Viertes Buch Das Jahr der Heuschrecke

Intelligenz, Tugend und Patriotismus müssen bei allen Wahlen der Ignoranz, der Dummheit und der Bosheit weichen. Die überlegene Rasse wird der minderwertigen Rasse Untertan gemacht ... Jene, die über keinen eigenen Besitz verfügen, dürfen Steuern erheben und Gelder bewilligen ... Gelder zur Unterstützung freier Schulen für die Ausbildung von Negerkindern, zur Unterstützung alter Neger in Armenhäusern und zur Unterstützung der Verbrecher in den Gefängnissen ..., all das wird zusammen mit einer ständigen Armee von Negersoldaten absolut zerstörend sein und uns in den Ruin treiben ... Die weißen Menschen unseres Staates werden das niemals stillschweigend dulden.

Ein an den Kongreß gerichteter Protest von South Carolina, 1868


Alles läuft gut. Die Verfassung wird verteidigt und der Erzrenegat noch vor Ende der Woche aus dem Weißen Haus getrieben.

Telegramm an den republikanischen Konvent in New Hampshire, 1868

39

In dieser Nacht ging der Regen in Graupeln über. Am Morgen fielen die Temperaturen in den Keller. Eisige Kälte senkte sich über das Tal. Die Sonne versteckte sich hinter grauen, trostlosen Wolken.

Jupiter Smith kümmerte sich um das Begräbnis. George war dazu nicht in der Lage. Selbst in den schlimmsten Zeiten des Krieges hatte er etwas Derartiges nie durchgemacht. Er hatte keinen Appetit. Wenn er einen Happen zu sich nahm, dann kam er ihm gleich wieder hoch. Er litt unter ständigem Durchfall, die Art von Durchfall, an dem so viele Männer in den Kriegslagern auf beiden Seiten gestorben waren.

Er schwankte zwischen dem Unglauben, daß Constance nicht mehr war, und Ausbrüchen von Kummer, die so lautstark wurden, daß er sich in einem Schlafzimmer einschließen mußte -nicht in ihrem gemeinsamen Schlafzimmer; das konnte er nicht mehr betreten -, bis die heftigen Emotionen sich selbst aufgezehrt hatten.

Lehigh Station bereitete sich auf das Weihnachtsfest vor, allerdings aufgrund des fürchterlichen Ereignisses in dem Herrenhaus oben auf dem Berg mit weniger Freude und Ausgelassenheit als sonst. Für George war die allgemeine Frömmigkeit dieser Jahreszeit nichts weiter als ein widerwärtiger Scherz.

Der Weihnachtstag war düster und dunstig und in Belvedere freudlos. Patricia spielte einen Choral auf dem großen, glänzenden Steinway-Flügel. William, gesund und voller Energie nach einer ganzen Rudersaison in Yale, stand neben ihr und sang mit bemühter Baritonstimme eine Strophe von >God Rest Ye Merry, Gentleman<. Er hörte auf zu singen, als sich sein Vater von dem Stuhl erhob, auf dem er schweigend gesessen hatte, und den Raum verließ.

Jupe Smith besuchte sie am späten Nachmittag. Er teilte George mit, daß telegraphische Botschaften an alle Freunde und Verwandten geschickt worden waren. Er erwähnte Patrick Flynn, Constances mittlerweile bejahrten Vater. »Für ihn hab' ich als Todesursache Herzanfall angegeben. Ich sah keinen Sinn darin, dem alten Mann zu sagen, daß seine Tochter, äh .«

»Geschlachtet wurde?«

Jupe starrte den Boden an. George winkte ab und ging mit teilnahmsloser Miene zu der Kommode. Er wühlte zwischen den Glaskaraffen herum, warf eine um. Er versuchte sich mit Bourbon zu betrinken. Den ganzen Nachmittag über hatte sein Magen das zurückgewiesen.

Er stellte die Karaffe wieder auf, kippte dabei Bourbon auf den glänzenden Fußboden. »Wohin hast du die Nachricht für Charles Main geschickt?«

»An General Duncan in Fort Leavenworth.«

»Und was ist mit Billy? Virgilia? Madeline?«

»Ja. Ich habe jeden einzelnen von ihnen gewarnt, genau wie du es mir aufgetragen hast, George. Ich habe ihnen gesagt, daß jeder Angehörige der beiden Familien als Zielscheibe für Bent in Frage kommt, obwohl ich nicht weiß, ob das wahrscheinlich ist.«

»Wahrscheinlich oder nicht, es ist jedenfalls möglich. Was ist mit dem Ohrring?«

»Ich habe ihn allen genau beschrieben. Eine Perle, mit einem wie eine Träne geformten Goldklümpchen. Ich verstehe allerdings nicht ganz, warum ...«

»Ich will, daß sie über alles Bescheid wissen. Bents Erscheinung, soweit ich mich daran erinnere - alles.«

»Nun, ich habe mich um alles gekümmert.«

George schenkte sich einen Drink ein. Sein Hemd stank, seine Rede war voller langer Pausen und unbeendeter Gedanken, und in seinen für gewöhnlich ruhigen dunklen Augen lag ein wildes Glitzern. Jupe entschloß sich zu gehen.

»Er ist krank, Mr. Smith«, flüsterte Patricia, als sie den Anwalt zur Tür brachte. »So merkwürdig habe ich ihn noch nie erlebt.«

Bis zur Beerdigung, die zwei Tage vor Neujahr stattfand, hatte sich George wieder leicht erholt.

Madeline war den weiten Weg von South Carolina gekommen. Sie wirkte befangen und seltsam scheu. Sie war jetzt zweiundvierzig; ihr Haar hatte viele graue Strähnen, die zu färben sie sich weigerte. Ihr Mantel und ihr Trauerkleid aus schwarzer Seide waren alt und schäbig. George hatte sie mit erzwungener Herzlichkeit begrüßt und für einen Moment seine feuchte Wange gegen die ihre gedrückt. Sie glaubte nicht, daß er ihre ärmliche Erscheinung bemerkte. Dafür war sie dankbar.

Virgilia kam aus Washington. Sie war hübsch, aber nicht teuer gekleidet. In ihrer Gegenwart fühlte sich George klein und schwach, wie der jüngere Bruder, obwohl nur ein Jahr zwischen ihnen lag. Das neue Leben, das sie nun führte, hatte viel von Virgilias altem Zorn ausgebrannt. Sie konnte George mit echtem Gefühl umarmen und ihm ihr aufrichtiges Beileid ausdrücken. Diese Wandlung verwirrte einige Einwohner der Stadt, die sich noch gut an die radikale Hexe früherer Jahre erinnerten.

Zur Totenmesse in St. Margaret's-in-the-Vale wurde die Familie von ungefähr dreihundert Männern und Frauen aus der Stadt und von den Hazard-Werken begleitet, dann fuhren oder gingen sie in der Eiseskälte zu dem Friedhof auf dem Hügel. Vater Toone, Constances Priester, sprach seine lateinische Litanei neben dem offenen Grab und machte dann das Zeichen des Kreuzes. Totengräber begannen, den silberverzierten Sarg abzusenken. Auf der anderen Seite schauten Stanley und Isabel mit unbehaglichem Gesichtsausdruck überall hin, nur nicht zu dem trauernden Ehemann. Glücklicherweise hatten sie ihre abscheulichen Zwillinge nicht mitgebracht. Stanley war eindeutig betrunken, obwohl es gerade erst zwei Uhr nachmittags war.

Eine behandschuhte Hand berührte von hinten Georges Arm. Ohne hinzusehen, griff er nach der Hand. Virgilia drückte die Finger ihres Bruders. Die Menge begann sich aufzulösen.

Der scharfe, kalte Wind peitschte den Saum von Vater Toones Kutte, als er sich George und den beiden weinenden Kindern näherte. »Ich weiß, dies ist ein kummervoller Tag, George. Und doch müssen wir auf Gott vertrauen. Er bringt Sinn und Zweck in diese Welt und für alle seine Kreaturen, ganz gleich, wie sehr sich dieser Sinn hinter den Wolken des Bösen auch verbergen mag.«

George starrte den Priester an. Bleich und mit eingefallenen Wangen, hatte er eine starke Ähnlichkeit mit Fotos des irrsinnigen Poe in den letzten Monaten seines Lebens, dachte Madeline. Mit steinernem Gesicht sagte er: »Entschuldigen Sie mich bitte, Vater.«

Die Hazards konnten sich der Verpflichtung nicht entziehen, die Türen von Belvedere zu öffnen und den Trauergästen Speis und Trank anzubieten. All die vielen Brote und Kuchen, die Schinken und saftigen Rindfleischstücke, die normalerweise zu Weihnachten bereitet worden wären, wurden jetzt zum Leichenschmaus serviert. Der Alkohol lockerte die Zungen, und es dauerte nicht lange, bis Gruppen von Gästen zu lärmen begannen; sogar vereinzeltes Gelächter ertönte.

George konnte es nicht ertragen. Er versteckte sich in der Bibliothek. Er hatte sich dort ungefähr zwanzig Minuten aufgehalten, als die Schiebetür zurückrollte und Virgilia und Madeline hereinkamen.

»Bist du in Ordnung?« fragte Virgilia und eilte auf ihn zu. Madeline schloß die Tür und holte dann ihr schwarzes Taschentuch hervor. George saß da, die Krawatte gelöst, und starrte die Frauen an.

»Ich weiß nicht, Jilly«, sagte er. Virgilia zuckte überrascht zusammen; sie waren noch recht klein gewesen, als er das letzte-mal diesen kindischen Spitznamen gebraucht hatte. Plötzlich erhob er sich. »Was ihr zugestoßen ist, entzieht sich jeglicher Vernunft. Mein Gott, es ist der pure Wahnsinn.«

Virgilia seufzte. Sie wirkte sehr gesetzt und gepflegt im Gegensatz zu Madelines offensichtlicher Armut. Sie sagte: »Das gilt für die ganze Welt. Jeder Tag unseres Lebens, habe ich gelernt, besteht aus dummen Mißgeschicken und albernen Melodramen, aus Habgier und unnötigem Leid. Wir vergessen es, wir maskieren es, wir versuchen es mit unseren Künsten und Philosophien einzuordnen, oder wir betäuben uns durch Ablenkungen - oder wir trinken wie der arme Stanley. Wir versuchen es durch unsere Religionen zu erklären. Aber es ist immer da und uns sehr nahe, wie irgendeine arme, mißgestaltete Bestie, die sich hinter einem hauchdünnen Vorhang verbirgt. Gelegentlich wird der Vorhang heruntergerissen, und wir sind gezwungen, hinzusehen. Du weißt das. Du bist im Krieg gewesen.«

»Zweimal. Ich dachte, ich hätte meinen Teil zu sehen gekriegt.«

»Das Leben ist nicht so logisch, George. Manche sehen die Bestie nie. Manche sehen sie wieder und wieder, und es scheint überhaupt kein Sinn darin zu liegen. Doch wenn wir hinschauen, dann geschieht etwas. Mir ist es mit Grady so gegangen, und ich habe Jahre gebraucht, um es zu begreifen. Die Kindheit geht zu Ende, das ist es, was geschieht. Eltern nennen das Erwachsenwerden, und sie gebrauchen diese Phrase viel zu beiläufig. Erwachsenwerden heißt, die Bestie anzuschauen und zu wissen, daß sie unsterblich ist und du nicht. Damit muß man fertig werden.«

Mit gesenktem Kopf stand George vor dem Bibliothekstisch. Neben dem Meteoritenfragment und dem Lorbeerzweig lag ein schmutziger, alter Zylinder. Man hatte ihn auf dem Rasen unter dem Mansardenfenster gefunden, durch das Bent eingedrungen war. George schlug den Zylinder vom Tisch und fegte dabei auch versehentlich den Lorbeerzweig hinunter.

»Ich kann damit nicht fertig werden, Jilly. Ich kann es nicht.«

Madeline brach es das Herz. Sie wollte ihn in die Arme nehmen, ihn an sich ziehen und trösten. Die Stärke ihres Gefühls für diesen Mann - den besten Freund ihres verstorbenen Gatten - überraschte sie und machte sie ein bißchen verlegen. Das Blut, das ihr in die Wangen schoß, verriet sie, aber die anderen bemerkten nichts davon. Schnell brachte sie sich wieder unter Kontrolle, indem sie sich abwandte und das Taschentuch gegen ihre Augen drückte.

»Jilly«, er war nun ruhiger, »würdest du oder Madeline bitte Christopher Wotherspoon ausrichten, er möge zu mir kommen? Ich möchte mit den Arrangements für meine Reise beginnen.«

Virgilia konnte es nicht glauben. »Heute nachmittag?«

»Warum nicht heute nachmittag? Du denkst doch nicht, daß ich da runter gehe und trinke und Witze reiße, oder?«

»George, diese Leute sind deine Freunde. Sie benehmen sich absolut einwandfrei für einen Leichenschmaus.«

»Verdammt noch mal, halt mir keine Vorträge.« Die kurze Gemeinsamkeit, die mit dem Gebrauch des Namens Jilly begonnen hatte, war vorüber. »Wotherspoon hatte eine Menge zu tun, um Hazard während meiner Abwesenheit zu leiten. Er und Jupe Smith müssen außerdem mit dem Pittsburgh-Werk anfangen.«

»Ich wußte nicht, daß du verreist«, sagte Madeline.

Ein teilnahmsloses Nicken. »Ich habe Geschäfte in Washington. Danach - nun, ich bin mir noch nicht sicher. Vielleicht werde ich nach Europa gehen.«

»Was ist mit den Kindern?«

»Sie können das Schuljahr beenden und dann zu mir kommen.«

»Wohin?« fragte Virgilia.

»Wo immer ich dann bin.«

Madeline und Virgilia tauschten besorgte Blicke aus, während George den geknickten Lorbeerzweig aufhob. Verächtlich schleuderte er ihn in den kalten Kamin.

Sehr spät in dieser Nacht erwachte George. Er kam sich vor wie ein Kind, verängstigt und zornig zugleich. »Warum hast du mir das angetan, Constance?« sagte er in die Dunkelheit hinein. »Warum hast du mich allein gelassen?«

Er schlug auf das Kissen, er schlug so lange, bis er zu weinen begann. Er fühlte sich beschämt und verloren. Er legte seinen Kopf auf das Kissen. Aus dem gestärkten Stoff kroch ein Duft, ihr Duft, der Abdruck eines Menschen, der Bett und Kissen jahrelang mit ihm geteilt hatte. Sie war tot, aber sie lebte hier in vielen Dingen noch fort. Er wollte mit dem Weinen aufhören, aber er konnte es nicht. Er weinte, bis das erste graue Licht des Tages anbrach.

Alle Sheriffs und Stadtdetektive suchten nach Elkanah Bent. Als man ihn bis zum Neujahrstag immer noch nicht gefunden hatte, ging George davon aus, daß man ihn, wenn überhaupt, so bald nicht finden würde.

Am zweiten Tag des neuen Jahres 1868 schaute George bei Jupe Smith vorbei und wies ihn an, den neuen Eisenbahnwagen zu verkaufen. Dann packte er einen Koffer und sagte der Dienerschaft und Patricia und William auf Wiedersehen. Die Kinder kamen sich hilflos und verloren vor. Konnte dieser kalte Mann mit den leeren Augen ihr Vater sein? William legte einen Arm um seine Schwester. Von einem Augenblick zum anderen fühlte er sich um Jahre älter.

George nahm wortlos den Mittagszug nach Philadelphia.

Im Kriegsministerium zeigte ein Captain namens Malcolm sein Mitgefühl. Er erkundigte sich: »Und es gibt keine Spur von diesem Wahnsinnigen?«

»Keine. Er ist einfach verschwunden. Ich hätte ihn erwischt, wenn dieser verdammte Zug keine Verspätung gehabt hätte.«

George hielt inne. Er versuchte, die Hand zu lockern, die die Lehne des Stuhls in Malcolms Büro umklammerte. Langsam kehrte Farbe in Finger und Handgelenk zurück. Er wünschte, er könnte dieses verfluchte Wenn aus seinem Geist verbannen. Es war unmöglich. Er wünschte, er wäre Manns genug, das zu tun, wovon Virgilia gesprochen hatte: erwachsen werden, die Bestie anschauen. Er hatte sie angesehen, aber sie zerstörte ihn.

Captain Malcolm erkannte, in welcher Verfassung sich sein Besucher befand, und schwieg. Malcolm selbst stand unter großem Streß, so wie jeder andere Stabsoffizier auch, der das Pech hatte, in Washington stationiert zu sein. Nachdem Johnson Kriegsminister Stanton letzten August suspendiert hatte, befand sich das ganze Ministerium in Aufruhr. Da eine Suspension während einer Amtszeit ausdrücklich untersagt war, leugnete Mr. Stanton, sowohl ein Radikaler als auch ein cleverer Anwalt, die Gültigkeit der Amtsenthebung. Nichtsdestoweniger diente Grant mehr oder weniger widerstrebend als Interimsminister.

George sagte: »Ich habe die Pinkerton-Agentur beauftragt. Ich möchte ihnen alle verfügbaren Informationen zukommen lassen.«

»Ich lasse gerade von einem Mann die Personalakten des Generaladjutanten durchsehen. Ich werde mal schauen, wie weit er ist.«

Malcolm blieb zwanzig Minuten verschwunden. Dann kehrte er mit einer schmalen Akte zurück, die er auf seinen ohnehin schon überhäuften Schreibtisch legte. »Ich fürchte, viel haben wir nicht. Bent wurde der Feigheit beschuldigt, als er bei Shiloh vorübergehend eine andere Einheit als seine eigene befehligte. In der Angelegenheit fehlte es an den letzten Beweisen, doch General Sherman veranlaßte trotzdem eine Eintragung in seine Akte und versetzte ihn zur Strafe nach New Orleans. Dort blieb er bis zum Ende von General Butlers Dienstzeit.«

»Sonst nichts?«

Malcolm blätterte weiter. »Er hat einen Zwischenfall in einem Bordell verursacht, das einer Madam Conti gehörte. Er wurde gefaßt, als er ein Gemälde stahl, das sich in ihrem Besitz befand. Bevor Bent erneut angeklagt werden konnte, desertierte er. Ein Jahr später ist noch eine letzte Eintragung. Ein Mann, auf den Bents Beschreibung paßt, arbeitete kurz für Colonel Bakers Detektiveinheit.«

George kannte die Arbeit von Colonel Lafayette Baker. Er erinnerte sich daran, daß Zeitungsredakteure ins Old-Capitol-Ge-fängnis geworfen worden waren, weil sie sich kritisch über den Krieg oder über Lincoln und sein Kabinett geäußert hatten. »Sie meinen die von Mr. Stanton beschäftigte Geheimpolizei?«

Malcolms Herzlichkeit verschwand. »Mr. Stanton? Darüber besitze ich keine Informationen, Sir. Zu dieser Behauptung kann ich nichts sagen.«

George hatte genügend Bürokraten erlebt, um den Selbstschutz hinter diesen Worten zu erkennen. Bitter sagte er: »Natürlich. Ist das alles?«

»So gut wie alles. Bent wurde zuletzt in Port Tobacco gesehen, wo er vermutlich seinen illegalen Übertritt in die Konföderation vorbereitete. Dann verliert sich die Spur.«

»Ich danke Ihnen, Captain. Ich werde die Informationen an Pinkerton weitergeben.« Er fügte eine höfliche Lüge hinzu: »Sie waren mir eine große Hilfe.«

Er schüttelte Malcolm die Hand und ging. Er spürte, wie es in seinen Eingeweiden wühlte, und erreichte gerade noch das Willard-Hotel, bevor ihn die Magenbeschwerden mit voller Wucht überfielen.

Virgilia schickte ihm einen Arzt. Der Mann verschrieb ihm ein Opiumpräparat, das seinen Magen kräftigte, ihn aber nicht vor den plötzlichen Weinkrämpfen bewahren konnte, die ihn in höchst ungelegenen Momenten überkamen. Er hatte einen derartigen Anfall, als er Virgilia zu einem Abschiedsessen in den Speisesaal des Willard führte.

Mit ungeheurer Willensanstrengung bekam er sich wieder unter Kontrolle. Seine Schwester versuchte, ihn während der Mahlzeit abzulenken, indem sie ihm von ihrer Arbeit in Scipio Browns Heim für schwarze Waisenkinder erzählte. George hörte kaum etwas davon und schließlich gar nichts mehr, als er die Hände vors Gesicht schlug und erneut in Tränen ausbrach. Er schämte sich zu Tode, aber er konnte nicht dagegen ankämpfen.

In seiner Suite drückte ihn Virgilia fest an sich, bevor sie sich trennten. Ihre Arme fühlten sich stark an, während er sich schwach, krank und wertlos vorkam. Sanft küßte sie ihn auf die Wange. »Laß uns wissen, wo du bist, George. Und paß bitte auf dich auf.«

Er hielt ihr die Tür auf; in dem schwachen Licht war sein Gesicht sehr blaß.

»Wozu?« sagte er.

Ohne Antwort ging sie davon.

In New York buchte er auf der >Grand Turk< eine Kabine erster Klasse nach Southampton. In London kannte er einen Makler, der über gute Kontakte in Europa und ganz besonders in der Schweiz verfügte. Der Makler empfahl ihm Lausanne am Nordufer des Genfer Sees; er meinte, dort hätten schon viele gesundheitlich angeschlagene amerikanische Millionäre Genesung gefunden. George hatte ihm gegenüber angedeutet, daß er einen ruhigen Zufluchtsort benötigte.

Im Zwielicht eines kalten, feuchten Januartages stand er an der Reling, zusammen mit anderen Passagieren der ersten Klasse, die winkten, plauderten, feierten. Ein Steward reichte ihm ein Glas Champagner. Er murmelte etwas, trank aber nicht. Abgrundtiefe Verzweiflung hielt ihn immer noch im Griff. Er hatte zwanzig Pfund verloren, was bei seiner Größe sehr viel war und ihn furchtbar abgezehrt aussehen ließ.

Schrill pfeifend und eine Rauchwolke hinter sich herziehend, verließ der große Dampfer das Dock und schob sich den Hudson hinunter, vorbei an den Jersey-Piers mit all ihren Schuppen. George ging zum Heck, den Pelzkragen seines Mantels gegen die Kälte hochgestülpt. Mit erloschenen Augen sah er zu, wie Amerika hinter ihm versank. Er rechnete damit, es nie wiederzusehen.

MADELINES JOURNAL

Januar 1868. Zurück von Lehigh Station. Eine traurige Reise. George ist nicht mehr er selbst. Virgilia, nach langer Entfremdung mit der Familie wieder vereinigt - sie ist jetzt viel sanfter geworden -, sagte mir im vertraulichen Gespräch, daß sie um Georges geistige Stabilität fürchte. G.s Anwalt Smith warnte uns, daß der Mörder Bent gegen jeden von uns losschlagen könnte. Es ist zu monströs, als daß man es glauben möchte. Doch das Schicksal der armen Constance soll uns als Warnung dienen.

Hat mich überrascht, daß der C'ston Courier einen Artikel über den Mord brachte - Judith hat ihn während meiner Abwesenheit an Prudence geschickt. Ich vermute, daß die Geschichte wegen ihres Sensationsgehalts weite Kreise gezogen hat. Bent wird als Täter genannt.

Außerdem ein Brief von einem Beaufort-Anwalt, der seinen baldigen Besuch ankündigt. Die Entdeckung bei Lambs, die immer noch Furore macht, wird auch unsere Rettung sein, behauptet er...

Geschrieben am 12ten. Andy bricht morgen nach C'ston auf zum Großen Konvent des Volkes von South Carolina< - die gleiche Versammlung, die in Gettys üblem Blättchen als >schwarzbraunes Treffen bezeichnet wird. Obwohl ich es mir kaum leisten kann, habe ich in dem neuen Summerton-Ramschladen einen Dollar für Hosen und einen gebrauchten, aber noch ganz ordentlichen Gehrock ausgegeben. Die Sachen hab' ich A. geschenkt. Jane hat ihrem Mann noch weitere Sachen genäht, damit er sich seiner Kleidung nicht zu schämen braucht.

Prudence hat eine alte, vierbändige Sammlung von Kents Kommentaren zum amerikanischen Gesetz gefunden und sie Andy geschenkt. A. möchte unbedingt die Gesetze studieren und verstehen. Er verehrt ihre Macht, durch die seine Rasse geschützt werden kann. Er studiert sie einzig und allein zur persönlichen Befriedigung, da er weiß, daß es selbst bei liberalster Regierung für einen Mann seiner Hautfarbe unwahrscheinlich ist, eine gewinnbringende Anwaltspraxis in Carolina zu betreiben. Tatsächlich stellt seine bloße Anwesenheit bei dem Konvent, zusammen mit anderen seiner Rasse, eine Beleidigung für Männer wie Gettys dar ...

Am 13. Januar brachte Judith kurz nach Mitternacht eine Kerze in das Arbeitszimmer ihres Mannes in der Tradd Street. Er saß in einem Wust von Zeitungen da, seine Lesebrille auf der Nase und ein Buch im Schoß. Es war ein Buch, das sie ihn seit Jahren nicht mehr hatte aufschlagen sehen.

»Die Bibel, Cooper?«

Seine langen, weißen Finger tippten auf das Reispapier.

»Exodus. Ich las gerade das Kapitel über die Plagen. Genau der Passende Lesestoff für diese Zeiten, findest du nicht?«

Von dem bitteren Unterton in seiner Stimme erschreckt, stellte Judith die Kerze ab und verschränkte ihre Arme über dem Nachthemd. Cooper las mit leiser Stimme aus der Bibel vor: »Und der Herr ließ den ganzen Tag und die ganze Nacht einen Ostwind wehen. Als der Morgen kam, waren die Heuschrecken da ... Sie fraßen alle Pflanzen, auch die Früchte an den Bäumen, alles, was der Hagel verschont hatte. Weder auf den Bäumen noch am Boden ließen sie etwas Grünes übrig, im ganzen Lande Ägypten.«

Er nahm die Brille ab. »Wir haben statt dessen Nordwind. Er trägt uns die Plage der Carolina-Abtrünnigen heran, der YankeeAbenteurer, der ungebildeten Farbigen und all diese Leute werden sich morgen zu diesem Konvent zusammensetzen. Was für eine Aussicht! Radikalismus in all seiner Pracht!«

»Cooper, der Konvent muß zusammentreten. Eine neue Verfassung ist der Preis für die Wiedereingliederung in die Union.«

»Und eine neue soziale Ordnung - ist das auch ein Preis, den wir zahlen müssen?« Er griff zur Daily News und las vor: »Der Demagoge regiert die Massen, und Gemeinheit und Ignoranz beherrschen die weitgespannten Interessen, die auf dem Spiel stehen. Die Delegierten mögen durchaus ein Negertollhaus schaffen.« Er warf die Zeitung beiseite. »Dem kann ich nur zustimmen.«

»Aber wenn ich mich recht an die Bibel erinnere, dann kam kurz nach den Heuschrecken auch ein Westwind, der sie wieder ins Rote Meer zurückwarf.«

»Aber du erinnerst dich auch, was dann kam, nicht wahr? Die Plage der Finsternis. Und dann die Plage des Todes.«

Judith hätte am liebsten geweint. Sie konnte nicht glauben, daß dieser verbrauchte, verbitterte Mann der gleiche Mensch war, den sie geheiratet hatte. Nur mit einer gewaltigen Willensanstrengung hielt sie jede Regung von ihrem Gesicht fern. »Hast du vor, einigen der Sitzungen beizuwohnen?« fragte sie.

»Lieber würde ich wilden Tieren zusehen. Lieber würde ich mich aufhängen lassen.«

Am Morgen brach er frühzeitig zu den Büros der Carolina Shipping Company auf. Judith fühlte sich traurig und hilflos. Allmählich wurde Cooper wirklich ein Fremder für sie. Mit Madeline wollte er überhaupt nichts mehr zu tun haben.

Marie-Louise gab kaum eine bessere Gesellschaft für sie ab, wenn auch aus vollkommen anderen Gründen. Judith fand ihre Tochter an dem sonnigen Eßtisch vor, das Kinn in die Hände gestützt, das Frühstück unberührt, ihre Augen träumerisch auf irgendeine ferne Vision gerichtet. Sie vernachlässigte ihre Studien und redete fast nur noch über Jungs. Ganz besonders bewunderte Marie-Louise einige von General Canbys Besatzungssoldaten. Was immer die anderen Konsequenzen des Wiederaufbaus sein mochten, er beraubte Judith buchstäblich ihrer Familie.

Von den 124 Delegierten, die sich am 14. Januar versammelten, waren 76 schwarz. Nur 23 der weißen Delegierten waren in Carolina zur Welt gekommen, doch eine ordentliche Anzahl von ihnen waren früher rechte Draufgänger und Heißsporne gewesen. Joe Crews hatte mit Sklaven gehandelt. J.M. Rutland hatte Geld für einen neuen Spazierstock gesammelt, als Preston Brooks seinen Stock über dem Kopf von Charles Sumner zerbrochen und ihn dabei um ein Haar umgebracht hatte. Franklin Moses hatte geholfen, die amerikanische Flagge nach der Kapitulation von Fort Sumter herunterzureißen.

