestutzten Bart, den er wie so viele andere noch trug, um zu zeigen, daß er in der Armee gedient hatte.
Er schlurfte ins Wohnzimmer, das mit Zeitungen und Zeitschriften übersät war; gestern abend war er zu müde gewesen, um sie noch aufzuheben. Er begann sie einzusammeln und zu stapeln, wobei er sich bemühte, so leise wie möglich zu sein. Im zweiten und dritten Schlafzimmer schliefen seine Kinder. William Hazard III. war im Januar sechzehn geworden. Ende des Jahres würde Patricia dieses Alter erreichen. Das vierte Schlafzimmer gehörte Georges jüngerem Bruder Billy und dessen Frau Brett. Billy würde heute in der Parade mitmarschieren, hatte aber die Erlaubnis erhalten, die Nacht außerhalb des Pionierlagers von Fort Berry zu verbringen.
Die Zeitungen und Zeitschriften schienen Georges düstere Vorahnung verspotten zu wollen. Die New York Times, die Tribune, der Washington Star, die letzten Ausgaben von Army und Navy Journal hörten sich alle gleichermaßen triumphierend an. Während er auf dem Nebentisch einen sauberen Stapel auftürmte, stachen ihm die Sätze ins Auge:
Obwohl unser gigantischer Krieg erst seit einigen Tagen beendet ist, haben wir bereits mit der Auflösung der großartigen Unionsarmee begonnen ...
Sie hat die Rebellion zerschmettert, die Union gerettet und für sich und uns ein Land gewonnen ...
Das Kriegsministerium hat angeordnet, sechshunderttausend Blankoentlassungen auf Pergamentpapier zu drucken ...
Unsere selbstbewußte Republik entläßt ihre Armeen, schickt ihre treuen Soldaten heim, schließt ihre Rekrutierungszelte, hebt ihre Materialkontrakte auf und bereitet sich darauf vor, den düsteren Pfad des Krieges zu verlassen, um die breite, helle Straße des Friedens zu beschreiten .
Die Feierlichkeiten dafür fanden heute und morgen statt: eine große Parade von Grants Potomac-Armee und Uncle Billy Shermans rauhbeiniger Armee des Westens. Grants Männer würden heute marschieren; Shermans Truppen morgen. Shermans Wes-terner taten Grants Männer aus dem Osten spöttisch als >Pa-pierkragen< ab. Vielleicht würden die Westerner ihre Parade mit Kühen und Ziegenböcken, Mulis und Kampfhähnen abhalten, die sie in ihr Camp an den Ufern des Potomac mitgebracht hatten.
Nicht alle Männer, die in den Krieg gezogen waren, würden mitmarschieren. Einige ruhten, getrennt von ihren Lieben, für immer in der Erde, so wie Georges bester Freund Orry. George und Orry hatten sich 1842 als Rekruten in West Point kennengelernt. Gemeinsam hatten sie als Soldaten in Mexiko gekämpft und sich ihre Freundschaft über die Kapitulation von Fort Sumter hinaus bewahrt, in deren Folge der Krieg sie auf verschiedene Seiten stellte. In dessen letzten Tagen fand Orry den Tod bei Petersburg. Nicht in der Schlacht - er fiel der dummen, sinnlosen, rachsüchtigen Kugel eines verwundeten Unionssoldaten zum Opfer, dem er hatte helfen wollen.
Einige der jungen Männer, die der Krieg alt gemacht hatte, zogen immer noch über die Straßen des Südens, auf dem Heimweg zu Not und Elend und Armut in einem Land, das vom Hunger und von den Feuern der Eroberungsbataillone beherrscht wurde. Andere saßen noch in nordwärts fahrenden Zügen, an Körper und Geist verstümmelt von den Kloaken, die als Rebellengefängnisse herhalten mußten. Manch einer der konfö-derierten Soldaten war nach Mexiko verschwunden oder weiter nach Westen gegangen, um seine unsichtbaren Wunden zu vergessen. Orrys junger Cousin Charles hatte den Weg nach Westen gewählt.
