Ich glaube nicht, daß die Weißen unter einem Gesetz leben können oder wollen, bei dem so ignorante, so käufliche und korrupte Menschen das Sagen in ihrer Staatsregierung haben ... Ich glaube, sie werden es so lange ertragen, wie sie können, doch es wird der Punkt kommen, wo sie es nicht mehr können.
General Wade Hampten 187I
Es ist von Sam. Aus New York. Mein Brief wurde von St. Louis nachgesandt.«
»Was schreibt er?«
Sie überflog die Seite. »Er war ganz überrascht, daß ich in South Carolina bin. Er wünscht dir alles Gute und eine schnelle Erholung. Er wird nur zu gern den Brautführer machen, solange die Zeremonie nicht mit einer normalen Vorstellung zusammenfällt. Was für eine Vorstellung?« Sie drehte das Blatt um. »Meine Güte. Das ist ja nicht zu fassen.«
»Was?«
»Claudius Wood hat Sams >Othello< gefallen. Er hat die Produktion importiert, um eine Lücke in seinem Spielplan zu füllen, und die Sache hat sich zu einem gewaltigen Erfolg entwickelt. Sam schreibt, es könnte ewig im New Knickerbocker laufen. Eddie Booth hat sich's zweimal angesehen. Oh, das ist pure Ironie. Sam arbeitet für den Mann, der mich beinahe umgebracht hätte.«
Sie warf Sams Brief beiseite; auch er war von St. Louis nachgeschickt worden.
»Du klingst verärgert.«
»Nun, ja. Eigentlich sollte ich toleranter sein. Sam ist Schauspieler, was bedeutet, daß er in mancher Hinsicht wie ein kleines Kind ist. Die Wünsche von Kindern sind oft stärker als ihre Loyalitäten. Sam hat sich immer diese Art von Erfolg gewünscht - was im Theater Unglück bedeutet -, also entwischte er ihm selbstverständlich. Dann, als er nicht danach Ausschau hielt, kam der Erfolg. Es wäre albern zu erwarten, daß er dem Erfolg den Rücken zuwendet. Er ist Schauspieler.«
»Das sagtest du bereits.«
»Ja, aber damit ist auch alles erklärt. Wir werden einfach an einem Tag heiraten müssen, an dem das Knickerbocker dunkel bleibt. Das heißt, falls du noch ...«
»Und ob. Komm her.«
Gelbliches Licht, Sommerlicht, fiel auf die Zimmerdecke und die weiß-getünchte Wand hinter dem Kopfteil seines Bettes. Die Arbeit an dem neuen Haus war für heute beendet. Jemand trieb einen letzten Nagel in einen Dachbalken; bei jedem Schlag klang der Nagelkopf wie eine Glocke.
Er hörte, wie sich in der Ferne die Säge jaulend in das Holz biß. Er hörte die Schreie und die knallenden Peitschen der Maultiertreiber, die mit ihren Karren durch die Phosphatfelder fuhren. Ganz in der Nähe, in dem großen Raum des weißgetünchten Hauses, unterhielten sich Madeline und Willa über das Abendessen. Sie waren vom ersten Tag an, als er und Willa aufgetaucht waren, großartig miteinander ausgekommen.
Charles, bekleidet mit einem warmen, blauen Flanellnachthemd, das Willa ihm genäht hatte, lag da und starrte zur Decke hoch. Auf der linken Seite schmerzte ein großer Teil seines unteren Rückenbereichs immer noch, doch es war nicht mehr so schlimm wie zuvor. Täglich ging es ihm besser.
Roter Bär und vier seiner Cheyenne hatten ihn bewußtlos in das Versorgungslager gebracht. Eine Armeeambulanz transportierte ihn nach Leavenworth zu Duncan. Gus war sicher dort angekommen, obwohl Charles das in seinem Zustand nicht erfaßte. Der Brigadier telegraphierte ans Theater, und Willa kam mit dem nächsten Zug nach Kansas. Während der drei Wochen, in denen sie Charles pflegte, schloß Sam Trump sein Theater in St. Louis und machte sich mit seinem Ensemble auf nach New York.
In Leavenworth versuchte ein Chirurg die Kugel herauszuholen, schaffte es aber nicht. In der Hoffnung, Charles' Schmerzen zu lindern, hatte gestern ein schlaksiger ehemaliger Sklave namens Leander einen weiteren Versuch gemacht. Leander sagte, er habe den größten Teil seines Erwachsenenlebens den Doktor gespielt; auf einer Baumwollplantage am Savannah River war er für seine Mitsklaven die einzige medizinische Hilfe gewesen. Charles sagte, er solle es probieren, obwohl ihm klar war, daß der Versuch mit seinem Tod enden konnte.
Leander gab Charles einen mit einem whiskygetränkten Lappen umwickelten Stock. Während Charles halb verrückt vor Schmerz in den Stock biß, stieß Leander ein mit Feuer desinfiziertes Messer in die Wunde. Offensichtlich war Narbengesichts Bleikugel erst vor kurzem gewandert. Leander fand sie schnell und holte sie mit einer Drahtschlinge heraus.
Jenseits der halb geschlossenen Tür mischte sich eine dritte, dünnere Stimme in das Gespräch der beiden Frauen. Charles atmete den moschusartigen Dunst des Sumpflandes ein, spürte das schwache Kitzeln von Pinienpollen ganz hinten in seiner Kehle. Jedes Jahr, so regelmäßig wie der Zorn Gottes, färbten sie jede Oberfläche gelblichgrün. Er war zu Hause.
Es war nicht das vollkommene Glück, das er sich vorgestellt hatte, als er Willa überredete, ihn für die lange Zeitspanne bis zu seiner Wiederherstellung nach Mont Royal zu begleiten. Madeline baute das große Haus im Gedenken an Orry wieder auf, doch die Plantage hatte viele Veränderungen hinnehmen müssen, die ihm fremdartig und grob erschienen. Nichts mehr von der alten Grazie. Nur noch Dampfmaschinen und aufgewühlte Reisfelder.
Madeline war von Cooper entfremdet und bei den weißen Familien im Bezirk verhaßt. Eine Organisation, über die er kaum etwas wußte, der Ku-Klux, hatte den Bezirk eine ganze Weile terrorisiert. Klansmänner hatten Andy Sherman ermordet, an den er sich noch als Sklaven ohne Nachnamen erinnerte. Auch eine weiße Schullehrerin hatten sie getötet. Die süße, einsame Melodie der Heimat, die er jahrelang gepfiffen hatte, schien irgendwie den falschen Ton zu treffen.
Und dann war da noch das Problem mit dem Jungen, der das Lächeln verlernt hatte.
Gus blieb ein höfliches Kind. Leise kam er ins Schlafzimmer, den kleinen, runden Hut, den Willa ihm in Leavenworth gekauft hatte, auf dem Kopf. Seine Füße in den Ledersandalen zogen eine Spur von Wasserflecken hinter sich her. Willa mußte darauf bestanden haben, daß er sich nach dem Spielen draußen wusch. Doch zwischen seinen Zehen befand sich immer noch Schlamm.
Gus stellte sich neben das Bett seines Vaters. »Geht es dir gut, Papa?«
»Viel besser heute. Könntest du mir etwas Wasser einschenken?«
Der kleine Junge legte seinen Hut auf das Bett und nahm die Tasse und die große Porzellankaraffe. Wasser gurgelte in die Tasse. Gus beobachtete den Strahl sorgfältig. Auf der rechten Wange des Jungen verhärtete sich Bents Schnitt zu einer Narbe; ein dunkler Kamm in einer sonnendurchfluteten Landschaft.
Gus berührte die Narbe häufig, sprach aber nie davon, genausowenig wie von der schlimmen Zeit auf der Whisky-Ranch. Willa, die zugab, daß sie keine Expertin für psychische Probleme war, vertrat nichtsdestoweniger die Ansicht, daß einem schon der gesunde Menschenverstand sagte, die Sache für eine Weile ruhen zu lassen.
Gus reichte seinem Vater die Tasse. Das Wasser schmeckte lauwarm. »Rat mal, was ich unten bei der Sägemühle gesehen habe, Papa.«
»Was denn?« fragte Charles.
»Einen großen weißen Vogel mit Beinen wie Stecken. So lang. Er stand im Wasser, flog dann aber weg.«
»Silberreiher«, sagte Charles.
»Rat, was ich noch gesehen habe. Ich habe andere Vögel gesehen, die in einer Linie flogen. Ich habe fünf Stück gezählt. Der erste hat so gemacht«, er schwenkte die Arme nach oben und nach unten, »und die anderen machten es genauso. Als der erste damit aufhörte, hörten die anderen auch auf. Sie hatten so komische Schnäbel, ganz große Schnäbel.« Er schob die Lippen vor. »Sie sind dorthin geflogen.« Er deutete Richtung Meer.
»Vielleicht braune Pelikane. Ganz schön weit flußaufwärts. Hat es dir Spaß gemacht, ihnen zuzuschauen?«
»Ja, es hat mir Spaß gemacht.« Keine Spur von Freude schwang in seiner Antwort mit; nicht das kleinste Lächeln zeigte sich auf seinen Lippen, die Charles immer an Augusta Barclay erinnerten. Wie lange würde es dauern, bis die seelischen Wunden des Jungen verheilt waren? Ewig?
»Ich hab' jetzt Hunger«, sagte Gus und verließ das Zimmer.
Charles drehte den Kopf von der Tür weg. Vertraute Schuldgefühle stiegen in ihm auf, eine Art Übelkeit. Er sah die Narbe deutlich vor sich. Er hatte es geschehen lassen.
Er hatte vieles wiedergutzumachen. Er mußte ihm etwas Besseres als Narben mit auf seinen Weg geben. Das Wertvollste, woran er denken konnte, war Geld. Väterliche Zuneigung und Aufmerksamkeit - diese Dinge waren für ihn Selbstverständlichkeiten. Aber das war nicht genug. Nicht annähernd genug wegen der Narben - der sichtbaren und der tief im Inneren versteckten unsichtbaren Narben.
Nach Einbruch der Dunkelheit, als die Teichfrösche und Ziegenmelker ihr nächtliches Konzert anstimmten, kam Willa herein und setzte sich zu ihm. Charles drehte den Lampendocht höher, um sie besser sehen zu können. Ihr Haar glänzte wie Weißgold.
»Ich suche immer noch nach dem richtigen Ort für uns«, sagte sie. »Mir ist es egal, wo er ist; ich gehe mit dir, wohin du willst.«
»Was ist mit deinem Beruf als Schauspielerin? Du wirst ihn doch nicht aufgeben wollen, oder?«
Sie wischte sich etwas Mehl vom Daumen. »Ich will es nicht, aber ich werde es.« Sie musterte ihn. »Moment mal. Du hast doch irgendwas im Sinn.«
Er richtete sich auf, schob das Kissen unter seine Schultern. In seinem Haar zeigte sich jetzt schon viel Grau. Er hatte sich Schnurrbart und Bart abrasiert, und Madeline und Willa hatten beide gesagt, er sehe zehn Jahre jünger aus. »Ich habe vorgestern daran gedacht, kurz bevor Leander mir die Kugel rausholte und ich ohnmächtig wurde. Texas. Ich liebe Texas. Ich habe es gelernt, Soldat zu spielen, weshalb also sollte ich es nicht lernen, Rancher zu spielen?«
»Du meinst Viehzucht?«
»Richtig. Ich könnte ein Haus für uns bauen und eine Herde zusammenstellen. Der Fleischmarkt ist gut. Immer mehr Vieh wird nach Osten verladen.«
»Ich war noch nie in Texas«, sagte sie.
»Es gibt gottverlassene Stellen. An anderen Stellen ist es wunderschön.«
»Wovon sollen wir leben? Ich habe nicht viel gespart.«
»Ich könnte für jemanden arbeiten, bis ich das Geschäft gelernt und was beiseite gelegt habe.«
Sie preßte ihren warmen Mund auf den seinen. »Du wirst eine ganze Menge sparen müssen. Ich will ein riesiges, altes Haus. Ich möchte Gus zusammen mit seinen Brüdern und Schwestern aufziehen.«
»Ich schaff es, Willa.« Endlich belebte sich seine Stimme. »Die Wahrheit ist, ich will reich werden.« Um für die Narben zu bezahlen. »Wir könnten uns in der Nähe einer passablen Stadt niederlassen, damit ich dir ein Theater bauen kann, wenn das Geld hereinströmt. Ein Opernhaus, das allein dir gehört.«
Sie umarmte ihn. »Charles, das ist ein wunderbarer Traum. Ich glaube wirklich, du wirst es tun.«
Er schaute hinaus zu den Schatten einer Frau und eines Jungen vor der halboffenen Tür. Er hörte die Stimme von Gus, der Madeline eine Frage stellte. »Ich verspreche es«, sagte er.
Anfang Juni im Flachland; noch süßer und strahlender, als Ash-ton es in Erinnerung hatte. Warme Luft, noch nicht von der dumpfen Schwüle des Hochsommers verpestet. Ein makellos blauer Himmel strahlte Ruhe und Frieden aus.
Das Pferdegespann hatte die Farbe von Milch. Jedes Pferd trug eine weiße Quaste am Zaumzeug. Die Kutsche war ein Landauer mit glänzend gelackten seitlichen Paneelen. Bevor sie
Charleston verließen, hatte Ashton darauf bestanden, daß die beiden Schwarzen in Livree das Verdeck herunterfalteten.
Sie saß mit dem Gesicht nach vorn in der Mietkutsche. Schattenmuster flogen über sie. Ihre dunklen Augen hatten einen feuchten Schimmer. Von den Schauplätzen und Düften ihrer Kindheit umgeben, mußte sie gegen einen plötzlichen Anfall von Sentimentalität ankämpfen.
Unbeeindruckt von dem Zauber der Szenerie saß ihr Favor Herrington, Esquire, gegenüber, ein Anwalt aus Charleston, der ihr empfohlen worden war, als sie sich nach jemandem erkundigt hatte, der den Erfolg vor die Berufsethik stellte.
Mr. Herringtons Erscheinung und seine Haltung waren eher unscheinbar. Er war ein blasser, schmächtiger Mann von ungefähr fünfunddreißig Jahren mit einem so kleinen, zierlichen Schnurrbart, daß er wie ein zufälliger Federstrich wirkte. Unter seiner zurückweichenden Unterlippe saß ein kleiner Teigklumpen als Kinnersatz. Herringtons schwerer Akzent war nach Ash-tons Meinung ihrer eigenen, kultivierten Charleston-Sprache weit unterlegen. Bei ihrem ersten Treffen hatte der Anwalt ihr nichtsdestoweniger so geschmeichelt und sie mit solch schmieriger Unterwürfigkeit behandelt, daß sie sofort erkannte, daß er von ihrer Sorte war. Hinter diesem Benehmen verbarg er, daß er völlig skrupellos war.
Ashton erinnerte sich an dieses Straßenstück. Ihre Kehle wurde trocken. »Langsamer, Kutscher. Da vorn ist die Abbiegung.«
Herrington befestigte den Messinghaken an der alten Ledertasche, in der sich sämtliche Papiere befanden. Er rückte seine Krawatte zurecht, als der Landauer in die Zufahrt einbog. Durch ihren dunklen Schleier sah Ashton den gelblichen Rohbau des neuen Mont Royal.
Das Haus war ja riesig!
Um so besser.
»Ich habe die Ehre, Ihnen diese Dokumente zu präsentieren«, sagte Favor Herrington. »Vertrag, Verkaufsrechnung, Titel - und das hier, dem Sie bitte Ihre besondere Aufmerksamkeit schenken sollten.«
Ashtons Anwalt hatte erwartet, die vollbusige Mulattin anzutreffen, an die er seine Bemerkungen gerichtet hatte. Mit der Anwesenheit des Mannes mit den mächtigen Händen und der wettergegerbten Haut, der im blauen Nachthemd herausgehinkt kam, hatte er allerdings nicht gerechnet. Er wußte auch nicht, wer die junge kesse Frau mit den hellblonden Haaren war. Vielleicht die Gefährtin des Mannes.
Die Kutsche stand ganz in der Nähe. Die beiden Schwarzen in Livree tätschelten und besänftigten die Schimmel. Charles musterte aufmerksam die Frau, die regungslos auf dem Rücksitz saß. Sie trug burgunderfarbenen Samt und einen schweren, schwarzen Schleier.
Etwas Bedrohliches ging von ihr aus; etwas, das ihn an - ja, woran erinnerte?
Mit starrem Gesichtsausdruck nahm Madeline das Dokument entgegen, das Herrington ihr zuletzt gereicht hatte. »Dies ist ein Räumungsbefehl«, sagte der Anwalt. »Gestern wurde bei der Pal-metto-Bank die Hypothek der Mont-Royal-Plantage gelöscht und der Besitz an meine Klientin verkauft.« Er deutete auf die verschleierte Frau.
Madeline warf Charles einen verwirrten Blick zu. Sie blätterte Seite um Seite mit eng beschriebenen Klauseln um. Dann entdeckte sie einen Namen. »Mrs. W.P. Fenway. Ich kenne keine Mrs. Fenway.«
»Aber gewiß doch, meine Liebe«, sagte die Frau in der Kutsche. Sie trug malvenfarbene Handschuhe. Ihre Hände wirkten so graziös wie flatternde Vögelchen, als sie den Schleier hob.
»Ich hätte nie gedacht, dich wiederzusehen, Cousin Charles.« Ashton stand in dem Gras neben dem weißgetünchten Haus. Gehässigkeit funkelte in ihren dunklen Augen. »Wo hast du nur gesteckt all die Jahre? Du siehst ja furchtbar alt aus.«
Er hätte das gleiche von ihr sagen können. Doch ihre Schönheit war unverändert, war fast perfekt. Es überraschte ihn nicht. Er konnte sich erinnern, wie sie früher jedem Sonnenstrahl ausgewichen war und stundenlang an sich herumgeputzt hatte, bis sie in einem neuen Partykleid erschienen war. Ihr Aussehen hatte ihr immer sehr viel bedeutet. Anscheinend hatte sich da nichts geändert. Es waren ihre Augen, die verrieten, was die Zeit ihr angetan hatte. Diese hochmütigen, harten Augen. Wo war sie gewesen? Was hatte sie gesehen und getan?
»Was willst du hier?« fragte Madeline; sie kämpfte immer noch um ihre Fassung, nachdem die Besucherin ihren Schleier gelüftet hatte.
»Mont Royal«, sagte Ashton mit einem bösartigen Flirren ihrer Augen, »ist das Land meiner Familie. Das Land der Mains. Es gehört nicht dir. Dein Mann, mein Bruder, hat mich von diesem Land vertrieben. Ich habe mir stets geschworen, ich komme zurück und mache das gleiche. Oder Schlimmeres.«
»Ashton, um Himmels willen - Orry ist seit über vier Jahren tot.«
»Das berichtete man mir. Ein Jammer.« Sie trat auf die Veranda, spähte ins Haus. »Wie primitiv. Als erstes werde ich gleich ein neues Fenway-Piano in das neue Haus stellen lassen. Man findet sie in den besten Salons.«
Willa hielt den Atem an. »Das war es, was mir nicht einfallen wollte. Fenway-Pianos. Sam kaufte letzte Weihnacht ein Fenway für das Theater.«
»Ja, das ist die Firma meines Mannes. Und sie expandiert so wahnsinnig schnell. Der Erfolg zieht den Erfolg nach sich, findet ihr nicht auch?«
Madeline schaute benommen drein. Als Charles ihr das Dokument aus der Hand nahm, sagte sie: »Mein Gott, was geht hier vor?«
»Aber simpler geht's doch gar nicht mehr, Liebste«, trällerte Ashton. »Ich habe die gesamte Plantage gekauft.«
»Von Cooper?« fragte Madeline ungläubig.
»Ja, natürlich, da brauchst du gar nicht so überrascht zu tun. Es stimmt, daß ich den Kauf anonym getätigt habe. Ich meine, ich trat zu keiner Zeit persönlich in Erscheinung, also weiß mein lieber Bruder nicht, daß Mrs. Fenway außerdem noch seine nicht gerade liebevolle Schwester ist. Ich könnte mir vorstellen, daß er ein bißchen in Erregung gerät, wenn er die Täuschung entdeckt. Aber ich glaube nicht, daß er den Verkauf bedauert. Er hat einen guten Preis bekommen; abgesehen davon ist er, soviel ich weiß, recht unglücklich über deine Leitung der Plantage. Du hast dich geweigert, dich wie eine anständige weiße Frau zu benehmen. Statt dessen machtest du mit deiner Niggerschule Reklame. Nun, für Cooper war der Verkauf die einzige Möglichkeit, aus dem Vertrag mit dir herauszukommen. Man hat mir erzählt, er habe dafür auch noch einen weiteren guten Grund. Du warst seiner Tochter behilflich, fortzulaufen und irgendeinen Nordstaatenausbeuter zu heiraten. Aber du und Orry, ihr wart ja schon immer ein verrücktes selbstgerechtes Pärchen. Mr. Dawkins sagt, Charleston könne es kaum erwarten, daß du verschwindest. Das gilt übrigens auch für mich.«
In dem anschließenden Schweigen konnte man den Haß fast mit Händen greifen. Asthon ließ ihren Blick über die nackten Balken des neuen Hauses schweifen. »Willard und ich haben über eine Winterresidenz in einem milderen Klima als dem von Chicago gesprochen. Das hier müßte ideal sein.«
Willa bohrte, ohne es zu merken, ihre Finger in Charles' Arm. Sie verstand nicht ganz, was alles hinter dieser Konfrontation steckte, aber der furchtbare Ernst der Lage war ihr durchaus klar. Von dem Hang, der hinunter zum Ashley führte, drangen Geräusche hoch; Gus jagte hinter einem halben Dutzend Gänsen her.