Andy saß in seinem Gehrock zwischen den anderen Delegierten, den ersten Band von James Kents >Kommentaren< auf den Knien. Vor lauter Stolz, bei dem Konvent dabei zu sein, saß er bolzengerade da, war gleichzeitig aber auch von tiefer Ehrfurcht ergriffen, die meisten anderen schwarzen Delegierten waren wesentlich gebildeter als er. Alonzo Ransier, schon als freier Neger geboren, hatte sich mit ihm lange über die sozialen Wandlungen unterhalten, die der Konvent mit sich bringen würde. Besonders einschüchternd wirkte ein gutaussehender, großer, breiter Neger namens Francis Cardozo. Obwohl seine Haut die Farbe alten Elfenbeins hatte, setzte sich Cardozo, ein frei geborener Mulatte, stolz zu den schwarzen Delegierten. Er war ein Beispiel dafür, was ein Mann aus sich machen konnte, wenn ihm alle Möglichkeiten offenstanden, dachte Andy. Cardozo hatte die Universität von Glasgow absolviert; früher hatte er einer Presbyterianerkirche in New Haven, Connecticut, vorgestanden.

Um seine Minderwertigkeitsgefühle zu überwinden, rief sich Andy häufig einige ernste Worte ins Gedächtnis, die Jane ihm beim Abschied mit auf den Weg gegeben hatte. »Du bist so gut wie jeder von ihnen, du brauchst nur den Beweis dafür anzutreten. In den Augen Gottes fangen alle mit gleichen Voraussetzungen an. Das hat Mr. Jefferson gesagt, und darum ging es im Krieg in Wirklichkeit. Es liegt an dir, ob du weiter vorn endest als dort, wo du begonnen hast.«

Sie umarmte ihn, küßte ihn und flüsterte ihm zu: »Sorg dafür, daß wir alle stolz auf dich sein können.« Beim Gedanken daran richtete er sich auf.

Es kam nicht zu dem vorhergesagten >Negertollhaus< unten im Sitzungssaal, obwohl der einstweilige Vorsitzende T.J. Robertson, ein angesehener Geschäftsmann mit gemäßigten Ansichten, häufig seinen Hammer betätigen mußte, um die begeisterten schwarzen Zuschauer oben auf der Galerie zum Schweigen zu bringen. Den meisten Lärm erzeugten die Mitglieder der Presse, hauptsächlich Yankees. Viele von ihnen hatten karierte Anzüge und grelle Krawatten an. Andy sah, wie ein Reporter einen Tabaksaft auf den Boden spuckte, und verspürte selbstzufriedene Überlegenheit. Zuvor hatte Cardozo zu ihm und eini-gen anderen schwarzen Delegierten gesagt: »Die Reporter sind hergekommen, um diesen Konvent gegen nordstaatliche Moral abzuwägen. Sie werden unsere Äußerungen ebenso wie unser Benehmen bewerten. Also handeln Sie dementsprechend, Gentle-men.«

Robertsons Hammer rief die Halle zur Ordnung. »Bevor ich den Stuhl an unseren großartigen Freund Dr. Mackey abgebe«, das war ein weiterer angesehener Einheimischer, »möchte ich die hier Versammelten gern an unser hochgestecktes Ziel erinnern. Wir sind hier, um eine gerechte, liberale Verfassung für den Palmetto-Staat zu entwerfen, eine Verfassung, die allen gleiche Rechte garantiert und uns die Wiedereingliederung in die Union ermöglicht.«

Die Zuschauer bekundeten ihr Einverständnis. Wieder brachte Robertson sie mit dem Hammer zum Schweigen, ehe er fortfuhr:

»Wir behaupten nicht, übermäßig weise oder tugendhaft zu sein. Wir nehmen jedoch für uns in Anspruch, daß wir dem fortschrittlichen Zeitgeist folgen ... mögen wir kühn genug, ehrlich genug, weise genug sein, um anstößige, unwürdige Gesetze und Gewohnheiten zu zertreten und so eine neue Gerechtigkeit in South Carolina ins Leben zu rufen. Möge jeder Delegierte seine Gedanken und Äußerungen einzig und allein diesem Zweck unterordnen.«

Er meint meine Gedanken, sagte sich Andy. Gut, er würde seine Stimme erheben. Wenn er etwas Falsches sagte, dann würde er lernen. Wie konnte man sich ohne Fehler und Irrtümer von dem, was man war, zu dem, was man werden wollte, erheben?

Er richtete sich hoch auf; seine Hand ruhte auf dem Gesetzestext. Eine Woge von Stolz belebte seinen Mut und stellte sein Selbstvertrauen wieder her.

»Nun, Ma'am«, sagte Mr. Edisto Topper von Beaufort, »dies ist der Grund, weshalb ich so dringend um ein Treffen gebeten habe.« Der adrette Anwalt stand neben Madeline in dem brachliegenden Reisfeld und zerbröselte mit einer Hand einen blaugrauen Lehmklumpen.

Vor dem vertrauten Gestank trat Madeline einen Schritt zurück. »Ich habe das immer als unsere vergiftete Erde bezeichnet.«

Lachend ließ Topper die Lehmklumpen fallen. »Vergiftet mit Reichtümern, Mrs. Main.« Er wandte sich an seinen dienstbeflissenen jungen Angestellten. »Sammeln Sie einige dieser Klumpen in die Tasche. Wir werden sie untersuchen lassen.«

Madelines Stirn glänzte vor Schweiß. Als Toppers Kutsche den Weg hochgerattert kam, war sie damit beschäftigt gewesen, dem Pinienhaus einen frischen Anstrich zu verpassen. Weiße Flecken zierten ihre Hände und ihr verblaßtes Kleid.

»Ich kann es kaum glauben, Mr. Topper.«

»Glauben Sie es ruhig, gute Frau, glauben Sie es. Die Gerüchte sind wahr. Entlang der Flüsse Ashley und Stone verbergen sich Mineralschätze, ebenso wie in den Flußbetten. Ihre sogenannte vergiftete Erde ist phosphathaltig.«

»Dann muß das Phosphat doch schon seit Jahren hier gewesen sein.«

»Und keine Seele hat es erkannt, bis Dr. Ravenel aus Charleston im letzten Herbst einige Proben aus der Gegend von Lambs untersuchte.« Mit überschwenglicher Geste umfaßte Topper die umliegenden Reisfelder. »In Mont Royal könnte das auf sechs-bis achthundert Tonnen Mergel pro Acre hinauslaufen. Hochgradiger Mergel - wesentlich ergiebiger als der Mergel von Virginia.«

»Das sind sehr willkommene Nachrichten. Aber ein bißchen überwältigend.«

Wieder lachte er und rieb sich die Hände. »Verständlich, verehrte Lady. Nach Jahren der Niederlagen und der Entbehrungen stehen wir buchstäblich vor der ökonomischen Wiedergeburt dieses Teiles des Staates. Sie liegt in diesen übelriechenden Klumpen. Das ist der Duft des Geldes. Das ist der Geruch von Düngemittel.«

Sie kehrten zu den selbstgebastelten Stühlen auf dem Rasen vor dem weißgetünchten Haus zurück. Der Anwalt Topper holte aus seinem Koffer Berichte, Untersuchungsergebnisse, Gutachten, die er Madeline in die Hand drückte und sie drängte, jedes einzelne Wort zu lesen. »Es gibt schon einen Run, die Schürfrechte von den Landbesitzern zu kaufen. Ich repräsentiere eine Gruppe von Investoren, die sich zu der Beaufort Phosphate Company zusammengeschlossen haben. Alles erstklassige Südstaaten-Gentlemen, in Carolina geboren, wie ich selbst auch. Ich bin sicher, der Gedanke beruhigt Sie, wenn wir Geschäfte miteinander machen.«

Madeline schob eine Strähne ihres ergrauenden Haares zurück. »Falls, Mr. Topper. Falls.«

»Aber Sie haben bei der ganzen Angelegenheit nur Vorteile! Es ist unser Kapital, das auf dem Spiel steht, während Sie uns lediglich die vorübergehende Nutzung Ihres Landes überlassen. Wir kümmern uns um alles. Wir heben die Erde aus, verlegen die Schienen für die von Pferden gezogenen Karren, installieren dampfgetriebene Waschanlagen, um Sand und Lehm auszuwaschen. Wir übernehmen die volle Verantwortung für den Transport. Dann handeln wir einen vernünftigen Verkaufspreis aus. Mr. Lewis und Mr. Klett haben bereits eine Verarbeitungsfirma unter Vertrag, die die Felsbrocken zertrümmert und sie in kommerzielle Düngemittel verwandelt. Bald schon werden Konkurrenzfirmen auftreten. Wir befinden uns in einer hervorragenden Ausgangsposition.«

Es klang alles zu perfekt. Sie suchte nach dem Haken. »Was ist mit den Männern, die die Felsbrocken ausgraben?«

»Ebenfalls unsere Sache. Wir heuern jeden verfügbaren Nig... äh, freien Neger an. Wir zahlen ihnen fünfundzwanzig Cent pro Quadratfuß, die Entfernung der Felsbrocken eingeschlossen.«

Sie schüttelte den Kopf. Topper schaute verwirrt drein. »Stimmt was nicht?«

»Und ob, Mr. Topper. Überall entlang des Flusses sind schwarze Familien am Verhungern, und da schließe ich Mont Royal nicht aus. Wenn Sie auf meinem Land schürfen wollen, dann werden Sie auch vernünftige Jobs vergeben müssen. Sagen wir fünfzig Cent pro Quadratfuß?«

Topper wurde blaß. »Fünfzig? Ich bin mir nicht sicher.«

»Dann sollte ich vielleicht mit jemand anderem verhandeln. Sie sagten etwas von Konkurrenz.«

Der Anwalt begann sich zu krümmen. »Irgendwas läßt sich da schon machen, verehrte Lady, da bin ich mir ganz sicher. Hier habe ich den Optionsvertrag mitgebracht. Ich hätte gern noch heute morgen Ihre Unterschrift. Der für beide Seiten befriedigende, endgültige Vertrag folgt dann nach.« Er ließ sich von seinem Angestellten das zusammengefaltete Dokument geben. Es war recht umfangreich und wurde von grünem Gummiband zusammengehalten. Er entfaltete es, als handle es sich um eine Straßenkarte nach El Dorado.

Madeline versuchte, ihre Erregung zu verbergen, während sie die eng beschriebenen, in gedrechselter Sprache gehaltenen Seiten überflog, die durch gelegentlich eingestreutes Latein noch unverständlicher wurden. Sie glaubte, den Sinn zu erfassen.

»Sagen Sie Ihrem Angestellten, er solle noch einen Satz über die vereinbarten Löhne der Arbeiter einfügen, dann unterschreibe ich.«

»Soviel wir wissen, wird noch eine zweite Unterschrift benötigt.«

»Nein. Ich habe Vollmacht, für Cooper Main zu unterzeichnen.« Was sie dann auch mit zitternder Hand tat.

Orry, Orry - unglaubliche Freude. Wir sind begnadigt worden! Zur Feier des Tages lud ich heute abend alle ins Haus zu Safranreis ein. Jane brachte einen Krug süßen Beerenweins mit, den sie aufgehoben hatte, und während der Vollmond am Himmel hochstieg, sangen und lachten und tanzten wir. Es wäre schön gewesen, wenn auch Andy hätte hier sein können, doch er steckt mitten in seiner wichtigen Arbeit. Ich sehnte mich nach dir.

Während ich diese Zeilen schreibe, leuchtet der Fluß wie weißes Feuer. Selten ist es im Januar so warm gewesen. Vielleicht ist dieser Winter der Verzweiflung endlich vorbei. Das Beste von alldem ist, daß ich meinen Traum zum Leben erwecken kann, wenn tatsächlich im Boden von Mont Royal Reichtümer verborgen liegen. Ich kann das Haus wieder aufbauen.

Das Geräusch eines sich von der Flußstraße nähernden Reiters weckte sie am nächsten Morgen. Sie wickelte sich in ihren alten Morgenmantel und eilte hinaus, um den Besucher zu empfangen. Sie glaubte ihren Augen nicht trauen zu können; es war Cooper, der da von einem schaumbedeckten Braunen sprang.

»Gestern abend gegen zehn wußte ganz Charleston Bescheid. Alle spotten über uns.«

Verschlafen murmelte sie: »Wovon redest du eigentlich?«

»Von deinem verdammten Vertrag mit Beaufort Phosphate. Anscheinend bist du die einzige im Bezirk, die nicht weiß, wer hinter dieser Company steckt.«

»Einheimische, sagte der Anwalt.«

»Dieser Lump hat gelogen. Er ist der einzige aus South Carolina, der an der Sache beteiligt ist. Der Hauptaktionär ist ein gottverdammter radikaler Senator, Samuel Stout. Du hast uns an einen Mann verkauft, der uns mit einer Hand auspeitscht und mit der anderen aussaugt.«

...Ich konnte nichts tun, um ihn zu beschwichtigen. Er überschüttete mich mit Beschimpfungen, lehnte jegliche Nahrung von mir ab, sprang sehr grob mit Prudence um und befahl mir, auf keinen Fall den offiziellen Vertrag zu unterschreiben. Ich sagte, ich würde einen Pakt mit dem Teufel unterschreiben, wenn ich dadurch das Land der Mains retten und unseren Negern Essen geben könnte. Er verfluchte mich, sprang auf sein erschöpftes Pferd und ritt davon. Obwohl er von meinem Fehler profitieren wird, fürchte ich, er haßt mich jetzt mehr als je zuvor.

Februar 1868. Man rechnet damit, daß der Konvent fast 60 Tage dauert. Bis auf einen Dollar schickt Andy S. seine gesamten 11 Dollar, die er als Delegierter als Tagegeld erhält, an seine Frau. Abends arbeitet er im Mills House und zahlt einer schwarzen Familie Miete, damit er in ihrer Hütte übernachten kann. Jane hat mir seinen letzten Brief gezeigt, einfach formuliert, aber in gutem, klarem Englisch verfaßt. Was für eine wunderbare Sache doch der menschliche Geist ist, wenn es ihm erlaubt ist, sich frei zu entfalten ...

Andy Sherman hatte das Gefühl, noch nie so viel gelernt zu haben, vielleicht von der Zeit während des Krieges abgesehen, als Jane seine Lehrerin gewesen war. Am Morgen, wenn er sich für seine Delegiertenarbeit ankleidete, taten ihm alle Knochen weh von dem stundenlangen Knien beim Putzen der Hotelböden. Aber irgendwie genügten ihm die paar Stunden Schlaf, genauso wie die eine volle Mahlzeit, die er sich täglich erlaubte. Er nährte sich von dem Konvent und der Arbeit, die er hier leistete.

Er diskutierte viel mit Cardozo, dessen schnelle Auffassung und beeindruckende Rednergabe er bewunderte. »Sie haben recht, Sherman. Als Rasse sind wir zu zurückhaltend. Nur Bildung kann das verbessern. Wenn man sich jedoch die Geschichte dieses Staates betrachtet, dann glaube ich nicht, daß ein angemessenes öffentliches Schulsystem vor 1875 funktionieren wird. Ich werde mich gegen den Verfassungszusatz aussprechen, daß nach 1875 jedem Mann im Wahlalter, der weder lesen noch schreiben kann, das Wahlrecht vorenthalten wird.«

Auch Andy sprach sich dagegen aus - zum erstenmal bei diesem Konvent meldete er sich zu Wort. Nervös, aber voller Überzeugung verlas er die kleine Rede, die er auf Papierfetzen immer wieder umformuliert hatte, bis sie zu seiner Zufriedenheit ausgefallen war. »Gentlemen, ich glaube, das Recht zu wählen muß dem Weisen ebenso wie dem Unwissenden zugebilligt werden, dem Bösen ebenso wie dem Tugendhaften, sonst bedeutet die Idee des universellen Stimmrechts gar nichts.«

Die Bestimmung wurde mit 107 zu 2 Stimmen abgelehnt. Die Kopfsteuer, die Cardozo mit ätzenden Worten brandmarkte als den ersten Schritt, das aristokratische Element< wieder an die Macht zu bringen, wurde mit 81 zu 21 abgeschmettert.

Die Arbeit hat begonnen! Im ganzen Ashley-Bezirk wimmelt es nur so von Arbeitern, Anlegern und Männern von den neuen Verarbeitungsfabriken, die aus dem Boden geschossen sind. Nach fast drei Jahren Chaos und Armut steckt der Bezirk wieder voller Hoffnung

Unsere verbesserten Aussichten machen einen baldigen Besuch in Charleston notwendig - um die Last unserer Schulden zu erleichtern .

Die Schwarzen auf Mont Royal beschützten Madeline, als wäre sie ein Kind. Sie beharrten darauf, daß jemand sie in die Stadt fuhr. Sie gab nach und entschied sich für Fred.

An einem kühlen Februarmorgen hielten sie den Wagen an, kurz nachdem sie in die Uferstraße eingebogen waren. Auf dem unbestellten Feld hinter dem Zaun schwang ein Trupp von dreißig Schwarzen die Schaufel. Mit beflaggten Stangen war ein sechshundert Meter breites und tausend Meter langes Gebiet abgesteckt worden, das mit Gräben durchzogen werden sollte, um das Feld zu entwässern.

Sechs Männer zerrten mit Seilen einen gewaltigen Stamm, um einen Pfad zur Mitte des Feldes zu walzen. Auf diesem Pfad würden schließlich Pferdewagen die geförderten Felsbrocken abtransportieren. Edisto Topper hatte Madeline davon in Kenntnis gesetzt, daß diese Art von Feldern bald überall auf Mont Royal zu finden sein würde.

Hier war das erste. Sie musterte es stolz, als ein greller Lichtstrahl wie von einem reflektierenden Spiegel ihre Aufmerksamkeit erregte. Sie wandte sich um und sah ein Stück weiter die Straße hinunter in Richtung Summerton einen Reiter. Am Körperumfang und an den spiegelnden Brillengläsern erkannte sie Gettys.

Einen Moment lang saß der Ladenbesitzer sehr still, als würde er sie beobachten. Dann schnalzte er verächtlich mit dem Zügel, wendete und trabte auf Summerton zu.

Madeline schauderte. Irgendwie schien ihr der Tag verdorben.

Es wurde noch schlimmer. In der Palmetto Bank in der Broad Street teilte ihr ein kahlköpfiger Angestellter namens Crow mit, daß Mr. Dawkins den ganzen Tag über nicht erreichbar sei.

»Aber ich habe ihm doch geschrieben, daß ich komme. Es ist sehr wichtig, daß ich mit ihm spreche«, sagte sie.

Crow blieb kühl. »Worum geht es?«

»Ich möchte Arrangements treffen, um der Bank meine Hypothek eher als erforderlich zurückzuzahlen. Auf Mont Royal wird nach Phosphaten geschürft. Wir müßten damit ein beträchtliches Einkommen erzielen. All das hab' ich Leverett geschrieben.«

»Mr. Dawkins hat Ihren Brief erhalten.« Crows Mißbilligung über die vertrauliche Anrede war deutlich herauszuhören. »Ich bin angewiesen, Ihnen mitzuteilen, daß die Direktoren dieser Bank mit einer vorzeitigen Rückzahlung nicht einverstanden sind. Die Hypothekarbedingungen geben uns das Recht, darauf zu bestehen, daß Sie weiterhin Ihre vierteljährlichen Zahlungen leisten.«

»Für wie lange?«

»Über die gesamte Laufzeit hinweg.«

»Das sind Jahre. Wenn es um die Zinsen geht, dann bin ich natürlich gern bereit, sie zu zahlen.«

Mit geringschätziger Miene trat Crow einen Schritt zurück. »Es ist eine Sache der Politik unseres Hauses, Mrs. Main.«

»Welcher Politik? Mich an der Leine zu halten, damit Sie sie ganz nach Ihrem Belieben durchschneiden können?«

»Beziehen Sie sich auf eine vorzeitige Verfallserklärung der Hypothek unsererseits?«

»Ja. Ist das auch eine Sache der Politik?«

»Senken Sie bitte Ihre Stimme. Warum sollte die Palmetto Bank den Wunsch haben, Mont Royal vorzeitig die Hypothek zu kündigen? Es ist wertvolles Land, mit ungewöhnlich verbesserten Einkommensaussichten. Sie werfen da eine völlig abseitige Frage auf.« Er überlegte einen Moment und fügte dann hinzu: »Natürlich kann die Bank den Vertrag kündigen, sollten Sie in Zahlungsverzug geraten. Doch in diesem Fall wäre der Leidtragende ja der Eigentümer, Mr. Main. Ich bin überzeugt davon, Sie möchten nicht dafür verantwortlich sein, daß Ihr Verwandter in eine derartige Lage gerät.«

Die Drohung war ausgesprochen. Doch wie plump sie in ihrem Eifer, sie unter Kontrolle zu halten, vorgingen! War der ganze Staat, der ganze Süden bei dem Thema >Afrikanisierung< immer noch nicht bei Sinnen? Sicher, sie fürchteten sich jetzt nicht mehr vor unwahrscheinlichen Verschwörungen, Aufständen, Brandanschlägen, Vergewaltigung weißer Frauen .

Plötzlich erfaßte sie intuitiv den wirklichen, weniger dramatischen Grund: der Konvent. Da ging es um Wahlrecht und um Steuern; er bedrohte weißes Geld. Wußte Leverett Dawkins von ihrer Verbindung zu einem schwarzen Delegierten? Er mußte wohl.

Crow stand hinter einem polierten Eichengeländer mit einer darin eingelassenen Tür. Provoziert von seiner Zurückweisung, griff sie nach der Tür. »Ich bin eine gute Kundin dieser Bank, Mr. Crow. Ich bin weder mit Ihren Erklärungen zufrieden noch sehr glücklich über Ihre Unhöflichkeit. Ich werde das mit Leverett besprechen, ganz gleich, ob er nun beschäftigt ist oder nicht.«

»Madam, das werden Sie nicht.« Crow hielt das Türchen zu. »Bitte gehen Sie. Mr. Dawkins macht Sie darauf aufmerksam, daß Farbige hier nicht willkommen sind.«

Damit wandte er sich ab. Sie stürzte davon; Tränen der Wut standen in ihren Augen.

... Der Schock, den ich in der Bank erlitten hab', läßt allmählich nach. Doch nicht die Demütigung - oder der Zorn.

März 1868. Welche Verwirrung und welches Melodram! Vor zwei Monaten weigerte sich der Senat in einer Exekutivsitzung, der Amtsenthebung von Mr. Stanton zuzustimmen, worauf Gen. Grant zurücktrat und Stanton die Rückkehr in das Kriegsministerium erlaubte. Als Ersatz für Grant ernannte Johnson sofort Gen. Lorenzo Thomas, und Thomas brüstete sich, er würde notfalls Stanton auch mit Gewalt entfernen lassen - worauf sich Stanton buchstäblich in seinen eigenen Räumen verbarrikadierte und einen Haftbefehl gegen Thomas beantragte. Der Haftbefehl wurde bei einem Maskenball zugestellt!! All das wäre der richtige Stoff für eine komische Oper, wenn die Leidenschaften nicht tödlich wären.

Doch das sind sie, und die Wölfe, die Johnson verfolgen, haben ihn zumindest in die Enge getrieben. Stout und seine Clique nennen J. den >Erzrenegaten< und beharren darauf, daß er Lincoln, die Verfassung, die Nation usw. verraten hat. Die Radikalen sind wild entschlossen, ihn vor Gericht zu bringen. Ich kann nicht glauben, daß man einen Präsidenten so demütigen kann. Doch viele genießen diese Aussicht .

Andy gestern abend heimgekehrt. Der Konvent ist nach 53 Tagen auf unbestimmte Zeit vertagt worden, nachdem man für den April Sonderwahlen angesetzt hat, um die neue Verfassung zu ratifizieren und staatliche und nationale Repräsentanten zu wählen .

Topper hier mit den Untersuchungsergebnissen. Ich hielt ihm seine Täuschung vor, was Stout als Eigentümer der Firma anbelangt. Mit der kühlen Arroganz, die man häufig bei kleinen Männern und Anwälten findet, wischte er meine Anschuldigungen beiseite, indem er mir die auf der Untersuchung basierenden Profitberechnungen zeigte. Die Summen sind schwindelerregend .

... Viel Aktivität im Bezirk. Tag und Nacht Reiter auf der Straße, bis spät in die Nacht schimmernde Laternen in den Sümpfen.

Ich denke, entweder die Wahlkampagne oder der Zustrom der Landmesser, Minenexperten usw. Aber niemand findet eine wirkliche Erklärung für die Wandlung, die mit den Negern vorgegangen ist. Nur wenige lächeln noch, und sie erschrecken leicht. Sie unterhalten sich oft in der schnellen Gullah-Sprache, die man kaum verstehen kann .

... Jetzt bin ich mir sicher - sie haben Angst. Prudence hat es ebenfalls bemerkt. Warum?

Der Allmächtige Hexer kam bei Nacht.

In einem einsamen Eichenwäldchen eine Meile von Summerton entfernt entzündeten sie einen Ring Fackeln. Frauen und Freundinnen hatten die Insignien entsprechend den brieflichen Anweisungen genäht. Das Unsichtbare Reich schrieb keine bestimmten Farben für die Insignien vor. Auf Des' Drängen hin hatten sie Rot gewählt. Gettys hatte alle Sachen bezahlt.

General Nathan Bedford Forrest, knappe einsneunzig groß und von mächtigem Körperbau, hatte einen dunklen Teint und graublaue Augen. In seinem welligen, schwarzen Haar und dem sauber gestutzten Kinnbart zeigten sich weiße Strähnen. Die Männer, die hier die Weihe empfangen wollten, hatten den Eindruck, daß man ihn besser nicht herausforderte. Als er ihnen eine offizielle Kopie der Vorschrift überreichte, der nationalen Verfassung, und ihnen erklärte, das Honorar dafür betrage zehn Dollar, erhob niemand Einspruch.

Die Einzuweihenden standen in einer Linie. Um sie herum rauchten und zischten die Fackeln. Forrest ging von Mann zu Mann, inspizierte jeden einzelnen. Des war ganz benommen vor lauter Aufregung. Jack Jolly gab sich ziemlich selbstzufrieden; schließlich war das hier sein alter Führer. Gettys schwitzte, wenn auch bei weitem nicht so stark wie Vater Lovewell, der verstohlene Blicke in die Finsternis jenseits der Fackeln warf. Einer der beiden Farmer, die die Gruppe vervollständigten, erkannte den Priester, den er jeden Sonntag in der Kirche sah.

Forrest begann mit seinen Instruktionen.

»Dies ist eine Institution der Menschlichkeit, der Gnade und des Patriotismus. Ihr Ursprung und ihre Organisationsprinzipien umfassen alles, was ritterlich im Benehmen, nobel im Gefühl und heroisch im Geist ist. Da ich weiß, daß ihr bereits diesen Prinzipien gegenüber eine Loyalitätserklärung abgegeben habt, werde ich euch im Auftrag des Großen Drachens des Königreichs Carolina zehn Fragen stellen.«

Seine strengen Augen durchbohrten sie. »Habt ihr je der Radikalen Republikanischen Partei, der Union League oder der Großen Armee der Republik angehört?«

Wie aus einem Mund antworteten sie: »Nein.«

»Seid ihr aufrichtig gegen die Gleichstellung der Neger, sowohl sozial als auch politisch?«

»Ja.«

»Seid ihr für die Regierung des weißen Mannes?«

»Ja.«

»Seid ihr für konstitutionelle Freiheit und für eine auf gerechten Gesetzen basierende Regierung anstatt für eine Regierung der Gewalt und der Unterdrückung?«

»Ja.«

So ging es fast eine Stunde lang weiter. Die Lektionen:

»Wir schützen die Schwachen, die Unschuldigen, die Wehrlosen gegen die Gesetzlosen, Gewalttätigen, Brutalen ... Wir dienen den Verletzten, den Leidenden, den Unglücklichen, wobei an allererster Stelle die Witwen und Waisen der Gefallenen der Konföderation kommen.«

Die Vorschriften:

»Kein Ritual, kein Händedruck und kein Codewort darf absichtlich verraten werden, ebenso wie Ursprünge, Pläne, Mysterien und andere Geheimnisse dieser Organisation. Bei jedem Verrat soll den Verräter die volle Strafe unseres Gesetzes treffen. Niemals soll der Name unserer Organisation von irgendeinem Mitglied niedergeschrieben werden. Bei gedruckten Verkündigungen soll die Identifizierung immer nur über ein, zwei oder drei Sternchen erfolgen.«

Die Amtseinsetzung:

Forrest hob eine Robe und eine sackartige Haube aus glänzendem Stoff vom Boden. Feierlich übergab er sie Des.

»Ich statte dich hiermit mit Titel, Rechten und Privilegien der Großen Zyklopen aus sowie mit Titel, Rechten und Verantwortlichkeiten des Großen Titans dieses Bezirks.«

Zu Jolly: »Ich statte dich mit Titel, Rechten und Privilegien des Großen Türken aus und befehle dir, den Zyklopen in jeder Hinsicht ein treuer Adjutant zu sein.«

»Jawohl, Sir, General.« Jolly nahm die Insignien entgegen; seine Augen funkelten in erwartungsvoller Vorfreude.

Großer Wächter, Großer Leutnant, Großer Sekretär, Großer Schatzmeister - jedem Mann wurde Verantwortung übertragen. Außergewöhnlich feierlich und mit einem Patriotismusgefühl, wie er es seit seinem Abschied von den Palmetto Rifles nicht mehr empfunden hatte, legte Des die rote Robe und die Kapuze an. Die anderen taten es ihm nach.

Die Fackeln rauchten. General Forrest musterte die unter Kapuzen steckenden Männer und lächelte zufrieden.