Für viele andere hatte der Krieg in Schmach und Schande geendet. Das galt in erster Linie für Jeff Davis, der sich nach Ir-winville, Georgia, geflüchtet hatte. Viele Zeitungen des Nordens behaupteten, er habe der Gefangennahme zu entgehen versucht, indem er sich unter einem Damenkleid versteckte. Wie immer auch die Wahrheit lauten mochte, für gewisse Elemente im Norden war Gefängnis für Davis bei weitem nicht ausreichend. Sie schrien nach dem Strick.
George zündete sich eine seiner teuren kubanischen Zigarren an und ging hinüber zu den Fenstern mit Blick auf die Pennsyl-vania Avenue. Von der Suite aus hatte man einen herrlichen Blick auf die Route, die die heutige Parade nehmen würde, doch er hatte Sonderkarten für die Tribüne direkt hinter dem Präsidenten. Vorsichtig schob er ein Fenster hoch.
Der Himmel war wolkenlos. Er lehnte sich vor, um den Zigarrenrauch hinauszulassen; überall an den drei- und vierstöckigen Gebäuden der Avenue hingen patriotische Flaggen. Lebhaftere Dekorationen hatten endlich die Trauertücher verdrängt, die man allerorten nach Lincolns Ermordung hatte sehen können.
Ein scharlachrotes Lichtband über dem Becken des Potomac markierte den Horizont. Unten auf der schlammigen Avenue begannen sich Vehikel, Reiter und Fußgänger in Bewegung zu setzen. George sah zu, wie eine schwarze Familie - Eltern und fünf Kinder - in Richtung des Präsidentenparks eilte. Für sie gab es mehr als nur das Kriegsende zu feiern. Der dreizehnte Nachtrag zur Verfassung garantierte ihnen, daß die Sklaverei für immer abgeschafft war; die Staaten mußten ihn nur noch ratifizieren, um ihn zum Gesetz zu erheben.
Ein heller werdender Himmel, ein Farbenspiel von Rot, Weiß und Blau und kein Regen mehr - warum wich unter solch günstigen Voraussetzungen seine dunkle Vorahnung nicht?
Es lag an den Familien, entschied er, den Mains und den Ha-zards. Sie hatten den Krieg überlebt, aber sie hatten schwer gelitten. Virgilia, seine Schwester, gehörte nicht mehr zur Familie; ihr Extremismus hatte sie in ein selbstgewähltes inneres Exil getrieben. Das war besonders traurig, da Virgilia direkt hier in Washington lebte, wenn auch George ihren genauen Aufenthaltsort nicht kannte.
Dann gab es da noch seinen älteren Bruder Stanley; ein inkompetenter Mann, der durch Kriegsprofite skrupellos einen gewaltigen Geldberg angehäuft hatte. Trotz seines Erfolges -oder vielleicht gerade deswegen - war Stanley ein Säufer.
Bei den Mains sah es nicht besser aus. Orrys Schwester Ash-ton war irgendwo im Westen verschwunden, nachdem sie an einer erfolglosen Verschwörung zum Sturz der Davis-Regierung zugunsten einer extremeren Regierung beteiligt gewesen war. Orrys Bruder Cooper, der in England für das Marineministerium der Konföderierten tätig gewesen war, hatte seinen einzigen Sohn Judah verloren, als ihr Schiff auf der Rückfahrt vor Fort Fisher von einem Blockadeschiff der Union versenkt worden war.
Und dann war da noch Madeline, die Witwe seines besten Freundes Orry, die sich der schweren Aufgabe gegenübersah, ihr Leben und die abgebrannte Plantage am Ashley River in der Nähe von Charleston neu aufzubauen. George hatte ihr einen Kreditbrief über vierzigtausend Dollar gegeben, auf die Bank, die mehrheitlich ihm gehörte. Er hatte gehofft, daß sie um weitere Beträge bitten würde; der größte Teil der ursprünglichen Summe war für die Zinsen zweier Darlehen und für Bundessteuern benötigt worden; außerdem hatte sie verhindern müssen, daß der Besitz von Agenten des Schatzamts, die bereits den Süden überzogen, konfisziert und weiterverkauft wurde. Trotzdem hatte sich Madeline nicht bei ihm gemeldet, und das beunruhigte ihn.