Madeline atmete tief ein. »Ashton, ich habe nur dieses Zuhause. Ich bitte dich ...«
»Bitten? Wie bezaubernd. Wie drollig. Das muß ja eine ganz neue Erfahrung für dich sein.«
Zornesröte schoß Madeline plötzlich ins Gesicht. »Du weißt ja gar nicht, was du mit dieser Plantage gekauft hast. Mont Royal ist nicht mehr das, was es zu deiner Zeit war - eine träge, geschützte Insel. Es ist ein kompliziertes Geschäft geworden. Teil einer harten, komplizierten Welt. Wir bauen nur noch soviel Reis an, wie wir für unseren eigenen Bedarf benötigen. Wir hängen völlig von der Sägemühle ab und der Ausbeutung der Phosphatfelder. Fast vierzig Männer leben hier. Freie Männer mit ihren Familien. Sie arbeiten, damit sie ein Zuhause und eine Schule für ihre Kinder haben. Du wirst nicht die Verantwortung für sie übernehmen wollen.«
»Madeline, Liebes, ich habe Mont Royal bereits gekauft. Deshalb ist das alles doch nur leeres Gerede.«
»Nein. Du mußt für diese Leute sorgen.«
»Einen Haufen Nigger? Oh, pfui«, sagte Ashton achselzuckend. »Die schwarzen Republikaner haben sie aufgehetzt, Dinge zu wollen, die ihnen nicht zustehen. Mein armer erster Mann James taugte zwar nicht viel, aber in bezug auf die Wertlosigkeit der Nigger hatte er recht. Von mir haben sie nichts zu erwarten. Sie können den ganzen Tag für einen Schluck Wasser und einen Kanten Brot arbeiten oder verschwinden und ihr ganzes Pack gleich mitnehmen.«
»Ashton - bitte! Zeig doch ein bißchen Menschlichkeit.«
»Menschlichkeit?« schrillte sie, jetzt nicht mehr lächelnd. »Oh nein. Meine Menschlichkeit hat sich an dem Tag aufgelöst, als dein verdammter Mann mich von meinem Geburtsort verjagte. Ich habe geschworen, ich käme zurück, und ich bin zurückgekommen. Jetzt bist du es, die verjagt wird - und gute Reise.«
Erneutes Schweigen. Madeline starrte Charles an, der auf dem Räumungsbescheid die entsprechenden Unterschriften der Gerichtsbeamten gesucht hatte. Sie waren alle vorhanden.
»Hier ist kein Datum angegeben«, sagte er. »Wie lange haben wir Zeit?«
Süßlich schnurrte Ashton: »Nun, wollen mal sehen. Ich möchte das hier alles in Besitz nehmen, bevor ich nach Chicago zurückkehre, was bald geschehen muß. Mein Ehemann Wil-lard ist ein älterer Herr, versteht ihr. Er braucht meine Gesellschaft. Natürlich möchte ich nicht ungastlich erscheinen. Ich halte mich für eine sensible Christin. Heute haben wir ...« Sie seufzte. »Mr. Herrington?«
»Freitag, Mrs. Fenway. Den ganzen Tag. Jawohl, Ma'am.«
»Sagen wir, bis nächsten Freitag um die gleiche Zeit? Ich erwarte, daß du mitsamt deinen, äh, Pensionsgästen bis dahin alles gepackt hast. Natürlich kannst du auch bleiben und für mich wie jeder andere Nigger arbeiten.«
Madeline senkte grimmig den Kopf. Charles trat auf sie zu, um sie zurückzuhalten. Ashtons makelloses Lächeln verblüffte ihn erneut. Er fragte sich, warum das Böse seine besten Jünger so ungezeichnet ließ.
»Freitag«, sagte Ashton.
Sie wollte gerade zu dem Landauer zurückkehren, da bemerkte sie Gus, der den Hang hochkam, um die Besucher näher in Augenschein zu nehmen. Der Junge blieb neben einer großen Eiche stehen, die einen dunklen Schatten über seine vernarbte Wange warf.
»Meine Güte, was für ein häßlicher kleiner Junge. Deiner, Cousin Charles?«
Eine Antwort wartete sie nicht ab.
Madeline schaute zu dem unfertigen Haus hinüber. Tränen der Niederlage glänzten in ihren Augen. »Orry, es tut mir so leid. Es tut mir leid, daß ich alles zerstört habe.«
Lange Zeit blieb sie so stehen, verloren in Schmerz und Selbstvorwürfen. Charles rief ihren Namen. Sie schien es nicht zu hören. Wieder sprach er sie an. Keine Reaktion. Er hob die Stimme an und schaffte es so, durch die tränenreiche Mauer ihres Schocks zu dringen.
Als sie dann seinen Vorschlag hörte, fragte sie, warum. »Wir wissen nicht mal, wo er ist. Und wenn, wie könnte er uns helfen? Die Dokumente sind vollkommen legal. Der Verkauf kann nicht rückgängig gemacht werden.«
Rauh sagte er: »Madeline, ich glaube nicht, daß du verstehst. Heute in einer Woche wirst du hier rausgejagt. Wieviel hast du auf deinem Konto?«
»Nur ein paar Dollar. Ich mußte den Bauarbeitern und Mr. Lee, dem Architekten, jeden Monat eine beträchtliche Summe zahlen. Das hat fast mein gesamtes Einkommen aufgezehrt.«
»Und jetzt kommt nichts mehr herein, nachdem Ashton die Besitzerin der Plantage ist. Ich werde die Nachricht abschicken. Es geht doch nur um einen Ort, wo du bleiben kannst, bis du dich erholt hast. Ich habe dir nichts zu bieten. Coopers Haus ist dir verschlossen.«
»Mein Gott, glaubst du, ich würde ihn um irgendwas bitten, nach allem, was er uns angetan hat?«
»Zugegeben. Zugegeben. Ich sage ja nur, daß man in solchen Zeiten keine andere Wahl hat, als sich an seine Freunde zu wenden.«
»Charles, ich werde nicht betteln!«
»Doch. Genau das müssen wir jetzt tun. Ich habe so das Gefühl, wenn du das schon vor langer Zeit getan hättest, dann würde jetzt alles anders aussehen. Jetzt bleibt keine andere Wahl.«
Sie hielt seine Idee für unerträglich demütigend. Aber sie war zu erschöpft und machte keine weiteren Einwände. Eine Stunde später ritt Charles auf einem Maultier los, eine Staubfahne hinter sich herziehend. In seinen zerrissenen Hosen steckte Geld und eine telegraphische Botschaft, adressiert an George Hazard in Lehigh Station, Pennsylvania.
Es kam der Tag, an dem alles anders war. Er wußte es in dem Moment, in dem er erwachte.
Das gewaltige Schlafzimmer hatte sich nicht verändert. Die Nymphen und Cherube, die sich miteinander an der Zimmerdecke vergnügten, hatten sich nicht verändert, ebensowenig wie die ganze Villa oder der Duft des Morgenkaffees. George selbst hatte sich verändert. Er fühlte sich nicht wirklich gut. Rein kör-perlich gesehen war alles wie immer; die leichten morgendlichen Magenbeschwerden, die von dem Rotwein herrührten, den er so liebte und auf den er nicht verzichten wollte. Nein, die Sache war subtiler, aber nichtsdestoweniger real. Er fühlte sich geheilt.
Er betätigte den Klingelzug und blieb im Bett liegen, bis sein Diener an die Tür klopfte und mit einem silbernen Kaffeeservice und einem Brioche eintrat. Er lag bequem und entspannt da; Erinnerungen an seine beiden Kinder, die er seit letztem Sommer nicht mehr gesehen hatte, überwältigten ihn. In seiner Phantasie tauchten Bilder der großen Berge hinter Lehigh Station auf, an deren Hängen der Lorbeer blühte. Er sehnte sich danach, über diese grünen Höhen zu spazieren und auf die Stadt, auf Belvedere und Hazards hinabzublicken: die stolze Summe dessen, was sein Leben ausgemacht hatte.
Ein plötzliches Schuldgefühl quälte ihn. Er wollte nicht sorgenfrei sein und damit Constances Andenken untreu werden. Die telegraphische Nachricht von Bents Hinrichtung, die Wo-therspoon an ihn weitergesandt hatte, enthob ihn nicht seiner Verpflichtung, um sie zu trauern. Und doch war dieser Morgen - nun ja, irgendwie hatten sich die Schwerpunkte verschoben. Er wollte nicht ewig isoliert in der Schweiz leben. Das war ein ganz klarer, neuer Gedanke.
Sein Diener sagte in elegantem Französisch: »Mr. Hazard, ich darf Sie daran erinnern, daß heute morgen der Gentleman ankommt, der seine Karte letzte Woche geschickt hat. Um zehn Uhr.«
»Danke«, sagte George. Der schwarze Kaffee in der feinen Porzellantasse schmeckte wunderbar; der Koch machte ihn stets stark. Er war neugierig auf diesen Mann, der seine Karte geschickt hatte, ein Journalist aus Paris, dem er nie zuvor begegnet war. Was wollte der Mann von ihm? Er war begierig darauf, es herauszufinden.
Er kletterte aus dem Bett und ging barfuß zu dem kleinen Schreibtisch. Vor ihm lag in einem kleinen Fach ein dünnes, gelbliches Blatt mit Charles' Nachricht aus Leavenworth. Er kannte den Text auswendig. Beim ersten Lesen war Dankbarkeit in ihm aufgestiegen, sogar eine gewisse bösartige Erregung, als er sich Bents letzte Stunde vorstellte. Darüber war er nun hinweg. Er ging zu dem kleinen, grünen Marmorkamin, in dem sein Diener an kühlen Morgen wie dem heutigen stets ein Feuer entzündete, und ließ das gelbe Blättchen in die Flammen fallen. Alles war anders.
Sein Besucher, ein Mann um die Sechzig, machte aufgrund seines schlampigen Äußeren einen schlechten Eindruck. Getrockneter Schlamm bedeckte seine Kavalleriestiefel. Er trug einen Militärmantel mit hochgestelltem Kragen, von dem die Insignien abgerissen worden waren. Die Finger seiner Handschuhe hatte er abgeschnitten. Sein Haar war lang, verbarg die Ohren und ging vorn gleich in einen brustlangen Bart über. Er hatte einen Lederhandkoffer dabei, voll mit Büchern und Papieren, die an Ecken und Rändern kreuz und quer beschrieben waren. Laut seiner Visitenkarte handelte es sich bei dem Mann um M. Marcel Levie, Paris, politischer Korrespondent von >La Libertés
George erkannte schnell, daß das äußere Erscheinungsbild seines Gastes nur eine Pose war, wahrscheinlich, um sich eine Aura liberaler Intelligenz zu geben. Er reagierte schnell, als George ihn fragte, ob er eine Erfrischung wünsche. Obwohl es erst zehn Uhr fünf war, bestellte Levie einen Cognac.
Sie saßen auf der sonnigen Terrasse über dem See. George nippte an seinem zweiten und letzten Kaffee. M. Levie sagte: »Unsere Gruppe in Paris hat erfahren, daß der reiche amerikanische Stahlproduzent George Hazard Urlaub in der Schweiz macht.«
»Nicht gerade Urlaub«, sagte George, ohne eine weitere Erklärung abzugeben.
»Man hat mich ausgewählt, Kontakt mit Ihnen aufzunehmen und, wenn möglich, Sie für einen Plan zu begeistern.«
»Monsieur Levie, im Augenblick leite ich meine Gesellschaft nicht aktiv. Deshalb bin ich auch nicht in der Lage, Investitionen zu tätigen. Es tut mir leid, daß Sie die Reise umsonst gemacht haben.«
»Aber keineswegs. Die Sache hat nur im weitesten Sinne etwas mit dem Geschäft zu tun. Ich bin hier im Auftrage unseres Vorsitzenden, Professor Edouard-René Lefèbre de Laboulaye.« George runzelte die Stirn, was den Journalisten veranlaßte, den Namen zu wiederholen. Er kam George irgendwie bekannt vor, obwohl er nicht hätte sagen können, woher.
»Neben seinen anderen Verpflichtungen hatte der Professor jahrelang den Vorsitz der französischen Anti-Sklaven-Gesell-schaft inne. Er ist ein großer Bewunderer der amerikanischen Freiheit. Ich erinnere mich an seine Begeisterung an jenem Abend vor einigen Jahren in seinem Haus in Glatingly, als wir gerade erfahren hatten, daß Lee besiegt war.«
»Schön«, sagte George, »fahren Sie bitte fort.«
»Mein Freund, der Professor, glaubt ebenso wie ich, daß Amerika und Frankreich Schwestern der Freiheit sind. General Lafa-yette half Ihnen bei der Erringung Ihrer Unabhängigkeit. Jetzt steht Amerika als wichtiger Leuchtturm der Freiheit und der Menschenrechte da«, Levie ließ seine Blicke wie ein Verschwörer über die Terrasse schweifen, »während Frankreich ernste Probleme hat.«
Endlich hatte George einen politischen Anhaltspunkt. Sein Besucher war ein Liberaler und höchstwahrscheinlich kein Anhänger von Kaiser Napoleon III.
Levie sprach weiter: »Was mein Freund und damit unsere Gruppe vorschlägt, ist ein symbolisches Geschenk an Ihr Land. Ein Monument oder eine Statue in irgendeiner Form, die gegenseitige Freundschaft und den Glauben an die Freiheit repräsentiert.«
»Ah«, sagte George. »Und wer würde ein solches Geschenk finanzieren?«
»Das französische Volk. Vielleicht durch einen öffentlichen Beitrag. Die Einzelheiten sind bis jetzt noch recht verschwommen. Doch unser Ziel ist klar. Wir möchten das Monument rechtzeitig zum hundertsten Jahrestag ihres Landes präsentieren. Ich gebe zu, das hat noch einige Jahre Zeit, aber ein Projekt dieser Größe läßt sich nicht von heute auf morgen vollenden.«
»Sprechen Sie von einer Art Statue für einen Park, Monsieur Levie?«
»Oh, größer, viel größer. In der Nacht, in der dieser Plan entstand, war aus ganz anderem Grund ein junger Bildhauer anwesend. Ein Elsässer, Bartholdi. Talentierter Bursche. Er wird das Monument entwerfen.«
»Und was wünschen Sie dann von mir?«
»Das gleiche, um das wir jeden bedeutenden Amerikaner bitten, den wir auf dem alten Kontinent kontaktieren können. Unterstützung für unsere Idee. Das Versprechen, auch in Zukunft für sie einzutreten.«
Der bisherige Verlauf des Tages hatte George in solch gute Stimmung versetzt, daß er sagte: »Ich glaube, das kann ich Ihnen ohne Einschränkung zusagen.«
»Großartig! Das wäre ein gelungener Coup für uns. Außerdem versuchen wir noch, bis jetzt weniger erfolgreich, abzuschätzen, ob eine solche Gabe von der amerikanischen Regierung und dem amerikanischen Volk willkommen geheißen würde.«
George zündete sich eine Zigarre an und schlenderte an die Balustrade. »Es ist sehr klug von Ihnen, diese Frage zu stellen, Monsieur Levie. Auf Anhieb sollte man erwarten, daß so ein Geschenk willkommen ist, doch die Amerikaner können ein widerspruchsvolles Völkchen sein. Ich bekomme regelmäßig Zeitungen aus der Heimat geschickt. Was ich ihnen entnehme, ist folgendes: Alles, was aus dem Ausland kommt, ist verdächtig.« Nachdenklich rollte er die Zigarre zwischen seinen Fingern. »Das würde vor allem auf das Geschenk eines Landes zutreffen, das zwischen der Rechten und der Linken zerrissen und bereit ist, sich in einen Krieg gegen Preußen zu stürzen.« Er zog an seiner Zigarre. »Das vermute ich jedenfalls.«
Niedergeschlagen sagte der Journalist: »Das bestätigt, was Edouard von den Mitgliedern der Philadelphia Union League erklärt wurde.«
George deutete mit seiner Zigarre. »Da hab' ich den Namen schon mal gehört. Er steht in unserem Register.«
»Das stimmt, obwohl es ihm nie vergönnt war, ihr Land zu besuchen.«
Sie diskutierten eine Weile über das politische Klima in Europa. Levie äußerte sich abwertend über den preußischen Kanzler, Otto von Bismarck, und seinen Generalstabschef Moltke. »Sie sind deutlich darauf aus, die Spannungen bis zum Kriegsausbruch voranzutreiben. Bismarck träumt von einer Vereinigung der deutschen Staaten - einem neuen Imperium, wenn Sie so wollen. Unglücklicherweise läßt sich unser eigener sogenannter Imperator von seinen Täuschungsmanövern einlullen. Er glaubt, er hätte eine unbesiegbare Armee aufgebaut. Das hat er nicht. Außerdem verfügt Moltke über mächtige Kanonen, ein hervorragendes Spionagesystem und Bismarck, der ihn antreibt. Die Sache wird einen schlimmen Ausgang für Frankreich nehmen. Ich hoffe, sie wird sich nicht auch noch schlimm auf unseren Plan auswirken.«
»General von Moltke ist mir durchaus vertraut«, sagte George. »Zwei seiner Stabsoffiziere haben mich letzten Monat besucht. Sie wollten mit meiner Firma wegen der Herstellung gewisser Geschütze verhandeln. Daheim in Pennsylvania arbeitet mein Geschäftsführer an der Kalkulation. Bis jetzt bin ich noch zu keiner Entscheidung gelangt.«
Levies Freundlichkeit schwand dahin. »Wollen Sie damit sagen, die Möglichkeit existiert, daß Sie mit der einen Hand für und mit der anderen gegen Frankreich arbeiten?«
»Die Eisenbranche ist unseligerweise nun mal so. Männer in meiner Branche sind gezwungenermaßen auf beiden Seiten der Schlacht präsent.«
Levies Feindseligkeit schmolz dahin. Er schaute seinen Gastgeber mit zusammengekniffenen Augen an. »Zumindest sind Sie aufrichtig.«
»Genauso aufrichtig sage ich Ihnen, daß ich entschlossen bin, Ihren Plan zu unterstützen, wenn er sich in dem Rahmen hält, den Sie mir angedeutet haben. Wenn Sie es wünschen, können Sie mich zu Ihrer Gruppe zählen.«
Nach einem Moment des Nachdenkens sagte der Journalist: »Gewiß. Sie könnten ein wichtiger Mittelsmann werden. Professor Laboulaye wird überglücklich sein.«
Er sagte nicht, daß er selbst überglücklich war, aber sie schüttelten sich nichtsdestoweniger die Hände. An diesem Abend erkannte George bei einem leichten Abendessen, bestehend aus Kalbsmedaillons und frischen Bohnen - abends gab es keine Süßigkeiten oder schweren Weine mehr; sein Gewicht wurde allmählich zu einem deutlich sichtbaren Problem, vor allem an der Taille -, daß er sich einer neuen Sache verschrieben hatte. Etwas, was nicht mit der Vergangenheit, sondern mit der Zukunft, mit der großen, für 1876 geplanten Feier verbunden war.
Er aß schnell zu Ende, rief sein Personal zusammen und erklärte ihnen, daß er heimfahren werde.
George schickte Jupiter Smith über das Transatlantikkabel eine Nachricht und bestieg in Liverpool die >Persia< der Cunard-Ree-derei. Sie war größer und luxuriöser als Mr. Cunards frühere Schiffe, über deren nüchterne Kabinen sich Charles Dickens geärgert hatte. Die >Persia< versprach >orientalischen Luxus< und eine schnelle Atlantiküberquerung in zehn Tagen.
Am ersten Abend trank George zuviel Champagner, tanzte mit einer jungen polnischen Gräfin und verbrachte zu seiner eigenen Überraschung die Nacht mir ihr. Sie war eine bezaubernde, leidenschaftliche Gefährtin, nur am Augenblick und nicht an der Zukunft interessiert. Er stellte erneut fest, daß seine Männlichkeit nicht vertrocknet war. Doch die Selbstverständlichkeit, mit der die junge Frau ihn in ihrer Kabine und in ihrem Bett willkommen hieß, erneuerte lediglich sein Gefühl der Liebe für Constance und den damit verbundenen Schmerz.
Am dritten Tag verschlechterte sich seine Stimmung weiter, als der gewaltige Dampfer auf ein Schlechtwettergebiet traf und wie ein Spielzeug zu rollen und zu tanzen begann. Trotz Warnung blieb George an Deck. Der Anblick der grauen Wogen mit den großen, weißen Schaumkronen zog ihn magisch an. Es war Mittag und fast schon stockfinster. Bilder von Constance, Orry und Bent flimmerten durch seinen Kopf.
Die vergangenen zehn Jahre schienen sich wie ein Gummiband durch seine Erinnerung zu ziehen. Er stürzte in den Abgrund.
Etwas in ihm rebellierte, und er versuchte der Düsternis zu entrinnen, indem er nach der Ursache fragte und sich bemühte, verschiedene Fragen zu beantworten, die ihn quälten. Woher rührten diese Schmerzen? Die Antworten ließen sich nicht greifen.
In der Finsternis des Sturms sah er wieder Constance vor sich. Er sah seinen besten Freund Orry. Sein Verstand lieferte eine Reihe von Schlußfolgerungen.
Der Schmerz rührt nicht nur von den Umständen oder den Taten anderer her. Er kommt von innen. Er entspringt dem Verständnis, was wir verloren haben.
Er rührt daher, daß wir wissen, wie närrisch wir waren - eingebildete, arrogante Kinder -, als wir uns für glücklich hielten.
Er entspringt dem Wissen, wie zerbrechlich und dem Untergang geweiht die alten Traditionen waren, gerade als wir sie und uns in Sicherheit wähnten.
Der Schmerz kommt von dem Wissen, daß wir nie in Sicherheit waren und nie in Sicherheit sein werden. Er entspringt dem Wissen, daß wir nie wieder so unwissend sein können. Er stammt daher, daß wir nie wieder Kinder sein können.
Verlorene Unschuld. Erinnerung an den Himmel.
Das ist wirkliche Hölle.
Das Signalhorn des Dampfers ertönte. Die Decksmannschaft eilte in verschiedene Richtungen auseinander. George spürte, wie die Maschine auf volle Kraft zurückschaltete. Ein weißgekleideter Steward erzählte ihm, die beiden kleinen Kinder eines italienischen Olivenmillionärs seien vom Heck ins Meer gespült worden. Die Suche wurde bis zum Einbruch der Dunkelheit unter großen Schwierigkeiten fortgesetzt; zwei Rettungsboote des Schiffes kenterten. Die Kinder wurden nicht gefunden. Irgend-wann in der Nacht hörte George, der seltsam wach und angespannt neben der schlafenden Gräfin lag, wie sich das Geräusch der Maschinen veränderte. Die >Persia< nahm wieder Fahrt auf und setzte die Reise fort, weil keine andere Möglichkeit mehr blieb.
Äm Samstag erhielt Jupiter Smith in seinem Haus in Lehigh Station Charles' telegraphische Nachricht. Er sagte seiner Frau, sie solle das Abendessen warmhalten, und ging schnell den Hügel hinunter zum Amt. Der Telegraphist machte gerade seinen Schalter dicht. »Schick das noch los, bevor du gehst, Hiram«, sagte Smith und griff nach einem leeren Formular. Eilig schrieb er in Blockschrift:
MR. HAZARD AUF HEIMWEG MIT CUNARD-LINIE.