»Ihr seid die neuesten Ritter unseres großen Kreuzzugs. Beginnt hier mit der Säuberung, auf eurer Heimaterde, wo das Gesicht des Feindes euch bekannt ist. Klan um Klan vereint in unserem gewaltigen Unsichtbaren Reich, so werden wir gemein-sam die verderbte Regierung von unserem Land fegen, das wir lieben.«

Des leckte sich die Lippen und atmete tief aus, was die Maske unter seinem Kinn flattern ließ. Wieder spürte er das Gewicht seines Zechkumpanen, Ferris Brixham, der tot in seinen Armen zusammensackte.

Jolly spürte den wiegenden Schritt eines Schlachtrosses und hörte die Schreie der Sterbenden bei Fort Pillow.

Und Gettys bekam eine Erektion unter seiner Robe beim Gedanken an Orry Mains Witwe, die sie entführten und an einen abgelegenen Ort wie diesen hier brachten und nackt auszogen, um sie je nach Lust und Laune zu bestrafen oder sich an ihr zu vergnügen.

Es war fast unheimlich, wie Des seine Gedanken erriet. »Wir werden unser Land von gewissen weißen Männern säubern, Randall«, flüsterte er. »Und von einer gewissen Frau.«


Sklaverei und Gefängnisstrafen für Schuldner sind für immer verboten.

Duelle werden für gesetzlos erklärt.

Scheidung wird legal. Das Eigentum einer verheirateten Frau darf nicht länger zur Deckung der Schulden ihres Mannes herangezogen werden.

Künftig werden Gerichtsbezirke als >Counties< bezeichnet.

Ein für alle zugängliches, aus Steuermitteln finanziertes öffentliches Schulsystem soll errichtet werden.

Keine Rassentrennung bei der Bürgerwehr.

Universelles Wahlrecht für alle erwachsenen Männer, ungeachtet der Rasse.

Keiner Person sollen die Bürgerrechte entzogen werden wegen Verbrechen, die er während seiner Zeit als Sklave beging.

Unterscheidungen aufgrund der Rasse oder der Hautfarbe, ganz gleich in welchem Fall, werden verboten; alle Klassen von Bürgern sollen gleiche öffentliche, legale und politische Privilegien für sich in Anspruch nehmen können.

Einige Auszüge aus der 41 Abschnitte umfassenden Verfassung von South Carolina, 1868

40

Viele Dinge beunruhigten Marie-Louise Main im Frühling ihres fünfzehnten Lebensjahres.

Nachts suchten sie lebhafte Träume heim, in denen sie mit einer Reihe gutaussehender junger Männer tanzte. Jeder dieser jungen Männer hielt ihre Taille fest umschlungen und flirtete in einem Yankee-Akzent mit ihr, den sie auf eine verruchte Weise attraktiv fand. Jedes Gesicht war anders, doch alle jungen Männer waren Offiziere in blauer Uniform mit glänzenden Goldknöpfen. Jeder Traum endete gleich. Der junge Offizier wirbelte mit ihr davon zu irgendeinem dunklen Balkon oder Gartenpfad und beugte sich dann zu ihr herab, um sie leidenschaftlich zu küssen.

Worauf sie unweigerlich erwachte. Sie wußte, warum. Sie hatte keine Ahnung, was nach einem Kuß kam.

Oh, eine allgemeine Vorstellung besaß sie schon. Sie hatte Tieren zugeschaut, und, nun ja, sie wußte Bescheid. Aber sie hatte nicht die leiseste Ahnung, was für Gefühle damit verbunden waren oder wie sie sich benehmen sollte. Mama hatte ihr einige Grundtatsachen erklärt, aber auf Fragen, wie sie reagieren sollte, hatte sie gesagt: »Darüber können wir reden, wenn du verlobt bist. Und das wird noch ein paar Jahre dauern.« Selbstverständlich schnitt Marie-Louise des Thema gegenüber Papa niemals an.

Ihre Unzulänglichkeit beunruhigte sie, wenn sie sich mit ihren Altersgenossinnen verglich, den fünf anderen jungen Damen ihrer Klasse in Mrs. Allwicks Akademie für junge Damen. Während sie an der Übersetzung ausgewählter Passagen von Horaz arbeitete, schoben sich die anderen Mädchen Zettel zu oder unterhielten sich flüsternd über ihre Liebhaber. Jede hatte davon mehrere oder behauptete es zumindest. Marie-Louise hatte keinen. Papa war die ganze Zeit über so grimmig und mit sich selbst beschäftigt, daß er ihr nicht die leiseste Ermutigung zukommen ließ, was Jungs anbelangte. Nicht daß es wirklich eine Rolle gespielt hätte. Sie kannte nicht einen Jungen, der Lust gehabt hätte, ihr mit den üblichen kleinen Geschenken und Wohnzimmerbesuchen den Hof zu machen.

Sie fragte sich, ob ihr Aussehen an dieser unglücklichen Situation schuld war. Sie mußte sich mit ihrer Größe und ihrer überschlanken Figur abfinden. Von ihrer Mama hatte sie die dunkelblonden Locken und den großen Mund mit schönen Zähnen geerbt. Ihr kleiner Busen mußte ihr auf irgendeine geheimnisvolle Art und Weise von Papas Seite vererbt worden sein, Mama war flachbrüstig.

Wenn sie gut gelaunt war, hielt sie sich für einigermaßen hübsch. Wenn sie etwas bedrückte - für gewöhnlich das Fehlen von Jungs in ihrem Leben -, dann war sie überzeugt davon, daß sie wie ein Ackergaul aussah. Objektiv gesehen war sie eine attraktive junge Frau mit einem hübschen Gesicht und einem natürlichen, herzlichen Lächeln, obwohl sie tatsächlich etwas zu groß und zu dünn war, um eine wahre Schönheit zu sein.

Auch ihr Vater beunruhigte Marie-Louise. Er war streng und lächelte nie. Früher hatte sie sich in seiner Gegenwart wohl gefühlt; jetzt nicht mehr. Das galt auch für Mama. Mama empfing gern Tante Madeline, wann immer sie in Charleston war, doch das ging nur tagsüber, wenn Marie-Louise in der Schule war. Papa ließ es nicht zu, daß Onkel Orrys Witwe zum Abendessen in der Tradd Street blieb oder sie besuchte, wenn er zu Hause war. Er gab keine Erklärung für sein intolerantes Benehmen ab, aber es schmerzte Marie-Louise, die ihre Tante sehr gern hatte.

Papa war das alles egal. Papa war nicht mehr er selbst, nicht mehr der Mann, an den sich Marie-Louise aus Kindertagen erinnerte. Er war mit allerlei persönlichen Angelegenheiten beschäftigt. Beispielsweise ritt er zweimal im Monat nach Columbia. Er fungierte als einer der achtunddreißig Treuhänder des alten South Carolina College, das nun seine Pforten wieder als Staatsuniversität mit zweiundzwanzig Studenten geöffnet hatte. »Wenn die Radikalen und General Canby uns in Ruhe lassen, dann könnten wir etwas aus dieser Institution machen.«

Marie-Louise kam nicht dahinter, was genau er daraus machen wollte, aber er war stolz auf seine Position als Treuhänder und wild entschlossen, die Universität zu schützen.

Papa hielt ständig kleine, zornige Reden bei den Mahlzeiten. Marie-Louise wußte, daß der Staat sich in Aufruhr befand wegen einer neuen Verfassung, die irgendwas mit den öffentlichen Schulen zu tun hatte, einem der Themen, über die sich Papa häufig ausließ. Eines Tages zeigte er einen Brief von General Wade Hampton vor. »Er sitzt einem Sonderkomitee vor, das einen Protestbrief an den Kongreß wegen dieser verdammenswer-ten Verfassung schreiben will.« Am nächsten Abend wedelte er mit einem billigen Blättchen herum und erklärte:

»The Thunderbolt ist ein Schmutzblatt, aber in diesem Fall hat der Redakteur recht. Eine Eigentumssteuer von einem Tausendstel pro Dollar wäre Diebstahl. Der Schulplan ist nichts weiter als eine Sache der Unterstützungsempfänger, angekurbelt von ungefähr sechzig Negern, von denen die meisten Analphabeten sind, und fünfzig weißen Männern, bei denen es sich um Ausgestoßene des Nordens oder Südstaaten-Renegaten handelt. Ihr Herumgepfusche an der sozialen Ordnung wird diesen Staat moralisch und finanziell zerstören.«

Schließlich fühlte sich Marie-Louise noch durch die Konkurrenz in der Akademie für junge Damen beunruhigt, wo sie Latein und Griechisch lernte (langweilig), dazu Algebra (ein Mysterium) und gesellschaftliches Betragen (was bei Jungs nützlich sein konnte; zumindest hatte man ihr das gesagt). Zum Abschluß des Frühjahrssemesters plante Mrs. Allwick einen Abend mit Tanzdemonstrationen unter Aufsicht von Mr. LaMotte, der aushilfsweise als Tanzlehrer der Akademie fungierte. LaMotte war ein eigenartiger Mann mit einem mächtigen Körper, einer fast weiblichen Grazie und beunruhigenden Augen; sie schienen sich, wie Marie-Louise fand, stets auf eine andere Person zu richten als die, mit der er es gerade zu tun hatte.

LaMotte hielt den jungen Damen häufig flammende Reden über >Südstaatenweiblichkeit<. Er sagte, sie repräsentierten die schönsten Blumen des Landes und müßten sich selbst gegen Männer schützen, die sie in den Schmutz ziehen wollten. Marie-Louise wußte, daß >in den Schmutz ziehen< etwas mit dem physischen Zusammensein von Männern und Frauen zu tun hatte, aber wenn sie sich im Geiste noch weiter vorwagte, dann versank sie bald schon wieder in den Nebeln der Unwissenheit. Zwei ihrer Klassenkameradinnen kicherten bei solchen Anspielungen; sie verstanden alles oder taten zumindest so. Es machte sie so wütend, daß sie am liebsten ausgespuckt hätte.

Um das Programm auch für Eltern interessant zu gestalten, würde man eine großartige Darbietung geben. Eines der sechs Mädchen in Marie-Louises Klasse würde ausgewählt werden, um die häufig erwähnte Südstaatenweiblichkeit zu repräsentieren. Mrs. Allwick würde die Auswahl treffen. Marie-Louise hatte entschieden, daß es die wichtigste Sache in ihrem Leben war, daß die Wahl auf sie fiel, gleich nach einem Jungen, der ihr den Hof machte. Allerdings fürchtete sie, der Preis würde an eine dumme Kuh namens Sara Jane Oberdorf gehen, die behauptete, sieben Jungs würden ihr den Hof machen. Marie-Louise hatte drei davon gesehen. Einer war der Sohn eines Leichenbestatters, der gern über Beerdigungen sprach und Vergleiche zog. Ein anderer war der schüchterne Sohn eines örtlichen Beamten; er gab nie Antwort, wenn man ihn begrüßte, sondern grunzte lediglich. Der dritte war ein so übergewichtiger Tölpel, daß sein Genick wie bei manchen alten Damen herausquoll, die >kropf-krank< waren, wie es ihre Mutter bezeichnete. Aber zumindest atmeten und lebten diese drei Jungs und waren keine Wesen aus irgendeinem rosigen Traum.

Anfang April verließ Marie-Louise eines Nachmittags die Schule um halb fünf; als sie heraustrat, stellte sie fest, daß es heftig regnete. Im Hafen konnte sie nicht mal Fort Sumter sehen.

Ihre plappernden Freundinnen huschten zu in Kutschen wartenden Eltern oder Dienern. Marie-Louise packte ihren Vergil und ihr Algebrabuch fester und bereitete sich darauf vor, bis zur Tradd Street völlig durchnäßt zu sein. Dann bog ein vertrauter Zweisitzer um die Ecke von der South Battery, und Papa winkte mit seinem Stock mit Goldknauf.

»Ich war bei einer Komiteesitzung in Ravenels Haus. Ich sah, daß es zu regnen anfing, und dachte mir, ich erspare es dir, durchnäßt zu werden. Steig ein. Ich muß kurz beim Mills House vorbei, um einige Papiere abzugeben. Anschließend fahren wir heim.«

Marie-Louises Locken hüpften, als sie sich neben ihn unter das Dach des Zweisitzers schwang. Mit bewundernden Blicken schaute sie ihren blassen, müde wirkenden Vater an. So viel Aufmerksamkeit hatte er ihr seit Monaten nicht mehr zukommen lassen.

Vor dem Hotel standen viele Kutschen und Reitpferde. Cooper fand einen freien Raum und befahl ihr zu warten. Er blieb länger weg als die versprochenen zehn Minuten.

Der Regen wurde schwächer, die schnell treibenden Wolken zogen aufs Meer hinaus, durchbrochen von vereinzelten Sonnenstrahlen. Während sie wartete, bemerkte sie eine kleine Ansammlung von Männern und Frauen, die einem Redner auf den Stufen der Hibernian Hall lauschten. Ganz in der Nähe hielten andere Männer Plakate hoch. Auf einem stand: Republikaner für freie Schulen.

Gelangweilt verließ Marie-Louise die Kutsche und schlenderte auf die Menge zu. Der heisere Sprecher, der wie ein Mulatte aussah, drängte seine Zuhörer, für die neue Staatsverfassung zu stimmen. Marie-Louise blieb hinter der Menge stehen. Die beiden Männer direkt vor ihr waren unrasierte Farmertypen. Sie warfen ihr mißtrauische Blicke zu.

Plötzlich bemerkte sie ein Stück links von ihr einen jungen Mann. Er trug einen rehbraunen Mantel, Reithosen und eine bauschige braune Krawatte. Er starrte sie an.

Beinahe wäre sie im Boden versunken. Sie erkannte das blasse Gesicht, das blonde Haar, den Schnurrbart und diese leuchtenden blauen Augen. Es war der junge Zivilist, der in dem Zug von Coosawhatchie der Negerin seinen Platz angeboten hatte.

Er lächelte und tippte an seinen Hut. Marie-Louise lächelte; sie mußte feuerrot geworden sein. Heftig preßte sie ihre Bücher gegen ihren Busen. Benahm sie sich wie eine absolute Närrin?

»... und es steht jedem Bürger mit einem reinen Gewissen gut an, freie Schulen für South Carolina mit seiner Ja-Stimme zur Verfassung zu unterstützen, eine Woche von ...«

»Einen Moment!«

Köpfe fuhren herum. Marie-Louise wirbelte ebenfalls herum.

Der Schock ließ ihre Beine ganz schwach werden. Woher war Papa plötzlich so lautlos aufgetaucht? Nun, offensichtlich vom Mills House, während sie in die Betrachtung des jungen Mannes versunken war.

Cooper schob sich durch die Menge. »Ich bin ein Bürger mit einem Gewissen. Ich würde gern eine Frage stellen.«

»Jawohl, Sir, Mr. Main. Ich kenne Sie«, sagte der Redner leicht spöttisch. Marie-Louise warf dem jungen Mann einen Blick zu, versuchte auszudrücken, daß Cooper ihr Vater war, aber natürlich konnte der junge Mann das nicht verstehen. Zur Menge gewandt, sagte der Sprecher: »Dieser Gentleman ist Geschäftsmann und Schiffsagent. Ein Demokrat.«

Wie vorauszusehen gewesen war, ging ein abfälliges Gemurmel durch die Menge.

Als jemand sagte: »Zum Teufel mit ihm«, reagierte MarieLouise darauf mit zornigem Gesichtsausdruck. Wie konnten sie es wagen, so grob mit ihrem Vater umzuspringen?

Unter Einsatz seiner Ellbogen kämpfte sich Cooper zu den Stufen der Hibernian Hall vor. Marie-Louise sah ihm an, daß er wütend war. »Ich habe mir die schönen Phrasen angehört, die dieser Gentleman als Teil seiner republikanischen Litanei absondert. Ich frage mich, ob irgendeiner von euch die wahren Kosten dafür kennt?«

»Er soll das Maul halten«, brüllte einer der vor Marie-Louise stehenden Männer.

»Nein«, sagte Cooper, »ich bin mir sicher, ihr kennt sie nicht. Deshalb darf ich die zartbesaiteten Idealisten daran erinnern, daß South Carolina früher, als es noch reich war, lediglich 75.000 Dollar im Jahr aus Vermögenssteuern zur Unterstützung der öffentlichen Schulen aufbringen konnte. Ein Großteil des Geldes stammte aus der Besteuerung für schwarze Leibeigene.«

»Holt ihn runter«, brüllte der ungehobelte Bursche. MarieLouise hätte am liebsten ihre Röcke gerafft und ihn mit ihrem spitzen Schuh getreten. Der Redner gab einigen zerlumpten Musikern ein Zeichen, die daraufhin >The Battle Hymn of the Republic< auf Querpfeifen zu spielen begannen.

»Verdammt noch mal, ich werde sagen, was ich zu sagen habe.« Coopers Gesicht hatte sich gerötet. Marie-Louise erschrak. Sie sah nicht, daß der junge Mann sich aus der Menge drängte, einen Bogen schlug und auf sie zukam.

Die Musik übertönend brüllte Cooper: »Das gewaltige, schlecht geplante Schulsystem kostet schätzungsweise fast eine Million Dollar im Jahr. Dieses Geld kann nur von Steuern kommen. Wenn ihr für die von Republikanern inspirierte Verfassung stimmt, dann legt ihr dem Staat eine untragbare Last auf. South Carolina liegt auf den Knien, versucht sich zu erheben. Dieses Schulsystem wird das Land für immer niederdrücken.«

Eine Frau drohte ihm mit ihrem Sonnenschirm. »Es sind nicht die Steuern, die Sie hassen. Es sind die farbigen Menschen.«

Der ungehobelte Bursche brüllte: »Runter mit dir, oder wir ziehen dich runter!«

Marie-Louise überlegte nicht, bevor sie handelte. Mit ihrem Vergil schlug sie dem Mann zweimal kräftig gegen die Schulter. »Lassen Sie ihn in Ruhe. Er hat das gleiche Recht zu sprechen wie Sie auch.«

Der Mann drehte sich um; sein Begleiter ebenfalls. MarieLouise betrachtete sie näher und wurde starr vor Schreck. Der Schreihals hatte ein milchiges Auge und trug einen Goldring in seinem linken Ohr. Er warf einen Blick auf Marie-Louises Busen und grinste hämisch. »In Charleston lieben sie junge Konkubinen, was?« Er sprach mit einem harten Yankee-Akzent.

»Hüten Sie Ihre Zunge, Sir«, sagte eine leise Stimme neben ihr. Sie drehte sich um und sah den blauäugigen Fremden vor sich. Er trat den beiden älteren Männern ziemlich sorglos gegenüber. »Ich glaube, der Gentleman, der da spricht, ist mit der jungen Dame verwandt. Entschuldigen Sie sich bei ihr.«

»Verdammt will ich sein, wenn ich mich bei irgendeiner Süd-staatlerin entschuldige. Warum stellst du dich auf ihre Seite, Sonny? Du klingst, als kämst du aus dem Norden.«

»Chicago«, sagte er nickend. »Ich stelle mich auf ihre Seite, weil Sie die Manieren eines Schweines haben und der Süden den Respekt vor Frauen nicht allein gepachtet hat.«

»Kleiner Klugscheißer.« Der Mann mit dem trüben Auge holte mit der Faust aus. Eine Frau kreischte auf. Plötzlich zischte Coopers Stock auf den erhobenen Unterarm herab. Er schlug ein zweites Mal mit dem schweren Goldknauf zu, während der junge Mann Marie-Louise an der Taille faßte, hochhob und sie abseits von dem Gedränge auf dem Bürgersteig wieder absetzte.

Schnell atmend hob der junge Mann verteidigungsbereit seine Fäuste. Es war eine übermäßig dramatische Pose, aber sie erregte Marie-Louise. Milchauge griff nach Cooper, der mit der Stockspitze nach ihm stieß. Die restliche Menge, obwohl Republikaner, wandte sich schnell gegen die beiden ungehobelten Burschen. Zahlreiche Hände hielten sie zurück. Der Redner ebenso wie einige andere entschuldigten sich.

Cooper schob Milchauge mit seinem Stock beiseite. Der junge Mann senkte die Fäuste. »Danke, Sir«, sagte Cooper zu ihm, sich den Rockaufschlag abwischend. Auf einmal konzentrierte sich sein Blick auf das Gesicht des jungen Mannes. Er runzelte die Stirn: »Wir sind uns bereits begegnet.«

»Nicht offiziell, Sir. Wir haben uns vor einiger Zeit im Zug von Coosawhatchie gesehen.«

»Ja.« Mit diesem einen Wort brachte Cooper ihn zum Schweigen. Die Menge begann sich zu zerstreuen. Der Redner und die Musiker zogen in einer improvisierten Parade die Meeting Street hinab. Einige andere schlossen sich ihnen an. Milchauge stand da und beobachtete Marie-Louise und ihre beiden Beschützer, bis sein Kumpan ihn wegzog.

Cooper verbeugte sich.

»Cooper Main, Sir. Ihr ergebener Diener.«

»Theo German, Sir. Der Ihre. Ich finde es bedauerlich, daß heute die Freiheit, anderer Meinung zu sein, nicht toleriert wurde.«

Cooper zeigte ihm ein kühles Achselzucken. Marie-Louise erinnerte sich, wie Papa gekocht hatte, als der junge Nordstaatler der schwarzen Frau seinen Sitzplatz angeboten hatte. »Die neue Verfassung ist eine grimmige Angelegenheit, Mr. German. Unser Überleben hängt von ihrer Ablehnung ab.«

»Ich bin nichtsdestoweniger dafür, Sir.«

»Das vermutete ich, Sir. Sie stammen nicht aus Carolina.«

»Nein, Sir, ich bin nur vorübergehend hier, aufgrund meines, äh, Jobs. Ich wohne bei Mrs. Petrie in der Chalmers Street.«

Marie-Louise schaute an der Schulter von Papa vorbei in die blauen Augen von Theo German. Sie begriff, warum er seine Adresse genannt hatte. Cooper hegte einen ähnlichen Verdacht.

»Papa, du hast mich nicht vorgestellt.«

Mit eisiger Stimme sagte Cooper: »Meine Tochter, MarieLouise Main, die Sie so aufmerksam beschützt haben. Ich stehe in Ihrer Schuld.« Cooper faßte ihren Ellenbogen. »Gehen wir?«

Die Wolken über der Meeting Street ließen einige Sonnenstrahlen durch. Theo Germans Gesicht leuchtete auf wie das einer goldenen Statue. Marie-Louise fühlte sich schwach.

Der junge Mann trat plötzlich einen Schritt vor. »Sir, ich frage mich, ob ich um Ihre Erlaubnis bitten dürfte .«

Oh ja, dachte sie ganz benommen vor Glück. Bevor er den Satz beenden konnte, stieß Cooper sie buchstäblich auf das Mills House zu. »Guten Tag, Mr. German.«

In der Kutsche schlug sie vor lauter Empörung mit ihren behandschuhten Händen auf ihren Rock. »Papa, wie konntest du nur! Er wollte um Erlaubnis zu einem Besuch bitten.«

»Das dachte ich mir. Wir brauchen keine Yankee-Abenteurer, die die Tradd Street verschmutzen. Womöglich ist er ein Organisator der Union League oder etwas noch Schlimmeres. Er hat sich wie ein Gentleman benommen. Aber das reicht nicht, um meiner Tochter den Hof zu machen. Ich sage dir Bescheid, wenn es dafür an der Zeit ist.«

»Papa«, sagte sie, den Tränen nahe. Er ignorierte sie. Er ließ das Pferd antraben, nach Süden auf die Tradd Street zu. Sie rollten an dem jungen Theo German vorbei, der immer noch, eingehüllt in goldenes Licht, vor der Hibernian Hall stand.

Chalmers Street, Chalmers Street, dachte sie und wollte ihm zuwinken, wagte es aber nicht. Ich bin eine erwachsene Frau. Ich lasse mir nicht vorschreiben, wen ich lieben darf. Mrs. Pet-rie, Chalmers Street.

Cooper hatte keine Ahnung, daß er soeben eine Revolte entfacht hatte.

Marie-Louise brachte zwei Tage damit zu, ihre Nachricht auf Lavendelpapier zu verfassen. Darin dankte sie Theo German weitschweifig, daß er ihre Ehre beschützt hatte, wie sie es formulierte. Schließlich fügte sie noch einen letzten Absatz hinzu, nachdem sie die schlimmsten Konsequenzen abgewogen und sich vorgestellt hatte, wie sie damit fertig wurde, und lud ihn zu dem Frühjahrsfest von Mrs. Allwick ein: »Wenn Sie sich die Mühe einer Antwort machen wollen, dann schicken Sie diese bitte an die Schule.« Mit diesen Worten schloß ihre Botschaft. Sie unterzeichnete mit ihrem Namen, faltete das Papier und schrieb die Adresse der Schule auf die Außenseite. Sie befeuchtete die Note mit einem schweren Blumenparfüm, bevor sie das Ganze versiegelte.

Der Neger, der alle möglichen Arbeiten in der Schule erledigte, stellte das Briefchen ohne eine Frage zu. Am nächsten Tag kam ein knapper, in kühner Schrift gehaltener Brief zurück:

Ich fühle mich geehrt und nehme die Einladung an.

Ihr ergebener,

Brvt. Capt. Theo German

»Captain!« rief sie und drückte den Brief an ihre Brust. Dann war er also tatsächlich ein Yankee-Abenteurer. Wahrscheinlich einer dieser Exsoldaten, die gekommen waren, um zu rauben und zu plündern, wie Papa es ausdrückte. Sie hoffte nur, daß er nicht bei Sherman gewesen war. Papa würde verrückt werden.

Sie zählte die Tage bis zu dem Frühjahrsfest, das eine Woche nach den Wahlen stattfand. General Canby stellte im ganzen Staat Soldaten für gefährdete Orte ab, um Übergriffe auf schwarze Wähler zu verhindern. Die neue Verfassung wurde mit ungefähr siebzigtausend gegen zwanzigtausend Stimmen angenommen. Man hätte meinen können, ein Hurrikan hätte die

Tradd Street heimgesucht. »Nur sechs Demokraten sind für die einunddreißig Senatssitze des Staates gewählt worden! Und lediglich vierzehn demokratische Abgeordnete! Die anderen hundertzehn sind verdammte schwarze Republikaner!«

»Cooper, bitte fluche nicht vor deiner Tochter«, sagte Judith.

»Wir sind ruiniert. In einem Jahr werden wir bankrott sein.« Sein Zorn hielt sich bis zum Dienstagabend, dem Abend der Festveranstaltung.

Lampen und Kerzen ließen Mrs. Allwicks Haus hell erstrahlen. Stühle waren überall in dem altmodischen Salon aufgebaut; vor dem angrenzenden Speisesaal hing ein weißer Gazevorhang.

Kichernde Mädchen mit Lorbeerkränzen und Bettlakenroben bauten sich um Sara Jane Oberdorf auf, die für die Rolle der Südstaatenweiblichkeit auserwählt worden war.

Marie-Louise war das längst egal. Sie zitterte vor Erwartung. Wenn das nicht die Liebe war, dann war es etwas ebenso Benebelndes und Köstliches. Sie brachte es kaum fertig, den Mund zu halten, als Mrs. Allwick ruhegebietend zischte.

Der Vorhang wurde weggezogen. Marie-Louise, die in steifer Pose neben den anderen Mädchen stand, suchte mit ihren Blicken das Publikum ab. Beinahe wäre sie in Ohnmacht gefallen. Was war sie doch für ein alberner Dummkopf! Sie hatte das Offensichtliche übersehen und etwas vollkommen Falsches angenommen.

Alle Stühle waren von Eltern und Verwandten in bester Kleidung besetzt. Er war gezwungen, ganz hinten zu stehen, in der Fensternische, von der aus man auf die Straße herabsehen konnte. All die Lampen, die extra für dieses Programm hereingeschafft worden waren, ließen ihn in seinem Armeeblau mit den glänzenden Metallknöpfen förmlich erstrahlen. Es war kein Ex-Captain. Er war jetzt Captain.

Und dort, in der zweiten Reihe, saß ihre Familie, Papa sichtlich aufgebracht. Er wußte, daß sie ihm getrotzt hatte. Und das wegen eines Armeeoffiziers der Union. Wie sollte sie das je erklären?

Sie verlor die Balance, stieß Sara Jane von der Kiste, auf der sie stand. Die Südstaatenweiblichkeit flog in ihren Hofstaat und verstreute ihn kreuz und quer. Die Kinder im Publikum kreischten vor Lachen, die bildliche Darstellung endete im Chaos ... und der Abend fing gerade erst an.

Zum Abschluß des Programms führten die jungen Damen eine kunstvolle Quadrille vor. Am Ende sprangen einige Eltern auf, um zu applaudieren. Bald hatten sich alle erhoben. Der Vorhang ging wieder auf, und Mrs. Allwicks Schülerinnen nahmen mit einer Verbeugung die Ovation entgegen. Ein paar Mädchen kicherten; wegen ihres Gürtels hatte Sara Jane Schwierigkeiten, sich in der Taille zu biegen. Während sie sich abmühte, schoß sie mörderische Seitenblicke in Marie-Louises Richtung. Coo-pers Tochter sah allerdings nur den jungen Offizier, der wild klatschte.

Während sich das Publikum vermischte, griff Judith nach Coopers Arm, um seine Aufmerksamkeit zu erregen. Auf einer Seite des Salons stand Des LaMotte in weißer Krawatte, einem dunkelgrünen Wams und Kniehosen und starrte Cooper an, während er den Eltern, die ihm gratulierten, ein Danke zumurmelte.