Selbst zu dieser frühen Stunde herrschte sehr reger Fuhrver-kehr auf der Avenue. Es war ein denkwürdiger Tag, und wenn er dem Himmel und der sanften Brise trauen konnte, dann würde es auch ein wunderschöner Tag werden. Warum war er dann nicht in der Lage, dieses Gefühl nahenden Unheils zu bannen, nachdem er nun seine Befürchtungen, was die beiden Familien anbelangte, beim Namen genannt hatte?
Die Hazards nahmen ein schnelles Frühstück zu sich. Vor allem Brett wirkte besonders glücklich und aufgeregt, dachte George mit einem gewissen Neid. In wenigen Wochen wollte Billy sein Entlassungsgesuch einreichen. Dann würden die beiden an Bord eines Schiffes nach San Francisco gehen. Sie hatten zwar Kalifornien nie gesehen, fühlten sich aber durch Schilderungen des Klimas, der Landschaft und die unbegrenzten Möglichkeiten angezogen. Billy wollte dort eine eigene Baufirma gründen. So wie sein Freund Charles Main, mit dem zusammen er West Point absolviert hatte - inspiriert von George und Orry -, wollte er so weit wie möglich von den narbenbedeckten Schlachtfeldern weg, wo Amerikaner gegen Amerikaner gekämpft hatten.
Das Paar hatte es eilig mit dieser Reise. Brett ging mit ihrem ersten Kind schwanger. Billy hatte es George vertraulich mitgeteilt; der Anstand gebot, daß über eine Schwangerschaft nicht gesprochen wurde, nicht einmal unter Familienmitgliedern. Wenn die Zeit einer Frau gekommen war und ihr Bauch sich deutlich rundete, dann taten die Leute so, als würden sie nichts bemerken. Beim zweiten Kind erzählten die Eltern dem Erstgeborenen oft genug, daß der Doktor das Baby in einer Flasche gebracht habe. George und Constance hielten die meisten der Schicklichkeitsnormen ein, auch wenn sie viele für albern hielten, doch auf die Geschichte mit der Flasche hatten sie sich nie eingelassen.
Gegen acht Uhr fünfzehn erreichte die Familie ihren Tribünenabschnitt. Sie nahmen zwischen Reportern, Kongreßabgeordneten, Richtern des Obersten Gerichtshofs und hohen Armee- und Marineoffizieren Platz. Zu ihrer Linken zog sich die Avenue um das Schatzamt in der Fifteenth Street; hinter der Biegung lag der lange Anstieg der Straße zum Kapitol.
Zu ihrer Rechten drängten sich, soweit der Blick reichte, Menschen hinter Barrikaden, hingen aus Fenstern und saßen auf Dächern und durchhängenden Baumästen. Direkt gegenüber stand der überdachte Pavillon für die Gäste von Präsident Johnson, zu denen die Generäle Grant und Sheridan und Stanley Hazards Arbeitgeber, Kriegsminister Stanton, gehören würden. An der vorderen Dachlinie des Pavillons hingen zwischen Wimpeln und Immergrün Banner mit den Namen der Unionssiege: ATLANTA und ANTIETAM, GETTYSBURG und SPOTSYLVANIA und viele andere.
Viertel vor neun war immer noch nichts vom Präsidenten zu sehen. Ein Meer von Klatsch umspülte zur Zeit den derben, ungehobelten Mann. Die Leute meinten, daß es ihm an Takt fehle; außerdem war er ein schwerer Trinker. Und er war recht ordinär - nun, das zumindest stimmte. Andrew Johnson, ein Schneider und späterer Senator, hatte als Sohn eines Kneipenkellners selbst für seine Bildung sorgen müssen, jedoch besaß er nicht Lincolns Fähigkeit, die schlichte Herkunft zu seinem persönlichen Vorteil auszunutzen. George kannte Johnson. Er hielt ihn für einen schroffen, starrsinnigen Mann, der der Verfassung in beinahe religiöser Weise ergeben war. Das allein brachte ihn schon in Widerspruch zu den Radikalen Republikanern, die die Verfassung gerne nach ihrem Wunsch interpretiert hätten, um so ihre Vision der Gesellschaft durchzusetzen.