UNMÖGLICH ZU ERREICHEN, ABER SICHER
MRS. MAIN HERZLICH WILLKOMMEN FÜR
UNBEGRENZTEN AUFENTHALT.
BEDAURE UMSTÄNDE, DIE DIES ERFORDERLICH MACHEN.
J. SMITH, ESQ.
Charles hatte in seiner Nachricht die Situation auf Mont Royal kurz zusammengefaßt. Jupe Smith konnte nicht begreifen, wieso Madeline Mains Schwägerin so hart gegen eine Verwandte vorging. Er war Ashton Main niemals begegnet, nur Constance hatte mehrmals - in nicht gerader netter Form - von ihr gesprochen.
Hirams Telegraph begann zu klicken. Smith stand schweigend in dem staubigen Wartezimmer; ein vertrautes Gefühl der Enttäuschung über das Verhalten menschlicher Wesen stieg in ihm auf. Es gab einfach keine Erklärung dafür.
Als er die Tür öffnete, um hinauszugehen, fiel ihm ein, daß vielleicht noch jemand von der Familie informiert werden sollte, für den Fall, daß Hilfe und Ermutigung von mehr als einer Person benötigt wurden. Von dem egoistischen Stanley war kein Mitgefühl zu erwarten, doch auf ein anderes Familienmitglied konnte man zählen, nun, da sie sich mit ihrem Bruder ausgesöhnt hatte und wesentlich sanfter geworden war.
»Hiram, bevor du Schluß machst, kannst du noch ein Telegramm abschicken? Das hier geht nach Washington.«
In der Stille des frühen Sonntagmorgens sperrte Sam Stout sein Senatsbüro auf. Es war ein herrlicher Sommertag; im Büro war es bereits warm.
An seinem Schreibtisch begann Stout Briefe seiner Wähler zu beantworten, die meisten von dämlichen Farmern, die er verachtete. Ein Paar aus seinem alten Bezirk in Muncie hatte acht eng beschriebene Seiten geschickt, auf denen sie die Eignung ihres Sohnes für die Militärakademie schilderten. Stout hatte keine Ahnung davon, schrieb aber >Kein Platz verfügbar< darüber und warf den Brief in einen Drahtkorb, damit sein Angestellter die Antwort erledigen konnte.
Er begann einen weiteren Brief zu lesen, gab aber sofort wieder auf. Er warf seine Feder beiseite und überließ sich dem Elend, gegen das er eine lange, schlaflose Nacht hindurch angekämpft hatte. Als er sich von Emily hatte scheiden lassen, um Jeannie zu heiraten, waren er und die junge Frau übereingekommen, daß er zu alt und mit seiner Karriere zu sehr beschäftigt war, um eine neue Familie zu gründen. Er hatte sich darauf verlassen, daß sich das kleine Miststück an die Abmachung halten würde. Gestern abend hatte sie nach einem Champagneressen verkündet, daß sie in sieben Monaten ein Kind zur Welt bringen würde. Stout verbrachte die Nacht in einem getrennten Schlafzimmer.
Nicht nur sein Privatleben, sondern auch alles andere schien schiefzulaufen. Während er bei seiner letzten Tour durch Indiana seine Reden hielt, hatte er deutlich gespürt, daß das Publikum ihn und Republikaner wie ihn, die ständig nach Blut schrien, satt hatte. Obwohl Appomattox erst vier Jahre zurücklag, war die Öffentlichkeit der entzweienden Politik der radikalen Sozialprogramme überdrüssig. Es gab Anzeichen von Unzufriedenheit mit der Grant-Regierung, die gerade erst ihr Amt angetreten hatte. Grant war ein populärer, aber geradezu mitleiderregender naiver Mann.
Das beunruhigte Stout. Er hatte Grant unterstützt, wenn auch mehr aus Zweckmäßigkeit als aus Prinzip. Jetzt fürchtete er, auf das falsche Pferd gesetzt zu haben.
Seine eigenen lauwarmen Überzeugungen ließen ihn an Virgi-lia Hazards stärkere, ehrlichere Absichten denken. Das wiederum erinnerte ihn an die physische Seite ihrer Beziehung. Jetzt erschien sie ihm verführerischer als früher. Vielleicht war es falsch gewesen, sie so hastig abzuschieben.
Er nahm einen Bogen Papier und begann zu schreiben. Wenn er das hier in Ordnung bringen konnte, dann würde auch alles andere gut werden, das spürte er und ließ Leidenschaft und Einsamkeit in seine Sätze einfließen - selbst das schwierige Eingeständnis, in ihrer Beziehung einen Fehler begangen zu haben.
Er fühlte sich so aufgekratzt wie ein zwanzigjähriger Junggeselle, als er den Brief am frühen Nachmittag aufgab.
Am Montag zog Virgilia ihren grauen Handschuh über den Diamantring ihrer linken Hand und griff nach ihrem Lederkoffer. Vor ihrem Häuschen in der Thirteenth Street wartete eine Droschke, um sie zum Bahnhof zu bringen. Mit einem Blick vergewisserte sich sich, daß alles in Ordnung war. Sie bemerkte den beleidigenden Brief von Sam Stout auf dem Schreibtisch.
In der Aufregung über Smiths Nachricht und den anschließenden Reisevorbereitungen hatte sie ihn ganz vergessen.
Virgilia preßte die Lippen zusammen. Sie stellte den Koffer ab und arbeitete schnell mit Streichholz und Wachs, um Stouts Brief wieder zu versiegeln. Sie strich ihre Adresse durch und schrieb seine darüber. Dann drehte sie den Umschlag um und schrieb auf die leere Seite ein großes Nein.
Sie gab den Brief auf, bevor sie den Nachtexpress nach Rich-mond und Charleston bestieg.
Am Dienstag bot Willa erneut ihre Hilfe beim Packen an. Madeline hatte es bis jetzt hinausgeschoben, als warte sie auf ein Wunder. Es würde keine Wunder geben.
»Also gut, packen wir«, sagte sie niedergeschlagen. »Es gibt nicht viel, was sich mitzunehmen lohnt, aber wenn wir es nicht wegschaffen, wirft sie es bloß weg.«
Sie wickelte gerade Porzellan in Zeitungsblätter, als eine Kutsche ankam. Es waren Theo und seine Frau. Der junge Nord-staatler drückte Madeline die Hand und sagte, daß es ihm leid tue. Marie-Louise, die in ihrem dritten Schwangerschaftsmonat gesund und rosig aussah, ließ ihren Emotionen freieren Lauf.
Sie weinte in Madelines Armen und stieß schluchzend Verwünschungen gegen ihren Vater aus. Madeline tätschelte sie besänftigend. Es schien, als müßte sie stets jemanden trösten. Sie wünschte, jemand würde einmal sie trösten.
Charles kam mit einer Holzkiste herein, die er zusammengenagelt hatte. Er hatte Marie-Louise seit Jahren nicht mehr gesehen, und sie mußten sich erst wieder kurz miteinander bekannt machen.
»Weiß dein Vater, wer in Wirklichkeit die Plantage gekauft hat?«
Marie-Louise nickte. »Am Samstag mittag hatte sich die Neuigkeit schon in Charleston herumgesprochen. Mama sagte, Papa habe es beim Abendessen erwähnt.«
»Und was sagte er?«
Sie antwortete nur widerstrebend. »Daß er seiner Schwester so viel Sympathie entgegenbringe wie allen anderen in der Familie auch, also .« Mit rotem Gesicht platzte sie heraus: »Also praktisch gar keine.«
Charles kaute so heftig auf seiner Zigarre herum, daß er sie beinahe zerbissen hätte. »Fein. Großartig.«
»Mama war so wütend, als sie es mir erzählte, daß sie fluchte. Ich habe noch nie gehört, daß sie Papa verflucht hat. Sie sagte, er verdiene jetzt mit seiner Firma so viel Geld, daß er nicht mehr auf Mont Royal angewiesen sei, und er habe auch für die Plantage nichts übrig. Deshalb hat er sie auch verkauft.« Madeline und Charles wechselten einen Blick, den Marie-Louise nicht bemerkte. »Mama ist wegen der ganzen Angelegenheit todunglücklich. Ich auch. Oh, Madeline, was wirst du jetzt machen?«
»Packen. Bis Freitag warten. Abreisen, wenn Ashton kommt. Was könnten wir sonst tun?«
Willa nahm Charles' Hand. Niemand beantwortete die Frage.
Am frühen Mittwochabend kam Willa vom Rasen hereingerannt, wo sie Gus ein Kartenspiel beigebracht hatte. »Eine Kutsche kommt. Eine Frau, die ich noch nie gesehen habe.«
»Verdammt.« Madeline warf eine Untertasse in die Kiste und brach dabei eine Kante ab. »Ich brauche hier keine Fremden, die sich noch über unser Unglück lustig machen.«
Sie hörte, wie die Kutsche knirschend anhielt. Einige Augenblicke später tauchte eine Frau in grauem Reisekleid mit dazu passendem Hut und Handschuhen im Türrahmen auf. Madelines erschöpftes Gesicht wurde blaß.
»Mein Gott, Virgilia.«
»Hallo, Madeline.« Die beiden Frauen starrten einander an. Charles kam vom Schlafzimmer herein, wo er eine gerahmte Lithographie von West Point abgehängt hatte. Beinahe hätte er sie fallenlassen, als er die Besucherin sah. Natürlich erinnerte er sich an sie, vor allem von ihrem Besuch auf Mont Royal mit George und anderen Familienmitgliedern her.
Damals war sie eine feuerspeiende Abolitionistin gewesen. Sie trug eine überlegene Moral zur Schau und haßte alles, was nach Südstaaten roch. Er erinnerte sich, wie Virgilia ihren Gastgeber Tillet Main gekränkt hatte, als James Huntoon sie beschuldigt hatte, bei der Flucht seines Sklaven Grady behilflich gewesen zu sein. Später hatte sie mit dem Flüchtling im Norden zusammengelebt.
Vor allem erinnerte sich Charles an ihr stolzes, beleidigendes Geständnis an jenem Tag. Er hatte Schwierigkeiten, diese Virgi-lia in der Frau, die nun vor ihm stand, wiederzufinden. Er erinnerte sich an ihre spitze, böse Zunge; jetzt gab sie sich sanft und nachsichtig. Früher war sie ein schlankes Mädchen gewesen; jetzt war sie recht kräftig. Er erinnerte sich an ihre vernachlässigte Garderobe; jetzt war sie konservativ modisch gekleidet und machte trotz der langen Reise einen gepflegten Eindruck.
Er erinnerte sich an sie mit einem Kinn, nicht mit zwei, eine deutliche Erinnerung daran, wie die Zeit verging. In ihrem Fall war die Zeit glimpflich mit ihr umgesprungen.
»Wie ist es dir ergangen, Charles?« sagte sie. »Als wir uns das letzte Mal sahen, warst du noch ein sehr junger Mann.«
Madeline, immer noch verwirrt, erinnerte sich an ihre Manieren. »Möchtest du dich nicht setzen, Virgilia?«
»Ja, danke. Ich bin ziemlich müde. Ich habe den ganzen Weg von Washington im Zuge gesessen.«
Madeline räumte einen Bücherstapel von einem alten Stuhl und bot ihn ihrer Besucherin an. Charles zündete eine Lampe an und stellte Willa vor. Madeline schien nervös zu sein und die Tränen kaum zurückhalten zu können. Er vermutete, daß Virgilias Ankunft ein erwartetes Ereignis zuviel gewesen war. In dem weißgetünchten Haus schlugen die Emotionen hohe Wellen. In den vergangenen Tagen war es mehrfach zu sinnlosen Streitereien gekommen.
Virgilia sagte: »Ich würde gern ein paar Tage bleiben, wenn du erlaubst. Ich bin hier, weil Georges Anwalt mir wegen Ashton telegraphiert hat. Wir müssen einen Weg finden, um das ungeschehen zu machen, was sie getan hat.«
Madeline zerknüllte ihre Schürze zwischen ihren Händen mit den geröteten Knöcheln. »Wir haben hier kein Zimmer frei, Virgilia. Ich fürchte, wir können dir gerade einen Strohsack im Haus eines ehemaligen Sklaven anbieten.«
»Reicht vollkommen«, sagte Virgilia. Sie strahlte eine forsche Herzlichkeit aus. Charles konnte die Wandlung nicht fassen.
»Bitte halte mich nicht für unhöflich«, Madeline räusperte sich, »aber ich begreife es einfach nicht.«
Virgilia rettete sie vor dem peinlichen Schweigen. »Weshalb ich nach allem, was vor Jahren geschehen ist, hier bin? Sehr einfach. Früher waren mir die Gefühle meiner Familie oder meines Bruders egal. Jetzt lege ich großen Wert darauf. Ich weiß, wie sehr George dich und Orry schätzt und wieviel ihm dieser Ort hier bedeutet. Meine frühere Einstellung ließ nicht zu, daß ich die Zeit auf Mont Royal genießen konnte. Ich will mich deswegen nicht entschuldigen. Ich glaube, meine Ansichten waren korrekt, aber das ist längst Vergangenheit. Ich weiß, daß George dir finanziell helfen würde, wenn das die Angelegenheit zu deinen Gunsten regelte. Da dies nicht der Fall ist und er sich immer noch irgendwo auf dem Atlantik befindet, möchte ich mich in irgendeiner anderen Weise nützlich machen. Ich habe viele meiner Meinungen geändert, aber nicht meine Meinung über Ashton. Ich hatte von ihr stets den Eindruck eines oberflächlichen, gehässigen Wesens. Vor allem den schwarzen Männern und Frauen, die ihrem Vater gehörten, trat sie sehr unfreundlich gegenüber.«
»Sie hat sich nicht groß verändert«, sagte Charles. Er riß ein Streichholz an und paffte an seiner Zigarre. »Aber ich fürchte, es ist verdammt egal, was wir denken. Die Plantage gehört ihr. Am Freitag müssen wir hier raus, sonst hetzt sie uns das Gesetz auf den Hals.«
Virgilias alte Kämpfernatur machte sich bemerkbar. »Das ist eine defätistische Haltung.«
»Nun, wenn du eine Grundlage für eine andere Haltung weißt, dann sag sie mir«, schnarrte er.
Madeline flüsterte: »Charles.«
Virgilias sanfte Handbewegung besagte, daß sie sich nicht gekränkt fühlte. Willa meinte: »Es ist noch ein Schluck Bordeaux da. Vielleicht möchte unser Gast ein Glas, während ich das Abendessen richte.«
Niemand schien zu wissen, was er sagen sollte. Das unbehagliche Schweigen hielt an, bis Charles hinausging. Sie hörten ihn draußen nach seinem Sohn rufen.
Virgilia bat Charles am Donnerstag mit ihr einen Spaziergang zum Fluß hinunter zu machen. Es war ein trüber Tag ohne Sonne. Charles wollte nicht gehen, aber Willa drängte ihn.
Die Sägemühle hatte die Arbeit am Dienstag eingestellt. Die Angestellten warteten auf die Befehle der neuen Besitzerin. Neben dem glatten, friedlichen Ashley schlenderte Virgilia zwischen Stößen frischgeschnittenen Zypressenholzes dahin.
»Charles, ich weiß, daß ich viele Jahre lang mit den Mains nicht gut ausgekommen bin, und das aus gutem Grund. Ich hoffe, du glaubst, daß ich mich verändert habe.«
Die Hände in die Hüften gestemmt, schaute er über den Fluß. Er zuckte mit den Schultern, um anzudeuten, daß es immerhin möglich wäre, mehr nicht.
»Also gut. Glaubst du, wir könnten eine Allianz eingehen?«
Er musterte sie. »Wir geben ein ziemlich ungleiches Pärchen ab.«
»Zugegeben.«
»Was für eine Art Allianz?«
»Eine Allianz mit dem Ziel, diese bösartige Frau zu besiegen.«
»Es gibt keine Möglichkeit.«
»Ich weigere mich, das zu glauben, Charles.«
Plötzlich lachte er und entspannte sich. »Vor Jahren habe ich eine Menge Geschichten gehört, Miss Hazard.«
Sie berührte ihn am Ärmel. Er bemerkte ihre von der Arbeit rauhe Hand. »Virgilia«, sagte sie.
»Also gut, Virgilia. Wenn man die Gehässigkeit in diesen Geschichten unberücksichtigt läßt, dann trifft der Rest, glaub' ich, zu. Du bist ungefähr so zäh wie einer meiner Kavallerieser-geants.« Hastig fügte er hinzu: »Das ist als Kompliment gemeint.«
»Natürlich«, sagte sie mit schiefem Lächeln. Sie dachte kurz nach. »Uns bleiben vierundzwanzig Stunden.«
»Ich denke, ich könnte sie erschießen, aber ich will nicht ins Gefängnis, und eine echte Lösung wäre es auch nicht. Die Plantage würde in den Besitz dieses Pianohändlers übergehen, den sie sich anscheinend geangelt hat.« Er seufzte. »Ich wollte, ich könnte den Kalender eine Woche zurückstellen. Vor dem Verkauf hätte ich sie vielleicht noch abschrecken können. Im Indianerterritorium hatte ich einen Partner, der mir beibrachte, daß Angst eine mächtige Waffe ist.«
Virgilias Interesse war geweckt. »Warte. Vielleicht bist du da auf was gestoßen. Erzähl mir von deinem Partner.«
Er beschrieb Holzfuß Jackson und einige ihrer Erlebnisse. Dann fiel ihm der Vorfall mit den Spuren der falschen Schleppstangen ein, und er erzählte auch davon.
»Holzfuß meinte, Angst sei so mächtig, daß sie einen dazu bringen könnte, das zu sehen, was man erwartete, anstatt das, was wirklich da ist. Ich war der beste Beweis dafür. Ich erkannte ein ganzes Dorf in diesen Spuren.« Wieder zuckte er die Achseln. Aus dieser Geschichte ließen sich keine praktischen Schlüsse ziehen.
Überraschenderweise schien Virgilia leicht erregt zu sein. Am Ende des Piers wirbelte sie herum. »Was du erwartest, anstatt das, was wirklich ist - ich finde das sehr aufregend, Charles. Und jetzt erzähl mir von Ashton. Natürlich hast du sie öfter gesehen.«
Er nickte. »Sie ist älter geworden, wie wir alle. Kleidet sich immer noch wie ein Paradiesvogel. Ich weiß nicht, wie das Leben in Chicago aussieht, aber sie muß sehr auf sich achten. Sie ist immer noch eine Schönheit. Da hat sich nichts geändert.«
Virgilia starrte ihn mit einer Intensität an, die ihn verwirrte. Sie packte seinen Arm. »Fährst du heute nachmittag mit mir nach Charleston? Ich muß einen Apotheker finden.«
Er war erstaunt, stellte aber aus Höflichkeit keine Fragen. Eine halbe Stunde später, als er mit Willa allein war, sagte er: »Mein Gott, sie hat mich zum Narren gehalten. Sie sagte, sie sei hier, um uns zu helfen, statt dessen müssen wir für sie einen Apotheker auftreiben. Wahrscheinlich hat sie irgendwelche Frauenbeschwerden. Ich glaube, sie ist so verrückt wie eh und je.«
Auf der Fahrt nach Charleston erklärte Virgilia, was sie von dem Apotheker wollte und wozu sie es wollte. Zuerst war Charles sprachlos. Dann ging seine Verzweiflung langsam in Skepsis über und dann in eine fast euphorische Hoffnung. Der ganze Einsatz auf einen Würfel.
»Es könnte funktionieren«, sagte er, als sie aus der Apotheke herauskam.
»Die Wahrscheinlichkeit ist groß, daß es nicht funktionieren wird«, sagte sie. »Deshalb dürfen wir vorher niemandem etwas davon erzählen, um keine falschen Hoffnungen zu wecken. Warum lächelst du?«
»Ich habe an meinen Partner Holzfuß gedacht. Dein Mumm würde ihm gefallen.«
»Danke. Hoffentlich ist das alles nicht zur Zeitverschwendung.«
Sie zupfte ihren Rock über ihren Beinen zurecht und umklammerte den Beutel mit ihrem Einkauf. Charles klatschte mit den Zügeln, und die Maultiere vor dem Wagen machten sich auf den Heimweg. Er hatte keinen Grund, die kleine Melodie zu pfeifen, aber er tat es trotzdem.
Der Landauer raste viel zu schnell den Weg hoch. Das Verdeck war hochgezogen, um Ashton und Favor Herrington vor dem Staub der schnellen Fahrt zu schützen. Die beiden Schwarzen in Livree klammerten sich grinsend am Vordersitz fest; sie grinsten wie Jäger, die den Fuchs fast schon sicher hatten. Sie wußten nicht genau, was auf Mont Royal geschah, aber sie hatten schnell mitbekommen, daß die weiße Frau so hoheitsvoll wie eine Königin und so rauh und hart wie ein General war. Sie arbeiteten gern für sie.
Hinter dem Landauer ratterte eine zweite, weniger prächtige Kutsche. Darin saßen zwei Angestellte von Herrington und ein dickbackiger Gerichtsvollzieher, der bestochen worden war, damit er sie begleitete.
Als der Landauer stoppte, spürte Ashton, wie ihr Herzschlag schneller wurde. Sie hatte schlecht geschlafen und war noch im Dunkeln aus dem Bett gesprungen, um ihr Haar zu kämmen und zu richten. Sie war so nervös wie eine Jungfrau im Brautbett; zumindest vermutete sie, daß sich Jungfrauen so fühlten. Sie war schon seit vielen Jahren keine Jungfrau mehr, daß sie sich unmöglich an dieses Gefühl erinnern konnte.
Diesmal hatte Herrington eine große Reisetasche mitgebracht, deren Inhalt er emsig durchsuchte, während der Fahrer hinabsprang, um die Tür auf Ashtons Seite zu öffnen. Große, blitzende Sonnenlanzen stachen zwischen den gewaltigen Eichen hindurch; die Reste des Flußnebels wurden weggebrannt. Es war halb zehn und versprach ein sengender Junitag zu werden.
Auf Ashtons Oberlippe glänzte der Schweiß. Ihre Augen blickten lebhaft, und trotz ihrer nervlichen Verfassung konnte sie ein Lächeln kaum unterdrücken. Eine halbe Stunde hatte sie zur Auswahl ihres Kleides gebraucht und sich schließlich für ein Stück entschieden, das bei Worth in Paris dreitausend Dollar gekostet hatte. Es war pinkfarben, dezent und elegant. Ihre Handschuhe und ihr kleiner Strohhut waren schwarz. Schwarz und Rosa machten ihr gepudertes Gesicht sehr anziehend.