»Cooper, ist das der Tanzlehrer, der ...«

»Genau der«, schnappte er. »Leere Drohungen, nichts weiter.«

»Er schaut aus, als würde er dich am liebsten kreuzigen.«

Cooper warf ihm einen Blick zu, dem LaMotte, ohne mit der Wimper zu zucken, standhielt. Dann widmete er seine Aufmerksamkeit wieder seinen Bewunderern, verbeugte sich und verteilte Handküsse.

»Wir gehen«, rief Cooper seiner Tochter zu, die sich durch die Menge der Schüler und Eltern vor dem Vorhang drängte. »Hol deinen Hut und deinen Schal.«

»Bitte, Papa, ich muß noch mit jemandem sprechen.«

»Ich hab' ihn gesehen. Mit Canbys Söldnern wollen wir nichts zu tun haben.«

Judith sagte: »Ich glaube, es ist unfair, ihr ein harmloses Gespräch von ein paar Minuten zu verweigern.«

»Ich entscheide, was harmlos ist und was nicht.« Cooper packte das Handgelenk seiner Tochter. »Wo sind deine Sachen?«

Marie-Louise verfärbte sich. Am liebsten wäre sie auf der Stelle tot umgefallen. Captain German kam auf sie zu. Durch ihre aufsteigenden Tränen hindurch sah sie ihn plötzlich stoppen. Sie versuchte, sich loszureißen, aber ihr Vater hielt sie fest.

Judith gab auf und eilte davon, um die Sachen ihrer Tochter zu holen. Augenblicke später schob Cooper Marie-Louise durch eine Nebentür in eine Passage hinaus, die zur Legare Street führte. Sie schluchzte laut.

41

Ein Mann von sechsundsiebzig ist zu alt für so was, dachte Jasper Dills. Seine Fahrt mit der Baltimore & Ohio war ein schlafloser Alptraum aus Rucken, Stoßen, Ruß und Dreck gewe-sen. Selbst ein Wagen der ersten Klasse war mit Pöbel vollgestopft. Schwitzende Krämer, drängelnde Mütter mit heulenden Kindern, elegante Gentlemen, die Opfer für ihre Kartenbetrügereien suchten. Schrecklich, unerträglich.

Doch er ertrug es, oder? Er war dem gebieterischen Ruf gefolgt, kaum daß er das Telegramm erhalten hatte. Er hatte seine Reisetasche gepackt und eine Fahrkarte gekauft, weil er die Konsequenzen einer Weigerung seinerseits fürchtete.

In der Abenddämmerung fuhr der Zug in den Bahnhof ein. Es war ein milder Frühlingsabend; entlang der Route bis zur Ostseite der Stadt blühten überall Blumen und Bäume. Gott, es war entsetzlich, jetzt von Washington weg zu müssen, wo sich der Vorhang zum letzten Akt des Dramas von Johnson und den Radikalen hob - die Senatsverhandlung gegen den Präsidenten mit elf Anklagepunkten. Nie zuvor in der Geschichte der Republik hatte es eine Gelegenheit gegeben, den Sturz eines amtierenden Präsidenten mitzuerleben.

Doch das Drama war fern und unpersönlich, während dieses hier, falls man es als Drama bezeichnen wollte, sein Leben direkt berührte. Auf dem ganzen Weg durch die bergige Finsternis von West Virginia hatte er sich andere Gründe für die Vorladung auszumalen versucht, neben dem einen Grund, den er befürchtete.

Am Bahnhof war Dills aus dem Zug gestiegen und beinahe an dem Gestank von Schweinen und noch mehr Schweinen erstickt. Ein europäischer Reisender hatte Cincinnati einmal als >Monsterschweinerei< bezeichnet und ihm den Spitznamen Por-kopolis verpaßt.

Die Droschke mühte sich einen Hügel hoch und bog in eine gekrümmte Sackgasse ein, wo sie stoppte. Zwischen der Sackgasse und dem Fluß ragte ein gewaltiges, im gotischen Stil erbautes Haus drohend wie ein Schloß auf; die drei achteckigen Türme zur Flußseite hin verstärkten diese Wirkung noch. Der Schmutz vieler Jahre hatte das grobe Steinwerk verfärbt, Efeu hatte es überwuchert. Viele Fenster im Erdgeschoß waren mit Brettern vernagelt, eine ganze Menge kleiner, bunter Glasscheiben waren zerbrochen.

Hinter einem rostigen Eisenzaun zog sich ein unkrautüberwucherter Hof bis zum Eingang hin. Dills bemerkte dort eine im Schatten lauernde Gestalt. Nach fünfundzwanzig Jahren doch nicht der gleiche verdammte Verwalter, dachte er, nahm seine Reisetasche und stieg aus der Kutsche. Er bezahlte den Fahrer und fügte bedauernd ein reichliches Trinkgeld hinzu.

»Ich verdopple das, wenn Sie mich in einer Stunde wieder abholen kommen«, sagte er. Es war schändlich, so viel Geld auszugeben, aber der Gedanke, hier draußen ohne Transportmittel festzusitzen, entsetzte ihn. In der Ferne hörte er das Lied eines Vogels, aber hier in der Nähe des großen gotischen Hauses war kein einziger Vogel zu sehen. Er hatte das Gefühl, an einem Ort der Toten gelandet zu sein.

»In Ordnung, Sir«, sagte der Fahrer. »Wußte gar nicht, daß in diesem alten Schutthaufen noch jemand wohnt.« Und damit ratterte die Droschke den Hügel hinab.

Er hörte den schlurfenden Schritt des alten Mannes. Es war tatsächlich der gleiche Verwalter, der immer noch für die Bewohnerin des Hauses arbeitete. Er war schlecht gekleidet und ging sehr gebückt; sein Alter ließ sich unmöglich schätzen, weil er ein Albino war, mit rotgefärbten Augen und einer Haut, die fast so weiß war wie sein Haar.

Abgebrochene Fingernägel wurden sichtbar, als er nach dem Tor griff, um es zu öffnen. Rostige Angeln quietschten. Unter seiner dreckigen Kappe musterten seine roten Augen den Besucher, während er das Tor aufzog. Dills trat hindurch, und der Verwalter knallte das Tor wieder zu, ein Laut wie ein Akkord aus lauter falschen Tönen.

Sie waren den halben Weg hochgegangen; Dills zuckte heftig zusammen, als der Verwalter plötzlich hinter ihm sagte: »Sie ist Ihnen auf die Schliche gekommen.«

Er fühlte sich zerbrechlich und sehr verwundbar. Sein Herz flatterte und raste. Er versuchte, etwas von der Abneigung zu mobilisieren, die während der langen, schmutzigen Reise in ihm aufgestiegen war. Er benötigte sie dringend, um das Kommende zu ertragen.

Ihr Zimmer lag in der Spitze des größten achteckigen Turmes. Über eine knarrende Treppe und durch einen Eingang in Form eines klassischen gotischen Torbogens gelangte er dorthin. Er war außer Atem und kam sich klebrig und verschmutzt vor. Wenigstens ging hier oben ein Luftzug. Er spürte ihn, feucht und übelriechend, als er über den Steinboden auf die Gestalt zuschlurfte, die auf einem riesigen, geschnitzten Stuhl mit hoher Rückenlehne saß.

Der Stuhl war das einzige Möbelstück neben einem zerbrochenen Spinnrad. Auf dem Boden standen Schüsseln und Schalen, in denen ein Dutzend dicke, selbstgemachte Kerzen brannten, die die Düsternis etwas aufhellten und es ihm ermöglichten, die Gestalt auf dem Stuhl zu erkennen. Hinter ihr hatte man aus zwei eingeschlagenen Fenstern eine beeindruckende Aussicht auf den Ohio River und das dunkelblaue Hügelland von Kentucky. Barken mit schimmernden Laternen schoben sich langsam über den Fluß.

»Ich habe keinen Stuhl für Sie, Mr. Dills.« Ihr Ton drückte aus, daß es sich dabei um eine Strafe handelte.

»Das macht überhaupt nichts. Ich bin sofort gekommen, als mich Ihre Nachricht erreichte.«

»Das wundert mich nicht. Das wundert mich ganz und gar nicht - um die durch Lug und Trug erhaltene Pension zu schützen.«

Sie griff unter ihren Stuhl. Er hörte Glas klirren. Dann raschelte etwas. »Sie haben mich getäuscht. Gelegentlich holt mein Verwalter eine Lokalzeitung. Das hier hat er entdeckt. Sie haben mich getäuscht.«

»Darf ich dazu sagen ...«

»Sie sagten, Elkanah sei in Texas. Sie sagten, er sei ein reicher und angesehener Baumwollpflanzer. Ich habe Ihnen vertraut und Sie jahrelang auf der Basis dieser Information bezahlt. Und das ist Ihre Dankbarkeit? All diese Briefe, die die Wahrheit verbergen?«

Das zerbrechliche Herz in seiner Brust raste schneller; blinzelnd stellte Dills seine Reisetasche ab. »Darf ich das sehen?«

»Sie wissen bereits, was da steht.« Sie streckte die Hand aus; der Handrücken war von dicken, blauen Adern überzogen. Er nahm die Zeitung. In der allgemeinen Nachrichtenkolumne auf der Titelseite entdeckte er einen Artikel mit der Überschrift BIZARRER MORD IN PENNSYLVANIA.

Er überflog den Absatz, bis er auf den Namen Elkanah Bent stieß. Er hörte auf zu lesen und gab die Zeitung mit zitternder Hand zurück.

Die Frau hielt sie einen Moment fest und schleuderte sie dann von sich. Rational gesehen wußte Dills, daß er von einer so alten Person kaum etwas zu befürchten hatte. Und doch hatte er Angst.

Das lag teilweise an dem Raum - die Kerzen in den fettigen Tümpeln geschmolzenen Talgs - und teilweise an der Frau. Sie wog kaum hundert Pfund und war zerstört vom Alter und von den unergründlichen Emotionen, die in ihrem kranken Geist all die Jahre gewütet hatten, so daß sie kaum noch menschlich aussah. Sie ähnelte mehr einer Wachsfigur, einem gespenstischen Museumsstück mit merkwürdiger Ähnlichkeit mit ihrem Albino-Verwalter. Sie puderte ihr Gesicht, sie puderte ihre Haare, sie puderte ihre Hände, über allem lag eine dicke, weiße Staubschicht. Sie bildete eine Art Kruste unter ihren lebendigen, alten, gelben Augen.

Die Jahre hatten ihre Augenbrauen verschwinden lassen. Knochige Bögen preßten sich gegen ihre fast durchsichtige Haut, als suchte der Schädel einen Weg ans Licht.

Dills Versuch, seine Abneigung und seinen Widerwillen als Abwehrwaffe einzusetzen, war kläglich gescheitert. Die gelben Augen, die ihn, ohne zu zwinkern, wie die Augen einer gepanzerten Echse anstarrten, erinnerten ihn an ihren Geisteszustand. Er kannte die Geschichte des Nervenleidens, das in ihrer Familie verbreitet war, aber das machte sie nicht weniger furchtein-flößend. Am liebsten wäre er geflohen.

»Mein Sohn hat einen scheußlichen Mord begangen. Warum?«

»Ich weiß es nicht«, log Dills. »Ich kenne seine Beziehung zu dem Opfer nicht. Vielleicht eine zufällige Wahl.« Wozu sollte er versuchen, die Vendetta gegen Hazard und Main zu erklären? Dills hatte sich das selbst niemals vernünftig klarmachen können.

Er leckte sich über die rissigen Lippen. Irgendwo unter seinen Füßen hörte Dills das Huschen von Ratten.

»Sie teilten mir mit, Elkanah sei in Texas. Ich habe Brief um Brief .«

»Madam, ich wollte Ihnen die schmerzliche Wahrheit ersparen.«

Trockene Lippen teilten sich und entblößten gelbe Zähne.

»Sie wollten sich den Verlust der Pension ersparen.«

»Nein, nein, das war es nicht.« Dills gab es auf. Die wahnsinnigen alten Augen, die Augen eines Inquisitors, durchschauten seinen Betrug. »Ja, das stimmt.«

Sie seufzte, schien in ihrem schweren, grausilbernen Kleid noch mehr zu schrumpfen. Grüner Schimmelpilz zierte den Spitzenbesatz, der größtenteils verrottet war. Das tiefgeschnittene Oberteil hing von ihrer ausgezehrten, stark gepuderten Brust herunter.

Ihre Lippen zitterten kurz, und eine ihrer haarlosen Augenbrauen hob sich, als sie sagte: »Das ist vielleicht Ihr erstes ehrliches Wort heute abend. Sie haben mich grausam betrogen, Dills. Eine Voraussetzung für die Pension war, daß Sie mit äußerster Sorgfalt über Elkanah wachen.«

Seine Abneigung verschaffte sich endlich Luft. »Das habe ich auch getan, bis er es unmöglich machte mit seinem ...« Er unterdrückte das Wort verrückt. ». seinem fehlerhaften Betragen.«

»Aber es war eine Grundlage unserer Vereinbarung.«

»Ich würde es zu schätzen wissen, wenn Sie mir gegenüber etwas weniger unfreundlich wären«, sagte er heftig. »Ich bin Ihrem Ruf aus reiner Rücksicht gefolgt.«

»Aus Furcht«, zischte sie. »Aus irgendeiner schwachsinnigen Hoffnung heraus, Sie könnten die Pension weiterhin beziehen.«

Er trat zurück; ihre gelben Zähne waren voll sichtbar, wie bei einem tollwütigen Hund. »Nun, das ist vorbei. In dem Zeitungsartikel steht, daß mein armer Elkanah irgendeine unselige Frau getötet hat, aber niemand weiß, warum und wo er steckt, weil er schon vor Jahren untergetaucht ist. Das wußten Sie.«

Obwohl er noch Angst hatte, empfand Dills Erleichterung. Vielleicht waren seine Nerven zu stark belastet worden und konnten nichts mehr ertragen. »Das stimmt. Ich verstehe Ihre Verärgerung.«

»Ich liebte ihn. Ich liebte meinen Sohn. Ich liebte meinen armen Elkanah. Selbst wenn er Hunderte von Meilen entfernt war, selbst als er erwachsen war und ich keine Ahnung hatte, wie er aussah, wie seine Stimme klingen mochte.« Mit einer Hand fuhr sie an ihrem Gesicht vorbei. Ihre Finger waren unter den dreckverkrusteten Ringen aus Silber und Gold, bei denen einige Steine fehlten, kaum zu sehen. Es war eine merkwürdig wischende Bewegung, als fühlte sie sich von einer Spinnwebe belästigt, die er nicht sehen konnte. Es gab genügend Spinnweben hier.

»Nun«, sagte die Frau weniger giftig, »ich bin froh, endlich die Wahrheit zu wissen. Mein Sohn ist also nicht in Texas zu Reichtum gekommen?«

»Nein. Niemals.«

»Wo versteckt er sich, Dills?«

Ah, eine Chance, sie zu verletzen. Energisch sagte er: »Ich habe nicht die geringste Ahnung.«

»Wann haben Sie den Kontakt verloren?«

»Kurz vor Kriegsende. Er verließ die Unionsarmee mit Schimpf und Schande. Er desertierte.«

»Oh, Gott. Mein armer Junge. Mein armer Elkanah.«

Wieder tastete sie unter ihrem Stuhl herum, tauchte mit ihrer Hand in die Spinnweben hinein. Sie förderte eine alte, grüne Weinflasche ans Licht, ebenso einen herrlichen Bleiglaskelch mit einem Sprung und einer dicken Schmutzpatina. Sie goß etwas dunkle Flüssigkeit in den Kelch, vielleicht Port oder Sherry, so braun wie Kaffee. Es roch nach verdorbenem Wein.

Sie nippte an dem Glas, ohne ihm etwas anzubieten. Nicht daß er das Dreckszeug angerührt hätte. »Ich würde mich gern zurückziehen, Madam. Es war eine anstrengende Reise.«

Der Blick ihrer gelben Augen glitt über sein Gesicht und dann weiter. Aus einem Mundwinkel sickerte ihr die dunkelbraune Flüssigkeit und lief über ihr Kinn, wie ein schlammiger Bach durch Schnee. »Sie haben ja keine Ahnung, wie ich ihn geliebt habe. Wie sehr habe ich mir ein anständiges Leben für ihn gewünscht. Vor allem, weil er solch einen schrecklichen Start hatte.«

Was wollte sie ihm sagen? Ihr Blick suchte den seinen, fast mitleiderregend in der plötzlichen Bitte um Verständnis. »Sie wissen Bescheid über meine Familie, Mr. Dills?«

»Ein bißchen. Nur vom Hörensagen.«

»Es existiert als Erbanlage eine gewisse geistige Instabilität. Sie reicht viele Generationen zurück und hat sich stark ausgebreitet.«

Sogar bis ins Weiße Haus, dachte er.

»Mein Vater litt darunter. Nach dem Tod meiner Mutter, als Heyward Starkwether mir den Hof zu machen begann, wurde mein Vater eifersüchtig. Ich war sein Lieblingskind. Heyward machte mir einen Antrag. Als ich meinem Vater mitteilte, daß ich ja sagen wollte, geriet er in unglaubliche Wut. Er hatte viel getrunken. Mein Vater war physisch ungemein stark.«

Dills hatte das Gefühl, er spähe in ein Grab. Auf eine perverse Weise fühlte er sich fasziniert. Irgendwo pfiffen die Ratten; dazu kam noch ein leiserer Ton, als wäre ein Beutetier geschlagen worden.

»Erlauben Sie mir, den Rest zu erraten, Madam. Eine Hochzeit war zu dem Zeitpunkt bereits eine Notwendigkeit, ja? Sie trugen bereits Starkwethers Kind, das später nach den Farmern, die ihn aufzogen, den Namen Bent erhielt. Sie teilten Ihrem Vater Ihren Zustand mit, und er schlug Sie.«

Ein leeres Lächeln. Ihre rechte Hand baumelte über die Stuhllehne. Der schmutzige Kelch entglitt ihrer Hand, fiel zu Boden und zerbrach Sie achtete nicht darauf. »Ah - ah. Wenn es nur so einfach wäre. An dem Abend, an dem ich ihm von meinen Heiratswünschen erzählte, wandte mein Vater Gewalt an. Ihre weiteren Schlußfolgerungen stimmen nicht.« Er verstand nicht, wie sie das meinte. »Später wollte ich das ungeborene Kind töten. In einem seiner Wutanfälle sagte mein Vater, er würde mich umbringen, wenn ich das täte. Ich hatte zuviel Furcht vor ihm, um ihn herauszufordern. Gemeinsam - er zwang mich dazu, verstehen Sie - ließen wir Starkwether kommen und überzeugten ihn von seiner Verantwortung. Von seiner Schuld, wenn Sie so wollen. Ich vermute, er trug daran bis zu seinem Tod, der arme, unglückselige Mann.«

Dills standen die Haare zu Berge. Allmählich fiel Licht in das modrige Grab.

»Wollen Sie damit sagen, Sie haben Starkwether betrogen, Madam?«

»Ja.«

»Mein verstorbener Klient - Elkanah Bents Gönner und erklärter Vater - hatte mit dem Jungen gar nichts zu tun?«

»Heyward nahm an, er sei Elkanahs Vater. Wir haben ihn davon überzeugt.«

»Aber er war es nicht?«

»Nein.«

»Mit anderen Worten, während all dieser Jahre wurde mein Klient genötigt, diesen Jungen zu unterstützen?«

»Nicht genötigt, Mr. Dills. Nachdem er erst einmal davon überzeugt war, daß Elkanah sein Kind war, half er ihm natürlich gern, wie es jeder Vater getan hätte.«

»Wer war Bents Vater, Madam?«

Die gelben Augen, feucht und irre, reflektierten die Kerzen in dem Turmzimmer.

»Aber Mr. Dills«, sie kicherte, eine gräßliche Koketterie, »Sie wissen es doch. Ich sagte, er wandte körperliche Gewalt an.«

»Jesus Christus! Elkanahs Vater war ...«

»Mein Vater, Mr. Dills. Meiner.«

Der mit Stroh übersäte steinerne Fußboden schien unter Jasper Dills zu erbeben. Das rationale Fundament seiner Welt drohte einzustürzen. »Auf Wiedersehen«, sagte er, riß seine Reisetasche an sich und eilte zur Tür. »Auf Wiedersehen, Miss Todd.«

In der Sackgasse wartete er zitternd auf die Rückkehr der Droschke. Jetzt verstand er Ursache und Ausmaß von Elkanah Bents Geisteskrankheit. Die Pension kümmerte ihn nicht mehr. Damit wollte er nichts mehr zu tun haben, genausowenig wie mit der Frau, die er betrogen hatte, oder mit Bent. Vor allem mit Bent, wo immer er auch sein mochte.

Endlich begriff Dills viel von dem, was ihm nie zuvor klargeworden war. Bents sinnloser Haß gegen die Mains und Ha-zards, der ihn seit seinen Kadettenzeiten beschäftigt hatte; die Brutalität des Mordes in Lehigh Station - Bent hatte das Böse geerbt.

Schweißtropfen perlten über Dills Gesicht, als er sich daran erinnerte, wie oft er Bent kritisiert, zurückgewiesen und aus seinem Büro geworfen hatte. Hätte er geahnt, was für ein Mensch Bent in Wirklichkeit war, dann hätte er so was niemals getan.

Die Droschke kam nicht. Dills nahm seine Reisetasche auf und stolperte den Hügel hinunter, bis zu dem Gasthaus, in dem er vorsorglich ein Zimmer bestellt hatte. Eine Stunde später zahlte er dort einen Wahnsinnspreis für eine Zinkwanne voll heißen Wassers.

Er saß mit einem Stück selbstgemachter Seife, so gelb wie ihre Augen, in der Wanne und fühlte sich bis auf die Knochen schmutzig; er schrubbte und schrubbte seine runzelige Haut und dachte an Elkanah Bent, dessen Hirn, dessen Blut, dessen innerstes Ich schon vor der Geburt vergiftet worden war.

Von einem unerklärlichen Kummer erfüllt, ließ Dills sich in der Wanne zurücksinken. Möge Gott Erbarmen mit dem armen Bent haben, den er sicherlich nie wieder zu Gesicht bekommen würde. Möge Gott noch mehr Erbarmen mit der Person haben, gegen die sich Bents Zorn als nächstes richten würde.

42

Nördlich von Washington an der Seventh Street Road bauten Farmer aus Maryland einmal wöchentlich Buden und Wagen für einen Markt unter freiem Himmel auf. Am letzten Samstag im März, zwei Tage vor Beginn der Senatsverhandlung gegen den Präsidenten, gingen Virgilia und Scipio Brown auf den Markt, um Nahrungsmittel für das Waisenhaus einzukaufen. Brown fuhr den Buggy und trug das Geld bei sich; seine Hartnäckigkeit, alle männlichen Pflichten auf sich zu nehmen, amüsierte Virgilia. Die Blicke, die sie auf sich zogen, weil er schwarz und sie weiß war, schienen ihn nicht zu stören.

Sie schoben sich durch die übervölkerten Marktgassen hindurch, zwischen Hühnern und Ferkeln in Kisten. Sie diskutierten über das Thema, das Washington momentan am brennendsten interessierte.

»Er reißt die Macht an sich, Virgilia. Schlimmer noch, er ist durch einen Meuchelmörder, nicht durch das Volk an die Macht gekommen.«

»Da muß man schon etwas deutlicher werden, um ihn verurteilen zu können.«

»Guter Gott, sie haben elf Anklagepunkte gegen ihn zusammengestellt.«

»Die ersten neun hängen alle mit Angelegenheiten seiner Amtszeit zusammen. Ben Butlers zehnter Artikel verurteilt Johnson wegen Reden, in denen er den Kongreß kritisiert hat. Ist die freie Rede nun ein Verbrechen oder ein Vergehen? Der elfte Artikel ist nichts weiter als eine Wundertüte.«

»Von deinem guten Freund, Mr. Stevens.«

»Trotzdem.« Sie hatten eine kleine Kreuzung erreicht. Ein Karren näherte sich, auf dem sich Kisten mit Kaninchen türmten. »Ich bleibe bei meiner Meinung.«

Er sah, wie der Karren in eine Rinne geriet und seitlich wegkippte. Eine Schnur riß, und der gewaltige Kistenstapel stürzte auf sie zu. Er packte sie bei der Taille und schwang sie herum, weg von der Stelle, wo die Kisten herunterkrachten. Einige zerbrachen; Kaninchen flüchteten in alle Richtungen. Der Fahrer rannte ihnen nach.

Ganz plötzlich wurde sich Virgilia der starken Hände des Mulatten an ihrer Taille bewußt - und der merkwürdigen Intensität in seinen dunklen Augen. Ähnliche Blicke hatte sie in letzter Zeit häufiger bemerkt. »Vielleicht machen wir uns besser auf die Suche nach Eiern und vergessen die Politik, Scipio. Ich möchte nicht, daß unsere Freundschaft darunter zu leiden hat.«

»Ich auch nicht.« Lächelnd ließ er sie los. Sie bebte noch von der Berührung seiner Hände und war von dieser Reaktion mehr als nur ein bißchen erschreckt.

Mit Armen, die von harter Arbeit kräftig geworden waren, rührte Virgilia mit dem großen Holzlöffel in dem dampfenden Topf mit dicker Erbsensuppe herum. Es war der Mittag des nächsten Tages. Auf der anderen Seite der Küche saß Thad Stevens; auf seinem Schoß döste, den Daumen im Mund, ein kleiner, hellbrauner Junge. Virgilias Freund sah blaß und erschöpft aus.

»Wirst du morgen bei der Verhandlungseröffnung dabei sein?« fragte er.

»Ja. Danach werde ich so oft wie möglich hingehen, ohne daß ich dabei meine Arbeit hier vernachlässige.«

»Vermutlich möchtest du, daß er verurteilt wird.«

Widerstrebend sagte sie: »Ich glaube nicht. Er leugnet jedes Verbrechen.«

»Sein Leugnen wird durch sein vorangegangenes Benehmen widerlegt. Er hat Thomas geschickt, um Stanton abzulösen.«

»Thomas hat versagt, also war es keine wirkliche Ablösung, sondern nur der Versuch.«

»Du argumentierst langsam richtig juristisch, meine Liebe.« Er klang dabei nicht sehr glücklich; allerdings stimmte das ganze Durcheinander um Stanton mit Ausnahme der Anwälte niemanden glücklich.

»Juristisch, Thad?« sagte sie. »Nein, ich bemühe mich nur, die Dinge fair zu betrachten.«

»Zum Teufel mit der Fairness. Ich will Johnson draußen haben. Ich werde ihn jagen, bis er verschwunden ist.«

Sie ließ den großen Holzlöffel am Kesselrand ruhen. Draußen im Hof, wo eine milde Märzsonne durch die nackten Zweige von zwei Kirschbäumen schien, tobte Scipio lachend mit mehreren Kindern herum. »Ganz gleich, ob er schuldig ist oder nicht?«

In seinem funkelnden Blick lag schon die Antwort. »Wir säubern das Land von diesem Mann und von allem, was er repräsentiert, Virgilia. Nachsicht gegenüber einer gesamten Klasse von Menschen, Menschen ohne Reue, die immer noch konspirieren, um diese Nation wieder zu dem zu machen, was sie vor dreißig Jahren war, als die gesamte schwarze Bevölkerung in Ketten lag und Mr. Calhoun arrogant mit der Sezession drohte, falls jemand zu widersprechen wagte. Wir haben sieben Leute, die die Anklagen gegen Johnson managen. Hast du eine Ahnung von dem gewaltigen Druck, der bereits gegen uns ausgeübt wird? Briefe. Feige Drohungen ...«

Er schreckte den Jungen auf seinem Schoß auf, als er ein zerknittertes gelbes Telegramm aus seiner Tasche zog. »Das hier kam aus Louisiana, das ist das einzige, was ich sicher weiß.«

Sie entfaltete es und las. stevens, bereite dich auf die Begegnung

MIT DEINEM GOTT VOR. DER RÄCHER IST DIR AUF DEN FERSEN. EIN PLATZ IN DER HÖLLE IST DIR SICHER. K.K.K.

Kopfschüttelnd gab sie das Papier zurück. Stevens' wachsbleiche Wangen zeigten ganz kurz ein bißchen Farbe. »Der Rächer sitzt auch Mr. Johnson auf den Fersen. Ihm ist ein Schuldspruch sicher.«

Scipio rannte jubelnd in den Sonnenschein. Der freudige Laut stand in krassem Widerspruch zu den zornigen Augen des Kongreßabgeordneten. Sein Dogma hatte ihn eine Straße entlanggeführt, von der Virgilia abgebogen war. In ihr war kaum noch Haß, doch in ihm tobte der Krieg weiter.

Am Montag, dem 30. März, erschien sie eine Stunde bevor die Türen zur Senatsgalerie geöffnet wurden. Als sie dann aufgingen, kämpfte sie sich zwischen hastenden und stoßenden Menschen hindurch nach oben. Als der Vorsitzende des Obersten Gerichtshofs, Salmon P. Chase, die Verhandlung eröffnete, gab es keinen leeren Sitz und keine freie Stufe mehr auf der Galerie.

Vor Tagen hatte Chase den Senat als Gericht eingeschworen. Heute waren alle vierundfünfzig Gesetzgeber, die die siebenundzwanzig Staaten repräsentierten, anwesend. Seine Zuversicht bezüglich des Ausgangs der Verhandlung war überall zitiert worden. Er glaubte, daß sie die sechsunddreißig Stimmen, die sie zur Verurteilung Johnsons in einem oder mehreren Anklagepunkten benötigten, problemlos erhalten würden.