George war in vielen Punkten mit den Radikalen einer Meinung, wozu auch die Bürgerrechte und das Wahlrecht für geeignete Männer beider Rassen gehörten. Doch immer häufiger fand er die Motive und die Taktiken der Radikalen abstoßend. Viele von ihnen machten kein Geheimnis aus ihrer Absicht, den Schwarzen allein dafür das Stimmrecht zu gewähren, daß die Republikaner zur Mehrheitspartei wurden, und so die traditionell demokratische Herrschaft über das Land zu brechen. Die Radikalen trugen den Besiegten gegenüber Feindseligkeit zur Schau, was sich allerdings auch auf alle anderen Gruppierungen erstreckte, die sie für ideologisch unrein hielten.
Präsident Johnson und die Radikalen standen sich in einem zunehmend heftiger werdenden Kampf um den Wiederaufbau der Union gegenüber. Der Streit war nicht neu. Lincoln hatte 1862 seinen Louisiana-Plan vorgelegt, den er später noch erweiterte, um die Wiederaufnahme eines jeden abtrünnigen Staates zu ermöglichen, falls ein >nennenswerter Kern< von Wählern -lediglich zehn Prozent der 1860 zugelassenen - ein Loyalitätsgelübde ablegte und eine Pro-Union-Regierung einsetzte.
Im Juli 1864 hatten die Radikalen Republikaner mit einer Gesetzesvorlage zurückgeschlagen, die von Senator Ben Wade aus Ohio und dem Abgeordneten Henry Davis aus Maryland eingebracht worden war. Darin wurde ein wesentlich schärferer Wiederaufbauplan umrissen, einschließlich der Maßnahme, daß über die geschlagene Konföderation das Militärrecht verhängt werden sollte. Das Gesetz schob dem Kongreß die Kontrolle über den Wiederaufbau zu. Anfang 1865 hatte Tennessee eine Regierung entsprechend dem Lincoln-Plan gebildet, angeführt von einem Nationalrepublikaner namens Brownlow. Die Radikalen im Kongreß verweigerten den gewählten Repräsentanten dieser Regierung die Anerkennung.
Andrew Johnson beschuldigte Jefferson Davis, die Ermordung Lincolns im Ford's Theatre >inspiriert und herbeigeführt< zu haben. Er erhob die obligaten scharfen Anklagen gegen den Süden, beharrte aber auch darauf, Lincolns gemäßigtes Programm durchzuführen. Erst vor kurzem hatte George gehört, daß Johnson beabsichtigte, das Programm im Sommer und Herbst mittels Präsidentenerlaß durchzusetzen. Da der Kongreß Sitzungspause hatte und erst wieder spät im Jahr zusammentreten würde und da Johnson ganz gewiß keine Sondersitzung einberufen würde, konnte er den Radikalen einen Strich durch die Rechnung machen.
Die politische Windrichtung wies also auf Gegenschläge der Radikalen hin. Eine von Georges Missionen in Washington bestand darin, einem mächtigen Politiker aus Pennsylvania seine Ansichten darzulegen. Er spendete der Partei jährlich so viel, daß er sich dazu berechtigt fühlte. Vielleicht konnte er sogar etwas Gutes bewirken.
»Papa, da ist Tante Isabel«, sagte Patricia hinter ihm.
George entdeckte Stanleys Frau, die aus der Präsidentenloge winkte. Er zog eine Grimasse und winkte zurück. »Sie wollte sichergehen, daß wir sie auch gesehen haben.«
Brett lächelte. Constance tätschelte seine Hand. »Komm, George, sei nicht gehässig. Du würdest mit Stanley nicht den Platz tauschen wollen.«
George zuckte die Schultern und ließ seine Blicke weiterhin über die Menge schweifen, auf der Suche nach dem Kongreßabgeordneten aus seinem Staat, mit dem er sprechen wollte. Während er damit beschäftigt war, griff Constance in ihre Tasche nach einem Bonbon. Ihr rotes Haar kringelte sich glänzend unter dem modischen Strohhut hervor. Sie besaß noch immer diese helle irische Lieblichkeit, doch seit ihrer Hochzeit - gegen Ende des Mexikanischen Krieges - hatte sie dreißig Pfund zugenommen. George störte es nicht; er betrachtete das Gewicht als ein Zeichen von Zufriedenheit.