Cousin Charles hörte die Kutschen und kam in seiner lässigen Art um das Haus geschlendert. Er trug seine alten Kavalleriestiefel, ein Paar ehemals weiße, im Laufe der Zeit gelb gewordene Leinenhosen und ein Hemd mit bis über die Ellenbogen hochgerollten Ärmeln. Sein Haar war immer noch so lang wie das eines Zigeuners, und wie üblich steckte eine übelriechende Zigarre zwischen seinen Zähnen. Cousin Charles war nicht mehr jung, doch Wind und Wetter hatten seine Haut gegerbt und ließen ihn viel älter aussehen. Ashton war stets der Meinung gewesen, daß er ein gutaussehender Mann war. Das wäre auch heute noch so gewesen, wenn er ihr nicht wegen seiner Familienbande verhaßter als eine Schlange gewesen wäre.
»Guten Morgen, mein lieber Charles«, zwitscherte sie. Er lehnte sich gegen einen der Balken des neuen Hauses und starrte sie an. Wären seine Blicke Nägel gewesen, dann hätte er sie damit an die Kutsche genagelt.
Unverschämter Bastard, dachte sie. Herrington winkte seine Angestellten aus der zweiten Kutsche heran. Der Gerichtsvollzieher rülpste und kratzte sich am Bauch. Er schlenderte zur Ecke des weißgetünchten Hauses. Charles riß sich die Zigarre aus dem Mund.
»He, Sie, Moment mal!«
Favor Herrington trat ihm in den Weg. »Dieser Gentleman kann gehen, wohin er will, Mr. Main. Er ist Gerichtsbeamter und vertritt die Eigentümerin. Wir haben ihn mitgebracht, um jeden Ärger zu vermeiden. Uns ist durchaus klar, daß dies für Sie alle kein glücklicher Tag ist.«
Der Anwalt sonderte förmlich Mitgefühl ab. Charles hätte ihm die Faust ins Gesicht gesetzt, aber sie mußten einen größeren Fisch an den Haken kriegen. Niedergeschlagen sagte er: »Sie werden ihn nicht brauchen.«
»Gut. Sehr vernünftig«, sagte Herrington und nickte dem Gerichtsvollzieher zu. Der dicke Mann zerrte an seiner Hose und verschwand aus ihrem Blickfeld.
Ashton schenkte ihrem Anwalt ein strahlendes Lächeln. »Nun, Favor, Sie wissen, was jetzt zu tun ist. Diese beiden Gentlemen werden jedes Heim auf der Plantage aufsuchen und den Niggern mitteilen, daß alle früheren Absprachen, was ihr Land betrifft, null und nichtig sind, falls sie keinen schriftlichen Beweis vorzeigen und die Vertragsbedingungen laut vorlesen können.«
Herrington nickte knapp. Zu seinen beiden blassen Schreiberlingen sagte er: »Ab sofort schuldet jeder Heimstätter hier eine Monatsmiete von fünfundzwanzig Dollar, zahlbar heute um fünf Uhr für zwei Monate im voraus. Können sie nicht zahlen, dann dürfen sie einen dieser Arbeitsverträge unterschreiben, die ich aufgesetzt habe. Oder sie können verschwinden. Ich werde mich euch gleich anschließen. An die Arbeit.«
Die Angestellten holten Handkoffer aus ihrer Kutsche. Ashton deutete auf die Straße, die zu den alten Sklavenquartieren führte. »Ihr findet sie da unten verstreut.« Charles verschränkte die Arme; seine dunklen Wangen brannten.
»Und jetzt«, sagte Ashton, als die Angestellten davongeeilt waren, »zu den wichtigen Geschäften. Wo ist Madeline?«
»Vorne«, sagte Charles mit einer knappen Kopfbewegung.
»Danke, daß du so entgegenkommend warst«, sagte sie höhnisch. Sie hätte sein mürrisches Verhalten als Tribut für ihren
Sieg werten sollen. Unglücklicherweise machte es sie jedoch wütend. Sie konnte nicht denken, wenn sie wütend war. Sie faßte sich, so gut es ging, rauschte um das Haus herum und betrat den Rasen; beim Anblick der drei Frauen, die steif wie Bilder in einer Fotogalerie dasaßen, hätte sie beinahe der Schlag getroffen. Eine dieser Frauen war Virgilia Hazard.
»Virgilia, ich bin fassungslos. Ich bin absolut fassungslos.«
»Hallo, Ashton.« Virgilia erhob sich. Sie war alt und schwer und wirkte in ihrem Kleid wie eine graue Maus. Ashton erinnerte sich an Virgilias früheres Benehmen. Ihre arroganten Äußerungen über Sitten und Gebräuche der Südstaaten. Ihre Lust auf schwarze Männer. Diese Frau war ein einziger Schandfleck. Ashton hätte ihr am liebsten ins Gesicht gespuckt, doch Mr. Herrington stand genau neben ihr. Er hätte das nicht gebilligt.
»Welch zauberhafte Überraschung«, sagte Ashton. »War dein Bruder zu beschäftigt, um ebenfalls zu kommen? Hat er dich heruntergeschickt, damit du für ihn die Hände ringst?«
Charles' Begleiterin, dieser kleine blonde Tramp, warf ihr einen wütenden Blick zu. Madeline schaute lediglich verzweifelt drein. Virgilia sagte: »Ich bedaure, daß George sich in Europa befindet.«
Ashton spitzte die Lippen. »Oh, welch ein Jammer.«
»Um Himmels willen!« rief Madeline. »Beladen wir den Wagen, und verschwinden wir von hier.«
»Einen Moment«, sagte Virgilia. »Charles und ich möchten Ashton vertraulich noch etwas sagen.«
Das überraschte die Besucher. Ashton sah, daß unten an dem zerstörten Dock Charles' häßlicher kleiner Junge wieder hinter den Gänsen herjagte. Sie studierte Virgilia, versuchte in ihrem
Gesicht irgendeine verborgene Absicht zu entdecken. Sie konnte nichts finden.
»Ich kann mir nicht vorstellen, daß wir irgend etwas Wesentliches zu besprechen hätten«, sagte sie. »Mont Royal gehört mir, und dabei bleibt's.«
»Ja, das stimmt. Trotzdem würden wir gern mit dir sprechen.«
Ashton neigte den Kopf und blinzelte. »Was meinen Sie, Fa-vor?«
»Ich sehe keinen Sinn darin, aber schaden kann es auch nicht.«
»Also gut.«
»Während Sie beschäftigt sind, kümmere ich mich um meine Angestellten, wenn Sie nichts dagegen haben.«
»Ja, machen Sie nur«, zwitscherte Ashton. Charles warf Willa einen schnellen Blick zu, eine Art verschwörerisches Signal. Weder Ashton noch ihr Anwalt achteten darauf.
Virgilia raffte ihren grauen Rock mit der linken Hand zusammen. »Gehen wir hinein. Es wird nur einen Augenblick dauern.«
Ashtons Triumphgefühl trieb sie voran. Sie konnte es sich leisten, diesen geschlagenen Kötern gegenüber großzügig zu sein. Sie lächelte strahlend, als sie sich ohne Entschuldigung vor Virgilia in das billige kleine Zimmer drängte, das Madeline als Salon gedient hatte.
Alles war gepackt und türmte sich neben der Tür; lediglich auf einem Bord stand ein kleines Apothekerfläschchen aus dunklem, bernsteinfarbenem Glas. Schwaches Licht fiel durch den Fenstervorhang. Charles folgte den Frauen hinein. Er schloß die Tür und lehnte sich mit verschränkten Armen dagegen. Seine Zigarre war erloschen, stank aber immer noch.
Ashtons Lächeln zitterte und schwand dahin; obwohl diese Menschen sie in keiner Weise mehr bedrohen konnten, war sie nervös. Sie räusperte sich und sagte zu Virgilia, auf den Ring an ihrer Hand deutend: »Meine Liebe, ist das ein Verlobungsring?«
»Ja.«
»Sehr hübsch. Gratuliere. Ich würde den Gentleman gern kennenlernen.« Ihr Tonfall versuchte auszudrücken: Ich würde den Mann gern kennenlernen, der verzweifelt genug ist, eine Kuh wie dich zu heiraten.
Virgilia schien es zu spüren. »Das glaube ich nicht. Er ist ein Farbiger.«
Das warf Ashton beinahe um. Selbst Charles schaute wie vom Donner gerührt drein. Ärger über diese merkwürdige Konfrontation in diesem dunklen, kahlen Zimmer stieg in Ashton auf. »Nun, das ist mal eine Neuigkeit. Ich frage mich, ob wir das nun hinter uns bringen könnten, was immer es auch sein mag.«
»Sofort«, sagte Virgilia. »Charles und ich möchten, daß du etwas unterschreibst, das ist alles.«
Ashton kicherte. »Unterschreiben? Meine Güte, wovon sprichst du?«
Virgilia griff nach dem Beutel, der auf einer Lattenkiste lag. Ihm entnahm sie ein einziges, zweifach gefaltetes Blatt Papier. Sie entfaltete es. »Das hier. In einer dieser Schachteln ist eine Feder. Es wird nur einen Moment dauern.«
»Was soll das? Wovon zum Teufel sprichst du?« Sie war wütend über den Mummenschanz.
»Ein ganz schlichtes, legales Dokument«, sagte Virgilia. »Eine Übertragung des Besitzes von Mont Royal auf Hazards in Pennsylvania, für einen Dollar und weitere Gegenleistungen.«
Das wirkte noch schockierender als die Nachricht von Virgi-lias Verlobung. Ashton riß Mund und Augen auf. Sie starrte sie fassungslos an, als wären sie verrückt. Sie gab jeden Schein von Höflichkeit auf.
»Du Yankee-Miststück. Du fette Hure. Wofür hältst du dich? Bist du besoffen?«
»Ich würde vorschlagen, du beruhigst dich«, sagte Charles.
»Du hältst dein Maul, du gottverdammter Taugenichts. Ihr seid beide reif fürs Narrenhaus. Es gibt nichts auf Gottes Erde, das mich bewegen könnte, dieses Papier zu unterzeichnen. Ihr seid Narren, wenn ihr das auch nur eine Sekunde lang geglaubt habt.«
»Vielleicht kann das deine Meinung ein bißchen beeinflussen«, sagte Virgilia. Von dem Bord nahm sie die bernsteinfarbene Flasche. Sie zeigte sie und holte den Stöpsel heraus.
Ashton kreischte schrill auf. »Oh, was bist du doch für eine Närrin - eine Idiotin! Ich habe dich schon immer für verrückt gehalten, jetzt bin ich mir sicher. Verschwinde, ich will dich nicht mehr sehen. Charles, mach die Tür auf.«
Sie stürmte auf ihn zu, blieb dann abrupt stehen, als er, immer noch mit verschränkten Armen, nicht von der Stelle wich. Er erschreckte sie.
»Glaubst du«, Ashtons Stimme bebte ein bißchen, »glaubst du vielleicht, irgendein schäbiges kleines Geschenk könnte mich in irgendeiner Form beeinflussen? Mont Royal gehört mir, und ich werde es behalten.«
»Geschenk?« wiederholte Virgilia mit einem leicht verwirrten Lächeln. Das Lächeln verschwand wie weggewischt. »Für so was wie dich?« Ashton spürte, wie es ihr kalt über den Rücken lief. Was in Gottes Namen hatten sie vor? »Bleib stehen, Charles. Laß sie nicht raus.«
Ashtons wogender Busen verriet ihre Erregung. Sie schien ein Stückchen kleiner zu werden. Sie stemmte ihre Hände in den schwarzen Handschuhen in die Hüften. »Was geht hier vor? Was ist in dieser Flasche?«
Virgilia schwenkte den Stöpsel. »Das ist was für dein Gesicht, allerdings kein Parfüm.« Sie hielt die Flasche in die Höhe. »Vitriol.«
Charles sagte: »Schweflige Säure.«
Ashton schrie auf.
Virgilia störte das nicht. »Nur zu, schrei ruhig. Dein schwächlicher Anwalt ist zu seinen Helfern gegangen. Ansonsten hätte Willa ihn weggelockt. Für dieses Gespräch hier wirst du keinen Zeugen haben.«
Zitternd hielt Ashton still. Aus den Augenwinkeln schätzte sie die Entfernung zu Charles ein. Eine Fliege summte an Virgilias Stirn vorbei. Ashton ballte die Fäuste und schrie: »Favor!«
Schweigen. Virgilia lächelte verträumt. »Meine Liebe, es hat keinen Sinn. Selbst wenn er direkt vor der Tür stehen und sie aufbrechen würde, hätte ich noch genügend Zeit, dir das hier ins Gesicht zu schütten.« Ihr Lächeln verstärkte sich. »Du weißt, daß ich nicht zögern würde. Ich bin eine Yankee, und ich hasse dich und deine Sorte. Also würde ich vorschlagen, du unterschreibst. In der Schachtel rechts neben dir befindet sich eine alte Feder und etwas Tinte.«
»Ein solches Papier - taugt nichts«, tobte Ashton. »Ich kann damit vor Gericht gehen. Ich kann euch vor Gericht bringen. Ich muß nur sagen, ihr habt mich gezwungen.«
»Wo ist denn hier ein Zwang«, sagte Charles sanft. »Ich bin Zeuge. Wir können zu zweit bezeugen, daß du freiwillig unterzeichnet hast. Wo sind deine Zeugen, die das Gegenteil behaupten könnten?«
»Verdammt sollst du sein. Verdammt sollst du sein!«
»Ashton, du verschwendest lediglich deine Energie«, sagte Virgilia. »Dieses Papier ist vollkommen legal, und es wird auch legal sein, nachdem du es unterschrieben hast. Wir können die besten Anwälte der Nation engagieren, um das zu beweisen. So viele Anwälte wie nötig sind. Mein Bruder George kann sich das und noch eine ganze Menge mehr leisten. Also sei vernünftig. Unterschreib.«
Wieder kreischte Ashton auf.
Virgilia seufzte. »Charles, ich fürchte, wir haben uns getäuscht. Ihr Aussehen ist ihr nicht mehr so wichtig.«
»Du meinst, ihr Gesicht?«
»Ja, ihr Gesicht.«
Virgilia ging auf Ashton zu, in der ausgestreckten Hand die offene, bernsteinfarbene Flasche. Ashton preßte ihre Hände gegen ihre Schläfen und schrie volle fünf Sekunden lang. Dann sank sie auf die Knie, begann in der Schachtel zu wühlen. »Ich unterschreibe. Tut meinem Gesicht nichts. Ich werde unterschreiben. Hier, ich unterschreibe ja schon.«
Sie kippte das Tintengläschen um, als sie die Feder eintauchte. Große schwarze Flecken breiteten sich auf ihrem pinkfarbenen Kleid von Worth's aus. Tintentropfen fielen wie schwarze Tränen auf den Rand des Papiers, das zu lesen sie sich gar nicht erst die Mühe machte. Sie legte das Papier auf einen Bücherstapel und setzte dann ihren Namen darunter.
»Da, gottverdammt noch mal. Da.« Tränen strömten über ihr Gesicht. Ihre Hand zitterte deutlich sichtbar, als sie Virgilia das Papier entgegenstreckte.
Virgilia nahm es und studierte die Unterschrift. Ashton taumelte schwankend auf die Füße; sie war bleich und atmete schwer. Sie ließ die Feder fallen, die einen weiteren Fleck auf ihrem Kleid hinterließ.
Virgilia nickte und faltete das Papier zusammen. »Ich danke dir, Ashton.« Sie schüttete Ashton den Inhalt des Fläschchens ins Gesicht.
Ashton schwankte und fuhr sich mit den Fingernägeln über die Wangen, wie eine Harpyie kreischend. »Du Yankee-Hündin!« Ihre Nägel rissen blutige Spuren in ihr Gesicht. »Du hast mich verunstaltet!«
»Mit etwas Quellwasser? Das glaub' ich kaum. Laß sie hinaus, Charles.«
Er trat beiseite und öffnete die Tür. Sonnenlicht strömte herein. Draußen sah er Madeline und Willa, deren ängstliche Blicke auf die Tür gerichtet waren. Ein Stück weiter stand Gus und zeigte dem dicken Gerichtsvollzieher etwas auf dem Fluß.
»Auf Wiedersehen, Ashton«, sagte er.
Kreischend lief sie an ihm vorbei.
Der Landauer raste den Weg noch schneller hinab, als er hochgekommen war. Die Angestellten und Favor Herrington, Es-quire, tauchten eine Stunde später auf. Der Gerichtsvollzieher war bereits mit der anderen Kutsche abgefahren. Der verwirrte Anwalt und seine Angestellten mußten zu Fuß nach Charleston laufen.
1869
Union Pacific und Central Pacific treffen sich in Utah, schaffen die transkontinentale Eisenbahnlinie.
Samuel Clemens bringt einen Bestseller heraus,
Innocents Abroad.
Jay Gould und Jim Fisk manipulieren Goldmarkt am >Schwarzen Freitag<; Tausende von kleinen Investoren ruiniert.
John D. Rockefeller organisiert Standard Oil of Ohio.
Kongreß billigt erste Gesetzesvorlage zur Garantierung der Bürgerrechte, stoppt den Anti-Neger-Terror im Süden.
Washington bekommt seinen ersten schwarzen Senator, Hiram Revels aus Mississippi, und seinen ersten schwarzen Abgeordneten, Joseph Rainey aus South Carolina.
1871
Professionelle Baseballspieler gründen die National-League.
Feuer in Chicago: 300 Tote, 17.000 zerstörte Gebäude.
Anklageschrift gegen William >Boss< Tweed, der New York City um Millionenbeträge geprellt haben soll, zurückgewiesen.
1872
Abtrünnige, mit Grant unzufriedene Republikaner, nominieren den Kreuzzugsjournalisten Horace Greeley;
Vizepräsident Schuyler Colfax der Bestechung durch Union Pacific's Credit-Mobilier-Baufirma beschuldigt.
Kongreß verweigert Gelder für das Büro für befreite Negersklaven; Büro schließt.
Präsidentenproklamation genehmigt Jahrhundertausstellung für
1876.
Weiterhin Gerüchte über Korruption in der Grant-Regierung.
Zusammenbruch des Bankhauses von Jay Cooke löst Panik aus, die zu Drei-Jahres-Depression führt.
1874
Eads' Bridge, der Welt größte Brücke, überspannt den Mississippi bei St. Louis.
General Custer bestätigt Goldfunde im Dakota-Territorium.
Cartoonist Thomas Nast zeichnet die Republikaner als Elefanten.
1875
Illegaler Sturm der Goldsucher auf das Sioux-Land in den Black
Hills.
Grants Sekretär Babcock mit >Whisky-Ring< zur Hinterziehung von Alkoholsteuern in Verbindung gebracht.
Als Gegenleistung für Bestechungsgelder gesteht Kriegsminister W.W. Belknap Armeehandelsposten Lizenzen zu.
DIE INTERNATIONALE
JAHRHUNDERTAUSSTELLUNG IN PHILADELPHIA
EIN BLICK AUF FAIRMOUNT PARK - DIE GEBÄUDE UND IHRE UMGEBUNG - SECHZIG ACRES ÜBERDACHT - DIE TROPHÄEN DER WELT LIEGEN AMERIKA ZU FÜSSEN - WAS ES ZU SEHEN GIBT UND WIE MAN ES
SEHEN MUSS:
Das größte Spektakel, das wir auf diesem Kontinent je erlebt haben - und das sich wahrscheinlich zu unseren Lebzeiten nicht wiederholen wird -, beginnt in Philadelphia und wird sechs Monate dauern. Der hundertste Geburtstag der Nation wird untrennbar verbunden bleiben mit unvergeßlichen Erinnerungen an die besten Produkte eines jeden Industriezweigs sowie kunstgewerblicher ...
Charleston News and Courier 10. Mai 1876
»Meine Damen und Herren, der Präsident der Vereinigten Staaten.«
Am Morgen hatte es noch geregnet, jetzt kämpfte sich die Sonne durch die Wolken. Sonderzüge aus der Innenstadt von Philadelphia fuhren nacheinander auf den neuen Pennsylvania-Bahnsteigen ein und entließen ihre Menschenmassen.
»Mitbürger. Man hat es für angebracht gehalten, anläßlich dieses Jahrhundertereignisses unsere Fertigkeiten auf industriellem und künstlerischem Sektor der Öffentlichkeit in Philadelphia darzubieten.«
Von neun Uhr an strömten Besucher mit Regenschirmen durch die Haupttore. Sie fanden imposante Gebäude vor - Maschinenhalle und Haupthalle Seite an Seite - und jenseits davon Avenue und Wege, Springbrunnen und Monumente, wunderschön und kolossal. Es gab Hallen für Agrikultur und Gartenbau; eine Halle für die US-Regierung und Hallen, in denen ausschließlich die künstlerischen Arbeiten und häuslichen Aktivitäten von Frauen zu bewundern waren. Man konnte Zeltlager von Beduinen und Armeeposten besichtigen. Es gab Blumenbeete und spiegelnde Teiche. Es gab Statuen, die Kolumbus repräsentierten, die religiöse Freiheit und Moses, der Wasser aus Felsen schlug. Dazu gab es viele Popcorn-Stände und Restaurants - aus Frankreich, Deutschland, Japan, Tunesien und noch viele mehr.
»Um so besser mögen wir die hervorragenden Eigenschaften unserer Errungenschaften einzuschätzen lernen; besonders hervorheben wollen wir unseren ernsthaften Wunsch, die Freundschaft zu den anderen Mitgliedern dieser großen Familie von Nationen zu kultivieren ...«
Viertausend Menschen füllten schnell die Sondertribünen vor der Memorial Hall, aus Granit erbaut und mit einer großen Glaskuppel überdacht. In ihrem Inneren gab es dreitausendzweihundert Gemälde, mehr als sechshundert Skulpturen und in einem getrennten Gebäude etwas vollkommen Neues zu sehen: eine Ausstellung von mehr als zweitausendachthundert Fotos.
»... die modernen Menschen dieser Welt, die sich mit Agrikultur, Handel und industrieller Produktion beschäftigen, sind eingeladen worden, hier Zeugnis von ihren Fähigkeiten abzulegen ...«
Ein Symphonieorchester spielte die Hymnen der sechzehn hier vertretenen Nationen. Da das Gastland keine offizielle Nationalhymne besaß, spielte das Orchester >Hail, Columbia<.
»Auf unsere Einladung erfolgte ein vielfältiges Echo.«
Trommeln und Kornetts kündigten um zehn Uhr dreißig den Präsidenten mit Gattin und Kaiser Dom Pedro II. und Kaiserin Teresa von Brasilien an. Nie zuvor hatte ein regierender Monarch die Vereinigten Staaten besucht. Eine gewaltige Militäreskorte aus Soldaten und Matrosen begleitete sie zur Plattform.