Auf der Galerie ging es lautstark zu. Einige Zuschauer pfiffen und winkten mit Taschentüchern, als die Urheber der Präsidentenanklage, sieben Kongreßabgeordnete einschließlich des alten Thad mit schiefer Perücke, ihre Plätze an einem Tisch mit hohen Stapeln von Büchern und Akten links von dem Vorsitzenden einnahmen. Die fünf prominenten Anwälte des Präsidenten saßen ihnen auf der anderen Seite des Vorsitzenden gegenüber. Sämtliche Senatoren waren in die ersten beiden Reihen gequetscht worden, dahinter drängten sich Mitglieder des Repräsentantenhauses. Reporter füllten die hinteren Gänge, blockierten die Türen und hatten jeden freien Platz an den Wänden mit Beschlag belegt.

Der Hauptankläger, der Abgeordnete Ben Butler aus Massachusetts, eröffnete die Verhandlung mit einer dreistündigen flammenden Rede. Spoons Butler, die Bestie von New Orleans, war ein fähiger, gerissener Anwalt. Er löste einen Sturm winkender Taschentücher und jubelnde Zustimmung aus, als er erklärte, daß Johnson ganz offenkundig schuldig war, Stanton gegen den Willen des Kongresses und während der Sitzungsperiode des Kongresses seines Amtes enthoben zu haben.

Virgilia saß inmitten der unruhigen, lärmenden Menge und schaute hinab auf Sam Stout; bis auf eine melancholische Leere empfand sie so gut wie nichts. Die Zeit bewirkte tatsächlich ei-nen Wandel in ihr und machte sie sanfter. Zu ihrer eigenen Überraschung konnte sie sich des öfteren nicht auf das Schauspiel unter ihr konzentrieren, sondern sah statt dessen Scipio Browns Augen vor sich, nachdem er sie vor dem Marktkarren gerettet hatte. Sie erinnerte sich, wie sich der feste Druck seiner Hände an ihrer Taille angefühlt hatte. Sie erinnerte sich gern daran.

Am 9. April hatten die Ankläger ihren Fall vorgetragen. Der Höhepunkt der Anklagedarstellung war vielleicht der Moment, als Butler ein rotgeflecktes Kleidungsstück hervorholte und es durch die Luft schwang. Er sagte, dies sei das Hemd eines Mannes aus Ohio, vom Büro für befreite Negersklaven, den Klansmänner in Mississippi ausgepeitscht hätten. Am nächsten Morgen hatte Washington eine neue Phrase für sein politisches Lexikon: man peitschte Antisüdstaatengefühle auf, indem man das >blutige Hemd schwenkte<.

Johnsons Anwälte plädierten hingegen für Freispruch. Wegen einer Masernepidemie verpaßte Virgilia viele dieser Aprilsitzungen. Sie bedauerte es nicht, als sie in den Zeitungen davon las. All diese Haarspaltereien über die Auslegung der Verfassung und diese endlosen Reden hörten sich langweilig an. Sie fragte sich, wozu lange Reden notwendig waren. Die Sache schien doch klar genug. Johnsons Autorität war durch die zahlreichen Wiederaufbaugesetze herausgefordert worden, einschließlich des Amtsdauergesetzes, durch das dem Präsidenten untersagt wurde, Kabinettsmitglieder ihres Amtes zu entheben, die der Senat in ihrem Amt bestätigt hatte. In dieser Angelegenheit hatte Johnson keinen Zoll nachgegeben, um eine Entscheidung zu erzwingen.

Virgilia hielt das nicht nur für wichtig, sondern auch für notwendig. Weiterhin war Edwin Stanton nicht von Johnson, sondern von Lincoln ernannt worden, und es war in Lincolns Amtsperiode, nicht in Johnsons gewesen, daß der Senat diese Ernennung bestätigt hatte. Sie meinte, daß einiges dafür spreche, daß Stanton gar nicht unter das Amtsdauergesetz fiel.

Jetzt begannen die langen, ausschweifenden Zusammenfassungen. Sie hörte eine von William S. Groesbeck, einem redegewandten Anwalt aus Cincinnati. Er widmete sich Johnsons Charakter:

»Er ist ein Patriot. Er mag voller Fehler und Irrtümer stecken, aber er liebt sein Land. Ich habe oft gesagt, daß jene, die im Norden leben, in sicherer Entfernung der Kriegsschauplätze, wenig davon wissen. Wir, die wir in den Grenzgebieten leben, wissen mehr davon . Unser Horizont war immer von Flammen gerötet, und manchmal war der Brand so nahe, daß wir mit ausgestreckten Händen die Hitze spüren konnten. Andrew Johnson lebte im Herzen der Feuersbrunst ... direkt im Hochofen des Krieges ..., und seine gehärtete Kraft und Stärke ließ ihn in unerschütterlicher Loyalität zur Union ausharren ... unzugänglich für jeden Verrat. Wie kann er sich dann plötzlich, nach den Worten des Gentleman Mr. Boutwell aus Massachusetts, in einen Erzrenegaten verwandelt haben? Das ist doch lächerlich.«

Vom Tisch der Ankläger funkelte ihn George S. Boutwell an.

Und so ging es weiter und weiter, mit Anklage, Verteidigung, Interpretation und theoretischen Erörterungen. Männer sprangen auf der Galerie von ihren Sitzen, einige jubelnd, andere protestierend. Virgilia sah vor Empörung gerötete Gesichter, während andere Gesichter sie an Raubtiere denken ließen -Raubtiere, die sich von Anschuldigungen nährten, ganz gleich, wie ausgefallen und lächerlich sie sein mochten.

Plötzlich entdeckte sie auf der anderen Seite der Galerie zwei Gesichter, die ihr bis jetzt entgangen waren - ihren Bruder Stan-ley und dessen Frau Isabel. Virgilia hatte längst jeden Kontakt zu ihnen verloren; keine Essenseinladungen in die I Street, keine Geburtstagsgrüße, nichts. In der Stadt hörte sie häufig Stan-leys Namen, wenn auch nicht immer in schmeichelhafter Verbindung.

Isabel blickte Virgilia ohne jedes Erkennen an. Stanley war in die Geschehnisse unten im Saal vertieft. Wie aufgedunsen er aussieht, dachte Virgilia. Viel älter als seine fünfundvierzig Jahre. Seine Haut hatte eine ungesunde, gelbliche Färbung.

Die Sitzung wurde unterbrochen. Im Gedränge auf der Treppe stieß Virgilia auf Stanley, der an der Wand lehnte und sich mit einem großen Taschentuch sein Gesicht abwischte. Sie stoppte eine Stufe über ihm, versuchte ihn vor der drängenden Menge zu schützen.

»Stanley?« sagte sie über den Lärm hinweg. Sie zupfte an seinem Ärmel. »Ich habe dich vorhin schon gesehen. Ist mit dir alles in Ordnung?«

»Virgilia. Oh - ja, mir geht es gut.« Er schien abwesend, betrachtete die Leute, die sich an ihr vorbei die Treppe hinabdrängten. »Und dir?«

»Ich kann nicht klagen. Aber ich mache mir Sorgen um dich, Stanley. Du schaust krank aus. Es ist so lange her, seit wir miteinander gesprochen haben, und es gibt so viele unfreundliche Geschichten über dich.«

»Geschichten?« Er zuckte zurück, wie ein Verbrecher vor den Handschellen. »Was für Geschichten?«

Sie roch die Gewürznelke, die er gekaut hatte. Welchen Duft wollte er damit verbergen? »Geschichten über Dinge, die du dir selbst antust. Ausgedehnte Trinkgelage.«

»Lügen.« Keuchend drückte er seine schwitzende Stirn gegen den Marmor. »Verfluchte Lügen.«

Voller Mitleid mit ihm und seiner eigenen Lüge berührte sie seinen Ärmel. »Ich hoffe es. Du bist ein prominenter Mann, ungemein reich und erfolgreich. Du hast jetzt alles.«

»Vielleicht verdiene ich es nicht. Vielleicht bin ich nicht stolz auf das, was ich bin. Hast du je daran gedacht?«

Seine herausgesprudelten Worte verblüfften sie. Stanley von Schuldgefühlen geplagt? Warum? Von hinten griff jemand nach ihrer Schulter. Beinahe hätte sie das Gleichgewicht verloren.

Nur ein paar Zentimeter von Virgilias Nase entfernt schien Isabels langes Pferdegesicht vor Zorn aufzuflammen. »Laß ihn in Ruhe, du Schlampe. Stanley ist müde, das ist alles. Wir haben dir nichts zu sagen. Aus dem Weg.«

Wie ein Offizier, der einen gemeinen Soldaten disziplinierte, packte sie den Arm ihres Mannes und stieß ihn die Treppe hinab. Mit den Ellbogen bahnte sie sich einen Weg. Stanley stand unsicher auf seinen Beinen. Über seine Schulter hinweg warf er seiner Schwester einen hastigen, entschuldigenden Blick zu. Am Treppenabsatz waren er und Isabel verschwunden.

Virgilia dachte, daß sie ihren Bruder noch nie so krank, so gequält gesehen hatte. Warum sollte sein Erfolg ihn soviel gekostet haben?

Die Resümees gingen in der ersten Maiwoche zu Ende. Ganz Washington war von der Verhandlung betroffen. Einige be-zeichneten die Geschehnisse als das majestätische Werk der Gerechtigkeit. Andere nannten es einen Zirkus. Wegen der Verhandlung ausgebrochene Schlägereien wurden für die Polizei zur Routinearbeit. Mit jedem Zug strömten weitere Spieler in die Stadt, füllten die Hotels und schlossen Wetten auf das Urteil ab. Als der Vorsitzende Chase am Montag, dem 11. Mai, die Türen schloß und das Gericht sich zur geheimen Sitzung zurückzog, standen die Wetten zugunsten eines Freispruchs.

Im Star und in anderen Zeitungen hatte Sam Stout verkündet, daß die Spieler aufs falsche Pferd gesetzt hatten. Die zur Verurteilung nötigen einunddreißig Stimmen in mindestens einem Anklagepunkt seien gesichert, sagte er. Gegen Ende der Woche würden noch sechs weitere Stimmen hinzukommen.

Am Donnerstag suchte Stevens Zuflucht im Waisenhaus. »Die verdammte Presse läßt mich nicht in Ruhe. Meine eigenen Wähler auch nicht.« Er sah noch müder aus als beim letztenmal.

»Wie sieht es mit den Wahlstimmen aus?« fragte sie und schenkte ihm eine Tasse Kräutertee ein. Seine geäderte, mit Altersflecken übersäte Hand zitterte, als er die Tasse anzuheben versuchte. Er gab es auf.

»Fünfunddreißig sind sicher. Alles hängt von einem Mann ab.«

»Wer ist der Mann?«

»Senator Ross.«

»Edmund Ross aus Kansas? Er ist ein überzeugter Abolitionist.«

»War«, korrigierte Stevens voller Abscheu. »Ross beharrt darauf, daß er seinem Gewissen entsprechend wählt, auch wenn die Leute in Kansas ihn mit Telegrammen überschwemmen, in denen steht, daß er erledigt ist, wenn er für Freispruch stimmt. Senator Pomeroy bearbeitet ihn. Ebenso das Union Congressio-nal Committee.« Diese Gruppe radikaler Senatoren und Abgeordneter war gegründet worden, um dafür zu sorgen, daß lokale Parteiorganisationen Druck auf unentschlossene Senatoren ausübten. »Ross hat sogar Morddrohungen erhalten«, fügte Stevens hinzu. »Damit steht er nicht allein.«

Mit erschöpften Augen starrte er Virgilia an. »Wir müssen Ross auf unsere Seite ziehen, oder alles ist umsonst gewesen, und die Bourbonen erobern wieder den Süden.«

»Du darfst das Urteil nicht so furchtbar ernst nehmen, Thad. Dein Leben hängt davon nicht ab.«

»Und ob es das tut, Virgilia. Wenn wir eine Niederlage hinnehmen müssen, bin ich erledigt. Ich habe weder das Herz noch die Kraft, einen solchen Kampf erneut durchzustehen.«

Am Samstag, dem 16. Mai, vier Tage vor dem republikanischen Konvent, erwachte Virgilia noch vor Tagesanbruch und konnte nicht mehr einschlafen. Sie kleidete sich an und verließ das Häuschen, in dem Stout sie einst ausgehalten hatte. Sie dachte daran umzuziehen, um sich von den Erinnerungen dieses Ortes freizumachen, doch das Häuschen gehörte ihr, es war bequem, und sie konnte es sich von ihrem Gehalt im Waisenhaus leisten.

Sie schlenderte durch einen stillen Bezirk, wo die Häuser kleiner und ärmlicher wurden. Bald hatte sie das Waisenhaus erreicht. Überraschenderweise war die Haustür unversperrt. Es roch nach Kaffee, als sie die Küche betrat. Er saß am Tisch.

»Scipio. Wieso bist du schon auf?«

»Konnte nicht schlafen. Ich bin froh, daß du hier bist. Wir müssen miteinander reden. Ich soll heute morgen Lewis zu seinen neuen Adoptiveltern in Hagerstown bringen.«

»Ich erinnere mich.« Dankend nahm sie eine Tasse Kaffee an. Seine Hand berührte die ihre. Er reagierte, als hätte er sich verbrannt.

»Mir wäre wohler, wenn du nicht zum Kapitol gingst«, sagte er.

»Ich muß. Ich will das Urteil hören.«

»Es könnte gefährlich werden. Bei diesen gewaltigen Menschenmassen kann es leicht zum Aufruhr kommen.«

»Es ist schön, daß du dir Sorgen um mich machst, aber das mußt du nicht.«

Er kam um den Tisch herum und schaute auf sie herab. Er schien sich jedes einzelne Wort herauszureißen. »Ich mache mir aber Sorgen. Viel mehr, als du ahnen kannst.«

Ihre Blicke verhakten sich. Zitternd spürte sie es heiß in sich aufsteigen, knallte die Kaffeetasse auf den Holztisch und rannte hinaus. Sie war unfähig, mit den Emotionen umzugehen, die er ihr so unerwartet enthüllt hatte, ebensowenig wie mit den Emotionen in ihrem eigenen Herzen.

»Das sind vierunddreißig«, flüsterte der Fremde links von Virgi-lia. »Wahrscheinlich Waitman Willey aus West Virginia. Also hängt es von Ross ab.«

Der Vorsitzende Chase ergriff das Wort. »Senator Ross, wie lautet das Urteil? Ist der Beklagte, Andrew Johnson, Präsident der Vereinigten Staaten, schuldig oder nicht schuldig eines Amtsvergehens, wie ihm in diesem Anklagepunkt vorgeworfen wird?«

Da stand er, der unscheinbare Mann aus Kansas. Gegenwärtig kämpfte er, ein Veteran der Union und alter Anhänger der Abo-litionistenbewegung, für die gewaltmäßige Entfernung der Indianerstämme. Virgilia beobachtete Thad Stevens, der weiß vor Anspannung am Tisch der Ankläger saß.

Ross räusperte sich.

»Wie lautet Ihr Urteil?« wiederholte Chase.

»Nicht schuldig.«

Ein einziger Aufschrei der Galerie. Dann wilder Applaus, laute Buhrufe, ein Meer aus winkenden, weißen Taschentüchern.

Stevens sackte mit geschlossenen Augen zurück. Ein Arm baumelte schlaff über die Lehne seines Stuhls.

Virgilia wußte, daß diese Wahl die Entscheidung gebracht hatte. Der Kongreß hatte versucht, die Oberhand über die Exekutive zu gewinnen; vor einem Augenblick war dieser Versuch fehlgeschlagen. Was immer sich auch sonst noch ereignen mochte, der radikale Wiederaufbau war vorbei. Thad Stevens hatte das vorausgesagt, wenn es zum Freispruch käme. Stevens' auf dem Stuhl zusammengesackter Körper wiederholte das unzweideutig.

Auf den Stufen des Kapitols kreischten die Leute, tanzten und umarmten einander. Ein fleischiger Mann mit einer Melone packte Virgilia am Arm. »Old Andy hat's ihnen gegeben. Das ist schon einen Kuß wert.«

Sein Mund näherte sich dem ihren, während er mit einer Hand nach ihrer Brust tastete. In dem Gedränge achtete niemand auf sie. Virgilia drehte sich seitlich weg, saß aber in der Falle. »Du bist nicht für Andy?« grollte der Mann und zog sie an sich.

»Du verdammter Säufer, laß sie in Ruh.«

Virgilia erkannte die Stimme, bevor sie ihn sah. Der fleischige Mann brüllte: »Du verfluchter Nigger hast mir gar nichts zu sagen!« Dann erwischte ihn Scipios Hand an der Kehle und hielt ihn fest, bis er zu würgen begann.

Die Feiernden brüllten, stießen, leerten Flaschen und tanzten auf den Stufen. Scipio ließ den fleischigen Mann los. Er floh, so schnell es nur ging.

»Was ist mit Hagerstown?« rief Virgilia über den Lärm hinweg. »Hab' ich verschoben. Ich konnte dich doch nicht allein diesem Mob überlassen. Allein der Gedanke daran ließ mich weder schlafen, noch konnte ich was essen.«

Ein paar Leute hinter ihm stolperten und drückten gegen ihn. Er fiel auf sie zu. Sie hob die Hände, um ihn aufzufangen, und fand sich in seinen Armen wieder. Eine weiße Frau, ein brauner Mann. In dem Tumult kümmerte sich niemand darum.

Er brachte seinen Mund dicht an ihr Ohr. »Hier ist der richtige Ort, um dir zu sagen, daß meine Bewunderung für dich im Laufe der Zeit immer größer geworden ist. Ich habe dir immer wieder zugeschaut, wie du mit den Kindern umgehst. Du bist eine sanfte, liebevolle Frau. Intelligent, voller Prinzipien.«

Sie wollte ihm von all den üblen Dingen in ihrer Vergangenheit erzählen. Etwas Stärkeres, Lebensbejahendes zerquetschte den Impuls. Menschen können sich ändern.

»Und wunderschön«, sagte Scipio Brown, seine Lippen an ihrem Ohr. Mit einem nervösen Lachen wehrte sie das ab, was ihn amüsierte. »Ist das alles wirklich eine so große Überraschung für dich?«

»Ein paar Hinweise hatte ich schon.« Sie kämpfte gegen das Gedränge in ihrem Rücken an. »Ich bemerkte die Blicke, die du mir zuwarfst. Aber es sprechen zu viele Dinge dagegen, Scipio, nicht nur die Hautfarbe. Da ist einmal mein Alter.«

Mit einer Hand berührte sie ihr ergrauendes Haar. »Ich bin zehn Jahre älter als du.«

»Warum solltest du dir deswegen Gedanken machen? Mich stört es nicht. Ich liebe dich, Virgilia. Der Buggy wartet. Komm mit mir.«

»Wohin?«

Einen Augenblick lang schien er nicht mehr so selbstsicher wie gewohnt zu sein. Er wirkte scheu, zögerte, brachte aber schließlich heraus: »Ich dachte - wenn du nichts dagegen hast -, daß wir in deinem Haus allein sein könnten?«

Ihre Augen wurden feucht. Der Gedanke, daß jemand so viel für sie empfand, war überwältigend. Gleichzeitig wußte sie, daß tief in ihr sich seit langer Zeit schon ähnliche Gefühle gerührt hatten. Sie hatte es sich bis jetzt nur nicht einzugestehen gewagt.

»Virgilia?«

»Ja, sehr gern«, sagte sie weich. Wegen des Tumultes konnte er die Worte nicht hören, aber er verstand auch so. Sie nahm seinen Arm. »Hinterher werde ich Frühstück für uns machen.«

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43

Drei Wochen nach dem Elternprogramm in Mrs. Allwicks Akademie endete das Semester. Zum letztenmal vor dem Herbst liefen die Mädchen lärmend aus der Tür hinaus; es war 4 Uhr 30 an einem herrlichen Juninachmittag. Mehrere Verehrer warteten auf der breiten, kühlen Veranda, darunter auch Sara Jane Oberdorfs Leichenbestatterlehrling.

Die Tragödie beim Auftritt hatte man Marie-Louise nicht verziehen. Sara Jane rauschte vorbei und sagte süßlich: »Wartet immer noch keiner? Nun, vielleicht in ein paar Jahren, wenn du erwachsen bist.« Sie klammerte sich an ihren jungen Mann. »Lyle. Wie reizend von dir, daß du mich abholst.«

Mit einem trostlosen Gefühl im Herzen drückte Marie-Louise die Bücher gegen ihren Busen und stieg mit gesenktem Kopf die schmiedeeisernen Stufen hinab, bis sie einen Schatten auf ihren Rock fallen sah. »Entschuldigung.« Sie trat einen Schritt zur Seite, blickte auf und ließ die Bücher fallen.

»Miss Main.« Theo German verbeugte sich und riß sich den Strohhut mit der Pfauenfeder vom Kopf. Erneut trug er keine Uniform. »Erlauben Sie.« Er bückte sich, um die Bücher aufzuheben.

»Ich dachte ...« Reiß dich zusammen, du Memme. »Ich dachte, nach diesem fürchterlichen Abend würden Sie nie mehr mit mir sprechen. Sie müssen gedacht haben, ich schneide Sie.«

»Selbstverständlich nicht. Ich sah, daß Ihr Vater die Ursache dafür war.« Er richtete sich auf und bot ihr seinen Arm. »Haben Sie Zeit für einen kleinen Spaziergang über die Battery?«

Wenn ich mich verspäte, wird Mama mich ausfragen. Und was ist, wenn Papa dahinterkommt?

Doch Coopers Verhalten an dem bewußten Abend hatte das Feuer der Rebellion in seiner Tochter entzündet; für den jungen Offizier war sie dadurch noch anziehender geworden. »Oh ja«, sagte sie.

Zufällig berührte ihr Busen seinen Mantelärmel. Sie fühlte sich wie vom Blitz getroffen. Lächelnd nahm Theo das plötzliche Rosa ihrer Wangen zur Kenntnis. Auch seine Wangen hatten sich verfärbt.

Die scharfen Nadelspitzen reflektierender Sonnenstrahlen tanzten über die Wasseroberfläche des Hafens. Möwen folgten einem vom Atlantik hereintuckernden Fischfänger. Draußen auf Fort Sumter flatterte die Unionsfahne über den Ruinen in der kräftigen Brise. »Gehen Sie oft ohne Uniform in die Stadt?« erkundigte sich Marie-Louise, während sie sich verzweifelt an Mrs. Allwicks Konversationslektionen zu erinnern suchte.

Ihr ganzer Verstand fühlte sich wie ein Topf Kleister an.

»Ja«, sagte er. »General Canby hat nichts dagegen, und es ist leichter so, die Leute zum Sprechen zu bringen. Auf diese Weise finde ich eher Zugang zu den Gefühlen und Ansichten der lokalen Bevölkerung. Natürlich gibt es ein paar Leute, die sich weigern, mit mir zu sprechen, nachdem sie mich reden hörten.«

»Wegen Ihres Akzentes?«

Er lachte. »Ich habe keinen Akzent. Sie haben einen - den ich allerdings bezaubernd finde.«

»Oh, Mr. German - Captain German ...«

»Wie wär's mit Theo?« sagte er; die freundliche Unschuld seiner Augen wärmte sie. Marie-Louise war auf einen Schlag so verliebt, daß sie in Ekstase hätte sterben und im Boden versinken können, direkt bis nach China.

»Gut. Aber dann müssen Sie Marie-Louise zu mir sagen.«

»Mit Vergnügen.«

Die Möwen kreischten. Das junge Paar schlenderte unter den stattlichen alten Bäumen nahe am Wasser entlang. Theo erzählte ihr, daß er vierundzwanzig war und zu Canbys Stab gehörte. »An dem Tag im Zug befand ich mich auf einer Besichtigungstour. Der schönste Anblick, den ich zu sehen bekam, befand sich in diesem Eisenbahnwagen.«

»Papa war furchtbar wütend, als Sie der Farbigen Ihren Platz gaben.« Sie seufzte. »Er ist immer noch im Krieg.«

»Ihr Vater und die Hälfte von Charleston. Doch die andere Hälfte ist hinreißend. Ich bin nie zuvor Südstaatlern begegnet, mit Ausnahme vieler Kriegsgefangener, die natürlich nicht gerade bester Stimmung waren. Ich finde, die Südstaatler sind ein warmherziges, bezauberndes Volk. Und Carolina besitzt ein wunderbares Klima, vom Sommer mal abgesehen.«

»Was meinten Sie mit den Kriegsgefangenen?«

Er erklärte, daß er im letzten Kriegsjahr nach Camp Douglas versetzt worden war, dem riesigen Kriegsgefangenenlager südlich von Chicago. »Wir hatten Tausende von Insassen, aber nur einmal wurden Schüsse abgefeuert, als ein halbes Dutzend Gefangener einen Ausbruch versuchten. Und nur einmal fühlten wir uns wirklich in Gefahr, an einem Sonntag im November '64, als in Chicago die Gerüchte überkochten, daß Geheimagenten der Konföderation die Stadt in Brand stecken und unsere Gefangenen befreien würden. Nichts davon stimmte. Als das Gefängnis ein Jahr später seine Pforten zumachte, entschloß ich mich, in der Armee zu bleiben und ein bißchen was vom Land zu sehen. Zuvor bin ich nie aus Illinois herausgekommen.«

Wieder lächelte er und berührte leicht ihre behandschuhte Hand auf seinem Arm. »Ich habe Glück gehabt, daß sie mich nach South Carolina schickten. Ich möchte mich gern hier niederlassen und dem kalten Wetter für immer entfliehen.«

»Werden Sie für immer in der Armee bleiben?«

»Ich glaube nicht. Vor der Armee lernte ich in einer Anwaltskanzlei. Ich würde gern meine Studien beenden und als Anwalt arbeiten.« Marie-Louise befürchtete, sie könnte jeden Moment von der Promenade stürzen und im Wasser ertrinken, wenn er weiterhin diese blauen Augen auf sie richtete.

Andere Verehrer schlenderten mit ihren Angebeteten vorbei. Ein alter Mann mit einem quietschenden zweirädrigen Karren kam auf sie zu. Er pries seine Waren mit einem musikalischen Sprechgesang an. »Kaufen Sie Melonen. Süße Wintermelonen.«

»Möchten Sie ein Stück Melone?« fragte Theo. Vor lauter Nervosität brachte sie nur ein Lachen und ein Nicken zustande, aber ihn schien das nicht zu stören. Er kaufte dem Mann zwei Stücke ab und brachte sie zu der Eisenbank zurück, wo er ihre Bücher abgelegt hatte. Marie-Louise faßte die Melone an dem um die Schale gewickelten Papier. So vorsichtig sie auch war, der Melonensaft tropfte nur so auf ihr Kinn. Sie fühlte sich ge-demütigt.

Theo zog ein Taschentuch hervor. »Erlauben Sie.« Mit zarten Tupfern trocknete er ihr Kinn. Ihr Körper erbebte bei jeder Berührung.

»Ich hoffe, Sie halten mich nicht für zu aufdringlich, Miss Main.«

»Oh nein. Aber ich muß Ihnen recht albern vorkommen mit meinem Geschwätz und Gekicher. Es ist nur ...« Durfte sie es wagen? Ja, besser eine Erklärung riskieren, als ihn zu verlieren. »Ich habe keine Erfahrung mit Verehrern. Um ehrlich zu sein, ich hatte nie einen.«

Die Melone zwischen seinen Fingern tropfte. In dem kühlen Schatten lehnte er sich ihr entgegen. »Darf ich sagen, daß es meine innigste Hoffnung ist, daß Sie nie einen anderen Verehrer nötig haben werden?«

Diese Erklärung brachte sie an den Rand des Zusammenbruchs. Dann beugte er sich zu ihrer grenzenlosen Verblüffung schnell vor und berührte mit seinen Lippen ihren Mundwinkel.

Ein umfassendes Schweigen hüllte sie ein. Der Gesang des Melonenmannes war verklungen, ebenso wie das Gekreisch der Möwen, ja selbst das rasende Klopfen ihres Herzens. Alle Nervosität fiel von ihr ab, wie sie so neben ihm stand und ihn anschaute, unwiderruflich verändert. Ihre Mädchenjahre waren vorüber.

Die Melonen in ihren Händen tropften den gepflasterten Weg voll. Keiner von ihnen bemerkte es.

Nach und nach zwang sie sich selbst in die Realität zurück. Der Sonnenschein kam schon sehr schräg über die großen Giebelhäuser der South Battery. Es war spät.

»Ich muß zurück zur Tradd Street.«

»Darf ich dich begleiten?«

»Aber sicher.« Diesmal war es kein unsicheres Getaste mehr, als sie ihren Arm in den seinen legte. Sie fühlte sich locker und leicht; fraulich. Niemand schenkte ihnen Beachtung, als sie in dem weichen Frühlingslicht die Church entlanggingen.

»Ich möchte, daß du meine Familie kennenlernst«, sagte Theo.

»Das möchte ich auch.«

»Ich habe elf Brüder und Schwestern.«

»Gütiger Himmel!« rief sie.