Pünktlich um neun donnerte beim Kapitol eine Kanone los. Kurz darauf hörten die Hazards in der Ferne eine Blaskapelle When Johnny Comes Marching Home spielen. Dann vernahmen sie, wie unsichtbare Tausende den Paradeeinheiten hinter der Biegung zujubelten. Bald schon marschierten die ersten Soldaten um die Ecke beim Schatzamt, und alle sprangen auf, klatschten und schrien hurra.
Der wie ein Gelehrter wirkende General George Meade führte die Parade an; unter stehenden Ovationen ritt er auf den Präsidentenpavillon zu. Auf den Bäumen sitzende kleine Jungs beugten sich weit vor, um zu klatschen, und wären beinahe abgestürzt. Meade salutierte vor den Würdenträgern mit seinem Säbel bis jetzt waren weder Grant noch Johnson erschienen -, dann übergab er sein Pferd einem Corporal und setzte sich zu ihnen.
Frauen jubelten. Männer weinten ganz offen, ein Mädchenchor sang und streute Blumen auf die Straße. Die Sonne ließ die Alabasterkuppel des Kapitols in weißem Feuer aufglühen, als General Wesley Merritt die Dritte Division heranführte. Der reguläre Befehlshaber, Little Phil Sheridan, war bereits unterwegs zum Golf von Mexiko, um dort seinen Dienst anzutreten. Als die Dritte erschien, sprang selbst William auf, der ansonsten die übliche Verachtung der Heranwachsenden für fast alles und jedes zeigte, und pfiff und klatschte.
Zugweise, jeweils sechzehn Reiter nebeneinander, so zog mit blitzenden Säbeln Sheridans Kavallerie vorüber. Die Kavalleristen mit ihren frisch gestutzten Bärten sahen sauber und ordentlich aus und zeigten kaum Anzeichen von Kriegsmüdigkeit. Viele von ihnen hatten Gänseblümchen oder Veilchen in die Mündungen ihrer geschulterten Karabiner gesteckt.
Jeder Dienstgrad senkte den Säbel vor dem Präsidenten, der endlich mit entschuldigendem Gesichtsausdruck zusammen mit General Grant den Pavillon betreten hatte. George hörte, wie eine Frau einige Reihen hinter ihm laut fragte, ob Johnson bereits betrunken sei.
Staubwolken stiegen auf. Der Geruch von Pferdeäpfeln wurde stärker. Dann hörte George von der Fifteenth Street her aufbrausenden Jubel: »Custer! Custer! Custer!«
Und da kam er, auf seinem zierlich die Hufe setzenden Braunen, Don Juan: der >Boy General< - schulterlange Locken, blond mit rötlichem Unterton, scharlachfarbenes Halstuch, goldene Sporen, den breitkrempigen Hut als Dank für den Jubel gezogen. Nur wenige Unionsoffiziere hatten Öffentlichkeit und Presse so für sich eingenommen. George Armstrong Custer war der Jüngste in West Point gewesen, Brigadier mit dreiundzwanzig, Generalmajor mit vierundzwanzig. Zwölf Pferde waren unter ihm zusammengeschossen worden. Er war furchtlos oder tollkühn, je nach Betrachtungsweise. Es hieß, er wolle Präsident werden, nachdem sich Ulysses Grant um das Amt beworben hatte. Falls er das wirklich wollte - und falls ihm das berühmte >Custer-Glück< treu blieb und die Öffentlichkeit ihn nicht vergaß -, dann würde er es wahrscheinlich auch erreichen.
Der Boy General führte seine Kavalleristen mit den roten Halstüchern an, während seine Regimentskapelle Garry Owen spielte. Die Schulmädchen drängten heran, bereit, wieder zu singen. Sie warfen Blumen. Nahe der Präsidententribüne streckte Custer seine behandschuhte Hand aus, um eine Blume zu fangen. Die plötzliche Bewegung erschreckte den Braunen. Er ging durch.
George erhaschte einen Blick auf Custers wütendes Gesicht, als der Braune auf die Seventeenth Street zuraste. Als Custer Don Juan wieder unter Kontrolle hatte, fand er es unmöglich, gegen den Strom von Männern und Pferden anzureiten, um Johnson seinen Salut zu entrichten. Wutentbrannt ritt er weiter. Nichts da mit Custers Glück heute morgen, dachte George, während er sich eine Zigarre anzündete. Die Straße des Erfolgs war nicht glatt und eben. Gott sei Dank zielte sein Ehrgeiz nicht auf ein hohes Amt ab.