»Die Leiter dieser Ausstellung überlassen es Ihnen heute, die Schönheit und Nützlichkeit dieser Beiträge selbst zu beurteilen.«
Das Orchester spielte den >Inaugurationsmarsch zur Jahrhun-dertfeier<, ein neues, von Wagner komponiertes Stück. Nach einem Gebet, einer Hymne, einer Kantate und der Präsentation der Gebäude sprach der Präsident:
»Wir sind stolz auf das, was wir geleistet haben, und bedauern gleichzeitig, nicht mehr geleistet zu haben.«
Grant beendete seine Rede um zwölf. Begleitet von einer Orgel, sang ein achthundert Personen umfassender Chor Händels >Halleluja-Chor<. Glocken begannen zu läuten. Von einem Hügel oberhalb von Fairmount Park feuerte eine Artillerieeinheit einen hundertschüssigen Salut ab.
»Und jetzt, liebe Mitbürger, hoffe ich, daß eine sorgfältige Begutachtung der Ausstellungsstücke bei Ihnen nicht nur einen umfassenden Respekt für das Können und den Geschmack unserer Freunde aus anderen Nationen erzeugen wird...«
Marshalls ordneten die Würdenträger der Vereinigten Staaten und diejenigen aus dem Ausland zu einer langen Prozession, die sich entlang der Gehwege auf die Maschinenhalle zubewegte.
». sondern Sie auch zufriedenstellen wird, was die Errungenschaft unseres eigenen Volkes während der vergangenen hundert Jahre anbelangt.«
In der Halle kletterten Präsident Grant und Kaiser Dom Pedro die Eisenstufen zu dem zweizylindrigen Wunder und Glanzstück der Ausstellung hoch, der Jahrhundertmaschine. Zwanzig in einem anderen Gebäude untergebrachte Dampfkessel trieben das sechsundfünfzig Tonnen schwere Schwungrad der 1.400 PS starken Maschine. George Corliss führte eine der beiden silberbeschlagenen Kurbeln vor, mit denen sich die Maschine starten ließ. Unten starrte George Hazard inmitten der anderen Bevollmächtigten sprachlos die Mammutmaschine an. Er war dankbar, erschöpft, kam sich verloren vor in der gewaltigen Menschenmenge. Er konnte einfach nicht glauben, daß nach so vielen Monaten des Kampfes und der Zweifel der Moment doch noch gekommen war. Dom Pedro drehte an seiner Kurbel. Präsident Grant drehte seine. Die großen Pleuel begannen auf und ab zu stampfen. Dann stieg um George herum ein wortloses Seufzen wie ein rauschender Wind auf, und dann hörte er all die anderen Menschen in der Halle. Drehend, knirschend, stampfend - alle angetrieben von der Corliss-Maschine, ein Musterbeispiel für die industrielle Macht der Vereinigten Staaten.
»Ich erkläre die internationale Ausstellung für eröffnet.«
George schrieb:
Bitte sei mein Gast für ein Familientreffen der Mains und Hazards bei der Ausstellung zur Hundertjahrfeier in Philadelphia. Es wird mir eine Ehre sein, für sämtliche Reisekosten sowie für Kost und Logis aufzukommen. Beginn Samstag, den 1. Juli.
»Als ich Los Angeles vor drei Jahren zum erstenmal sah«, sagte Billy, »war nicht viel dran. Nur ungepflasterte Straßen und ein paar alte Lehmhäuser. Jetzt reißen wir das alles ab und bauen Hotels, Warenlager, Kirchen. Die Stadt wird einen gewaltigen Aufschwung nehmen. Bald werden wir sechzigtausend statt sechstausend Einwohner haben. Ich habe die Zukunft meiner Familie darauf gebaut.«
Sein Gesprächspartner, ein Pfarrer der Unitarier, hielt seinen Hut fest, damit ihn die Seebrise nicht davontrug. Der kleine Ausflugsdampfer hatte gerade vom Pier von Santa Monica abgelegt und fuhr nun die Küste hoch auf Santa Barbara zu. Es war ein herrlicher Morgen; auf den Wogen des Pazifiks zeigten sich einige kleine, weiße Schaumkronen.
»Sie sind Bauingenieur, sagten Sie.«
»Von der Ausbildung her.« Billy war jetzt einundvierzig, und je gewichtiger er wurde, desto stärker ähnelte er seinem Bruder George. Sein Backenbart war mit Grau durchsetzt. Er trug einen teuren Anzug. »Eigentlich verbringe ich mehr Zeit mit der Entwicklung und dem Verkauf von Bauplätzen.«
»Schon viele Kunden?«
»Nein, aber ich rechne mit der Zukunft.« Er lehnte sich an die Reling; Enthusiasmus blitzte in seinen Augen. »Die Transkontinentalverbindung brachte uns letztes Jahr siebzigtausend Besucher und Neuankömmlinge. Und das ist erst der Anfang. Wir haben alles, verstehen Sie. Platz für neue Städte. Herrliche Landschaft. Gesunde Luft. Ein angenehmes Klima. Ich bin in Pennsylvania aufgewachsen. Manchmal träume ich vom Schnee, aber vermissen tue ich ihn nicht.«
Brett, mittlerweile etwas kräftiger geworden, kam mit ihrem Jüngsten, dem zweijährigen Alfred, an der Hand über das Deck. Billy stellte Brett dem Geistlichen vor, der sich erkundigte: »Ist dieser hübsche Bursche Ihr einziges Kind?«
Sie lachte. »Oh nein. Wir haben vier Mädchen und noch zwei Jungs. Unser ältester Sohn ist elf. Er paßt auf die anderen in unseren Kabinen auf.«
»Und Sie fahren alle mit dem Zug nach Philadelphia?« Der Geistliche war erstaunt.
»Ja«, sagte Billy. »Zuerst aber fahren wir die Küste hoch und zeigen unseren Kindern alles. Wir haben eine dieser Concord-Kutschen ganz für uns allein, denke ich.«
»Sie müssen sehr glücklich sein, wieder einmal in die Heimat zu kommen«, sagte der Pfarrer.
Billy lächelte. »Ich freue mich, nach all den Jahren meine Familie wiederzusehen. Aber unsere Heimat ist Kalifornien.«
Brett schob ihren Arm unter den seinen und folgte seinem Blick, vorbei an dem Pier und dem Ufer hoch zu den bläulich schimmernden Bergen.
George las eine Weile im Scientific American. Er saß in einem Plüschsessel im Schreibzimmer des Pennsylvania Building mit Blick zur Fountain Avenue, einer der beiden Hauptpromenaden, die das Ausstellungsgelände kreuzten. Das Gebäude, ein überladener Bau in neogotischem Stil, war das Werk des jungen Schwarzmann, eines bayerischen Architekten, der auch noch einige andere Hauptgebäude entworfen hatte. Das Haus war natürlich das größte der vierundzwanzig von den einzelnen Staaten geförderten Gebäude, da Philadelphia der offizielle Gastgeber war. Objektiv betrachtet wußte George, daß es ein entsetzlicher Anblick war. Die Leute von Philadelphia befürchteten, es könnte auf Dauer im Fairmount Park stehenbleiben. Berücksichtigte man allerdings den gesamten Ausstellungsplan, dann konnte ein Bürger von Lehigh Station schon stolz darauf sein, und das war er auch. George war in diesem Jahr sehr beschäftigt gewesen - sogar die letzten drei oder vier Jahre, was die Ausstellung anbelangte. Er war einer der sieben Vizepräsidenten der privaten Kommission für die Hundertjahrfeier und Mitglied des Finanzausschusses. Er hatte geholfen, eine Million Dollar an Staatsmitteln aufzutreiben. Außerdem hatte er sich sehr für die Franko-Amerikanische Union eingesetzt und geholfen, einen Teil von Bartholdis geplantem Monument auf das Ausstellungsgelände zu bringen. Die Statue selbst sollte auf Bedloe's Island im Hafen von New York errichtet werden, sollte sie je fertiggestellt werden. Wie George dem Journalisten Levie vorausgesagt hatte, war der Zeitgeist konservativ, und selbst ein direktes Geschenk der Franzosen wirkte verdächtig.
George war erst vor kurzem von Cincinnati zurückgekehrt. Er hatte es zusammen mit seinem Freund Carl Schurz und ähnlich denkenden Republikanern geschafft, die Nominierung des Sprechers des Repräsentantenhauses, James G. Blaine, zum Präsidentschaftskandidaten zu verhindern, der offensichtlich in irgendwelche Union-Pacific-Insider-Aktienschiebereien verwickelt war. Das letzte, was die Republikaner nach den Skandalen der Grant-Regierung brauchten, war ein Kandidat mit schmutziger Weste. George und seine Verbündeten hatten Gouverneur Rutherford B. Hayes aus Ohio dazu gebracht, die Standarte für die Partei zu tragen.
Die Worte im >Scientific American< verschwammen vor seinen Augen. Er hörte Geräusche aus dem Foyer. Das Ausstellungsstück des heutigen Tages war eine weitere Freiheitsglocke, diesmal aus Harrisburg, einen Meter hoch und vollkommen aus Zucker. Hinter der Glocke trat Stanley hervor.
In diesem Herbst würde sich Stanley ohne Gegenkandidat zur Wiederwahl als Repräsentant der Vereinigten Staaten von Lehigh Station stellen. Es wäre seine dritte Amtsperiode. Stanley war jetzt sehr korpulent, doch eine Aura der Macht umgab ihn, wie es bei fast allen der Fall war, die nach Washington gingen. Sein frettchenhafter Sohn Laban, der Popcorn aus einem Beutel mampfte, begleitete ihn.
George legte die Zeitschrift beiseite und ging auf seinen Bruder zu, um ihm die Hand zu schütteln. Es war Freitag, der letzte Tag im Juni; die Uhr zeigte auf halb eins.
»Der Zug hatte Verspätung«, sagte Stanley, ohne sich zu entschuldigen.
»Der Tisch ist reserviert«, sagte George. »Ich hab' dich schon eine ganze Weile nicht mehr gesehen, Laban. Wie geht's dir?«
»Das Geschäft floriert«, sagte der junge Anwalt mit einem Grinsen.
Stanley strich sich über den Backenbart. »Wo essen wir?«
»Bei Lauber's«, sagte George, während sie hinausgingen und sich durch die Menge drängten. Ganz links am Ende der Foun-tain Avenue pfiff ein Zug, der alle fünf Minuten für fünf Cent eine Besichtigungstour durch das Gelände machte.
George musterte die Menschenmenge voller Befriedigung. »Gestern hatten wir mehr als fünfunddreißigtausend zahlende Besucher.« Nach dem Andrang bei der Eröffnung waren die Frequenzen auf ungefähr zwölftausend pro Tag zurückgegangen.
»Immer noch ein Verlustgeschäft«, sagte Stanley.
Das stimmte. Die Bevollmächtigten hatten ihren Kampf gegen die Geistlichen von Philadelphia verloren, die darauf be-harrten, daß religiöse Gefühle verletzt würden, wenn die Ausstellung auch an Sonntagen offen wäre. Obwohl die meisten Amerikaner sechs Tage in der Woche arbeiteten, konnten sie die Ausstellung nicht an ihrem freien Tag besuchen.
»Nun, es gäbe diese Ausstellung gar nicht, wenn das Haus nicht diese anderthalb Millionen bewilligt hätte«, sagte George.
»Ich werde dir für deine Unterstützung in diesem Punkt stets dankbar sein.«
»Nicht der Rede wert«, sagte der Kongreßabgeordnete Hazard, der sich in letzter Zeit als das gab, was er war: ein älterer Bruder. George lächelte, aber Stanley bemerkte es nicht.
»Wann kommen die anderen an?« fragte Laban und warf seinen leeren Popcornbeutel auf den Boden.
»William und Patricia sind mit ihren Familien bereits da«, sagte George. »Wir treffen uns mit ihnen in dem deutschen Restaurant. Die nächste Gruppe sollte heute abend eintreffen. Or-rys Cousin Charles hat den weiten Weg aus Texas gemacht.«
Zur gleichen Zeit saßen Colonel Charles Main, seine Frau Willa und ihr zwölfjähriger Sohn Augustus in dem Zug von New York nach Philadelphia. >Colonel< war ein Ehrentitel, der Charles von seinen Nachbarn verliehen worden war, als diese merkten, daß er reich und damit bedeutend wurde.
Charles trug sein Haar immer noch lang; seine Kleidung entsprach dem, was er war, ein wohlhabender Rancher: handgefertigte Stiefel, ein cremeweißer Hut mit breiter Krempe und ein bauschiges Halstuch anstatt einer Krawatte. Einen halben Tagesritt westlich von Fort Worth besaß er fünfundfünfzigtausend Acres Land und arbeitete gerade daran, diese Fläche zu verdoppeln. Jeden Sommer trieben seine Cowboys eine riesige Herde nach Kansas. Seine Ranch hieß Main Chance; sein Pferd Satan führte dort ein bequemes Rentnerleben. Außerdem gehörten ihm mehrere große Häuserblocks in Fort Worth und das verschwenderische Parker-Opernhaus, das noch kein Jahr alt war.
Während der Zug durch das Farmland von New Jersey schnaufte, las Charles mit Hilfe einer Brille in einem Buch. Sein Sohn, an dessen Wange immer noch eine lange, schmale Narbe zu sehen war, hatte sich zu einem ernsten, dunkeläugigen Jungen entwickelt, der wie sein Vater groß und muskulös zu werden versprach. Willa liebte ihn wie ihr eigenes Kind; so sehr sie es sich auch wünschte, es war ihr versagt geblieben, selbst Kinder zu bekommen.
Charles lachte ohne jede Herzlichkeit. Das Buch war vor zwei Jahren erschienen und trug den Titel >Mein Leben in der Prärie<.
»Ich wußte gar nicht, daß es ein lustiges Buch ist«, sagte Wil-la. Gus starrte aus dem rußverschmierten Fenster.
»Ist es auch nicht«, sagte Charles. »Aber es ist verdammt clever gemacht. Ich meine, die Knochen sind da. Was fehlt, ist das Fleisch. Das blutige Fleisch. Eines der Cheyenne-Kinder, die wir töteten, bezeichnet Custer beispielsweise als >dunklen kleinen Häuptling< und >tapferen Kämpfer<.« Er legte sein Lesezeichen hinein und klappte das Buch zu. »Er hat blumige Phrasen wie Desinfektionsmittel darübergegossen. Es war ein Massaker.«
»Was der Beliebtheit des Buches keinen Abbruch getan zu haben scheint.«
»Auch nicht der Reputation des Generals«, sagte Charles voller Abscheu.
Georges Sohn William III. und dessen Frau Polly gingen knapp vor George und Stanley die Stufen zu >Lauber's Restaurant< hinauf. William war in braves Methodistenschwarz gekleidet. Er war jetzt siebenundzwanzig und im dritten Jahr seines Pastorats in einer kleinen Kirche in der Stadt Xenia, Ohio. Obwohl Constance ihn im römisch-katholischen Glauben erzogen hatte, war er Methodist geworden; Polly Wharton, deren Vater ein Methodistenbischof war, hatte ihn nicht nur zum Ehemann erkoren, sondern auch zu ihrem Glauben bekehrt. Sie hatte als Lehrerin ihren gemeinsamen Lebensunterhalt verdient, während er das Seminar besuchte.
Sie hatten keine Kinder; das machten allerdings die drei Kinder von Patricia, die alle noch keine sechs Jahre alt waren, mit ihrem Lärm mehr als wett. Patricia lebte in Titusville, ihr Ehemann, Fremont Nevin, gab den >Titusville Independent< heraus. George mochte den hochgewachsenen, nachdenklichen Emigranten aus Texas, auch wenn dieser Demokrat war. Die Kinder hießen Constance Anne, Fremont Junior und George Hazard Nevin. Der kleine George Hazard, der zwischen den Bohrtürmen von Titusville aufwuchs, sagte jetzt schon, daß er mal ein Ölmann werden wollte.
»Was ist mit Großvater Flynn, Papa?« fragte Patricia, nachdem sie alle saßen.
»Er hat eine sehr nette Grußbotschaft geschickt, nachdem ihm Billy die Einladung überbracht hatte. Er ist schon ziemlich alt und wollte die weite Reise von Los Angeles nicht mehr auf sich nehmen. Er meinte, im Geist sei er bei uns. Ich glaube, er bearbeitet immer noch einige Fälle, die ihn interessieren. Eine bemerkenswerte Persönlichkeit - wie seine Tochter«, fügte er mit einem kleinen, rauhen Unterton in seiner Stimme hinzu.
Nevin, dessen Spitzname Champ war, zündete sich eine Zigarette an und sagte zu Stanley: »Wir werden Hayes im November schlagen. Gouverneur Tilden ist ein starker Kandidat.«
»Ich bin hier, um zu essen, und nicht, um über Politik zu diskutieren, wenn du nichts dagegen hast«, sagte Stanley mit aufgeblasener Würde. George machte dem Kellner ein Zeichen. Laban zupfte die Serviette auf seinem Schoß zum drittenmal zurecht. Er beteiligte sich nicht an dem Gespräch. Er mochte keines der anderen Familienmitglieder.
»Wir haben eine Suite mit einem Schlafzimmer reserviert«, sagte der Mann an der Rezeption des luxuriösen Continental Hotel, Ecke Chestnut und Ninth Street. In der Lobby herrschte Chaos; zwei Gentlemen, die wegen ihrer nicht existierenden Reservationen herumbrüllten, verstärkten den Lärm noch.
Auch der Angestellte hob seine Stimme. »Sollen wir für Ihre Dienerin eine Matratze in das Wohnzimmer legen?«
Jane, die hinter Madeline stand, schaute bekümmert drein, aber sie war zu müde zum Kämpfen. Es war eine lange Fahrt gewesen. Madeline war staubbedeckt und schlecht gelaunt und nicht geneigt, eine ähnliche Zurückhaltung an den Tag zu legen. »Sie ist nicht meine Dienerin, sondern meine Freundin und Reisebegleiterin. Sie braucht ein Bett, wie ich es habe.«
»Wir haben keine weiteren Zimmer«, sagte der Angestellte. Ein anderer Angestellter links von ihm sprang zurück, als einer der Männer ohne Reservation nach ihm schlug. Der zweite Angestellte schrie um Hilfe.
»Dann werden wir zusammen schlafen«, sagte Madeline; sie mußte ebenfalls fast brüllen, um sich Gehör zu verschaffen. »Lassen Sie unser Gepäck nach oben bringen.«
»Page«, sagte der Angestellte und schnippte mit den Fingern. Er schaute empört drein.
Patricia sagte: »Fremont, spiel nicht mit deiner Knackwurst herum.« Fremont spießte die Wurst mit seiner Gabel auf und schleuderte sie zu Boden. Patricia gab ihm einen Klaps auf die Hand.
Ihr Mann sagte zu George: »Wie viele der Mains aus South Carolina werden sich uns noch anschließen?«
George stellte seinen Krug mit dem Bockbier der Hundertjahrfeier ab und schüttelte den Kopf.
»Bedauerlicherweise nur Orrys Witwe. Orrys Nichte MarieLouise bekommt im August ihr zweites Kind. Ihr Arzt hat ihr von der Reise abgeraten. Was ihren Vater, Orrys Bruder, anbelangt«, er atmete tief ein; sein Gesicht wurde ernst, »nach langem Nachdenken und trotz seiner Frau, die eine wirklich liebenswerte Person ist, habe ich mich gegen eine Einladung für Cooper entschieden. Schon vor langer Zeit hat er klargestellt, daß er nur dem Namen nach ein Main ist, ebenso wie Ashton. Ich hatte nie die Absicht zu versuchen, sie aufzuspüren.«
Richter Cork Bledsoe, seit drei Jahren nicht mehr im Staatsdienst, betrieb eine kleine Farm nahe der Küste, ungefähr zehn Meilen südlich von Charleston. An einem heißen Julimorgen ritten hintereinander sieben Männer in seine Zufahrtstraße, um ihm einen Besuch abzustatten. Es handelte sich nicht um Klansmänner; ihre Gesichter waren deutlich sichtbar. Das einzige Kleidungsstück, das sie miteinander gemein hatten, waren schwere, rote Flanellhemden.
Niemand wußte genau, weshalb loyale Demokraten sich für ihre Jagdclubs die Farbe Rot ausgesucht hatten; vor einigen Monaten hatte das in der Gegend von Aiken, Edgefield und Hamburg seinen Anfang genommen und sich dann entlang des Sa-vannah River ausgebreitet, wo man vielleicht den Republikanern und den Schwarzen den heftigsten Widerstand im ganzen Staat entgegensetzte.
Cooper ritt als dritter. Er hatte sich ein großes, weißes Taschentuch um den mageren Hals gebunden, um den Schweiß aufzufangen, aber das nützte auch nicht viel. Aus seiner Sattelscheide ragte der polierte Kolben der neuesten Winchester, Modell 1876 - das >Jahrhundertgewehr<. Es feuerte Kugeln ab, schwer genug, um einen anstürmenden Büffel zu stoppen. In letzter Zeit hatte Cooper eine Vorliebe für Waffen entwickelt, was früher nie der Fall gewesen war.
Judith war dagegen, daß ihr Mann solch eine Waffe zu Hause in der Tradd Street aufbewahrte. Sie mochte auch seine neuen Freunde und deren Aktivitäten nicht. Ihn störte das nicht; ihm war es längst egal, was sie dachte. Sie wohnten im gleichen Haus, aber Zuneigungsbeweise und Kommunikation beschränkten sich auf ein Minimum.
Er hielt die Arbeit dieser Gruppe und ähnlicher, über das ganze Land verteilter Gruppen für wesentlich. Nur eine aus pflichtbewußten Weißen bestehende Regierung konnte South Carolina von seinem Joch befreien und die soziale Ordnung wiederherstellen.
Eine schlampige Frau mit grauen Haaren und gebeugten Schultern beobachtete, wie sich die Reiter vor dem Haus in einem Halbkreis aufbauten. Die Frau hatte einige ihrer Rosen beschnitten; es gab Dutzende davon, rosa, rötlich, pfirsichfarben, die die Luft mit ihrem süßen Duft anreicherten.
Der Sprecher der Besucher, der Anwalt Favor Herrington, berührte die Krempe seines Pflanzerhutes. »Guten Tag, Leota.«
»Guten Tag, Favor.« Sie begrüßte noch drei weitere mit Namen, zu denen auch Cooper gehörte, es entging ihr nicht, daß jeder Mann ein Gewehr oder eine Schrotflinte bei sich hatte.