Er grinste. »Ich liebe sie alle, aber im Haus war es immer ein bißchen eng, und die Portionen am Tisch waren knapp. Vaters Gehalt reichte nicht aus, um so viele Münder zu stopfen. Er ist ein lutheranischer Pfarrer.«

»Oh Gott. Nicht auch noch ein Abolitionist?«

»Doch, das war er.«

»Und ein Republikaner?«

»Ich fürchte schon. Ich bin das zweitjüngste Kind und mußte deswegen immer auf dem Fußboden schlafen. Wir hatten nicht genügend Betten. Deshalb bin ich auch in die Armee eingetreten. Um ein eigenes Bett zu haben und regelmäßige Mahlzeiten zu kriegen. Die Soldaten meckern ständig über schlechtes Essen und schlechte Matratzen. Für mich ist es das Leben eines Prinzen.«

Sie sah, daß die Kreuzung zur Tradd Street nur noch einen Block entfernt war, und sagte schnell: »Ich bin genauso froh wie du, daß die Armee dich hierhergebracht hat, Theo.« Ihre eigene Kühnheit schockierte sie.

Im Weitergehen erzählte sie ihm von dem Verlust ihres Bruders vor der Küste von North Carolina und den schlimmen Momenten im Meer, als sie fürchtete, sie würden alle ertrinken. »Vor Judahs Tod war Vater bei weitem nicht so streng und hart. Damit ist ihm etwas widerfahren, wovon er sich nie mehr erholt hat.«

»Das ist tragisch. Es erklärt, weshalb er auf mich so reagiert hat. Ich hoffe, er stellt kein unüberwindliches Hindernis dar.« Im Schatten einer hohen Backsteinmauer drehte er sie zu sich und griff nach ihrer Hand. »Ich will in der richtigen Weise um dich werben. Warum runzelst du die Stirn?«

»Nun, es wäre viel einfacher, wenn du - wenn du nicht der wärst, der du bist.«

»Wie in Mr. Shakespeares Stück?«

»Wieso?«

»Romeo, Romeo, warum bist du Romeo? Mit anderen Worten, warum bin ich Romeo, ein Montague? Ein Feind? Wird das wirklich eine Rolle spielen?«

Marie-Louise versank wirbelnd in den blauen Teichen seiner Augen, gab sich ihren Emotionen hin, die so heftig waren, daß sie glaubte, sie nicht ertragen zu können. »Nein«, erklärte sie, auf einmal ganz sicher, was sie wollte. »Nein, das wird es nicht.«

»Dein Vater?«

»Nein«, wiederholte sie zuversichtlich.

Er verließ sie am Tor zu dem Haus in der Tradd Street, nachdem er versprochen hatte, ihr am kommenden Nachmittag einen formellen Besuch abzustatten. Noch ein Händedruck zum Abschied, dann war er verschwunden; sie blieb, einige Fuß über der irdischen Welt schwebend, zurück.

»Nein!« Cooper knallte seinen Löffel gegen die Schüssel mit Lammstew. »Ich dulde nicht, daß irgendein Yankee-Räuber meiner Tochter den Hof macht.«

Marie-Louise fing an zu weinen.

Judith griff nach der Hand ihrer Tochter und drückte sie. Zu ihrem Mann sagte sie: »Es ist eine vollkommen vernünftige Bitte.«

»Wenn er ein Südstaatler wäre. Einer von uns.«

»Tante Brett hat auch einen Yankee-Offizier geheiratet«, begann Marie-Louise.

»Ohne dadurch, soviel wir wissen, den Zusammenbruch der Zivilisation herbeizuführen«, bemerkte Judith.

Die Ironie war verschwendet. »Ich lasse nicht zu, daß irgendein feiger Hund von Canbys Stab bei meiner Familie herumschnüffelt.«

»Das klingt so grob und häßlich!« rief Marie-Louise.

»So ist es nicht.«

»Bitte denk noch mal drüber nach, Cooper«, fing Judith an.

Ruckartig schob er seinen Stuhl zurück und erhob sich. »Ich soll drüber nachdenken, ob ich meiner Tochter erlauben soll, sich von einem Soldaten den Hof machen zu lassen, dessen Vater ein bibellesender Republikaner ist? Lieber noch hätte ich diesen Burschen LaMotte in meinem Haus. Die Entscheidung ist endgültig. Ich muß noch im Garten arbeiten, solange das Licht hält.«

Mit schnellen, harten Schritten verließ er das Zimmer. Judith wappnete sich gegen eine neue Tränenflut. Statt dessen fühlte sie sich überrascht von dem, was sie in den Augen ihrer Tochter entdeckte. Ein lautloser Zorn, der für so ein junges Mädchen ganz und gar nicht typisch war.

Marie-Louise wischte sich über die Wangen. Sie starrte weiter auf die Tür, durch die ihr Vater verschwunden war.

Später, als es schon dunkel geworden war, ging Judith leise auf die Veranda mit Blick zum Garten hinaus. Insekten umkreisten die Öllampe, die auf einem geflochtenen Tisch stand. Cooper war auf einem Stuhl neben dem Tisch eingeschlafen; seine Weste stand offen, die Krawatte hatte er gelockert.

Sie stieg über mit Zahlenkolonnen bedeckte Papiere hinweg und beugte sich über ihn, um ihn mit einem Kuß auf die Stirn zu wecken. Cooper ruckte nach oben, unsicher, wo er sich befand.

»Es ist fast zehn Uhr, Cooper. Marie-Louise ist direkt nach dem Essen nach oben auf ihr Zimmer gerannt. Seitdem habe ich keinen Laut mehr gehört. Ich denke, du solltest Frieden mit ihr schließen, falls das möglich ist.«

»Ich habe nichts Unrechtes getan. Warum muß ich ...?« Judiths Blick brachte ihn zum Schweigen. Sich die Augen reibend, stand er auf. »Also gut.«

Sie lauschte, wie er langsam die Treppe hochstieg, hörte dann ein leises Klopfen. »Marie-Louise?« Sie schaute in den dunklen Garten hinaus, als er rufend die Treppe herabgestürzt kam. »Sie ist weg.«

»Was sagst du da?«

»Sie muß die Nebentreppe benutzt haben. Ihr Zimmer ist leer, die Hälfte ihrer Kleidung ist verschwunden. Sie ist weg!«

Die Insekten umkreisten die flackernde Lampe. Zum erstenmal seit langer Zeit ließ Judith ihrem Zorn freien Lauf. »Das ist deine Schuld. Du hast sie aus dem Haus getrieben.«

»Das ist unmöglich. Sie ist doch bloß ein Mädchen.«

»Im Heiratsalter, wenn ich dich daran erinnern darf. Viele Mädchen in South Carolina sind mit vierzehn Mutter. Du hast ihre Zuneigung zu diesem jungen Mann falsch eingeschätzt. Seinetwegen - und deinetwegen - ist sie weggerannt.«

Ein gedämpftes Hämmern drang durch die Nebel des Schlafes. Madeline hob langsam den Kopf, versuchte das Geräusch einzuordnen. Sie hörte, wie sich Prudence Chaffee im anderen Schlafzimmer bewegte.

Das Hämmern wurde lauter. »Bitte ... jemand ...«

Eine Frauenstimme. Madeline glaubte, sie müsse die Stimme erkennen, tat es aber nicht. Sie war immer noch zu schläfrig. War es eine der Negerfrauen?

Prudence machte ihre Lampe an und brachte sie zur Tür von Madelines Raum. Ihr schlichtes, kräftiges Gesicht war hellwach, ihre Augen blickten besorgt. »Glaubst du, es gibt Ärger mit der Schule?«

»Ich weiß nicht.« Auf nackten Füßen ging Madeline zur Tür. »Es ist mitten in der Nacht.«

In Wirklichkeit war fast Morgen, wie sie beim Öffnen der Tür entdeckte. Zwischen den hohen Bäumen sah sie den gezackten, orangefarbenen Himmel. Gegen das Licht zeichnete sich eine zerzauste Gestalt auf der Veranda ab.

»Tante Madeline!«

Sie hätte nicht erstaunter sein können, wenn Andrew Johnson persönlich vorbeigeschaut hätte. »Marie-Louise! Was tust du denn hier?«

»Bitte laß mich rein, dann erkläre ich alles. Ich bin die ganze Nacht marschiert.«

»Du bist den ganzen Weg von Charleston gelaufen?« rief Prudence. »Zwölf Meilen, ganz allein, auf einer dunklen Straße? Hast du dir denn da gar keine Gedanken gemacht?«

Sofort war Madeline klar, daß etwas Schlimmes geschehen sein mußte. Ein Todesfall? Ein Gewaltakt? Dann sah sie den zum Platzen gefüllten Koffer. Man packt keinen Koffer, um von einer Tragödie zu berichten.

»Da gibt es diesen Jungen. Papa hat verboten, daß er mir den Hof macht. Ich liebe ihn, Tante Madeline. Ich liebe ihn, und Papa haßt ihn.«

Das also war es. Ein junges, verliebtes Mädchen tat viele gefährliche oder gedankenlose Dinge, wenn sie mit ihren eigenen Problemen beschäftigt war. Sie erinnerte sich, wie es mit Orry gewesen war, wie romantische Gefühle jeden Sinn fürs Praktische und alle Furcht vor Gefahren weggefegt hatten.

»Darf ich bleiben, Tante Madeline? In die Tradd Street gehe ich nicht zurück.«

Dann würde es sicher Ärger mit Cooper geben. Aber wegschicken konnte Madeline sie auch nicht. »Komm herein«, sagte sie und trat beiseite, um den atemlosen Flüchtling willkommen zu heißen.

WEISSE MÄNNER - AN DIE WAFFEN!

Heute tagt die Bastard->Legislative< in Columbia. Die wahnsinnigste, skrupelloseste und infamste Revolution in unserer Geschichte hat die Macht den Händen der Rasse entrissen, die das Land besiedelt hat, und sie an ihre früheren Sklaven übergeben, eine unwissende, korrupte Rasse.

Diese gesetzlose, elende Versammlung wird die besten und nobelsten Staaten unserer großen Schwesternschaft unter den gottlosen Hufen afrikanischer Wilder und Armeebriganten zertrampeln. Millionen freigeborener, edler Männer und Frauen unseres Landes werden gezwungen, sich in die Gewalt von sabbernden, verlausten, den Teufel anbetenden Barbaren aus dem Dschungel und streunenden Freibeutern aus Cape Cod, Boston und der Hölle zu begeben.

Es ist fünf vor zwölf; es geht um unser Leben; unsere einzige Zuflucht ist die Gewalt der Waffen.

Sonderausgabe von the ashley thunderbolt 6. Juli 1868

MADELINES JOURNAL

Juni 1868. Cooper hier, noch keine 24 Stunden, nachdem wir seine Tochter aufgenommen hatten. Schreckliche Szene ...

»Wo ist sie? Ich verlange, daß du sie herbringst.«

Er stand Madeline auf dem Rasen vor dem weißgetünchten Haus gegenüber. Unten am Fluß keuchte die Dampfmaschine bei der Sägemühle. Das Blatt einer Kreissäge jaulte auf, versuchte sich durch einen Eichenstamm zu beißen.

»Sie befindet sich auf der Plantage. Es geht ihr gut, und sie möchte eine Weile bei uns bleiben. Sie will ganz eindeutig keine weiteren Streitereien mit dir.«

»Mein Gott. Erst machst du Geschäfte mit republikanischen Ausbeutern. Dann hetzt du meine Tochter gegen mich auf.«

»Marie-Louise ist in den Jungen verliebt, Cooper. Ich würde in der Tradd Street nach der Ursache ihres Trotzes suchen.«

»Zum Teufel mit dir, bring sie her!«

»Nein. Die Entscheidung zu gehen liegt bei ihr.«

»Bis sie erwachsen ist, hab' einzig und allein ich das legale Recht ...«

»Das legale Recht vielleicht, nicht das moralische. Sie ist fast sechzehn. Viele Mädchen sind schon vorher verheiratet und Mütter.« Madeline ging um ihn herum.

»Wenn das alles ist ...«

»Das ist es nicht. Ist dir bewußt, daß es einen Ku-Klux in diesem Bezirk gibt?«

»Ich habe Gerüchte gehört. Beweise dafür konnte ich keine finden.«

»Nun, ich weiß es aus bester Quelle. Die Gruppe hier führt ein sogenanntes Totenbuch. Darin stehen die Namen jener, die den Klan beleidigt haben. Weißt du, welcher Name ganz oben auf der ersten Seite steht? Deiner.«

»Das überrascht mich nicht.« Madelines erzwungene Ruhe ließ nichts von dem plötzlichen, krampfartigen Schmerz in ihrem Magen erkennen.

»Ich warne dich, diese Männer sind gefährlich. Wenn sie herkommen, wenn deinetwegen meiner Tochter etwas geschieht, dann lasse ich dich nicht durch die Gerichte bestrafen. Das werde ich dann persönlich erledigen.«

Ein letztes Mal versuchte sie vernünftig mit ihm zu reden. »Cooper, wir sollten nicht miteinander streiten. Für Marie-Louise werden sich die Wogen schon glätten. Gib ihr eine Woche oder so. Und vergiß in der Zwischenzeit nicht, was uns verbindet. Wir sind eine Familie. Mein Mann war dein Bruder.«

»Sprich nicht von ihm. Er ist tot, und du bist das, was du immer warst - eine Außenseiterin.«

Sie zuckte zurück, als hätte er sie ins Gesicht geschlagen.

Seine Wut ließ ihn jegliche Beherrschung verlieren. »Ich verfluche den Tag, an dem ich dir vertraut habe. Daß ich dir die Verwaltung dieser Plantage übertragen habe. Weil Orry dich hier haben wollte. Ich wünschte bei Gott, ich könnte diese Vereinbarung zerreißen und dich rauswerfen, denn genau das würde ich tun, Madeline. Ich würde es tun! Du bist es nicht mal wert, im Schatten meines Bruders zu stehen. Orry war ein weißer Mann.«

Er rammte sich seinen Hut auf den Kopf und ging auf sein Pferd zu. Sein Gesicht war grau und eingefallen und haßverzerrt, als er davonritt.

Orry, ich kann nicht vergessen, was er sagte, oder darüber wegkommen. Ich sollte nicht lang und breit darüber schreiben. Ich möchte nicht in Selbstmitleid verfallen. Doch er hat eine tiefe Wunde geschlagen ...

... Die Mine ist in vollem Betrieb. Endlich ein bißchen Geld!

Mr. Jacob Lee, Savannah, ist die ganze Nacht durchgeritten, um sich heute morgen mit mir zu treffen. Er ist jung, eifrig und besitzt gute Empfehlungen als Architekt. In Atlanta aufgewachsen, wo er seine Eltern in Shermans Feuer verlor, weiß er kaum etwas vom Flachland und gar nichts von mir. Genau deswegen habe ich ihn eingestellt .

Lee, klein und voller Energie, zeichnete mit seinem Kohlenstift einen schnellen Entwurf auf seinen Block. Sie hatte sich entschuldigt, daß sie mit den Begriffen der Architektur nicht vertraut war, und Mont Royals Umrisse skizziert, wie sie ihr im Gedächtnis geblieben waren. Das hatte genügt.

»Die toskanische Säulenordnung. Die Stützpfeiler etwas freier von Ornamenten als die griechischen Säulen. Schlichter, sauberer Säulenknauf und Säulengebälk - haben Sie es so in Erinnerung?«

Madeline flüsterte, die Hände zusammengepreßt: »Ja.«

»War die äußere Seitenwand so? Weiß?« Er setzte horizontale Linien hinter die Pfeiler.

Sie nickte. »Hohe Fenster, Mr. Lee. Meine Größe, vielleicht noch etwas größer.«

»Ungefähr so?«

»Oh ja.« Sie konnte die Tränen nicht mehr zurückhalten. Auf seinem Block sah sie es endlich vor sich, geschaffen von einigen fachmännischen Strichen und ihrer eigenen Phantasie. Das zweite große Haus. Das neue Mont Royal ...

Das Haus, in dem sie nach Coopers Worten ein Eindringling war.

Juli 1868. Wir gehören wieder zur Union! Der Kongreß hat die neue Verfassung anerkannt, die staatliche Legislative hat sie ratifiziert, und wir wurden am 9. Juli wieder aufgenommen. Ein großer Anlaß für öffentliche Freude. Aber nichts dergleichen ...

14. Verfassungszusatz ratifiziert. Andy ist sehr stolz. Er sagte: »Ich bin jetzt ein Bürger. Ich werde jeden Mann bekämpfen, der mir das streitig machen will...«

Theo German kam gestern abend zu Besuch. Was für ein wunderbarer, aufrichtiger junger Mann. Er kam in voller Uniform und ganz allein - eine mutige Tat angesichts der Stimmung in der Nachbarschaft. Er hat den ganzen Morgen in der Schule verbracht. M.-L. hilft dort aus. Wenn ich solche Dinge noch richtig beurteilen kann, dann lieben sie einander wirklich. Wie sie allerdings ihre Beziehung auf Dauer gestalten wollen, ohne sich C. für immer zum Feind zu machen, weiß ich nicht ...

Merkwürdige Zeiten. Die Mixturen von Männern, die unser Leben kontrollieren, zeigt sich am deutlichsten bei unseren Kongreßabgeordneten. Die Senatoren sind Mr. Robertson (einer der ersten prominenten Männer des Staates, der sich den Republikanern angeschlossen hat) und Mr. Sawyer aus Massachusetts, der zu uns gekommen war, um die Leitung der Grundschule in Charleston zu übernehmen. Von unseren vier Abgeordneten stammen Corley und Goss aus Carolina, es spricht nicht viel für, aber auch nicht viel gegen sie. Whittemore ist ein Pastor der methodistischen Episkopalkirche aus Neuengland mit einer herrlichen Baßstimme; es heißt, sein mächtiger Hymnengesang habe ihm geholfen, die Neger auf seine Seite zu bringen. Dann ist da noch der bemerkenswerte Christopher Columbus Brown, Organisator der staatlichen Republikaner und ehemaliger Glücksspieler. Er stand vor einem Kriegsgericht der Konföderation und saß zum Zeitpunkt der Kapitulation unter dem Verdacht des Mordes an seinem Kommandeur im Gefängnis von Charleston.

Gen. Canby sagt, die Umstrukturierung des Staates unter den Wiederaufbaugesetzen sei abgeschlossen. Die Regierungsgewalt geht vom Militär an die gewählten Zivilbehörden über. In Columbia haben wir Gen. Scott vom Büro als Gouverneur, den Mulatten Mr.

Cardozo als Staatssekretär und einen kalten, kultivierten Republikaner und Veteranen der Union, Mr. Chamberlain, als Justizminister. Chamberlain bringt für seinen Posten sowohl Universitätsabschlüsse von Harward als auch von Yale mit, ebenso wie eine grundsätzliche Abneigung gegen alle Demokraten.

Der bemerkenswerteste - oder je nach Standpunkt schlimmste -Anblick ist die neue Legislative.

Cooper stand neben Hampton am Geländer der Galerie. Er war nach Columbia gekommen, um mit den Führern der Demokratischen Partei zu konferieren. Hampton hatte vorgeschlagen, sie sollten sich mal aus erster Hand informieren, indem sie einen Blick auf die Leute warfen, die jetzt den Staat kontrollierten. Vom ersten Augenblick an, als Hampton ihn in das immer noch nicht vollendete Parlamentsgebäude geführt hatte, war er entsetzt gewesen.

Schmutz bedeckte die Flure. Die Tore des Hauses wurden von einem Neger mit glänzendem Gesicht bewacht, der auf einem gegen die Wand zurückgekippten Stuhl saß. Beim Aufstieg zur Galerie entdeckte Cooper an der Marmorwand des Treppenhauses etwas, das wie ein großer Fleck getrockneten Blutes aussah.

Wie betäubt umklammerte er jetzt wieder das Geländer. Er hatte gewußt, daß fünfundsiebzig der hundertvierundzwanzig gewählten Repräsentanten Neger waren, aber es war viel ein-drücklicher, sie alle in dem Saal versammelt zu sehen. Der Sprecher war schwarz. Sein Gehilfe ebenfalls. Anstelle der anständigen weißen Jungs, die früher als Pagen gedient hatten, sah Coo-per - »Mischlingskinder. Unglaublich.«

Viele der weißen Gesetzgeber erkannte er. Einst Sklaven- und Plantagenbesitzer, waren sie nun eine verschwindende Minderheit gegenüber den Schwarzen, die ihnen früher vielleicht gehört hatten. Was die Schwarzen anbelangte, so vermutete Cooper, stammte ihre einzige politische Bildung aus dem Geschwätz der Union League. Diese Männer würden Jahre brauchen, um die feine Kunst des Regierens zu beherrschen. Zuvor schon würde der Staat ruiniert sein.

Mit kummervollem Gesicht sagte Hampton: »Genug gesehen?«

»Jawohl, General.« Die beiden Männer flohen zu den Galerietüren. »Der alte Spruch ist wahr geworden, was? Das Unterste ist zuoberst gekehrt worden.«

Im Korridor sagte Hampton: »Was dort drinnen geschieht, ist eine Travestie und eine Tragödie. Ich bin überzeugt davon, daß wir South Carolina von solchen Männern erlösen müssen, oder wir verlieren alles, was wir schätzen.«

»Ich bin der gleichen Meinung«, sagte Cooper. »Was immer nötig ist, ich bin bereit, es zu tun.«

August 1868. Old Stevens ist mit 76 gestorben. Ein ungemein verhaßter Mann in Carolina - obwohl ich dieses Gefühl nicht teilen kann. Er liegt aufgebahrt mit einer Ehrengarde von Negerzuaven. Es gibt bereits Streit über seine Grabstätte in Pennsylvania.

Virgilia sah ihren alten Freund drei Stunden vor seinem Ende. Unter den wachsamen Augen von Schwester Loretta und Schwester Genevieve, zwei Nonnen vom protestantischen Hospital für Farbige, saß sie da und hielt die Hand des alten Mannes.

Sie und Scipio nahmen den Zug nach Lancaster, um bei der Beerdigung dabei zu sein. Während der Reise mußten sie die wütenden Blicke und beleidigenden Bemerkungen anderer Fahrgäste ertragen. An ihrem Ziel angekommen, hatte Virgilia zu kämpfen, um ihren Kummer unter Kontrolle zu halten. Sie schaffte es, bis sie am Friedhof angekommen waren, wo ihr Freund zur letzten Ruhe gebettet werden sollte.

Während seiner letzten Tage hatte Stevens lange über seine Grabstätte nachgedacht. Weil es in Lancaster keine prominenten Friedhöfe gab, die die Leichen von Negern zugelassen hätten, wählte er einen ärmlichen, kleinen Negerfriedhof. Nach seinem Wunsch sollte auf dem Grabstein stehen:

ICH HABE DIESEN ORT GEWÄHLT UM NOCH IN MEINEM TOD FÜR DIE PRINZIPIEN EINZUSTEHEN DIE ICH EIN LANGES LEBEN LANG GEPRIESEN HABE:

GLEICHHEIT FÜR JEDEN MENSCHEN VOR SEINEM SCHÖPFER

Als sie das sah, brach Virgilia in Tränen aus, ein gewaltiges Schluchzen entrang sich ihrer Brust, so wie vor langer Zeit, als sie allein Gradys Grab in der Nähe von Harpers Ferry besucht hatte. Scipio legte einen Arm um sie. Es tröstete sie, ebenso wie seine ruhigen Worte:

»Nur sehr wenige können von sich sagen, daß sie so gestorben sind, wie sie gelebt haben. Er war ein großer Mann.«

Virgilia preßte sich an ihn. Seine Hand hielt ihre Schulter fest umklammert; keiner von ihnen beachtete die erstaunten Blicke, die sie auf sich zogen. Sie war froh, daß seine Hand bei ihr war. Sie hoffte, es würde immer so sein.

Wie unverschämt sie doch sind - der >Klan<. In Gettys' Thunderbolt heißt es in einer kurzen Notiz, daß sie Freitagnacht eine Parade in Summerton veranstalten werden. Jeder, der gegen sie ist, wird gewarnt; wenn er sich nicht fernhält, riskiert er strenge Bestrafung.

Andy erklärte, daß er sich die Sache mal anschauen würde. Ich sagte nein. Er erwiderte, ich hätte über seine Entscheidungen nicht zu verfügen. Ich sagte, ich sei lediglich um seine Sicherheit besorgt, und bat ihn, mir zu versprechen, daß er auf M.R. bleiben würde. Ich wertete sein Schweigen als Zustimmung.

Die schwüle Dunkelheit des Sommers machte schlaff und gereizt. Jane saß an dem alten Tisch in ihrem Haus und deutete auf die Zeitung, die Andy gerade gelesen hatte; mit nervösen Bewegungen seiner Handfläche glättete er sie wieder und wieder, während er auf seiner Unterlippe herumkaute.

»Andy, da steht es. >Alle illoyalen weißen Männer und LigaAnhänger werden gewarnt, fernzubleiben.< Was hast du davon?«

»Ich will sie mir ansehen. Im Krieg haben die Generäle auf beiden Seiten den Feind stets ausgespäht.«

»Du hast Madeline dein Wort gegeben.«

»Ich habe geschwiegen. Das war kein Versprechen. Ich werde vorsichtig sein. Ich bin bald wieder zurück.«

Er küßte sie und schlüpfte aus dem Haus. Sie berührte ihre Wange. Wie kalt sich seine Lippen angefühlt hatten. Jane legte die Hände zusammen und preßte sie fest auf ihren Mund. Sie schloß die Augen. »Andy - Andy.« Furcht und Schrecken lagen in ihrem Flüstern.

Er schlug einen weiten Bogen durch die Sümpfe um Summerton herum, vertraute dabei darauf, daß er die begehbaren Pfade im Gedächtnis hatte. Nur einmal rutschte er knietief ins Salzwasser.

Es war eine wolkenlose Nacht ohne jeden Wind. Eine dichte Dunstschicht verschleierte den Mond. Die Luft war voller Mos-kitos und winziger Insekten, die sein Ohr mit dem Geräusch einer Kreissäge umschwirrten. Er hörte Stimmen und Gelächter, als er sich hinter Gettys' Laden an Summerton heranschlich.

Durch das Unterholz kroch er bis ans hintere Ende des DixieLadens. Von hier aus konnte er die vordere Veranda einsehen, auf der sich einige schlampige weiße Frauen herumdrückten. Eine hatte ihr Kleid vorne geöffnet. Ein mageres Baby saugte an ihrer linken Brust. Das Gespräch der Frauen war laut und obszön.

Auf der anderen Seite der Straße sah Andy ein paar Kinder im Staub sitzen, zusammen mit einem Paar der ärmeren Pächter aus dem Bezirk. Plötzlich verstummte das Gerede. Die weißen Leute richteten ihre Aufmerksamkeit auf etwas, was außerhalb seines Blickfeldes vor dem Laden geschah.

Schwitzend beschloß er, hinter eine gewaltige Eiche zu kriechen, die zehn Fuß von der Veranda entfernt stand. Dazu mußte er eine offene, hellerleuchtete Fläche überwinden, doch die Leute schauten alle in die andere Richtung, die Straße hoch. Er zählte bis drei und schoß los. Eine Frau auf der Veranda hörte ihn, doch bevor sie sich umgedreht hatte, drückte er sich bereits flach gegen die rauhe Borke des Baumstamms. Er hörte die Frau grunzen: »Wahrscheinlich irgendein Tier.«

Nach einer Zeit des Schweigens hörte er schwache, rhythmische Geräusche. Pferde oder Maultiere auf der staubigen Uferstraße. An der Kreuzung brüllte jemand: »Hurra! Da kommen sie.«

Andy schob seinen Kopf hinter dem Baumstamm hervor, bis er die jetzt hellerleuchtete Kreuzung gut einsehen konnte; die Hälfte der Neuankömmlinge trug rauchende Fackeln bei sich.

Er wußte nur, daß es sich um Männer handeln mußte, mehr konnte er nicht erkennen. Sie trugen Roben und Kapuzen mit Löchern für die Augen. Die Kostüme waren aus irgendeinem glänzenden, blutfarbenen Stoff genäht. Er klammerte sich an den Stamm und beobachtete mit angehaltenem Atem weiter.

In Einerreihe ritten sie auf die Kreuzung. Der Anführer hatte seine Robe auf der rechten Seite hochgezogen und hinter seinen Gürtel gestopft, in dem Patronen schimmerten. Der Kolben seines in einem Halfter steckenden Revolvers pendelte frei. Bei den anderen Reitern entdeckte Andy alte Flinten, ein antikes Sponton, sogar einige Säbel.

Die Hufe wirbelten Staub auf. Die Reiter umkreisten die Lichtung wieder und wieder; das Ganze wirkte um so erschreckender, weil es vollkommen lautlos geschah. Selbst die weißen Schlampen und die Pächter schauten eingeschüchtert drein.

Der Anführer brachte sein Pferd vor dem Dixie-Laden zum Stehen. Jetzt erst bemerkte Andy etwas, das er zuvor nicht gesehen hatte. Der zweite Mann schleppte auf seinem Sattel eine Art Holzkiste mit, teilweise unter seiner Robe verborgen. Die Kiste schien rechteckig zu sein, ungefähr zwei Fuß lang, und bestand aus rohem Pinienholz.

Der Führer hob ein altes Hörrohr, wie es von Schwerhörigen benutzt wurde, an den Mund und sprach hinein. Seine Stimme klang dadurch blechern und verzerrt.

»Die Ritter des Unsichtbaren Reiches versammeln sich. Feinde des weißen Rittertums, hütet euch. Eure Tage sind gezählt. Euer Tod ist gewiß.«

Das war billiger Kitsch, darüber war sich Andy im klaren.

Eine kindische Maskerade. Doch er konnte in die Herzen, wenn schon nicht in die Gesichter der Kapuzenmänner sehen. Sie waren entschlossen und voller Haß.