Wenn er sich recht an das Programm erinnerte, dann würde es noch eine Weile dauern, bis die Pioniere erschienen. Er entschuldigte sich und machte sich erneut auf die Suche nach dem Politiker, den er in der Menschenmenge zu entdecken hoffte.
Er fand ihn unter den Bäumen hinter der Sondertribüne. Der Kongreßabgeordnete Thaddeus Stevens, Republikaner von Lancaster und vielleicht der herausragendste Mann unter den Radikalen, war über siebzig, doch noch immer umgab ihn eine Aura urwüchsiger Kraft.
Weder sein Klumpfuß noch seine deutlich erkennbare, häßliche, dunkelbraune Perücke konnten sie zerstören. Seine strengen Gesichtszüge beeindruckten noch mehr, da er weder einen Backen- noch einen Schnurrbart trug.
Stevens beendete sein Gespräch. Seine beiden Bewunderer tippten an ihre Hüte und entfernten sich. George trat mit ausgestreckter Hand vor. »Hallo, Thad.«
»George. Großartig, dich zu sehen. Ich hörte, du habest die Uniform ausgezogen.«
»Und bin wieder in Lehigh Station, um die Hazard-Werke zu leiten. Hast du einen Moment Zeit? Ich würde mich gern mal von Republikaner zu Republikaner mit dir unterhalten.«
»Sicher doch«, sagte Stevens. Ein Vorhang fiel über seine dunkelblauen Augen. George hatte das früher schon erlebt, wenn Politiker in Deckung gingen.
»Ich wollte dir nur sagen, daß ich dafür bin, Mr. Johnsons Programm eine Chance zu geben.«
Stevens schürzte die Lippen. »Ich verstehe deine Besorgnis. Ich weiß, daß du unten in Carolina Freunde hast.«
Mein Gott, der Mann hatte eine Art, einen mit seiner Offenheit aus dem Gleichgewicht zu bringen. George wünschte, er wäre zehn Zentimeter größer, um nicht aufschauen zu müssen. »Ja, das stimmt. Die Familie meines besten Freundes, der den Krieg nicht überlebt hat. Ich muß zur Verteidigung der Familie sagen, daß ich sie nicht für Aristokraten halte. Oder für Kriminelle.«
»Sie sind beides, wenn sie Schwarze als Sklaven gehalten haben.«
»Thad, bitte, laß mich ausreden.«
»Natürlich.« Stevens Tonfall war nicht mehr freundlich.
»Vor einigen Jahren war ich der Meinung, daß übereifrige Politiker auf beiden Seiten diesen Krieg unnötigerweise provoziert hätten. Jahr um Jahr dachte ich über diese Frage nach und kam zu dem Schluß, daß ich mich getäuscht hatte. So schrecklich es auch war, der Krieg mußte ausgekämpft werden. Eine allmähliche friedliche Emanzipation hätte niemals stattgefunden. Die Leute mit den traditionellen Interessen hätten die Sklaverei am Leben erhalten.«
»Vollkommen richtig. Mit ihrer Kooperation und Ermutigung importierten und verkauften die Sklavenhändler Schwarze aus Kuba und von den Westindischen Inseln noch lange, nachdem der Kongreß den Handel 1807 verboten hatte.«
»Mich interessiert die Gegenwart im Augenblick mehr. Der Krieg ist vorbei, und es darf niemals einen weiteren Krieg geben. Die Kosten an Leben und Besitz sind einfach zu hoch. Der Krieg macht jeden Versuch materiellen Fortschritts zunichte.«
»Ah, das ist es«, sagte Stevens mit einem frostigen Lächeln. »Das neue Glaubensbekenntnis des Geschäftsmannes. Ich bin mir dieser Woge ökonomischen Pazifismus im Norden wohl bewußt. Ich möchte nichts damit zu tun haben.«
George fuhr zornig auf. »Und warum nicht? Sollst du nicht deine republikanische Wählerschaft repräsentieren?«