Herrington zerrte an seinem verschwitzten Hemd. »Eine Hitze ist das, was? Ob ich wohl ein Wort mit dem Richter sprechen könnte? Sagen Sie ihm, ein paar Freunde vom Calhoun Saber Club sind da.«
Leota Bledsoe eilte ins Haus. Augenblicke später kam der Richter in Filzschlappen herausgeschlurft; die Ärmel hatte er hochgerollt, die schwarze Wollweste stand offen. Er war ein schmächtiger Mann mit sanften braunen Augen. Er besaß Anteile an einigen der großen Phosphatverarbeitungsanlagen nahe der Stadt.
»Was verschafft mir das Vergnügen eines Besuches solch einer distinguierten Gruppe der politischen Opposition?« erkundigte er sich mit einem gewissen Sarkasmus.
Herrington keckerte. »Sie wissen, wir sind Demokraten, Richter, aber ich hoffe, Sie erkennen, daß wir offen und ehrlich auftreten und nicht zu diesen verdammten kooperationsbereiten Typen gehören, die mit den verdammten Republikanern ins Bett kriechen wollen.«
»Bei diesen roten Hemden ist kaum ein Irrtum möglich«, sagte der Richter schwer. Den ganzen Frühling hindurch hatte es heftige Kämpfe gegeben zwischen jenen, die die Demokratische Partei rein erhalten wollten, und den anderen, die die Demokraten durch eine Koalition mit den weniger fanatischen Republikanern wie beispielsweise Gouverneur D.H. Chamberlain stärken wollten. Cooper und seine Gesinnungsgenossen griffen nun zu ungewöhnlichen Methoden, um die Partei zu stärken. Rot-hemden-Clubs. Besuche wie diesen hier. Öffentliche Zusammenkünfte; nützlicher, wenn auch gelegentlich blutiger Aufruhr. In den letzten paar Tagen, so hatte er gehört, hatten sich Schwarze und Weiße von beiden Seiten des Flusses in Hamburg die Köpfe eingeschlagen.
»Wir wollen mit Ihnen über den Nominierungskonvent in Columbia nächsten Monat sprechen.«
Das irritierte den Richter. »Verdammt noch mal, Jungs, verschwendet nicht meine Zeit. Jedermann weiß, daß ich seit sechs Jahren die Republikaner wähle.«
»Das wissen wir, Herr Richter«, sagte Cooper. »Vielleicht war das für Ihre Geschäfte am besten.« Beiläufig legte er eine Hand auf den Kolben seiner Winchester. »Wir glauben nicht, daß es im besten Interesse des Staates ist.«
»Hört mal, ich werde nicht über meine politischen Ansichten mit einem Haufen Rabauken diskutieren, die ihre Meinungen mit dem Gewehr verkaufen.«
»Die Gewehre sind nur zur Verteidigung da«, sagte ein anderer der Rothemden.
»Verteidigung!« Der Richter schnaubte. »Ihr benützt diese Gewehre, um ehrlichen schwarzen Männern einen Schrecken einzujagen, die lediglich das ihnen von der Verfassung zugesprochene Wahlrecht ausüben wollen. Ich weiß, was das hier soll. Das ist der Mississippi-Plan; damit habt ihr letztes Jahr alle Republikaner und Schwarzen aus den Staatsämtern getrieben, und jetzt probiert ihr es hier mit demselben Plan. Nun, ich bin daran nicht interessiert.«
Er drehte sich um und schlurfte zur Tür zurück.
»Herr Richter, einen Augenblick!« Favor Herringtons Stimme klang nicht mehr freundlich. Aus dem nach Rosen duftenden Schatten blinzelte der Richter die bewaffneten Reiter an.
»Ich bestreite das, was Sie gesagt haben, nicht«, fuhr Herrington fort. »Jawohl, wir ermutigen die Nigger, entweder ihre Meinung zu ändern oder den Wahlen im November fernzubleiben. Wir werden die republikanische Mehrheit in diesem Staat in eine demokratische Mehrheit verwandeln. Wir werden South Carolina von Ausbeutern und verfluchten Gesetzgebern befreien, die es ruinieren und in den Dreck zerren. Und damit dieser Plan funktioniert«, er wischte sich das glänzende Gesicht mit einem blauen Halstuch ab, »müssen wir irrige Republikaner wieder zu Demokraten bekehren.«
»Sie terrorisieren, das meinen Sie doch«, schnappte der Richter. »Mit vorgehaltener Waffe.«
»Aber nein, Richter, nichts dergleichen. Wir bitten Sie nur, das zu tun, was für den Staat richtig ist. Wir bitten Sie höflich und voller Respekt.«
»Geschwätz«, sagte der alte Mann.
Herrington hob seine Stimme. »All Ihre republikanischen Brüder tun es, Richter. Es ist eine ganz simple Angelegenheit. Wechseln Sie über. Überqueren Sie den Jordan.«
»Den Jordan überqueren, so nennt ihr es, ja? Lieber würde ich über den Styx schnurgerade in die Hölle gehen.«
Einige der Mitglieder des Calhoun Saber Club begannen ihre Gewehre zu ziehen. Im Haus rief die Frau des Richters eine gedämpfte Warnung. Der Hof lag sehr still in der sengenden Hitze da. Ein Gaul ließ ein paar Pferdeäpfel fallen. Herrington warf Cooper einen auffordernden Seitenblick zu.
Cooper bemühte sich, vernünftig zu klingen. »Wir meinen es ernst, Richter Bledsoe. Sie sollten uns nicht auf die leichte Schulter nehmen. Sie haben an eine Familie zu denken, an viele Enkel. Würden Sie Respektabilität nicht allgemeiner Ächtung vorziehen? Wenn schon nicht für sich selbst, dann wenigstens für sie?«
»In Charleston«, fügte Herrington hinzu, »treiben sich eine Menge Rowdies auf den Straßen herum. Anständige Leute sind da manchmal gar nicht sicher. Vor allem Mädchen im zarten Alter. Sie haben doch zwei Enkelinnen in Charleston, nicht wahr, Sir?«
»Bei Gott, Sir, wollen Sie mir drohen?« schrie der Richter.
»Nein, Sir«, sagte Cooper nüchtern. »Wir wollen nichts weiter als Ihr Versprechen, den Jordan zu überqueren. Gouverneur Hampton zu unterstützen, wenn wir ihn in Columbia nominieren. Und anderen Ihre Entscheidung mitzuteilen.«
»Geht zur Hölle, und nehmt eure Gewehre gleich mit«, sagte Richter Cork Bledsoe. »Das hier ist nicht Mississippi.«
»Ich bedaure Ihre Entscheidung«, sagte Favor Herrington mit kalter Wut in der Stimme. »Kommt, Jungs.«
Einer nach dem anderen ritten sie aus dem süßlich duftenden Hof. Richter Bledsoe blieb auf der Veranda stehen und starrte ihnen nach, bis der letzte Reiter verschwunden war.
Herrington ließ sich neben Coopers Pferd zurückfallen. »Du kennst den nächsten Namen auf der Liste.«
»Ja. Damit will ich nichts zu tun haben. Es ist mein Schwiegersohn.«
»Wir erwarten nicht, daß du mitmachst, Cooper. Du brauchst dich nicht um Mr. German zu kümmern, aber wir werden ihm einen Besuch abstatten.«
Cooper fuhr sich mit seinen langen Fingern über den verschwitzten Mund. Leise sagte er: »Tut, was ihr müßt.«
Zwei Nächte später feuerten Unbekannte drei Kugeln durch das Fenster von Bledsoes Haus. Am folgenden Sonntag weigerten sich alte Freunde in der Kirche, mit dem Richter oder seiner Frau zu sprechen. Am Dienstag schlenderte seine fünfzehnjährige Enkelin mit ihrer Gouvernante in der Abenddämmerung nach Hause in die King Street, als zwei junge Männer aus einer Gasse gestürzt kamen, dem jungen Mädchen die Tasche entrissen und sie mit Messern bedrohten. Einer zerfetzte den Ärmel ihres Kleides. Am Ende der Woche erklärte Richter Bledsoe seine Bereitschaft, den Jordan zu überqueren.
1776
DREI MILLIONEN KOLONISTEN AUF EINEM LANDSTREIFEN AM MEER
VIERZIG MILLIONEN FREIE MÄNNER HERRSCHEN VON OZEAN ZU
OZEAN Philadelphia Poster zur Hundertjahrfeier
»Wir brauchen die Suite nicht«, sagte Virgilia. »Wir haben anderswo reserviert.«
Der Angestellte im Continental, der gleiche, der Madeline und Jane eingetragen hatte, schaute zweifelnd drein. »Wie Sie meinen, Mrs. Brown. Ich hoffe, Sie haben Ihre Unterkunft sicher. In keinem der guten Hotels ist noch ein Bett frei, nicht einmal in der Halle.«
»Kein Problem«, sagte Virgilia. Sie verließ die laute Halle und stieg in die am Randstein wartende Droschke. Scipio, elegant gekleidet, in einem Mantel mit Samtaufschlägen und perlgrauen Handschuhen, betrachtete seine Frau mit leiser Mißbilligung.
»Warum hast du das getan?«
Sie küßte ihn auf die Wange. »Weil die Sache den Kampf nicht wert ist, Liebling. Ich will nicht an einem Ort bleiben, wo wir unhöflich behandelt und ständig angestarrt werden. Davon kriegen wir noch genug, wenn wir bei der Familie sind.« Sie bemerkte sein Stirnrunzeln und drückte seine Hand. »Bitte. Du weißt, daß ich immer auf die Barrikaden gehe, wenn es wichtig ist. Das ist nicht wichtig. Amüsieren wir uns.«
»Wohin wollen Sie jetzt?« rief der Fahrer herab. Er verbarg nicht, daß er alles andere als glücklich darüber war, einen schwarzen Mann und eine weiße Frau fahren zu müssen, ganz gleich, wieviel er dabei verdiente.
»Zum Negerviertel«, erwiderte Virgilia. Der Kutscher verzog das Gesicht und fuhr los.
»Bison?«
»Bunk, bei Gott!« Charles jubelte auf und stürzte auf seinen Freund zu, der gerade die Marmorstufen herabkam. Die Leute in der Lobby starrten den schlaksigen Mann in Grenzerkleidung an, der den kompakten kleinen Burschen im Geschäftsanzug stürmisch umarmte. Fragen und Antworten überstürzten sich.
»Hast du Brett und die Kleinen mitgebracht?«
»Ja. Sie sind oben. Wo steckt deine Frau? Ich möchte sie kennenlernen.«
»Erkundigt sich nach den Fahrplänen. Sie will mit dem Zug nach New York, um einen alten Freund zu besuchen.«
Sie gingen in die Saloon-Bar. Jeder studierte den anderen, bemerkte zahlreiche Veränderungen. Und obwohl sie voller Begeisterung und Wärme aufeinander zugingen, empfanden sie doch etwas Scheu voreinander; ihre Begegnung auf Mont Royal vor dem Krieg lag schon lange zurück.
Kinder schienen eine Brücke über die Jahre zu schlagen. »Ich hoffe, daß mein Ältester eine Zulassung zur Akademie erhält, wenn mein Bruder Stanley noch drei weitere Amtsperioden im Kongreß durchhält. Ist dein Junge nicht ungefähr im gleichen Alter wie G.W.? Sie könnten zusammen anfangen, genau wie wir.«
Nüchtern sagte Charles: »Ich bin mir nicht sicher, ob ich aus Gus einen Soldaten machen möchte.«
»Er brauchte ja nicht für immer dabei zu bleiben. Und es war schon immer die beste Ausbildung, die Amerika zu bieten hat.«
Charles Blick schien abzudriften, vorbei an den Rauchschwaden und den Gaslichtern, vorbei an den lärmenden Stammgästen zu einer fernen Zeit, einem fernen Ort neben einem Fluß im Indianerterritorium.
»Ich bin mir nicht sicher«, sagte er.
Willa entdeckte Amerikas Schauspieleras in einer dreckigen Pension in der Mulberry Street. Sie klopfte zweimal, erhielt keine Antwort und öffnete die Tür; er saß in einem Schaukelstuhl und starrte aus dem schmierigen, regenbesprenkelten Fenster. Die Aussicht beschränkte sich auf die nächste Mauer. Er wandte sich nicht um, als sie die Tür schloß. Er mußte taub geworden sein.
Der Anblick des kleinen Zimmers, in dem sich alte Koffer, Kostüme und Bücher mit ausgeschnittenen Kritiken türmten, brach ihr das Herz. Über der Tür hatte er ein Hufeisen aufgehängt. Die Chrysantheme in seinem Revers war verdorrt und braun. Eine schwarze Katze in seinem Schoß machte einen Buckel und fauchte sie an. Das brachte ihn dazu, sich umzudrehen.
»Willa, mein Kind. Ich hatte keine Ahnung, daß du heute hier bist.« In ihrem Telegramm hatte das genaue Ankunftsdatum und die ungefähre Ankunftszeit gestanden. »Bitte, komm herein.«
Als er sich erhob, bemerkte sie seine geschwollenen, verunstalteten Knöchel. Der Kontrast zwischen seiner runzligen Haut und dem lächerlich gefärbten Haar war traurig. Sie umarmte ihn liebevoll. »Wie geht's dir, Sam?«
»Nie besser gegangen! Nie besser! Für meine sechzig Jahre bin ich fit wie ein junger Bursche.« Sie wußte, daß er fünfundsiebzig war. »Komm, setz dich zu mir, damit ich dir die aufregenden Neuigkeiten erzählen kann. Ich hab' es aus bester Quelle, daß mich kein anderer als Mr. Joe Jefferson in den nächsten Tagen fragen wird, ob ich nicht für ihn zwei Wochen einspringen und den Rip van Winkle spielen kann, während er einen Urlaub am Meer genießt. Die Rolle liegt hier irgendwo rum. Ich habe sie studiert.«
Unter seinem Schaukelstuhl fand er ein paar alte Seiten, von denen er den Staub blies. Willa schluckte, gratulierte ihm und blieb die nächsten beiden Stunden bei ihm. Er döste in seinem Stuhl, als sie sich hinausstahl. Eine von Trumps verkrüppelten Händen ruhte bewegungslos auf dem Kopf der schnurrenden Katze.
Bevor sie das Gebäude verließ, suchte sie die Hausbesitzerin auf und gab ihr fünfzig Dollar, das Doppelte des Betrages, den sie jeden Monat heimlich von Texas für Sam Trumps Kost und Logis schickte.
Am Montag besuchten sie alle zusammen die Ausstellung. George stellte für jede Gruppe eine Kutsche zur Verfügung.
Sie sahen metallbearbeitende Werkzeuge von Pratt und Whitney. Eisenbahnsignalanlagen von Western Electric, Gorham-Sil-ber, Steingut von Haviland und Doulton, LaFrance-Motorsprit-zen, Seth-Thomas-Uhren, Pfizer-Chemikalien, Pianos von Stein-way und Chickering und Knabe und Fenway. Sie sahen Lokomotiven, Unterwasserkabelgerät, große Glaszylinder mit Erde aus verschiedenen Gegenden von Iowa, gewaltige Flaschen mit Rheinwein, tragbare Dampfkessel, Druckerpressen für Tapeten, Glasbläserutensilien, Mr. Graham Bells merkwürdiges Sprechgerät namens >Telephon< (George hielt es für unpraktisch und albern), riesige polierte Reflektoren, vierzig Zentimeter lange Maiskolben und sieben Fuß lange Weizenhalme, Möbel aus ge-schweiftem Holz, Skulpturen aus Butter, schwedische Schmiedeeisen mit reichen Verzierungen, russische Pelze, japanische Lackschirme, die neue europäische Schule für kleine Kinder namens >Kindergarten<, prächtige Orangen-, Palmen- und Zitronenbäume in der Halle für Gartenbaukunst. Tiffanys Halsband aus siebenundzwanzig Diamanten im Wert von mehr als achtzigtausend Dollar in Gold, Schaukästen mit ausgestopften Vögeln, Büchern, Mineralien, Kutschrädern, Bolzen und Nieten, Korsetts und falschen Zähnen, eine siebzehn Fuß hohe Kristallfontäne, mit Glasprismen behangen und von Gaslicht angestrahlt, eine Gipsskulptur von George Washington ohne Beine, der auf einem lebensgroßen Adler thronte (Madeline hielt sich den Mund zu und rollte mit den Augen) und Prototypen aus dem Patentbüro.
Sie tranken Sodawasser an Ständen in der Avenue und Kaffee im brasilianischen Kaffeehaus. Stanley mochte das Essen im >Aux Trois Frères Provençaux<, weil es so teuer war. Virgilia gefiel der Frauenpavillon und da vor allem die Zeitungsredakteure in der Mitte, wo Frauen an Schreibtischen Artikel schrieben, während andere Frauen die Typen setzten und eine Zeitung namens >New Century for Women< druckten; sie kaufte zwei Exemplare. Den Jungs gefiel Old Abe, der kahle Adler, der einem Bürgerkriegsregiment aus Wisconsin als Maskottchen diente; Abe war der Veteran von mehr als dreißig Schlachten; er saß so lange vollkommen regungslos auf seiner Stange, daß er wie ausgestopft wirkte, doch nach längerem Warten breitete er seine gewaltigen Flügel aus und richtete seinen wilden, stolzen Blick auf die Jungen, denen ein Schauer über den Rücken lief. George mochte besonders die runde, zehn Zentimeter hohe Bronzemedaille, auf der eine Frauengestalt mit einem Lorbeerkranz zu sehen war, die die Firma Hazard für ihre kunstvollen Schmiedesachen verliehen bekommen hatte; für außergewöhnliche Ausstellungsstücke hatten die Juroren der Hundertjahrfeier zwölftausend solcher Medaillen verteilt. Madeline gefiel die MississippiKabine, weil sie mit Spanischem Moos dekoriert war. Billy gefiel die 4-4-0-Baldwin-Lokomotive >Jupiter< der Santa-Cruz-Eisen-bahn. Charles hatte nichts übrig für die Zurschaustellung der indianischen Tipis, Pfeifen, Töpfe, Kostüme und anderer vom Smithsonian-Institut gesammelten Gegenstände, doch er sagte nichts, sondern ging lediglich schnell mit ernstem Gesichtsausdruck durch die Ausstellung. George sagte häufig Sachen wie: »Das ist der Beginn eines neuen Zeitalters« oder: »Und die Skeptiker behaupten, wir hätten nichts, was wir den ausländischen Mächten zeigen könnten«, doch alle waren so mit dem beschäftigt, was sie sahen, daß sie ihn gar nicht beachteten.
George bot Madeline seinen Arm und lauschte mit großem Interesse ihrer Beschreibung des neuen Hauses auf Mont Royal. Er versprach allen, daß es am nächsten Abend, dem 4. Juli, ein spektakuläres Feuerwerk geben werde.
Am gleichen Abend ließen Charles und Willa ihren Sohn Gus bei Billy Hazards Familie. Virgilia und Scipio kamen um sechs Uhr dreißig ins Hotel - niemand wußte genau, wo sie wohnten, aber es bedrängte sie auch niemand mit Fragen -, und die beiden Paare fuhren mit einer Droschke ins Maison de Paris, ein angesehenes Restaurant, in dem Charles einen Tisch reserviert hatte. Er war der Gastgeber des Abends. Seit 1869, so hatte er seiner Frau erklärt, fühlte er sich Virgilia verpflichtet.
Im Restaurant nahm der verbindliche Maître Charles beiseite. Charles erklärte ihm, daß Scipio Brown Virgilias Ehemann sei.
»Und wenn er der Kaiser von Äthiopien wäre«, flüsterte der Maître in seinem armseligen Englisch. »Farbige haben hier keinen Zutritt.«
Charles lächelte und starrte ihn an. »Möchten Sie, daß ich Ihre Meinung draußen auf dem Gehsteig ändere?«
»Draußen?«
»Sie haben gehört, was ich sagte.«
»Charles, es ist nicht notwendig ...«, fing Virgilia an.
»Oh doch, das ist es. Nun?«
Rot vor Zorn sagte der Maître: »Hier entlang.«
Er gab ihnen einen schlechten Tisch und mürrische Kellner. Es dauerte vierzig Minuten, bis sie ihre erste Flasche Wein bekamen, und anderthalb Stunden, bis ihr Essen kam; alle Gerichte wurden kalt serviert. Ihr Lachen klang bald schon gezwungen, und Virgilia schaute unter den feindseligen Blicken der anderen Gäste traurig und elend drein.
Weiße und rote Sterne explodierten über dem Ausstellungsgelände; die Begeisterungsrufe wurden lauter und lauter. Die sinnverwirrenden Farben zuckten über den gewaltigen kupfernen Unterarm und die Hand mit der Fackel von Bartholdis Freiheitsstatue, wie sie genannt wurde; sie schien aus dem Boden aufzusteigen, eine vergrabene Riesin, die im Begriff stand, die Erdkruste zu durchbrechen. Einige wenige glückliche Besucher betrachteten das Feuerwerk von der Aussichtsplattform an der Basis der erhobenen Fackel.
Madeline, die mit Jane in der Nähe der Statue stand, spürte plötzlich, daß jemand sie ansah. Sie schaute auf und begegnete Georges Blick.
Der kleine Alfred Hazard aus Kalifornien war auf Georges Armen eingeschlafen. Mit entwaffnender Freundlichkeit sah George über den Kopf seines Neffen hinweg Madeline an. Es lag nichts Unschickliches in seinem Blick, und einen Moment spä-ter wandte er seine Aufmerksamkeit wieder dem Himmel zu. Eine große silberne Lichtblume erblühte dort.
Madelines Kehle wurde jedoch merkwürdig trocken. George hatte sie anders als sonst angeschaut. Sie fühlte sich schuldig, erregt, erfreut und ein kleines bißchen verängstigt.
Der Carolina Club beanspruchte ein ganzes Stück Land jenseits der Nordgrenzen der Stadt für sich. Der Großbrand von Chicago hatte sich nicht so weit ausgedehnt, aber das galt auch noch für die Vororte. Trotzdem waren stets viele Pferde und Wagen auf der ansonsten verlassenen Straße unterwegs, die an dem vierstöckigen Haus vorbeiführte. Der Carolina Club war das größte und eleganteste Bordell der Stadt.