»Teilt es allen mit«, bellte der Anführer durch das verbeulte Rohr. »Hier ist der erste, der unseren Zorn zu spüren bekommen wird.«

Der zweite Reiter warf die Kiste zu Boden. Der Deckel sprang auf. Eine Art Puppe kam zum Vorschein.

Der Führer gab ein Zeichen, und die Reihe der Reiter setzte sich in Bewegung. Andy entschied, daß er genug gesehen hatte. Er schlich sich durch die Yuccas zurück auf das dichte Gebüsch zu, aus dem er aufgetaucht war. Sein Fehler war, daß er über die Schulter schaute, um die Klansmänner im Auge zu behalten.

Er trat zu nahe an eine Yuccapflanze heran. Die Spitze eines langen Blattes stach durch seine Hose in sein Bein, und er stieß einen Schmerzensschrei aus, nicht sehr laut, aber doch ausreichend, um die Aufmerksamkeit der Reiter auf sich zu lenken. Jemand brüllte etwas, Gewehre und Revolver wurden hochgerissen. Der Anführer deutete auf den Schwarzen, der auf die Bäume zurannte.

Spitze Blätter bohrten sich in seine Beine, als zwei Kapuzenmänner auf ihn zugeritten kamen. Keuchend rannte Andy schneller, hinaus aus dem Yuccagebüsch. Ein Musketenkolben knallte gegen seinen Schädel und warf ihn auf die Knie.

Die Männer stiegen ab und schleppten ihn zur Veranda. Die weiße Frau, die das Baby gestillt hatte, beugte sich vor und spuckte ihn an. Sie stießen ihn vor das Pferd des Anführers.

»Nigger wurden vor dieser Versammlung gewarnt«, dröhnte der Anführer durch das Hörrohr. Er war eine erschreckende Gestalt, wie er so hoch über Andy aufragte in einer Robe, die in Flammen zu stehen schien. »Nigger, die dem Unsichtbaren Reich trotzen, bekommen, was sie verdienen.«

Ein anderer Klansmann zog ein gewaltiges Jagdmesser hervor. Die Klinge blitzte, als er das Messer drehte. »Reißt ihm die Hosen runter. Du bist erledigt, Boy. Aus Niggerköpfen und Niggereiern kochen wir Suppe.«

»Nein.« Der Anführer schlug mit dem Hörrohr durch die Luft.

»Er soll den anderen erzählen, was er hier gesehen hat. Zeigt ihm den Sarg.«

Ein Mann riß Andys Kopf herum, so daß er die auf dem Boden stehende offene Kiste sehen konnte. Durch das Samtkleid der groben Maishülsenpuppe in der Kiste hatte man eine Kugel gejagt. Der Führer deutete auf geschwärzte Buchstaben, die in den Sarg gebrannt worden waren. Krumme Buchstaben, aber lesbar.

»Einer soll ihm vorlesen, was da steht.«

»Ich kenne diesen Nigger«, sagte ein anderer Klansmann. »Er ist ein Mont-Royal-Nigger. Er kann selber lesen.« Obwohl der Sprecher versuchte, seine Stimme rauher klingen zu lassen, erkannte Andy doch Gettys.

Er war so verängstigt, daß ihm alles vor Augen verschwamm.

Er mußte seine inneren Muskeln krampfhaft anspannen, um sich nicht in die Hosen zu machen. Der Anführer dröhnte: »Also gut. Du erzählst dieser Frau, was du hier gesehen und gelesen hast, Nigger.« Wieder gab er ein Zeichen. Andy wurde losgelassen und erhielt einige Tritte.

Er taumelte los. Ein Revolver knallte viermal. Jedesmal zuckte er in der Erwartung, getroffen zu werden, heftig zusammen. Er rannte weiter, an den Yuccas vorbei auf den Wald zu. Zum Glück fiel er nicht. Er drehte sich um, als er die Bäume erreichte; bläulicher Pulverdampf trieb über den Kapuzenmännern. Sie lachten über ihn. Er rannte in die Dunkelheit hinein.

Konnte die ganze Nacht nicht schlafen. Andy hat den Klan gesehen und was sie in den Sargdeckel gebrannt haben, dessen Inhalt ihr beabsichtigtes Opfer repräsentieren sollte. Er hat es mir aufgeschrieben, mit zitternder Hand, während der Schweiß von seiner Stirn auf das alte braune Papier tropfte:

>Zum Tode verurteilt und hingerichtet<

die Niggerin

MAIN

44

An diesem Tage erwachte Charles eine Stunde später als üblich - um fünf Uhr nachmittags. Er griff unter sein Feldbett, entkorkte die Flasche und nahm den ersten Schluck, bevor er aus dem Bett stieg. Es war für ihn zur Gewohnheit geworden, den Tag so zu beginnen.

Es war Mitte August. Gleich hinter seinem Arbeitsplatz stand die Hütte, in der er schlief; sie war heiß und stickig. Und laut. Cowboys aus Texas brüllten und stampften auf dem Tanzboden des Hauptgebäudes herum, während der Professor auf dem brandneuen Fenway-Klavier des Etablissements eine Polka spielte.

Nach dem zweiten Schluck erhob er sich widerstrebend. Angekleidet war er bereits; für gewöhnlich schlief er in seinen Sachen. Er hatte eine zwölfstündige Nachtschicht als Rausschmeißer in >Trooper Nell's< vor sich. >Nell's< war eine gut florierende Tanzhalle mit Zimmern im ersten Stock für die Huren und deren Kunden. Sie lag in der Texas Street, zwischen Applejack und Pearl, südlich der Eisenbahnlinie. Wenn er aufmerksam lauschte, konnte er die Pferde und Kutschen hören, die die ausbezahlten Viehtreiber in den weniger respektablen Teil von Abilene brachten.

>Trooper Nell's< schloß niemals. Abilene blühte auf und entwickelte sich schnell zu der beliebtesten Verladestation in Kansas. Joe McCoy, ein bescheidener Farmerjunge aus Illinois mit einem gut entwickelten Geschäftssinn, hatte alles auf eine Karte gesetzt und gewonnen. Letztes Jahr hatte McCoy in seiner ersten Saison mit seinem zweihundertfünfzig Acres großen Komplex aus Pferchen und Rampen ungefähr fünfunddreißigtau-send Stück Texasvieh an Bord der U.P.E.D. verladen. Diese zweite Saison versprach das Doppelte. Trotz der Probleme mit den Indianern während des Sommers strömten die Herden bei Humbarger's Ford im Süden der Stadt durch den Smoky Hill. Fast jede Nacht mußte Charles auf zahlreiche freigiebige, saufende Cowboys aufpassen, sobald sie außer Rand und Band gerieten. Der Sheriff von Dickson County tat wenig. Er war von Beruf Kolonialwarenhändler, der mit Rowdies nicht umgehen konnte.

Charles benützte seine Finger, um seinen langen Bart zu entwirren. Von einem Stuhl mit einem abgebrochenen Bein nahm er die Segeltuchhülle, die er selbst genäht hatte, und schob die Spencer hinein. Das Gewehr und der tiefgeschnallte Colt dämpften für gewöhnlich die Kampfeslust der Cowboys. Das hatte er von Wild Bill gelernt, der mittlerweile in Kansas zur Legende geworden war. Manchmal trug Hickock bis zu fünf Waffen plus ein Messer bei sich. Auf diese Weise schüchterte er Männer ein, anstatt sie töten zu müssen. Charles hatte Wild Bill schon eine ganze Weile nicht mehr gesehen; es hieß, er würde als Meldereiter für die Armee arbeiten.

Es war Charles' Pech, daß er nicht auch so einen Posten bekommen hatte. Seit seiner Entlassung aus dem Zehnten Regiment hatte er keinen Indianer mehr zu Gesicht bekommen.

Und dieses Jahr war wirklich dafür geeignet. Die Stämme hatten ganz friedlich überwintert. Doch dann hatten sich die Politiker über die Höhe der Jahreszahlungen entsprechend den bei Medi-cine Lodge Creek ausgehandelten Bedingungen nicht einigen können. Nahrungsmittel, Gewehre und Munition wurden ebenfalls nicht ausgegeben. Im Frühling dann hatten sich die wütenden Comanchen in Texas auf den Kriegspfad begeben. Dann waren die Cheyenne unter Großer Bulle, Narbengesicht und anderen Kriegshäuptlingen in Kansas eingefallen, angeblich um ihre alten Feinde, die Pawnee, anzugreifen. Doch bald schon richteten sie ihre Feindseligkeiten gegen die Weißen.

Agent Wynkoop konnte die Friedenshäuptlinge unter Kontrolle halten, aber nicht die jungen Männer. Sheridan befand sich in Schwierigkeiten. Er verfügte lediglich über 2.600 Infanteristen und Kavalleristen, mit denen er den Überfällen Einhalt gebieten sollte. Er sandte Comstock und Grover, zwei erfahrene Scouts, aus, um den Frieden mit den Cheyenne wiederherzustellen. Eine Indianergruppe hieß die beiden Männer willkommen und fiel dann ohne Warnung über sie her; Comstock wurde ermordet und Grover schwer verwundet, bevor er flüchten konnte. Die Hinterhältigkeit überraschte Charles nicht.

Er haßte es, daß er diesen Schauplätzen so fern war. Doch er kannte keinen Trupp, der gegen die Indianer kämpfte und ihn aufnehmen würde, und er war nicht närrisch genug, um allein als einsamer Scharfrichter loszuziehen. Also arbeitete er in Abi-lene und trank, während Zorn und Frustration in seinem Inneren wuchsen.

Er nahm noch einen Drink, dann verließ er den Schuppen und trottete durch den mit Müll übersäten Hinterhof auf das verschachtelte, zweistöckige Gebäude zu. Er hatte tief und fest geschlafen, aber wieder Alpträume gehabt. Für gewöhnlich träumte er den alten Traum mit brennenden Wäldern, stürzen-den Pferden, träumte, wie er langsam im Rauch erstickte. Letzte Nacht war es anders gewesen. In seinem Traum hatte Elkanah Bent einen großen Perlenohrring vor ihm geschwenkt, während er ihn mit einem gewaltigen Messer stach.

Anfang des Jahres hatte er über Jack Duncan eine telegraphische Botschaft erhalten, die ihn von dem Mord an George Ha-zards Frau in Kenntnis setzte. Bents langer Rachefeldzug gegen die beiden Familien hatte Charles nur in seiner Überzeugung bestärkt, daß die ganze Welt und die meisten ihrer Bewohner wertlos waren. Allerdings glaubte er nicht, daß sich Bent je auf seine Fährte setzen würde. Charles hatte ihm in Texas vor dem Krieg einen zu großen Schrecken eingejagt.

Seit Januar war Charles nur zweimal in Leavenworth gewesen. Duncan behandelte ihn mit steifer Korrektheit, aber ohne jede Herzlichkeit. Er ließ Charles merken, daß er dessen Trinkereien nicht billigte. Charles hatte versucht, mit seinem Sohn zu spielen und zu reden, doch der Junge war ungern mit ihm allein und wollte ständig zu Maureen oder dem Brigadier zurück.

In Leavenworth warteten auch keine Briefe von Willa auf ihn. Er hatte ebenfalls nicht geschrieben.

Er befand sich in seiner üblichen mürrischen, gehässigen Stimmung, als er die zerbrechliche Hintertür aufriß und durch den dunklen Flur zu seiner Arbeit stelzte.

Der Professor hämmerte auf das Fenway-Klavier ein. Auf dem Plankenboden tanzten zwei Cowboys mit zwei Huren. An drei Tischen saßen Gruppen von lärmenden, staubigen Trinkern. Charles bemerkte, daß ihn einige der Cowboys anstarrten, als er auf das Ende der fünfzig Fuß langen, messingbeschlagenen Bar zuging.

»Schenk ein, Lem.« Der Bartender goß gehorsam einen Doppelten seines speziellen Bourbon ein. Charles kippte ihn hinunter; einen in der Nähe sitzenden Cowboy, der einem anderen mit blondem Kraushaar etwas zuflüsterte, bemerkte er nicht. Der blonde Junge warf Charles einen verächtlichen Blick zu.

Es roch hier nach Spucke und Sägemehl, Zigarren und Trail-staub und nach Kuhfladen, in den jemand getreten war. Für halb sechs war ganz schön was los, obwohl es nicht lärmender als üblich zuging. Die Besitzerin, die eins fünfzig große Nellie Slingerland, kam die der Bar gegenüberliegende Treppe herab. Nellie war etwas über vierzig, trug stets hochgeschlossene lange Kleider und besaß den größten Busen, den Charles je bei einer so kleinen Frau gesehen hatte. Ihre Augen waren hell und schauten berechnend drein, ihre Wangen waren von irgendeiner Kinderkrankheit her vernarbt. Nellie kostete doppelt soviel wie irgendeine der anderen Huren, doch für Charles tat sie es umsonst. Sie schliefen ein- oder zweimal in der Woche miteinander, für gewöhnlich tagsüber; Charles mußte sich stets vorher betrinken. »Roll rüber, du Bock«, pflegte sie zu sagen, und er schwang sich auf sie, drang in sie ein und stützte sich mit ausgestreckten Armen ab, während er es ihr besorgte. Sie schrie und stöhnte und hüpfte unter ihm. Weil er so groß war, befand sich sein Kopf ein ganzes Stück über dem ihren. Nie sah sie seine geschlossenen Augen oder den seltsam verzerrten Ausdruck auf seinem Gesicht. Stets versuchte er sich einzureden, es sei Willa. Es funktionierte nie.

»Wie geht's dir, Buck?« Nellies teure, handgearbeitete Stiefel knallten über den Boden, als sie sich ihm näherte. Man nannte sie Trooper Nellie, weil sie sich weigerte, für irgendeinen Mann die Stiefel auszuziehen, Charles eingeschlossen. In Abilene gab es eine Menge Geschichten über sie: Sie war eine ehemalige Schullehrerin; auf ihrer Farm in der Nähe von Xenia, Ohio, hatte sie ihren Mann seines Geldes wegen vergiftet; sie bevorzugte Frauen.

»Mir würd's besser gehen, wenn diese Hitze vorbei wäre«, sagte Charles. Er haßte die Anrede >Buck<, so als wäre er irgendein Feldarbeiter. Doch sie bezahlte ihn, also fand er sich damit ab.

»Du schaust so mürrisch aus, als könntest du einen Backstein verschlingen.«

»Hab' nicht besonders geschlafen.«

»Mal was ganz Neues«, sagte sie sarkastisch und griff nach dem Glas Limonade, das der Bartender aus ihrem Privatkrug eingegossen hatte. Sie trank keine harten Sachen. »Du bist ein verdammt guter Rausschmeißer, Buck, aber du läßt dir ziemlich deutlich anmerken, daß es dir nicht gefällt. Ich fange langsam an zu glauben, du gehörst nicht hierher.«

Sie nahm einen weiteren Schluck Limonade, während sie die Gäste musterte. Besondere Aufmerksamkeit schenkte sie dem Tisch, an dem der blonde Cowboy saß. Der ganze Lärm ging auf sein Konto.

»Behalt diesen Haufen im Auge«, sagte sie. »Die Jungen machen den meisten Ärger.«

Charles nickte und blieb mit dem Rücken gegen die Bar gelehnt stehen; über seine linke Schulter ragte der Lauf der Spencer. Kurz darauf schwankte der blonde Cowboy auf die Tanzfläche und steuerte auf den Professor zu, wobei er Squirrel Tooth Jo und ihren Kunden grob aus dem Weg stieß. Er verlangte etwas. Der Professor schaute zweifelnd drein. Mit wildem Gesichtsausdruck knallte der Cowboy einige Goldstücke auf die glänzende, schwarze Oberfläche des Klaviers. Der Professor warf Nellie einen Blick zu und begann >Dixie< zu spielen.

Der blonde Cowboy stieß ein Kriegsgeschrei aus und schwenkte seinen Hut. Er stieg auf einen Stuhl und dann auf den Tisch, an dem seine Freunde saßen. Nellie nickte Charles zu. Das bedeutete: Mach der Sache ein Ende.

Seit er erwacht war, überkam ihn zum erstenmal ein angenehmes, erwartungsvolles Gefühl. Ein grob gekleideter Mann stieß in diesem Moment die Tür von der Straße her auf, fing Charles' Blick ein und grinste. Der große, bärtige Bursche in mit Stachelschweinborsten verzierten Hosen und einem fransenbesetzten Wildledermantel kam ihm irgendwie bekannt vor, aber Charles wußte nicht genau, woher. Er hatte andere Dinge im Kopf.

Am vorderen Ende der Bar hatte jemand ein halbes Glas Whisky stehenlassen. Charles stürzte es herunter, griff dann über seine linke Schulter und holte die Spencer hervor. Er ging auf den Tisch zu, auf dem der Cowboy tanzte. Die anderen Männer am Tisch hörten auf zu reden und schoben ihre Stühle zurück. Die Stiefelabsätze des Cowboys hämmerten weiter auf den Tisch, der langsam splitterte.

»Daß du dir einen Drink kaufst, gibt dir noch nicht das Recht, die Möbel zu zerbrechen«, sagte Charles in erzwungenem Konversationston.

»Ich tanze gern. Mir gefällt die Musik.« Der Cowboy war kein Texaner. Sein schwerer Akzent deutete auf den Baumwollsüden hin. Vielleicht Alabama.

»Die kannst du auch im Sitzen genießen. Runter vom Tisch.«

»Wenn mir danach zumute ist, Soldat.«

Charles' Augenbrauen schossen in die Höhe. Der Cowboy schenkte ihm ein verwaschenes, herausforderndes Grinsen. »Soldat, in einem Schuppen weiter die Straße hoch, hab' ich alles über dich erfahren. Hamptons Kavallerie, aber danach bist du wieder in die US-Armee gegangen. Dafür würden wir dich in Mobile teeren.«

Charles verlor die Geduld und griff nach seinem Bein.

»Runter.«

Der Cowboy zog seinen Stiefel zurück und trat nach Charles, streifte seine linke Schulter und brachte ihn aus dem Gleichgewicht. Der Cowboy sprang vom Tisch, als Charles zurücktaumelte.

Ein anderer Cowboy packte Charles' Spencer. Zwei weitere Männer ergriffen seine Arme. Charles versetzte dem einen einen kräftigen Schlag und trieb ihn zurück. Vom Alkohol halb verrückt hämmerte der blonde Jüngling zwei Schläge in Charles' Bauch.

Die Wucht riß Charles aus dem Griff der Männer. Er rutschte aus, sackte dann verkrümmt in sich zusammen. Seine Spencer lag sechs Fuß entfernt.

»Haltet diesen verdammten Narren auf«, schrie Nellie, als der Cowboy seinen .44 Revolver zog.

Seine Freunde stoben auseinander. Eine ebensolche Fluchtbewegung leerte die Tanzfläche. Der Cowboy feuerte, als Charles nach rechts rollte. Die Kugel schleuderte Splitter und Staub hoch.

Nellie kreischte: »Der Boden kostet dreihundert Dollar, du Hundesohn!«

Wieder zielte der Cowboy auf Charles. Etwas schlitterte über den Boden auf Charles rechte Hand zu. Er sah nur die Stiefel und die Hosen mit den Stachelschweinborsten des Mannes, der ihm die Spencer zugeschoben hatte. Bevor der Cowboy ein zweites Mal abdrücken konnte, schoß Charles ihm in den Bauch.

Der Cowboy wurde zurückgeschleudert und landete auf dem Tisch, der krachend unter ihm zusammenbrach. Charles schwankte auf die Beine, schonte dabei das linke Bein, das er sich verrenkt hatte. Eine Hure kreischte; Squirrel Jo fiel in Ohnmacht. In das Schweigen hinein sagte Nellie: »Nun, ich schätze ...« Weiter kam sie nicht. Charles jagte eine zweite Kugel in den am Boden liegenden Cowboy. Der Körper zuckte und rutschte ein Stück weg. Charles feuerte ein drittes Mal. Wieder riß es den Körper weiter.

»Hör auf«, sagte Nellie und zerrte seinen Arm nach unten.

»Notwehr, Nellie.« Er zitterte, konnte seine Wut kaum unter Kontrolle halten.

»Beim erstenmal. Wozu die anderen Schüsse? Du bist genauso schlimm wie irgendein verdammter Indianer.«

Charles starrte sie an, versuchte eine Antwort zu finden. Sein linkes Bein sackte weg, und er knallte auf den Boden.

Sie trugen ihn in den Schuppen und legten ihn auf das Feldbett. Nellie scheuchte den Barkeeper und den Hausdiener hinaus und betrachtete ihn nüchtern.

»Der Junge ist tot, Buck.«

Er sagte nichts.

»Du kannst hierbleiben, bis dein Bein besser ist, aber dann ist Schluß. Ich weiß, daß du dich verteidigen mußtest, aber du hättest ihn nicht zu verstümmeln brauchen. Das spricht sich rum. Ein Temperament wie das deine ist schlecht fürs Geschäft. Tut mir leid.«

Mit steinernem Gesicht sah er zu, wie sie sich abwandte und hinausging. Verdammt noch mal, er hatte nur versucht, seine Haut zu retten -

Nein. Das war eine Lüge. Trooper Nellie hatte recht. Eine Kugel hätte gereicht, um diesen närrischen, hitzköpfigen Jungen zu erledigen, und er hatte es gewußt. Warum konnte er diesen tobenden Zorn nicht loswerden, der ihn veranlaßt hatte, die anderen Schüsse abzufeuern?

Ein Klopfen. Er nahm den Unterarm von seinen Augen.

Die Tür ging auf. Gegen das verblassende Augustlicht erkannte er die Silhouette des bärtigen Fremden.

»Griffenstein«, sagte der Mann in Wildleder.

»Ich erinnere mich. Dutch Henry.«

»Hat mich einiges gekostet, dich zu finden. Wie geht's dem Bein?«

»Tut weh. Wird eine Weile dauern, schätze ich.«

»Hör' ich ungern. Ich bin hundert Meilen geritten, den ganzen Weg von Hays.«

»Wozu?«

»Um dich anzuwerben.« Griffenstein zog sich eine alte Kiste heran und setzte sich. »Die Cheyenne spielen verrückt, und die Kavallerie jagt bloß hinter ihnen her, also hat Phil Sheridan beschlossen, in die Offensive zu gehen. Er hat einem seiner Adjutanten, Colonel Sandy Forsyth, den Befehl erteilt, fünfzig erfahrene Männer der Prärie anzuheuern, die losziehen und alle Wilden umbringen, die ihnen vor den Lauf kommen. Ich sagte, einen besseren Mann als dich könnten wir nicht finden. Du bist immer noch Tagesgespräch im Zehnten Regiment.«

Mürrisch sagte Charles: »Du meinst meinen Rausschmiß.«

»Nein, Sir. Sie reden darüber, wie du aus diesen Farbigen eine der besten Kavallerietruppen der Armee gemacht hast. Sie nennen deine alte Truppe nicht Barnes' Truppe, sie nennen sie Mains Truppe - nach deinem richtigen Namen -, und der Alte sagt Amen dazu.«

»Tatsächlich?« Charles packte sein schmerzendes Bein. »Hier, hilf mir mal. Ich weiß, daß ich aufstehen kann.«

Er versuchte es, fiel aber sofort wieder auf das Feldbett zurück. »Verdammt. Ich wollte, du wärst einen Tag früher gekommen, Griffenstein.«

»Ich auch. Naja, dann beim nächstenmal. So, wie die Roten brandschatzen und skalpieren, wird es noch einige Gelegenheiten geben. Dann kannst du mitmachen.«

»Verlaß dich drauf«, sagte Charles.

»Wie finde ich dich?«

»Telegraphier an Brigadier Jack Duncan. Er ist beim Zahlmeister des Departements in Fort Leavenworth.«

»Ein Verwandter?«

Eine Bequemlichkeitslüge: »Schwiegervater.«

»Niemand hat mir gesagt, du seiest verheiratet.«

»Nicht mehr. Sie starb.«

Und du hast jeden Hauch von Gefühl in der einzigen anderen Frau getötet, die du ebenso geliebt hast.

Der große Mann sagte: »Tut mir leid, das zu hören.« Mit einem kurzen Nicken tat Charles die Sache ab.

Sie gaben sich die Hand. Dutch Henry Griffenstein tippte an seinen Hut und zog die Lattentür hinter sich zu; Charles blieb fluchend und frustriert zurück. In der Dunkelheit griff er nach der halbleeren Flasche unter seinem Feldbett.

Nellie Slingerland nahm die Entlassung nicht zurück. Charles war schlecht fürs Geschäft. Trooper Nell's blieb fast die ganzen sieben Tage leer, die er in seinem Schuppen lag. Der Krämer, der zum Sheriff geworden war, schaute am letzten Tag vorbei und teilte ihm mit, daß ihn Zeugen entlastet hätten; es war Notwehr gewesen.

Hinkend packte er seine wenigen Habseligkeiten zusammen. Nellie verabschiedete ihn nicht persönlich, sondern schickte ihm lediglich durch den Barkeeper zehn Dollar. Charles verwendete das Geld, um Satan aus einem Mietstall im anständigen Teil der Stadt auszulösen. In der sommerlichen Abenddämmerung verließ er Abilene und ritt nach Osten in die Dunkelheit hinein.

45

Als Willa völlig aufgelöst ihren Text zum drittenmal vergaß, sagte Sam Trump: »Zehn Minuten Pause, meine Damen und Herren.«

Er zog sie beiseite, zu der mit Kissen übersäten Plattform, die bei den Proben als Bett diente. Er drückte sie auf den Bettrand, hinterließ dabei tintige Abdrücke am Ärmel ihres gelben Kleides. Wegen der Septemberhitze zerfloß sein mohrenschwarzes Make-up.

»Meine Liebe, was ist los?« Er wußte es ganz genau. Sie sah schlampig aus; ihr Silberhaar war stumpf und achtlos hochgesteckt. Er setzte sich neben sie; seine schwarzen Hosen und die schwarze Bluse waren feucht vom Schweiß. Die weiße Chrysantheme, über seinem Herzen festgesteckt, war verwelkt. Die Katze Prosperity sprang auf seinen Schoß und schnurrte.

Sie schwieg, und er versuchte es noch einmal. »Liegt es am Wetter? Es gibt sicherlich bald einen Wechsel.«

»Das Wetter hat nichts damit zu tun. Ich kann mich einfach nicht auf meine Rolle konzentrieren.« Sie berührte seine Hand. »Kannst du die Proben so lange aussetzen, daß ich schnell mal nach Leavenworth fahren kann?«

»Es sind noch keine dreißig Tage her, daß du dort warst.«

»Aber dieses arme Kind braucht neben der Haushälterin jemanden, der sich um es kümmert. Der Brigadier ist manchmal wochenlang mit der Zahlmeisterei unterwegs. Gus könnte genausogut ein Waisenkind sein.«

Sam strich über Prosperitys glatten Rücken. Es war wichtig, daß er irgendeine Möglichkeit fand, Willa aus ihrer Melancholie zu reißen. Das wurde mit jedem Tag schlimmer, raubte ihrer Darstellungskunst jegliche Energie. Er faßte sich ein Herz und sagte: »Liebes Mädchen, ist es wirklich der kleine Junge, um den du dich sorgst? Oder ist es sein Vater?«

Sie warf ihm einen vernichtenden Blick zu. »Ich weiß nicht, wo sein Vater steckt. Außerdem ist es mir völlig egal.«

»Oh nein, natürlich nicht. >Des Poeten Nahrung ist Liebe und Ruhm<, sagte Mr. Shelley, und das trifft auch auf Schauspieler zu. Doch du willst mir erzählen, daß auf dich nur die Hälfte zutrifft.«

»Quäl mich nicht, Sam. Sag einfach, daß du Grace ein paar Abende für mich proben läßt. Ich werde meine Rolle in >Othello< besser spielen können, wenn ich weiß, daß mit Gus alles in Ordnung ist.«

»Ich hasse es, die Proben zu verzögern. Ich habe so eine Vorahnung, daß unsere neueste Produktion uns in höchste Höhen tragen wird. Ich habe einigen New Yorker Managern telegraphiert und sie eingeladen.«

»Oh, um Himmels willen, Sam«, sagte sie, ihr Gesicht ganz untypisch feindselig. »Du weißt doch, daß all diese wunderbaren Triumphe nur in deiner Phantasie existieren. Wir leben und sterben als Provinzschauspieler.«

Trump stand auf. Die Theaterkatze krallte sich in seine Bluse und hinterließ einen langen Riß. Tief verletzt starrte Trump seine Partnerin an. Willas blaue Augen füllten sich mit Tränen.

»Tut mir leid, Sam. Es war gemein von mir, das zu sagen. Vergib mir.«

»Schon vergeben. Was deine Abwesenheit anbelangt, was bleibt mir schon für eine Wahl? Du läufst wie eine Schlafwandlerin durch deine Rollen. Wenn das durch eine weitere Fahrt nach Fort Leavenworth besser wird, dann fahr um Himmels willen. Und da wir gerade so offen sind, erlaube mir noch eine Bemerkung. Ich mochte den jungen Mann, als du ihn kennenlerntest. Jetzt mag ich ihn nicht mehr. Er hat dir weh getan. Selbst wenn er nicht da ist, tut er dir weh. Irgendwie reicht er bis in mein Theater und vergiftet alles.«

Willa schenkte ihm ein trauriges, halbes Lächeln. »So was nennt sich Liebe, Sam. Du hast auch deine Affären gehabt.«

»Aber keine, die mich zerstört hätte. Ich werde nicht zulassen, daß du daran zugrunde gehst.«

»Nein, Sam. Nur ein paar Tage, dann ist alles wieder in Ordnung.«

»Gut«, sagte er mit Zweifel in der Stimme.