»Repräsentieren, ja. Gehorchen, nein. Mein Gewissen ist meine einzige Leitlinie.« Er legte George eine Hand auf die Schulter und blickte auf ihn herab; allein wie er den Kopf neigte, wirkte irgendwie herablassend. »Ich möchte nicht unhöflich erscheinen, George. Ich weiß, daß du dem Staat und den nationalen Organisationen große Spenden zukommen läßt. Deine Laufbahn im Krieg ist untadelig, dessen bin ich mir wohl bewußt. Unglücklicherweise ändert das nichts an meinen Ansichten, was den südlichen Sklavenstaat anbelangt. Alle, die dieser Klasse angehören oder sie unterstützen, sind Verräter an unserer Nation. Sie residieren momentan nicht in souveränen Staaten, sondern in eroberten Provinzen. Sie verdienen härteste Bestrafung.«
In seinen Augen sah George das Licht des wahren Glaubens, des heiligen Krieges aufblitzen. Zyniker witterten hinter diesem Fanatismus schäbige Motive. Sie verknüpften Stevens' Kreuzzug für die Rechte der Neger mit seiner Haushälterin in Lancaster und Washington, Mrs. Lydia Smith, einer hübschen Witwe und Mulattin. Sie verbanden die Brandschatzung seiner Eisenwerke in Chambersburg durch Jubal Earlys Soldaten mit seinem Haß auf alle Dinge des Südens. George war von diesen Erklärungen nicht überzeugt; er hielt Stevens für einen ehrlichen, wenn auch extremen Idealisten. Es hatte ihn nie überrascht, daß Stevens und seine Schwester Virgilia gute Freunde waren.
Trotzdem repräsentierte der Kongreßabgeordnete keineswegs das gesamte Spektrum der republikanischen Meinung. George sagte scharf: »Ich dachte, die Exekutive führe das Kommando beim Wiederaufbau des Südens.«
»Nein, Sir. Das ist das Vorrecht des Kongresses. Mr. Johnson war ein Narr, als er seine Absicht verkündete, Regierungsbefehle zu erlassen. Das hat große Feindseligkeit bei meinen Kollegen ausgelöst, und du kannst versichert sein, daß wir diesen Unfug korrigieren werden, wenn wir uns wieder versammeln. Der Kongreß wird es nicht dulden, daß seine Rechte vereinnahmt werden.« Stevens hämmerte die Spitze seines Stocks gegen den Boden. »Ich werde es nicht dulden.«
»Aber Johnson tut lediglich das, was Abraham Lincoln ...«
»Lincoln ist tot«, sagte Stevens, bevor er den Satz beenden konnte.
Rot anlaufend sagte George: »Also gut. Welches Programm würdest du befürworten?«
»Eine vollkommene Rekonstruktion der südstaatlichen Institutionen und Gebräuche durch Okkupation, Konfiskation und durch das reinigende Feuer des Gesetzes. Solch ein Programm mag kraftlose Gemüter erschrecken und schwache Nerven erschüttern, aber es ist notwendig und gerechtfertigt.« Georges Gesicht rötete sich noch stärker. »Genauer gesagt, ich wünsche harte Strafen für Verräter in hohen Ämtern. Ich bin nicht zufrieden damit, daß Jeff Davis in Fortress Monroe eingesperrt ist. Ich wünsche seine Exekution. Ich wünsche, daß jedem Mann, der die Armee oder die Marine verlassen hat, um sich in den Dienst der Rebellion zu stellen, die Amnestie verweigert wird.« Mit gemischten Gefühlen dachte George an Charles. »Und ich bestehe auf den vollständigen Bürgerrechten für alle Neger. Ich fordere das Wahlrecht für jeden in Frage kommenden schwarzen Mann.«
»Dafür würden sie dich sogar in Pennsylvania mit Steinen bewerfen. Weiße glauben einfach nicht, daß Schwarze gleichwertige Menschen sind. Das mag falsch sein - was ich auch glaube -, aber es ist nun mal Realität. Dein Plan wird nicht funktionieren.«
»Gerechtigkeit wird nicht funktionieren, George? Gleichheit wird nicht funktionieren? Das kümmert mich nicht. Das sind meine Überzeugungen. Für sie werde ich kämpfen. In Fragen moralischer Prinzipien kann es keine Kompromisse geben.«
»Verdammt noch mal, ich weigere mich, das zu akzeptieren. Und eine ganze Menge Nordstaatler denken genauso über .«
Aber der Kongreßabgeordnete hatte sich bereits neuen Bewunderern zugewandt.