Die Besitzerin nannte sich Mrs. Brett. Am 4. Juli erwachte sie zu ihrer üblichen Stunde, 4 Uhr nachmittags. Im Nebenraum leerte ihr schwarzes Mädchen gerade den letzten Krug leicht erwärmter Ziegenmilch in eine Zinkwanne. Sie reckte und streckte sich, badete fünf Minuten in der Milch und rubbelte sich dann ab, bis ihre Haut rosig schimmerte. Sie hatte keinen Beweis dafür, daß die Milchbäder Jugend garantierten. Doch Dr. Cosmopoulos, Phrenologe, Professor für Elektromagnetismus und Verkäufer von Stärkungsmitteln und außerdem noch ein sehr großzügiger Kunde von ihr, behauptete es, und so waren die Bäder zur Gewohnheit geworden.
Sie streifte eine chinesische Seidenrobe über und frühstückte, frische Austern und Kaffee. Zum Abschluß zündete sie sich eine kleine Zigarre an, die sie dem östlichen Lackkästchen entnahm. Die Sammlung ihrer Knöpfe paßte nicht mehr in die kleine Kiste. Sie bewahrte sie nun gut sichtbar in einem großen Glasgefäß auf. Mittlerweile hatte sie über dreihundert Knöpfe beisammen.
Sie tupfte sich teures algerisches Parfüm auf Brüste, Kehle und unter die Arme. Mit Hilfe ihres Mädchens zog sie dann ein apfelrotes Seidenkleid mit einer riesigen Tournüre an. Sie streifte reich verzierte Ringe mit roten, grünen und weißen Steinen über ihre Finger und legte ein schweres Halsband, Armbänder mit aufgesetzten Diamanten und ein gewaltiges Diadem an. Um sechs Uhr dreißig verließ sie ihre Suite im dritten Stock und begab sich nach unten, um Knudsen, den energischen jungen Skandinavier, abzulösen, der sich ab zehn Uhr vormittags um das Tagesgeschäft kümmerte.
Eine ganze Menge Gentlemen umschwirrten bereits die hübsch gekleideten Mädchen in den vier Salons. Zusätzlich zu den weißen Mädchen in dem Bordell gab es noch eine Chinesin, drei Negerinnen und eine reinrassige Cherokee-Indianerin, die außerdem noch eine ausgezeichnete Klavierspielerin war. In diesem Moment spielte Prinzessin Lou gerade >The Yellow Rose of Texas< auf dem Klavier im Hauptsalon. Es war ein Fenway; sie empfand immer noch eine gewisse irrationale Loyalität.
Sie löste Knudsen ab und studierte gerade seine Abrechnung, als ein Kunde an der halb geöffneten Tür vorbeischwankte. Der Mann taumelte zurück und glotzte sie an.
»Ashton?«
»Guten Abend, LeGrand«, sagte sie, ihre Überraschung verbergend. »Willst du nicht hereinkommen? Schließ die Tür.«
Er tat es; der Geräuschpegel im Büro senkte sich beträchtlich. Villers betrachtete die Gemälde und die Marmordekorationen in dem verschwenderisch ausgestatteten Raum. Mit einem verblüfften Kopfschütteln schwankte er zu Ashtons Privatbar und goß sich ungeschickt einen Drink ein. »Schütt nichts auf meinen Teppich, der ist aus Belgien importiert«, sagte sie. »Und nur zu deiner Information, mein Name ist Mrs. Brett.«
»Ich kann's nicht glauben«, sagte Villers und ließ sich auf einen Stuhl neben dem großen Teakholzschreibtisch fallen. »Ich bin nie zuvor hier gewesen. Zwei Fenway-Verkäufer sind in der Stadt, also dachte ich, wir machen mal 'ne Runde. Wie lange leitest du diesen Betrieb schon?«
Ashtons Gesicht war glatt und sorgfältig gepudert, wirkte aber trotzdem etwas dicklich. Sie war vierzig und hatte Probleme mit ihrem Gewicht.
»Seit der Eröffnung. Das war kurz nachdem ich Will verlassen hatte. Ich war nicht gerade darauf vorbereitet, mich selbst zu ernähren. Die Erziehung eines anständigen Südstaatenmädchens besteht darin, daß man lernt, sich zu zieren und einen Knicks zu machen. Zumindest war das zu meiner Zeit so. Logischerweise ist man dann als Erwachsener nur zu zwei Sachen fähig: Ehefrau oder Hure. Im Falle meines ersten Mannes, der ein rückgratloser Taugenichts war, war ich ersteres und fühlte mich wie letzteres. Weißt du, LeGrand, die Ladys von Charleston würden mich für diese Worte lynchen, aber in letzter Zeit fange ich an zu glauben, daß die Suffragetten nicht vollkommen verrückt sind. Ich habe der hiesigen Ortsgruppe zwei Jahre nacheinander eine sehr großzügige Spende zukommen lassen.«
Sie täuschte einen prüden Ausdruck vor. »Selbstverständlich anonym. Ich möchte meinen Ruf nicht aufs Spiel setzen.«
Er lachte. »Wie hast du angefangen?«
»Mit Hilfe eines Gönners.«
»Ja, du würdest keine Schwierigkeiten haben, eine ganze Kompanie Gönner zu finden. Du bist so hübsch wie eh und je.«
»Ich danke dir, LeGrand. Wie geht's Will?«
»Macht Millionen, der alte Hundesohn. Die Juroren in Philadelphia haben unserem Ashton-Modell eine ihrer Bronzemedaillen verliehen. Ist das nicht was? Und jetzt erzähl mir, was passierte, als du so plötzlich verschwandest? An einem Tag kommst du von Carolina zurück und am nächsten - sss! Einfach weg!«
»Will und ich hatten einen größeren Streit.« Sinnlos, ihm mehr zu erzählen. Was ging es ihn an, daß sie unglücklicherweise an dem Tag nicht auf Château Villard war, als die Post den Brief mit Favor Herringtons letzter Rechnung brachte. Will war zu Hause und erholte sich gerade von seiner Sommergrippe. Er öffnete den Brief der ihm unbekannten Anwaltskanzlei und wollte dann von ihr wissen, weshalb sie einen Anwalt angeheuert hatte, wenn sie doch lediglich ihren eigenen Worten zufolge South Carolina einen Besuch abgestattet hatte. Sie wich aus, log, leistete so lange wie möglich Widerstand, doch er war ein sturer, alter Teufel, und der Erfolg hatte ihn nur noch stärker gemacht. Als sie ihn anschrie, eher würde sie in der Hölle schmoren, als ihm etwas zu sagen, meinte er nur achselzuckend, dann werde er eben Favor Herrington telegraphieren und eine Erklärung verlangen. Er werde seine Rechte als Ehemann einsetzen und darauf beharren, daß Herrington kein Berufsgeheimnis geltend machen könnte, da Ashton sein Geld ausgab. Entsetzt gestand Ashton, daß sie über einen auf ihre Bank gezogenen Kreditbrief eine gewaltige Summe für Mont Royal ausgegeben hatte.
Sie versuchte ihre Tat im besten Licht erscheinen zu lassen, aber sie wußte, daß es ihr nicht gelingen würde, als sie sah, wie seine Augen vor lauter Abscheu schmal wurden und sein Mund sich verzog. Als sie dann schließlich zugab, daß sie Mont Royal beinahe ihrer eigenen Familie weggenommen hatte, erinnerte er sich an seine Warnung, die er nach dem Mord am Schwager der Senora in Santa Fe ausgesprochen hatte.
»Ich sagte dir, ich würde niemals wieder eine solche Gemeinheit tolerieren. Ich liebe dich, Ashton, alter Narr, der ich bin. Aber ich will verflucht sein, wenn ich mit so einem verkommenen Menschen weiter zusammenlebe. Ich möchte, daß du deine Sachen packst und bis morgen mittag verschwunden bist.«
Villers sagte: »Ein Streit, sagtest du. Du hast dich von ihm scheiden lassen, ja?«
Ashton schüttelte den Kopf. Sie haßte das Gefühl sentimentaler Sehnsucht, das dieses Gespräch in ihr auslöste. Es war ein ihr nur zu vertrautes Gefühl. »Möglicherweise hat er sich von mir scheiden lassen.«
»Nicht daß ich wüßte«, sagte Villers. »Hat er eine Ahnung, wo du bist?«
»Nein, aber ich nehme auch nicht an, daß es ihn kümmert. Ich bin hier vollkommen glücklich«, log sie. »Wenn eine Frau ihre Gesundheit und ihre Schönheit und ein regelmäßiges Einkommen hat, was braucht sie da noch?« Warum hatte Will so verdammt anständig sein müssen? Mitten in der Nacht wünschte sie sich oft verzweifelt, sich unter der dicken Decke an seinen knochigen alten Leib schmiegen zu können.
Ihre dunklen Augen weiteten sich in ihrem weißgepuderten Gesicht. Die Art und Weise, wie Villers sie musterte, gefiel ihr gar nicht. »Was gibt's, LeGrand?«
»Ich denke bloß nach. Ich nehme an, du und Will, ihr müßt einen guten Grund für die Trennung gehabt haben. Aber er war dein Ehemann. Vielleicht ist er es immer noch. Es wird ihm sehr leid tun zu hören, was aus dir geworden ist.«
Ihr Herz schlug schneller. »Du würdest nicht so gemein sein und es ihm sagen.«
»Hast du immer noch was für den alten Bastard übrig?«
»Nein, das nicht, ich - ich möchte lediglich mein Privatleben schützen.«
»Ich werde es schützen.« Villers starrte sie an. »Im Austausch für eine kleine Erinnerung an die alten Zeiten.«
Ashtons herrliche Büste hob sich wie ein aus dem Wasser auftauchender Schiffsbug. Ganz empörte Vornehmheit, sagte sie: »Ich besitze den Carolina Club. Ich bin hier keine der Angestellten.«
Er schraubte sich vom Stuhl hoch. »In Ordnung. Dann kann ich natürlich nicht versprechen zu schweigen.«
Sie griff nach seiner Hand und fuhr mit dem Daumen über seine Handfläche. »Natürlich kann ich meine Einstellung jederzeit für einen Abend ändern.«
Villers leckte sich über die Lippen. »Kostenlos?«
Am liebsten hätte sie ihn geschlagen. Am liebsten hätte sie geweint. Lächelnd warf sie den Kopf zurück; ihr kunstvoll arrangiertes dunkles Haar schimmerte.
»Selbstverständlich. Ein Freund muß nie bezahlen.«
Später, während die Noten von Prinzessin Lous >Hail, Colum-bia< nach oben trieben, kam LeGrand Villers zum drittenmal, ohne sie ein einziges Mal zum Höhepunkt gebracht zu haben.
Als er sich von ihr rollte, berührte er zufällig die sanft gerundete Fettwulst an ihren Hüften, die wuchs und wuchs, ganz gleich, wie wenig sie aß. Der Fenway-Verkaufsmanager war höflich genug, nichts zu sagen, doch sie spürte, wie seine Finger zögerten, bevor sie von ihrem Bauch abglitten.
Diese Berührung ließ irgend etwas in ihr zerbrechen. Sie war eine starke und erfolgreiche Frau, doch ihr blieb nichts weiteres als der langsame Zerfall ihrer Schönheit und das Warten auf den Tod. Und immer wieder würde sie mit dieser Tatsache konfrontiert werden.
Kurz darauf schnarchte Villers. Ashton lag auf der Seite, die Hände unter dem Kinn, die Knie bis zu den Brüsten hochgezogen; mit großen Augen wünschte sie sich, sie wäre wieder ein Kind, das mit Brett auf Mont Royal spielte.
Am Donnerstagabend versammelten sich in einem vom Hotel zur Verfügung gestellten privaten Speisesaal siebenundzwanzig Familienmitglieder der Mains und der Hazards. Auf einer Staffelei am offenen Ende des Hufeisentisches war die Fassade mit den weißen Säulen des neuen Hauses der Mont-Royal-Plantage zu sehen. Madeline beschrieb das Haus und lud dann alle ein, wann immer es ihnen möglich war, zu Besuch zu kommen. Begleitet von herzlichem Applaus setzte sie sich wieder.
George erhob sich. Es war still im Saal bis auf das Rascheln von Willas Rock; sie schaukelte den kleinen Alfred auf ihren Knien, um ihn zu beruhigen. Bald schon begann er, den Daumen im Mund, zu dösen.
George räusperte sich. Charles zündete sich die nächste Zigarre an, deren Rauch schwer im Raum hing.
»Ich bin froh, daß wir an diesem monumentalen Jahrestag zusammen sind. Wir haben so vieles Wichtiges gemeinsam, obwohl dazu unglücklicherweise nicht die gute republikanische Politik zählt.«
Alle lachten, Champ Nevin genauso herzlich wie die anderen. Zwei Plätze weiter hustete Stanley betont auffällig in sein Taschentuch und warf Patricias Ehemann Seitenblicke zu. Zuvor hatten sich Stanley und der junge Zeitungsmann in den Haaren gehabt; es war dabei um Grants Staatsvertrag von 1869 über die Annexion von Santo Domingo gegangen, der von den Emissären des Präsidenten ohne Wissen oder Zustimmung des Kongresses oder Kabinetts ausgehandelt worden war. Der Senat hatte den Vertrag für null und nichtig erklärt; die ganze Affäre hatte den Startschuß dafür gegeben, daß wichtige Republikaner wie George vom regulären Flügel der Partei abfielen und einen neuen Reformflügel bildeten. Stanley hätte beinahe einen Herzanfall bekommen, als Champ Nevin Grants Vorgehen als >krimi-nell< bezeichnete.
George fuhr fort: »Ich bemühte mich gerade um einige passende Bemerkungen, als mir das Plakat zum Unabhängigkeitstag der Stadt Philadelphia einfiel. Habt ihr es gesehen?« Einige nickten. »Erlaubt mir, es zu zitieren.« Er las die Worte über 1776 und 1876 vor.
»Das ist eine prägnante Zusammenfassung unseres Landes und unseres eigenen Lebens. Seit die Mains und die Hazards durch eine auf der Militärakademie geschmiedete Freundschaft zueinander fanden, haben wir uns alle geändert, und das trifft auch auf die Nation zu. Nie wieder werden wir das sein, was wir waren, mit einer Ausnahme. Unsere Zuneigung zueinander ist unwandelbar.«
Nie wieder das, was wir waren, dachte Madeline. Wie recht er hat. Constance war tot. Cooper war nicht eingeladen worden, obwohl ein jeder lebhaft Judiths Abwesenheit bedauerte. Ashton befand sich höchstwahrscheinlich mit ihrem Millionärsgatten in Chicago - kein Verlust. Charles und Billy, deren Leben so unterschiedliche Bahnen eingeschlagen hatten, gingen trotz ihrer starken Bindungen aus der West-Point-Zeit deutlich befangen miteinander um.
Dort drüben saß Stanley gelangweilt und mit leerem Gesichtsausdruck neben seinem flegelhaften Sohn und grübelte zweifellos darüber nach, weshalb er Georges Einladung zu der Wiedersehensfeier angenommen hatte.
Und, das Wichtigste von allem, ihr geliebter Orry war nicht mehr ...
»Diese Zuneigung hat uns durch eine Zeit der nationalen Krisen und Bewährungsproben getragen«, sagte George. »Während der düsteren Kriegstage und im politischen Hader ist das Band dünn geworden, aber niemals gerissen. Es bleibt bis zum heutigen Tage stark.
Meine Mutter glaubte, der Berglorbeer besitze eine ganz spezielle Kraft, die es ihm ermögliche, den Verheerungen der Jahreszeiten zu widerstehen. Sie sagte, nur Liebe und Familienbande könnten eine ähnliche Kraft in menschlichen Wesen erzeugen, und ich glaube, das stimmt. Ihr seid der Beweis dafür. Wir waren zwei Familien, die zu einer wurden, und wir haben überlebt. Diese Kraft und Nähe, geboren aus Freundschaft und Liebe, ist eine der großen Gaben, die uns Orry Main hinterlassen hat; das ist auch der Grund, weshalb er heute abend mitten unter uns ist. Ich liebte meinen Freund Orry, und ich liebe jeden einzelnen von euch. Danke, daß ihr nach Philadelphia gekommen seid, um - um zu ...«
Er räusperte sich erneut, senkte dann den Kopf. Schnell rieb er sich mit einem Finger über das rechte Auge.
»Ich danke euch«, sagte er in das Schweigen hinein. »Gute Nacht.«
Charles und Willa waren die ersten, die den Speisesaal verließen. Charles bemerkte eine eigentümliche Stille in der Halle. Gäste unterhielten sich im Flüsterton oder standen zeitungslesend da. Er tätschelte Gus' Schulter und ging auf die Rezeption zu.
Der Angestellte senkte sein Exemplar des >Inquirer<.
»Was ist passiert?« erkundigte sich Charles.
Mit blassem Gesicht sagte der Angestellte: »General Custer ist massakriert worden. Und all seine Männer mit ihm.«
GEWALTIGE INDIANERSCHLACHT Mörderischer Kampf im Westen Die Erde übersät mit Leichen Über dreihundert Tote
DAS INDIANERMASSAKER Bestätigung der traurigen Nachricht Allgemeiner Indianerkrieg erwartet
LISTE DER TOTEN UND VERMISSTEN
GEN. CUSTER GANZ OBEN AUF DER LISTE Sein Bruder stirbt an seiner Seite
DER INDIANERKRIEG Wie tief sind die Mächtigen gestürzt Erste Gerüchte nur zu wahr
ACHTUNDVIERZIG-STUNDEN-KAMPF Rettung naht zum Schluß
Ursache der Katastrophe
CUSTER HANDELTE UNVERANTWORTLICH ÜBERSTÜRZT
Philadelphia Inquirer
6./7./8. Juli 1876
Das Mondlicht fiel auf die Dächer von Philadelphia und das Gesicht des Mannes am Hotelfenster. Außer seinen Hosen hatte er nichts an. Es war halb zwei. Er konnte nicht schlafen. Aus diesem Grund fand auch Willa keinen Schlaf. Er hörte, wie sie sich in dem Bett hinter ihm bewegte.
Nachdenklich sagte er: »Ich bin froh, daß Magee uns auf der Ranch besucht, wenn er seinen Urlaub kriegt. Ich möchte wissen, was er von dem Massaker hält.«
»Es regt dich auf, nicht wahr?«
Charles nickte.
»Was hältst du davon?« fragte sie.
»Läßt sich schwer sagen, wenn man die Fakten nicht kennt. Die Berichte sind immer noch reichlich wirr. Kaum, daß zwei davon übereinstimmen. Mir tun die Männer leid, die unter Custer dienten, mir tut seine Frau leid, aber, Gott helfe mir, um ihn kann ich keine Trauer empfinden. Ich weiß nicht, Willa, es ist, wie - man sieht, wie ein Rad eine volle Umdrehung macht. Viele Männer sagten, Custer habe uns zum Washita gebracht, weil seine Reputation unter der Disziplinarstrafe gelitten hatte und er die Gunst der Öffentlichkeit zurückgewinnen wollte. Er brauchte einen Sieg. Er bekam ihn auch, aber es war ein schmutziger Sieg. Den Washita konnte er nie ganz vergessen machen; es klingt so, als hätte er es diesmal durch die Erinnerung eines anderen Sieges versucht. Es gibt einige Hinweise darauf, daß er Befehle mißachtet hat und einfach vorgeprellt ist.«
Er atmete lang und tief aus. »Ich glaube immer noch, er jagte hinter der Präsidentschaft her, nicht hinter den Sioux. Jetzt, wo er tot ist, würde ich gerne sagen, der arme Hundesohn war mir sympathisch, aber das war er nicht.«
Sie hörte aus seiner Stimme die Verwirrung heraus, das Echo trauriger Erinnerungen. In dem schwachen Licht sah er ihre ausgestreckte Hand schimmern. »Ich liebe dich, Charles Main. Komm, laß mich dich in die Arme nehmen.«
Er war auf dem halben Weg zum Bett, als Gus aufschrie.
In wilden Sätzen stürzte er aus dem Raum, durchs Wohnzimmer und in das kleine Schlafzimmer. Gus kämpfte mit dem Bettlaken, rollte sich weinend hin und her. »Tu das nicht, tu das nicht.«
»Gus, ich bin's, Papa, ist doch gut. Alles ist gut!« Er nahm den Jungen in die Arme und preßte ihn an sich. Er streichelte sein Haar. Es war schweißfeucht.
Charles lehnte sich zurück, und Gus starrte ihn verwirrt an. Im Mondlicht wirkte die Narbe fast schwarz. Lautlos verfluchte Charles alle Bents und Custers dieser Welt. Gus' riesige, entsetzte Augen nahmen ihn allmählich wahr. »Papa!«
Charles' Schultern sackten herab. Die Spannung verließ ihn. »Ja«, sagte er.
Virgilia war die einzige Weiße in dem kleinen, schlichten Restaurant. Sie und Scipio hatten sich hier mit Jane zu einem Abschiedsfrühstück getroffen. Eier, gebratener Fisch, Maisbrot -alles köstlich heiß und frisch. An den anderen Tischen saßen Leute, die offensichtlich aus dem Quartier stammten. Der Sohn des Kochs machte den Kellner.
»Ich bin froh, daß wir uns treffen konnten«, sagte Virgilia, als sie mit dem Frühstück fertig war.
Jane sagte: »Ich auch. Ich wollte, mein Mann hätte die Ausstellung sehen können.« Kein Selbstmitleid schwang in diesen Worten mit; es war nichts weiter als eine ernste Feststellung.
»Ich weiß nicht recht«, sagte Scipio.
»Was meinst du?« fragte Virgilia.
»Ich bin mir nicht sicher, ob wir viel zu feiern haben.« Er legte seine Hände auf das alte Tischtuch. »Der Krieg endete vor elf Jahren. Das ist keine lange Zeit, doch manchmal denke ich, daß alles schon wieder dahin ist, was durch den Krieg erreicht wurde. Gestern las ich, was an zwei verschiedenen Türen an einem Gebäude in der Stadt stand. Nur für Weiße. Nur für Farbige.«
Jane seufzte: »So was gibt's bei uns in South Carolina noch nicht, aber es wird wohl nicht mehr lange dauern. Der Klan schreit weiterhin >Nigger! Nigger!<, die Weißen protestieren gegen die Schulsteuern, wir können die öffentlichen Verkehrsmittel nicht mehr benutzen, die Hampton-Rothemden sind los, die Demokraten werden im Herbst gewinnen, die letzten Soldaten werden abgezogen - der Krieg ist bei weitem nicht gewonnen. Du hast recht. Vor ein paar Jahren sah alles hell und strahlend aus, und jetzt wird es wieder dunkel. Ich glaube, wir fallen direkt wieder in das Jahr 1860 zurück.«
Scipio sagte: »Ich bin der gleichen Meinung.«
Jane bedeckte für einen Moment ihre Augen, schüttelte dann den Kopf. »Manchmal bin ich des Kämpfens so müde.«
»Aber wir dürfen nicht aufgeben«, sagte Virgilia. »Wenn wir nicht zu unseren Lebzeiten siegen, dann siegen wir eben in hundert Jahren. Würde ich das nicht glauben, ich könnte keinen weiteren Tag leben.«
Draußen umarmten sich Jane und Virgilia; dann machte sich Jane auf den Weg zu dem Hotel mitten in der Stadt, das sie und Madeline heute verlassen würden. Virgilia hängte sich bei ihrem Mann ein, und sie schlenderten in entspanntem, nachdenklichem Schweigen die drei Blocks zu ihrer Unterkunft. In einer Hütte weinte ein Baby. Ein gelblicher Hund mit räudigen Stellen kratzte sich neben einem Schlammloch. Es fing an zu regnen.
Ein paar weiße Jungs, ungefähr zehn oder elf Jahre alt, die wahrscheinlich aus dem nahegelegenen Bezirk irischer Einwanderer stammten, schlichen hinter ihnen her; ganz plötzlich warfen sie mit Steinen nach ihnen und brüllten: »Niggerhure!« Sci-pio verjagte sie ohne große Probleme. Hinterher merkte er voller Erstaunen, daß seine Frau weinte.
Er wollte nach dem Grund fragen. Sie schüttelte den Kopf, lächelte ihm zu und nahm wieder seinen Arm. Sie gingen weiter den Weg zwischen den elenden Hütten entlang, und Virgilia dachte daran, daß sie hier ganz in der Nähe vor vielen Jahren mit Grady gelebt hatte. Genau wie Jane empfand sie ein Gefühl der Entmutigung.
Sie klammerte sich fester an Scipios Arm, zog Kraft und Stärke aus der Berührung. Sie gingen weiter. Es regnete heftiger.
George hatte die kleine Ansprache seit Tagen geübt. In dem allgemeinen Durcheinander des Abschieds auf dem Bahnhof brachte er wie ein schüchterner Junge kein Wort heraus. In dem Augenblick, in dem er Madeline von Jane fortzog, vergaß er jedes Wort, das er sich eingeprägt hatte.
Röte stieg ihm in die Wangen. »Ich hoffe, du hältst es nicht für unschicklich ...«
»Ja, George?« Sie betrachtete ihn abwartend mit freundlicher Gelassenheit. Er geriet fast ins Stottern.
»Ich würde mich selbst verfluchen, wenn ich das Andenken an Orry in irgendeiner Weise entehren würde .«
»Ich bin mir sicher, daß du das niemals tun würdest, George.«
»Ich möchte dich gerne fragen - das heißt, würdest du es jemals in Erwägung ziehen - ich meine, was ich sagen will - Madeline, der Herbst ist eine herrliche Jahreszeit im Lehigh Valley. Würdest du es in Erwägung ziehen, mich auf Belvedere zu besuchen und dir von mir das, äh ...«, er kämpfte mit dem nächsten Wort wie ein liebeskranker Schwan, »Laub zeigen lassen?«
Es erheiterte und rührte sie zugleich.
»Ja, das würde ich gewiß in Erwägung ziehen. Ich glaube, es würde mir sogar viel Freude machen.«
Vor lauter Erleichterung wurde er ganz blaß. »Wunderbar. Bring Jane mit, wenn du eine Begleiterin wünschst. Würde dir dieser kommende Herbst passen?«
Ihre Augen erwärmten sich. »Ja, George. Ein Besuch in diesem Herbst wäre wunderbar.«
Der Herbstwind wehte durch das Tal. Der Sonnenuntergang warf orangefarbenes Licht über die Dächer von Lehigh Station, die Schornsteine von Hazards, die Flußkrümmungen, die lorbeerbedeckten Höhen. Madelines dunkle Haare, die sie vor dem Spaziergang so sorgfältig arrangiert hatte, umflatterten ihre Schultern.
George behielt seine Hände in den Taschen seiner grauen Hosen. Ihr zu Ehren trug er eine kleine, weiße Rose in seinem schwarzen Jackenaufschlag. Sie und Jane waren am Morgen mit dem Zug angekommen.
»Ich bin sehr froh, daß du gekommen bist«, sagte er mit offensichtlicher Mühe. »Ich finde es weder leicht noch angenehm, die ganze Zeit allein zu sein.«
»Genau so geht es mir auch.« Etwas noch Geistloseres fiel ihr nicht ein. Seine Gegenwart, seine Männlichkeit verwirrten sie auf unerwartete Art und Weise. Sie mochte ihn und hatte Schuldgefühle.
Sie kletterten den ausgetretenen Pfad empor. Der Lorbeer wogte im Wind. »Ich erinnere mich, wie ich hier mit Constance hochgegangen bin, an dem Abend, bevor ich zu Beginn des Krieges nach Washington ging. Ich dachte, ich sei in neunzig Tagen wieder zu Hause.« Er lächelte schief. »Mein Gott, wir waren solche Unschuldslämmer. Ich hatte keine Ahnung, worauf wir uns da wirklich eingelassen hatten.«
»Niemand hatte eine Ahnung.«
»Es war die gewaltigste Erfahrung, die wir in unserem Leben gemacht haben.«
»Die Dinge wirken jetzt im Vergleich dazu ein bißchen gewöhnlich und alltäglich, nicht wahr?«
Er wich ihrem Blick aus. »Ja. Sie erscheinen auch irgendwie unvertraut. Weil Constance nicht mehr ist. Und Orry.«
Sie nickte. »Ich vermisse ihn schrecklich.«
Sie kletterten höher. Mit rotem Gesicht platzte George heraus: »Ich bin wirklich froh, daß wir dieses Treffen im Juli hatten.«
»Ja, wirklich. Was du bei diesem wunderbaren Essen sagtest, war absolut richtig. Unsere Familien sollten in enger Verbindung bleiben.«
Nach einer langen Pause: »Ich würde gern dein neues Haus sehen, Madeline.«
»Du bist jederzeit auf Mont Royal willkommen.«
Der Wind fauchte über die Gipfel der Berge. Lampen und Gaslichter leuchteten unten in der Stadt auf, ein dunstiges Gelb, ein dunstiges Blau. Ganz plötzlich stolperte George.
»Guter Gott«, rief Madeline, seine Schultern umklammernd, während er sich wieder aufrichtete. Sie war sich seiner Körpergröße bewußt. Er war einen ganzen Kopf kleiner als sie, jedoch ein richtiges Energiebündel - obwohl sein Gesicht jetzt den einfältigen Ausdruck eines Jünglings zeigte.
Auch sie kam sich nicht sehr erwachsen vor. Sie hatte ein flaues Gefühl in der Magengegend. Sie hatte gewußt, daß dieser Moment kommen würde, seit sie seinen Blick in Philadelphia bemerkt hatte.
»Madeline, ich rede nicht gern um den heißen Brei herum. Ich - ich halte sehr viel von dir - und das nicht nur, weil du die Witwe meines besten Freundes bist. Ich will - ich will dich nicht drängen. Aber ich möchte dich gern fragen - wärst du empört, wenn ich vorschlagen würde, daß du und ich - vielleicht in angemessener Zeit .«
Er schaffte es nicht, den Satz zu beenden. Sie schob sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. »Ich würde es begrüßen, wenn ich richtig verstanden habe, was du sagen wolltest, George. Solange es keine Verwirrung wegen meiner Vergangenheit gibt. Meiner Herkunft.«
»Nein«, sagte er; seine Stimme klang plötzlich sehr stark und kräftig. »Das spielt nicht die geringste Rolle.«
»Gut.«
Er räusperte sich erneut, stellte sich auf die Zehenspitzen und gab ihr einen keuschen Kuß auf die Wange.
Sie berührte kurz seinen Arm, ließ dann die Hand fallen. Er begriff, daß sie damit ihr Einverständnis ausdrücken wollte, und begann über das ganze Gesicht zu strahlen.
In der nahenden Dunkelheit stiegen sie höher. Er sagte, er wolle ihr gern den Krater zeigen, den der Meteor im Frühjahr 1861 wie ein Vorbote von Gottes Zorn geschlagen hatte. »Ich habe ihn auch seit einem Jahr nicht mehr gesehen. Hier wächst nichts. Die Erde ist vergiftet.«
Sie folgten einer Windung des Pfades und sahen vor sich eine tiefe, smaragdgrüne Mulde im Berg. »Das ist nicht .«
»Doch, das ist es«, sagte er mit gedämpfter Stimme.
»Wie hübsch.«
Der Wind fuhr in den Krater und bewegte sanft das an den Abhängen und auf dem gewölbten Grund wachsende Sommergras, während die Nacht sich herabsenkte.
MADELINES JOURNAL
November 1876. Es herrschte große Verwirrung, wer die Wahl gewonnen hat, in South Carolina und in der gesamten Nation. Ich habe wenig dafür übrig. Die Engstirnigkeit im Staat widert mich an, vor allem wenn sie auf jemanden abfärbt, der den Namen Main trägt. Cooper prahlte Judith gegenüber, daß er nicht nur einem Hampton-Club angehöre, sondern auch einer jener extremen Demokraten sei, die sämtliche Neger vollkommen aus dem politischen Prozeß ausschalten wollen. Wie sehr unterscheidet er sich doch von dem Cooper, den ich einst kennengelernt habe ...
Die Politik ist nicht der wirkliche Grund für meine Verwirrung und Zerstreutheit. George drängt mit seiner Werbung. Heute wieder ein Brief.
... Den größten Teil der Nacht wachgelegen. Ich werde ihn heiraten. Hoffentlich tue ich das richtige ...
G. kommt zu Weihnachten zu Besuch. Er spricht in seinem letzten Brief von einer Verlobungsanzeige. Ich liebe ihn nicht; ich mag ihn und bewundere ihn. Genau das habe ich ihm auch gesagt. Es hält ihn nicht ab. Vielleicht werde ich ihn einst lieben, aber bestimmt nicht auf die gleiche leidenschaftliche Art und Weise wie dich, Liebster ...
Da ich mit G. ein neues Leben beginnen werde und dieses Buch für dich bestimmt ist, werde ich nur noch einige wenige Gedanken niederschreiben.
G. und ich werden unsere Zeit zwischen Mont Royal und Pennsylvania aufteilen. Schwierigkeiten werden unvermeidlich sein. Wir haben uns beide feierlich versprochen, sie zu bewältigen ...
George entfernte sich von dem Haus, ging zu der Stelle, wo der Rasen zum Ashley hin abzufallen begann. Sein Blick kletterte langsam an der weißen Säule neben der Doppeltür empor. Zweieinhalb Stockwerke hoch stieg die Säule in den blendenden Weihnachtshimmel.
Im Haus bereitete Madelines Personal lachend und scherzend das Festmahl zu. Die Dienerschaft bestand nur aus Schwarzen, die alle ein festes Gehalt bekamen. Doch es lag weder daran noch an dem Silberreiher, der träge über die Baumkronen strich, daß George das Gefühl hatte, in einem anderen Land zu sein.
Madeline beobachtete seine zufriedene Miene, was wiederum ein Lächeln bei ihr auslöste. George seufzte und kehrte zu ihr zu der Tür zurück. Er nahm ihre Hand.
»Es ist ein herrliches Haus. Orry wäre stolz darauf. Und in Wirklichkeit gehört es ja auch ihm. Ich kann nicht darin wohnen, nicht einmal für einen Teil des Jahres. Es wäre einfach nicht richtig.«
»Es tut mir leid, George. Allerdings überraschen mich deine Worte nicht. Nun, es macht nichts - ich habe es in seinem Andenken gebaut, und es ist genügend Geld da, um es der Familie zu erhalten. Wenn Theo besser etabliert ist, können vielleicht er und Marie-Louise mit ihren Kindern in das Haus ziehen. Da ich deine Gefühle vorausahnte, habe ich mir letzten Donnerstag ein hübsches Stadthaus in Charleston angesehen. Ich habe eine Anzahlung geleistet, um mir das Vorkaufsrecht bis Anfang des
Jahres zu sichern. Wenn du damit zufrieden bist, dann werde ich auch damit zufrieden sein.«
»Oh, ich bin überzeugt davon, daß es mir gefällt.« Er reckte sich, um sie auf die Wange zu küssen. »Frohe Weihnachten, meine Liebe.«
... Ich habe ein zu schlechtes Gewissen, um weiterschreiben zu können; ich muß Schluß machen. Du weißt, daß Du unvergessen bleibst, mein Liebster. Ich werde Dich immer lieben. Madeline
Madeline schloß das Journal. Sie fand ein Stück weißes Satinband und verschnürte das Buch wie ein Paket; zum Schluß machte sie eine kleine Schleife. Sie stieg die rechten Stufen der großen Doppeltreppe hinauf, die sich wie zur Begrüßung ausgestreckte Arme von oben herabschwang, und kletterte dann eine kleinere Treppe zu einer Tür hoch, die zu einem der weitflächigen Räume unter den Dachbalken führte.
Sie nahm eine Lampe von einem kleinen Tisch, zündete sie an und betrat das Dachgeschoß. Neben einem der breiten Backsteinkamine, die das Haus zu beiden Seiten begrenzten, stand ein kleiner, roter Lederkoffer mit runden Messingbeschlägen und einem Messingschlüssel in einem Messingschloß. Sie öffnete den Deckel. In dem Koffer lagen elf weitere, mit einem Band verschnürte Schreibhefte, genau wie das, welches sie in ihrer Hand trug. Sie legte das neue Heft hinein, betrachtete die Büchlein nachdenklich, klappte dann den Deckel zu und drehte den Schlüssel im Schloß. Sie verließ das Dachgeschoß, löschte die Lampe, ging mit dem Schlüssel zu ihrem Schreibtisch und bereitete ein Papierschildchen vor. Sie beschriftete das Schildchen mit Tinte - zur Identifizierung des Schlüssels - und band es mit einem kräftigen Zwirn an. Dann legte sie den Schlüssel in eine kleine Schublade des Schreibtisches, für welche Nachkommen auch immer. Es war der Neujahrsmorgen 1877.
Die Wahlen friedlich durchführen, wenn wir können, mit Gewalt, wenn wir müssen.« Das war der schriftlich veröffentlichte Mississippi-Plan aus dem Jahre 1874. Man hatte alle weißen Wähler durch gesellschaftlichen Druck oder durch Gewaltandrohung in die Demokratische Partei gezwungen und die Schwarzen so eingeschüchtert, daß sie überhaupt nicht wählten; auf diese Weise hatte man Mississippi gesäubert.
1876 behalf sich South Carolina mit den gleichen Methoden.
In diesem Jahr sahen sich die Republikaner in sämtlichen Staaten einem schwierigen Wahlkampf gegenüber. Viele in der Partei wollten sich von den aus politischen Abenteurern bestehenden Regierungen lösen, die immer noch in Florida, Louisiana und South Carolina an der Macht waren. Die Mehrheit der amerikanischen Bevölkerung betrachtete das Gesetz des Bajonetts im Süden als Fehlschlag.
South Carolinas Gouverneur, Daniel Henry Chamberlain aus Neuengland, war ein kalter, glatter Mann, vor kurzem noch Justizminister des Staates. Er war zwar etwas ehrlicher als sein Vorgänger, aber nichtsdestoweniger Republikaner. Also ritten die Hampton-Clubs gegen ihn und seine Anhänger.
Die Lage im Staat war explosiv. Während des Rassenaufstands im Juli in Hamburg hatten Weiße fünf schwarze Gefangene hingerichtet. Im August führte Calbraith Butler, Charles Mains alter Kommandeur bei der Hampton-Legion und nun ein militanter Demokrat, bewaffnete Männer zu einer republikanischen Wahlveranstaltung für Chamberlain in Edgefield. Dort besetzte er das Rednerpult, verlangte Sprechzeit, beschimpfte Chamberlain und dessen Partei und zerstreute die Wahlkundgebung in alle Winde.
Die Gewalt eskalierte. Neger-Demokraten, die eine Versammlung in Charleston verließen, wurden von Neger-Republikanern angegriffen; es kam zu einer regelrechten Schlacht in der King Street. Ein weiterer Rassenaufruhr ließ Ellenton im Aiken County erbeben. Herumstreifende Banden von Schwarzen, verärgert über die niedrigen Löhne in den Combahee-River-Reisfel-dern, brannten eine Kneipe in der Nähe von Beaufort nieder und rissen die Schienen auf, um einen Zug nach Port Royal entgleisen zu lassen.
Aufgrund solcher und ähnlicher Vorfälle wurden weitere Truppen nach South Carolina geschickt. Tausende von Deputy-Marshalls beobachteten die Stimmenabgabe. Im Kielwasser weiterer Hilferufe schickte Präsident Grant am 17. Oktober durch General Thomas H. Ruger eine Proklamation, in der er die Auflösung sämtlicher Hampton-Clubs befahl. Die meisten änderten lediglich ihren Namen.
7. November. Wahltag. Trotz der Gegenwart von Soldaten und Marshalls wurden Männer, die als Einwohner von Georgia und North Carolina bekannt waren, in grenznahen Wahllokalen in South Carolina gesehen. Reitertrupps galoppierten von Ort zu Ort und wählten überall. Im berüchtigten Edgefield County, wo die Weißen ihre Stimmen im Gericht abgaben, wurden Schwarze, die den Mut aufbrachten, in ein winziges Schul-haus geschickt, in das nicht alle hineinkamen, bevor die Wahllokale schließen mußten. Einige mutige Schwarze marschierten zum Gericht, um zu protestieren und ihr Recht zu fordern. Bewaffnete, von M.W. Gary, dem heftigsten Befürworter des Mississippi-Plans im Bezirk, organisierte Männer trieben sie zurück.
Der Schatten des Betrugs fiel über den Staat und das Land.
Umstrittene Stimmenauszählungen in Florida, Louisiana und South Carolina stellten den Ausgang der Präsidentenwahl in Frage. Der Demokrat Samuel Tilden benötigte zum Sieg lediglich noch eine Wahlliste; Rutherford B. Hayes benötigte neunzehn. In den drei umstrittenen Staaten mußte neu ausgezählt werden.
Anfangs schien es, als hätte South Carolina beiden Parteien einen Sieg ermöglicht. Hayes hatte seine Wahl knapp gewonnen; ein ähnlich knapper Sieg ging an Gouverneur Hampton und seine demokratischen Legislatoren.
Dann begann die zweite Zählung. South Carolinas Wahlstimmenprüfungsausschuß war republikanisch; diese Offiziellen ließen genügend demokratische Stimmen unter den Tisch fallen, um Hayes' Sieg sicherzustellen, während sie den Sieg von Hampton und dessen Kandidatenliste für null und nichtig erklärten. Gouverneur Chamberlain bekam eine weitere Amtszeit zugestanden, und die Republikaner erhielten die Mehrheit in der gesetzgebenden Körperschaft. Die Demokraten brüllten Betrug.
Gouverneur Chamberlains Position war sehr schwach. Ende November schickte Grant weitere Truppen, um ihn an der Macht halten zu können.
Demokratische Legislatoren wurden in der gesetzgebenden Körperschaft von dem republikanischen Sprecher E.W.M. Ma-ckey abgewiesen. Die Demokraten organisierten sich in der Carolina Hall und wählten William Wallace zu ihrem Sprecher.
Am 7. Dezember wurde Gouverneur Daniel Chamberlain feierlich in sein Amt eingesetzt.
Am 14. Dezember wurde Gouverneur Wade Hampton in einer getrennten Zeremonie feierlich in sein Amt eingesetzt.
Beobachter waren sich nicht schlüssig, ob sie nun einer Komödie oder einer Tragödie beiwohnten. Vier Tage lang trafen sich republikanische und demokratische Legislatoren in der gesetzgebenden Körperschaft. Beide Sprecher behandelten Anträge und leiteten Debatten. Es gab parallele Wahlaufrufe und parallele Stimmabgaben. Keine Gruppe erkannte die Anwesenheit der anderen Gruppe an. Doch ähnlich den Soldaten der Union und der Konföderation, die sich in den Gräben bei Petersburg gegenübergelegen hatten, gingen die Gegner allmählich freundschaftlicher miteinander um. Als die Republikaner ihre Gasrechnung zu bezahlen vergaßen und die Gesellschaft die Versorgung der Halle einstellte, bezahlten die Demokraten die fällige Rechnung.
Die Belastung durch zwei in einer Kammer operierenden gesetzgebenden Körperschaften erwies sich als zu groß, von der allgemeinen Konfusion ganz zu schweigen. Die Wallace-Ver-sammlung kehrte in die Carolina Hall zurück. Dann entschieden die Gerichte, daß Hampton und die Wallace-Legislative die rechtmäßigen Anwärter seien, doch Chamberlain weigerte sich, das Parlamentsgebäude zu verlassen. Bewaffnete Truppen hielten ihn weiterhin im Amt.
Der Kongreß schuf eine spezielle Wahlkommission, bestehend aus fünf Senatoren, fünf Abgeordneten, fünf Richtern des Obersten Gerichtshofs, die als Schiedsrichter bei den umstrittenen nationalen Auszählungen auftreten sollte. Am 9. Februar 1877 bestätigte die Kommission die offizielle Zweitzählung in Florida zugunsten von Hayes. Am 16. Februar bestätigte die Kommission die Louisiana-Zählung zugunsten von Hayes. Am 28. Februar bestätigte sie die South-Carolina-Zählung zugunsten von Hayes.
Tilden weigerte sich diese Entscheidungen anzufechten. Die Demokraten der Südstaaten begannen daraufhin sofort im Hintergrund um Zugeständnisse zu kämpfen; es ging nicht so sehr um Versprechungen, sondern um das allgemeine Einverständnis, daß eine republikanische Regierung dem Südstaaten-Stand-punkt wohlwollend gegenüberstehen würde. Als Gegenleistung unterstützten die Demokraten Hayes, der am 5. März friedlich zum Präsidenten der Vereinigten Staaten gekürt wurde.
Am 23. März lud Präsident Hayes die Gouverneursanwärter Hampton und Chamberlain zu getrennten Privatsitzungen nach Washington. Hampton versicherte glaubwürdig, daß er bei Abzug der Truppen die Rechte der Schwarzen aufrechterhalten würde. Gouverneur Chamberlains schwächlicher Zugriff auf das Parlamentsgebäude war gebrochen.
Am 10. April zogen sich, der Entscheidung des Hayes-Kabi-netts folgend, die Armeeinfanteristen aus dem Parlamentsgebäude von Columbia zurück. Der letzte besetzte Staat im Süden stand nicht länger unter der Herrschaft des Nordens.
South Carolina war befreit.
Die Wiederaufbauphase war beendet.