Das Bataillon des Pioniercorps der Potomac-Armee marschierte die Pennsylvania Avenue hinunter auf den Präsidentenpavillon zu, acht Kompanien in schicken neuen Uniformen, die die ver-dreckten Fetzen, die sie während der letzten Tage des VirginiaFeldzuges getragen hatten, ersetzten. An den Gürteln der Hälfte der Männer schwangen kurze Spaten, Symbole ihrer gefährlichen Einsätze - Brückenbau, Straßeninstandsetzung -, häufig genug unter feindlichem Feuer, das zu erwidern sie viel zu beschäftigt gewesen waren.
Billy Hazard, mit sauber gestutztem Bart, marschierte voller Stolz und Energie zwischen ihnen unter der heißen Sonne dahin; seine gut heilende Brustwunde schmerzte fast nicht mehr. Er blickte hinüber zu der Tribüne, wo seine Familie sitzen sollte. Er entdeckte das liebliche, strahlende Gesicht seiner Frau, als sie ihm zuwinkte. Dann bemerkte er seinen Bruder und wäre beinahe aus dem Gleichschritt gekommen. George starrte mit grimmigem Gesicht abwesend vor sich hin.
Unter den lautstarken Klängen der Militärkapelle marschierten die Pioniere in einem Blumenregen, der über ihnen niederging, an der Sondertribüne vorbei. Auch Constance merkte, daß etwas nicht stimmte. Als Billy vorbei war, erkundigte sie sich danach.
»Oh, ich habe endlich Thad Stevens gefunden, das ist alles.«
»Das ist nicht alles, das sehe ich dir doch an. Erzähl's mir.«
George schaute seine Frau an; wieder drückte ihn die Ahnung nahenden Unheils wie ein schweres Gewicht nieder. Die Vorah-nung stand nicht in direktem Zusammenhang mit Stevens, doch war er ein Teil des ganzen Mosaiks.
Ein ähnliches Gefühl hatte George im April 1861 überkommen, als er zugesehen hatte, wie ein Haus in Lehigh Station bis auf die Grundmauern niederbrannte. Er hatte in die Flammen gestarrt und in einer Art Vision die ganze Nation brennen sehen und sich vor der Zukunft gefürchtet. Diese Furcht war nicht unbegründet gewesen. Er hatte Orry verloren, die Mains hatten Mont Royal verloren, der Krieg hatte Hunderttausende von Leben gekostet und beinahe das Band zwischen den Familien zerrissen. Seine jetzige Vorahnung unterschied sich kaum von der damaligen.
Achselzuckend versuchte er die Sache vor Constance herunterzuspielen. »Ich brachte meine Ansichten zum Ausdruck, und er wischte sie ziemlich bösartig beiseite. Er will den Süden bluten lassen und die Kontrolle des Kongresses über den Wiederaufbau.« George versuchte einen Gefühlsausbruch zu vermeiden, schaffte es aber nicht. »Constance, Stevens ist bereit, Mr. Johnson den Krieg zu erklären, um seine Vorstellungen durchzusetzen. Und ich dachte, die Zeit für die Wiedervereinigung der Union sei gekommen. Unsere Familie hat weiß Gott genug gelitten und geblutet. Genau wie Orrys Familie.«
Constance seufzte, auf der Suche nach einer Möglichkeit, seinen Kummer zu lindern. Mit einem gezwungenen Lächeln auf ihrem rundlichen Gesicht sagte sie: »Liebster, schließlich geht es hier trotz allem nur um Politik.«
»Nein. Es ist viel mehr als das. Ich war der Meinung, wir feierten, weil der Krieg vorbei ist. Stevens hat mich eines Besseren belehrt. Der Krieg fängt erst an.«
Und George war sich nicht sicher, ob die Familien, von vier Jahren Krieg bereits angeschlagen und verwundet, noch einen weiteren überleben konnten.