Bei jedem Halt sprangen die Passagiere des Zuges, mit dem Willa quer durch den Staat fuhr, hinaus, um sich die letzten Zeitungen zu besorgen. Eine Story aus dem östlichen Colorado nahm fast die ganze Titelseite für sich in Anspruch. An der Ari-karee-Gabelung des Republican River war eine Spezialabteilung von Indianer jagenden Westmännern unter einem Colonel Forsyth von einem gewaltigen Cheyenne-Trupp überrascht worden. Die Abteilung suchte Zuflucht auf einer Flußinsel mit dünnem Baumbestand; dort setzten sie sich fest und kämpften.

Es war unglaublich, wie sie Welle um Welle der angreifenden Indianer zurückschlugen; einigen Meldungen zufolge sollte es sich dabei um annähernd sechshundert Indianer gehandelt haben. In einer der Angriffswellen war ein berühmter Kriegshäuptling namens Fledermaus mit einem gewaltigen Kriegskopfschmuck mitgeritten, dessen Medizin alle Kugeln von ihm ablenken sollte. Die Medizin versagte. Er wurde niedergeschossen, diese Fledermaus - von einigen auch Römernase genannt.

Die Passagiere des Zuges genossen die Berichte über die Schlacht von Beecher's Island, so benannt zu Ehren eines jungen Armeeoffiziers, der dort gefallen war. »Sie sind in Sicherheit«, rief ein neben Willa sitzender Fahrgast und hielt ihr die Zeitung hin. »Die Männer, die Forsyth nach Fort Wallace schickte, sind durchgekommen. Das Ersatzkommando fand sie immer noch eingeigelt auf der Insel vor; aus toten Pferden hatten sie sich Fleisch herausgeschnitten.«

»Wie viele haben sie umgebracht?« erkundigte sich ein anderer Passagier.

»Hier steht, es seien Hunderte gewesen.«

»Bei Gott, es sollte noch fünfzig weitere solcher Kämpfe geben als Ausgleich für die armen Unschuldigen, die in diesem Sommer skalpiert worden sind.«

Wütend sagte Willa: »Sie erwarten, daß sich die Cheyenne friedlich verhalten, wenn man ihnen nicht mal schlichte Fairness und Ehrlichkeit zukommen läßt. Vor fast einem Jahr hat ihnen die Friedenskommission Nahrungsmittel und Waffen für die Jagd zugesagt. Der Sommer war fast vorüber, als die Waffen ausgegeben wurden. Sollen sie etwa die Verträge nicht brechen, wenn wir es ständig tun?«

Ihre Stimme verlor sich im Klicken der Räder. Die männlichen Fahrgäste starrten sie an, als hätte sie die Cholera. Der Mann mit der Zeitung sagte zu den anderen: »Wußte gar nicht, daß es Squaws gibt, die man für weiße Frauen halten könnte. Ihr vielleicht, Jungs?«

Willa wollte gerade zu einer Antwort ansetzen, da beugte sich der Mann mit der Zeitung vor und spuckte einen großen Klumpen Kautabak auf den Boden.

In früheren Zeiten hätte diese Art von Benehmen sie nur angestachelt, noch härter zu kämpfen. Jetzt nicht. Sie fühlte sich mutlos, kam sich sogar albern vor bei dieser Schlacht, die nicht gewonnen werden konnte.

Sie starrte aus dem Fenster auf Ställe und im Abendlicht grasendes Vieh. Sie versuchte die sarkastischen Scherze zu überhören, die die Männer weiterhin über sie machten. Sie fühlte sich elend. Irgendwie vergiftete er alles.

Vielleicht war ihr häufig unpraktischer Partner weiser, als sie geahnt hatte. Vielleicht sollte sie aufhören, hinter Träumen herzujagen. Vielleicht sollte dieser Besuch in Leavenworth ihr letzter sein.

»Nein, der Brigadier hat seit Wochen nichts mehr von ihm gehört«, sagte Maureen, als Willa an einem grauen, stürmischen Morgen ankam.

»Ist der General hier?«

»Nein. Er ist wieder mit der Zahlmeisterei unterwegs.«

»Wo steckt Gus?«

»Ich lass' ihn hinten den Gemüsegarten umhacken. Es ist natürlich nicht die richtige Jahreszeit dafür - Kürbis und Kartoffeln haben wir bereits geerntet -, aber der arme Kleine muß sich ja mit irgendwas beschäftigen.«

»Was ihm fehlt, ist ein normales Leben.« Willa stellte ihren Koffer neben dem kalten Eisenofen ab. »Er braucht Schule, Eltern, ein eigenes Zuhause.«

»Daran gibt's keinen Zweifel«, sagte Maureen. Sie sah viel älter aus; das rauhe Präriewetter hatte ihre Haut runzelig werden lassen. »Aber ich fürchte, hier wird er diese Dinge nicht finden.«

Ein leises, gedämpftes Heulen unterstrich ihr Gespräch. Die Haustür klapperte in ihrem Rahmen. Maureen zerrte an ihrer Schürze. »Maria und Josef, manchmal hasse ich diesen Ort. Die Hitze. Diesen infernalischen Wind. Seit Wochen bläst er nun schon.«

Willa ging zur Hintertür. Von hier aus konnte sie den kleinen Gus beobachten, einen stämmigen Jungen, der in einer Ecke des Gartens lustlos mit seiner Hacke in der Erde herumstocherte. Staub und Abfälle wirbelten über den Garten und die nahegelegenen Gebäude. Gus' kleiner, runder Hut drohte jeden Moment fortgeblasen zu werden.

Willa brach fast das Herz, als sie ihn von der offenen Tür aus beobachtete. Wie verloren er aussah! Gebückt wie ein kleiner alter Mann. Grabend, hackend - ohne Sinn und Zweck.

Sie trat hinaus. »Hallo, Gus.«

»Tante Willa!« Er ließ die Hacke fallen und rannte auf sie zu. Sie kniete nieder und umarmte ihn. Charles' Sohn war fast vier. Er hatte seinen Babyspeck verloren. Obwohl er viel an der frischen Luft war, hatte er eine helle, blasse Haut.

Trotz des Windes machte sie mit ihm einen Spaziergang entlang der Klippe über dem Fluß. Sie stellte Fragen, die er einsilbig beantwortete. Dann hörte sie einen Ruf hinter sich und drehte sich um.

»Guter Gott.«

Charles kam den Pfad herabgeschwankt. Über dem Rücken seines Zigeunermantels trug er eine Art Segeltuchbeutel, aus dem ein Gewehrlauf ragte. Sein Bart war lang und ungekämmt.

Little Gus entdeckte seinen Vater, fing an zu strahlen und lief auf ihn zu. Er hatte die Hälfte der Strecke zurückgelegt, als Charles über einen Felsbrocken stolperte und stürzte. Er konnte gerade noch die Hände ausstrecken, sonst wäre er mit dem Gesicht auf den Boden geknallt.

Verwirrt blieb Gus stehen. Willas Gesicht spannte sich. Charles' Schwanken beim Aufstehen machte nur zu deutlich, daß er betrunken war.

»Hallo, Gus. Na komm, gib deinem Papa einen Kuß.«

Der Junge näherte sich ihm, aber mit gebotener Vorsicht. Charles kauerte sich hin und nahm den Jungen in seine Arme. Gus drehte den Kopf weg; Willa sah, wie er die Augen schloß und den Mund zusammenpreßte, als hätte er Angst vor dem Mann, der ihn umarmte. Der Augenblick spontaner Freude war dahin.

Willa hielt ihren Federhut gegen den böigen Wind fest. Dieser Wind trug ihr auch einen üppigen Whiskyduft zu. Also doch betrunken. Gus löste sich schnell von Charles. Er schaute erleichtert drein.

Charles starrte sie fast unfreundlich an. »Hatte nicht erwartet, dich zu treffen. Was machst du hier?« Er sprach mit schwerer Zunge.

»Ich wollte Gus besuchen. Ich hatte nicht damit gerechnet, daß du hier bist.«

»Bin gerade angeritten gekommen. Gus, geh zurück zu Mau-reen. Ich muß mit Willa reden.«

»Ich möchte draußen bleiben und spielen, Pa.«

Charles packte ihn an der Schulter, wirbelte ihn herum und gab ihm einen Stoß in Richtung der Offiziershäuser. »Widersprich mir nicht. Lauf.«

Little Gus sah aus, als würde er gleich in Tränen ausbrechen. Charles brüllte: »Lauf, verdammt noch mal!«

Gus rannte los. Willa hätte Charles am liebsten geschlagen, ihn mit der Pferdepeitsche bearbeitet. Die Intensität ihres Gefühls regte sie auf, weil sie wußte, daß sie nicht so empfinden würde, wenn sie ihn nicht liebte.

Irgendwo beim Militärposten veranstaltete die Artillerie ein Übungsschießen. Charles packte Willas Ellenbogen und drehte sie fast so grob herum wie den Jungen. Er stieß sie fast den unkrautüberwucherten Pfad zum Fluß hinunter. Um ihre Beherrschung ringend, sagte sie: »Wo bist du gewesen, Charles?«

»Oh, muß ich dir das beantworten?«

»Um Himmels willen, ich bin neugierig, das ist alles. Kannst du nicht mal mehr eine höfliche Frage erkennen?«

»Abilene«, murmelte er. »Bin in Abilene gewesen. Hatte dort einen Job, hab' ihn aber aufgegeben.«

»Was für einen Job?«

»Würde dich nicht interessieren.«

Bei einigen Weiden nahe der Kante der Klippe hielt sie an, stellte sich ihm gegenüber. Der Wind riß gelbe Blätter von den Zweigen und trug sie in staubig graue Ferne davon.

Sie haßte den Whiskygeruch, den Gestank seiner ungewaschenen Kleidung. Wieder wurde sie von ihren Emotionen überwältigt.

»Warum bist du ständig so wütend?« Sie drückte ihre behandschuhten Handflächen gegen seinen Zigeunermantel, stellte sich auf Zehenspitzen und küßte ihn. Sein Bart kratzte. Genausogut hätte sie einen Marmorblock küssen können.

»Hör mal, Willa!«

»Nein, du hörst, Charles Main.« Irgend etwas warnte sie, ihre Gefühle im Zaum zu halten, aber sie konnte nicht anders. »Glaubst du, ich bin aus reiner Barmherzigkeit hier? Ich liebe dich. Ich dachte, du hättest mich auch mal geliebt.« Sein Blick glitt an ihr vorbei, hinüber zu dem vom Staub verschleierten Fluß. »Ich möchte, daß du dieses wilde Leben aufgibst.«

»Ich bin hergekommen, um Gus zu besuchen, nicht um mir Vorträge anzuhören.«

»Nun, so ein Pech. Das wirst du dir jedenfalls anhören. Du gehörst nicht in die Prärie. Such dir einen Job in Leavenworth. Kümmere dich um deinen Sohn. Du hast ihm einen Schrecken eingejagt. Du mußt ihn zurückgewinnen. Erkennst du das denn nicht? Er braucht dich, Charles. Er braucht dich so, wie du vor zwei Jahren warst. Ich brauche dich so. Bitte.«

Er zerrte die Krempe seines schwarzen Hutes tief in die Stirn. »Ich bin noch nicht soweit, hierherzukommen. Ich habe noch einiges zu erledigen.«

»Diese verdammten Cheyenne!« Sie war den Tränen nahe.

»Für die dein Herz blutet. Kümmere dich um deine Friend-ship Society und deine gottverdammten Petitionen.«

Noch keine Stunde hier und schon läuft alles schief, dachte sie. »Warum schreist du mich an, Charles?«

»Weil ich nicht will, daß du dich in Dinge einmischst, die meinen Sohn betreffen.«

»Ich mag ihn!«

»Ich auch. Ich bin sein Vater.«

»Kein besonders guter.«

Er schlug sie mit der offenen Hand, nicht besonders fest, doch sie empfand einen unbeschreiblichen Schmerz.

Sie trat zurück, sich die Wange haltend. Der Wind trug ihren kleinen Federhut davon. Automatisch schnappte er mit einer Hand danach, doch der Hut segelte vorbei, trieb über den Rand der Klippe. In langsamen Spiralen segelte er auf den Missouri zu. »Oh«, sagte sie, ein kleiner, verlorener Laut. Dann schaute sie ihn wieder an. Härte schimmerte in ihren blauen Augen auf.

»Du hast dich in einen absoluten Bastard verwandelt. Ich habe mich gefragt, warum das geschah. Ich habe sehr viel für dich übrig gehabt. Das ist vorbei. Auch dein Junge schreckt vor dir zurück, aber du bist zu dumm und zu betrunken, um das zu erkennen. Wenn du so weitermachst, dann wird er dich eines Tages hassen. Angst hat er jetzt schon genug vor dir.«

»Mein Gott, spielst du die Überlegene?« Er sagte es laut und verächtlich. »Zuerst hattest du alle Antworten, was die Indianer betraf. Alle falschen Antworten. Jetzt erzählst du mir, wie ich meinen Sohn zu erziehen habe. Ich brauche dich nicht. Kümmere dich um deine eigenen Probleme. Such dir irgendeinen anderen Mann, den du in dein Bett zerren kannst.«

»Fahr zur Hölle, Charles Main! Fahr zur Hölle! Nein!«

Sie schüttelte heftig den Kopf. »Du bist ja schon dort, du bist so tief gesunken, wie man nur sinken kann.«

Wütend griff er nach ihr. Sie duckte sich, rannte an ihm vorbei. »Willa!« Ein kurzer Blick zurück zeigte Charles ihr tränen-überströmtes Gesicht. »Nur zu, lauf. Lauf doch!«

lauflauflauflauf - so hallte das Echo über den Fluß. In den wirbelnden Wolken von Blättern und Staub tauchte es unter.

»Miss Willa, Sie sind doch gerade erst angekommen.«

»Ein Fehler, Maureen. Das war ein schrecklicher Fehler. Kümmern Sie sich um den armen Jungen. Sein Vater wird es nicht tun.«

Den ganzen Weg nach Leavenworth ging sie zu Fuß; eine Staubschicht bedeckte ihre Lider und Lippen und Hände. Ein freundlicher Fahrkartenverkäufer besorgte ihr eine Schüssel mit Wasser und einen sauberen Lappen. Mit dem 4-Uhr-Dampfer fuhr sie nach St. Louis.

Als sie, noch schmutzig von der Reise, Trumps Theater betrat, war der alte Schauspieler von ihrem munteren Wesen überrascht. »Setz eine Probe an, Sam. Ich kann es kaum erwarten, an die Arbeit zu gehen. Wenn ich Glück habe, sehe ich Mr. Main nie wieder.«

MADELINES JOURNAL

September 1868. Zwei Monate vor den Wahlen haben die KlanAktivitäten in unserem Staat stark zugenommen. York County, an der Grenze von North Carolina, ist eine Brutstätte. Auf eine bizarre Art und Weise hat der Klan die Phantasie der Öffentlichkeit angeregt. Als Theo das letztemal Marie-Louise hier besuchte, brachte er eine Dose >Ku-Klux-Pfeifentabak< mit. In C'ston sah er, daß Notenblätter eines Songs verkauft werden, der zu Ehren des Klans geschrieben wurde. In Columbia ehrt ein Baseball-Team namens Bleichgesichten diese Organisation öffentlich.

Die Gruppe in Summerton bleibt sichtbar, hat aber noch nichts gegen uns unternommen. Manchmal weiß ich nicht, ob ich über diesen Pesthauch kostümierter Fanatiker lachen oder vor ihnen zittern soll.

Ridley, ein muskulöser junger Schwarzer, legte seinen Arm um seine Frau. May war ein zierliches Mädchen. Allmählich konnte man erkennen, daß sie schwanger war.

Ridley hatte den ganzen Tag auf den Phosphatfeldern von Mont Royal gegraben und war ziemlich erschöpft heimgekommen. Doch das Wetter war so angenehm, daß er May zu einem Spaziergang überredet hatte. Er fühlte sich großartig. Er verdiente anständig und fing nun gerade an, sich ein eigenes Zweizimmerhaus aus Kalkmörtel mit Hilfe seines Freundes Andy Sherman und einiger von Mr. Heely, dem weißen Vormann des Mont-Royal-Arbeitstrupps, entliehener Werkzeuge zu bauen. Ridley war stolz darauf, all diese Dinge tun zu können und als freier Mann dort hinzugehen, wohin er wollte. Das schloß auch Summerton ein, wo er beabsichtigte, für General U.S. Grant als

Präsident zu stimmen, wie Mr. Klawdell von der Liga es vorgeschlagen hatte.

Die letzte Röte des Tages verblaßte hinter dem dichten Wald, der an die Uferstraße grenzte. Ridley und seine Frau gingen nebeneinander, als sie fernes Gejohle hörten. May drängte sich dicht an ihn. »Die Sonne ist weg. Wir sind zu weit gegangen.«

»Es war alles so friedlich, daß ich gar nicht aufgepaßt habe«, sagte Ridley, sich plötzlich der Dämmerung bewußt. Er faßte ihre Hand und schritt schneller aus; wegen ihres Zustandes konnte er sie nicht zu sehr drängen. Plötzlich hörten sie hinter sich Pferdegetrappel.

Ridley und seine Frau drehten sich um. Sie sahen Lichter über die Straße schweben und einen roten Schimmer. Dann hörten sie das Geklirr von Zaumzeug. Reiter in Roben mit Fackeln.

»May, wir müssen rennen. Das sind diese Klansmänner.«

Sie wandte sich wortlos um und rannte auf Mont Royal zu; ihre nackten Füße berührten kaum den Boden. Er holte sie ein, und nebeneinander flüchteten sie vor den trabenden Pferden. Ridleys Atem ging schneller; bald schon keuchte er. May stöhnte. Die Anstrengung war zuviel für sie.

Die vier Reiter trieben ihre Pferde zum Galopp. Schnell überholten sie das schwarze Paar. Ridley und May sahen die Schatten der Klansmänner hinter ihren Fackeln auf der Straße auftauchen. Zwei Reiter parierten ihre Pferde mitten in der Straße durch. Ridley und May waren eingekreist.

»Nigger, du weißt, daß du in der Dunkelheit nichts mehr draußen zu suchen hast«, sagte einer der Reiter. Alle vier hatten ihre scharlachroten Roben und Kapuzen an, die bei jeder Bewegung aufleuchteten. Ridley umklammerte Mays Schulter. Er war wütend, aber er wollte die Reiter nicht provozieren; sie konnten May etwas antun.

»Wir sind gerade auf dem Heimweg, Gentlemen.«

»Gentlemen«, lachte ein anderer schallend auf. »Wir sind keine Gentlemen, wir sind die Teufel der Hölle, die aufrührerische Nigger hetzen.« Der Sprecher stieg ab und schlich auf sie zu. Hinter den Löchern der Kapuze sah Ridley blaue Augen, aber weder an der Stimme noch am Körperbau erkannte er den Mann. Der Mann hielt Ridley einen Leech-&-Rigdon Revolver unter die Nase. »Wo kommst du her, Boy? Antworte respektvoll.«

»Ein Stück die Straße weiter runter. Von Mont Royal.«

»Oh, dann bist du einer von diesen Union-League-Niggern, der glaubt, er könne im November zur Wahl gehen. Du willst versuchen, diesen gottverdammten Grant ins Weiße Haus zu bringen, nicht wahr, Niggerboy?«

Mays dunkle Augen blitzten vor Wut. »Jawohl, das wird er. Er ist ein freier Bürger und genausogut wie irgendeiner von ...«

»May, hör auf«, bat Ridley.

»Wir sind die Agenten des Teufels und verlangen Respekt«, sagte der Mann und hob den Revolver, um das schwangere Mädchen zu schlagen.

Ridley sprang zwischen sie. »Renn, May!« schrie er. Seine Hände schossen auf die Kehle des Kapuzenmannes zu. Der Mann feuerte eine Kugel ab. Es klang wie Donnergrollen.

»Jesus, Jack«, protestierte einer der anderen Männer. Ridley sank auf die Knie; aus einer Wunde knapp über seinem Gürtel strömte Blut auf sein Hemd. May schrie auf und sprang den Mann mit dem Revolver an. Anstatt zu schießen, rammte er ihr seinen Ellenbogen in den gerundeten Bauch. Sie stöhnte und stürzte mit dem Rücken auf die Straße, wo sie weinend liegenblieb.

Ihr verwaschenes Kleid hatte sich um ihre Hüften gewickelt. Sie trug saubere Baumwollschlüpfer, in denen sich plötzlich ein Blutfleck zeigte. Jack Jolly zerrte seine Maske herunter und starrte May angeekelt an. Einer der Männer sagte: »Sie ist doch bloß ein Mädchen.«

Jolly zielte mit dem Revolver zwischen die Augenhöhlen der Kapuze des Mannes. »Du hast überhaupt nichts zu sagen, Get-tys.« Ridley rollte langsam zur Seite, zitterte, blieb still liegen. Jolly grunzte zufrieden, zielte mit dem Revolver auf Mays Kopf und drückte ab.

Ihr Körper wurde herumgerissen. Die Explosion dröhnte durch den Wald, scheuchte unsichtbare Vögel auf, die alarmiert hochstiegen. Jolly lachte und wischte sich mit dem Rand seiner Kapuze über das feuchte Kinn.

»Das ist eine Niggerstimme weniger, über die wir uns Sorgen machen müssen. Zwei, falls sie einen Jungen in ihrem Wanst hatte.«

»Keine Gewalt«, sagte Devin Heely, der kleine, rotbärtige Ire, der von den Minenbetrieben in Charleston angeheuert worden war. »Die Beaufort Phosphate Company ist absolut gegen jede Gewalt. Es ist mein Job als Vorarbeiter .«

»Sie haben zwei unschuldige Menschen umgebracht«, rief Madeline. »Was schlagen Sie vor, wie wir mit derartigen tollwütigen Hunden umgehen sollen? Sollen wir sie vielleicht zum Tee einladen, um die Sache mit ihnen zu besprechen?«

Schweigen, Heely kaute auf dem Stiel seiner Maiskolbenpfeife herum. Es war in der Abenddämmerung, vierundzwanzig Stunden nach dem Doppelmord auf der Straße. Vor dem weißgetünchten Haus brannte jede verfügbare Laterne; alle auf den Phosphatfeldern beschäftigten Schwarzen hatten sich in einem großen Halbkreis versammelt. Sie hatten auch ihre Frauen und Kinder mitgebracht. Ein Baby schrie. Die Mutter wiegte das Kind.

Prudence Chaffee und Andy Sherman saßen nebeneinander auf der Veranda und beobachteten Madeline. Eine Frau in der Menge, Mays Schwester, weinte laut. Heely machte den Mund auf, um etwas zu sagen.

»Sie hat recht.«

Heely und alle anderen drehten sich um. Andy trat in die Mitte des erleuchteten Kreises. »Sie haben uns nur eine Wahl gelassen, so wie es in der US-Verfassung steht.«

»Wovon redest du, Sherman?« fragte Foote.

»Ich rede von dem, was in dem zweiten Verfassungszusatz steht. >Das Recht des Volkes, Waffen zu tragen, darf nicht verletzt werden .<«

»Gibt wieder mit seinem verdammten Gesetzesgelerne an«, murmelte jemand. Andy achtete nicht darauf.

»Ich rede davon, daß wir unsere eigene Miliz gründen. Jetzt sofort.«

»Du bist ein Narr«, sagte Heely. »Wenn es etwas gibt, was diese Klan-Jungs noch mehr hassen als die Liga, dann ist es eine Negermiliz. Ich bin dagegen.«

»Ich fürchte, Sie haben da nichts mitzureden«, unterbrach ihn Madeline. »Ich denke, du hast recht, Andy. Wir müssen uns selber schützen. Wenn diese Klansmänner nach Mont Royal kommen, werden wir nicht mehr die Zeit haben, in Charleston Soldaten anzufordern.«

Jane fragte: »Woher sollen wir Gewehre kriegen?«

»Wir werden sie in der Stadt kaufen«, sagte Madeline.

»Wird das nicht sehr teuer sein?« erkundigte sich Prudence.

Madeline warf ihr einen merkwürdigen, trauernden Blick zu, den weder Prudence noch Marie-Louise, noch sonst jemand verstand. »Ich könnte mir vorstellen, daß ich das Geld schon irgendwie auftreibe.«

Habe Mr. J. Lee, dem Architekten, geschrieben und ihn gebeten, die Arbeit aufzuschieben. Das Geld für seine Dienste muß anderweitig verwendet werden.

46

Das war die wahre Prärie. Nicht ein einziger Baum störte die makellose Linie des Horizontes. Es war der letzte Tag im Oktober, und der über den Boden fauchende, beißende Wind trug schon einen Hauch des kommenden Winters in sich. Ein stahlfarbener Himmel spannte sich über die leere, trostlose Weite.

Nahe dem Ufer eines sich dahinschlängelnden Bachlaufs tauchte ein winziges Pünktchen auf. Es wurde größer, wurde zu Reiter und Pferd - Charles und Satan. Unter dem Zigeunermantel trug er drei Hemden und fror immer noch. Der Saum des Mantels wirbelte klatschend um ihn herum. Der Lauf der Spencer ragte über seine linke Schulter.

Seine Augen suchten einen großen Bogen ab, konnten nichts entdecken. Mürrisch kaute er auf einer kalten Zigarre herum. Eine teuflische Zeit, um in den Krieg zu ziehen, dachte er. Doch wenn es einen Krieg geben sollte, dann wollte er dabei sein. Allein aus diesem Grund hatte er seinen letzten Job -Frachtverladungen im Eisenbahndepot in der Nähe von Leaven-worth - aufgegeben und war bei bitterkaltem Herbstwetter über zweihundert Meilen geritten.

Es dauerte eine weitere halbe Stunde, bis Gebäude aus Stein und Lehm am Horizont auftauchten. Endlich Fort Dodge. Bis jetzt hatte er Satan im Schritt gehen lassen. Nun trieb er ihn zu schnellem Trab an.

Erst sah er einen großen Wagenpark, dann berittene Trupps beim Drill. Hinter dem Fort ertönte das Knallen vom Schießtraining. Dies war kein in Routine erstickter Militärposten; dafür gab es zu viele Aktivitäten. Sein Blut geriet in Wallung.

Der Offizier vom Dienst warf dem reichlich düsteren Fremden einen mißtrauischen Blick zu und meinte, er könnte den Mann, nach dem er sich erkundigt hatte, wahrscheinlich beim Marketender finden. Charles bog hinter den Ställen nach Süden ab und ritt auf ein Lehmhaus mit flachem Dach zu, vor dem einige angebundene Pferde standen. Er stellte Satan dazu und ging hinein.

Dutch Henry Griffenstein spielte an einem alten, runden Tisch in der Ecke Karten. Vor ihm lag der größte Haufen Papiergeld. Die anderen drei an dem Spiel beteiligten Zivilisten kannte Charles nicht. Einer, ein unscheinbarer Mann mit wirrem Haar und einer Pfeife zwischen den Zähnen, verstreute beim Mischen ständig die Karten. »Du bist zu betrunken, Joe«, sagte der Spieler zu seiner Linken und nahm ihm die Karten ab. Joe rülpste und sackte in sich zusammen.

»Charlie«, rief Griffenstein und sprang auf. »Du hast das Telegramm bekommen.«

»Bin gleich am nächsten Tag los.«

»Jungs«, sagte Dutch Henry und führte ihn an den Tisch, »das ist Cheyenne Charlie Main. Charlie, das hier ist Stud Marshall, das Willow Roberts und hier«, seine Stimme nahm einen ehrerbietigen Klang an, als er den ungekämmten Mann vorstellte, der ungefähr zehn Jahre älter als Charlie sein mochte, »unser Scout-Chef. California Joe Milner.«

California Joe, der kaum geradeaus sehen konnte, schüttelte Charles die Hand. Milner trug einen schmutzigen spanischen Sombrero und hatte einen rötlichen Backenbart, der eine ganze Weile nicht mehr gestutzt worden war; insgesamt war er einer der schlampigsten Menschen, die Charles je gesehen hatte.

»Joe ist der Mann, für den ich arbeite, Charlie«, sagte Dutch Henry. »Und du jetzt auch.«

California Joe rülpste. »Wenn der General sein Okay gibt.« Er sprach mit Akzent. Nichts Kultiviertes wie die elegante Südstaatensprechweise, sondern mehr das nasale Jaulen der Grenzberge. Tennessee vielleicht oder Kentucky.

»Er meint Custer«, sagte Dutch Henry. »Wir haben mehr als einen General. Wir haben auch General Al Sully. Little Phil hat ihm das Kommando über das Siebte Regiment übertragen, während Curly noch im Exil saß. Hat ihn südlich vom Arkansas geschickt, um Indianer zu jagen. Hat sich dabei nicht gerade ausgezeichnet. Phil bat daraufhin Sherman, Curlys Strafe auszusetzen, damit wir einen Feldkommandeur haben, der weiß, wie gekämpft wird. Custer und Sully sind beide Leutnant Colonels, aber Sullys Brevet ist nur das eines Leutnant General, deshalb behauptet Custer, er hätte den höheren Rang. Sie streiten die ganze Zeit herum.«

»Geht dich nichts an«, sagte California Joe zu Charles. »Ich berichte Custer und du ebenfalls, wenn er dich nimmt. Je als Scout im Indianerterritorium gewesen?«

»Ich war da über ein Jahr mit ein paar Händlern unterwegs. Könnte nicht sagen, daß ich alles im Gedächtnis habe.«

»Das spielt keine Rolle. Als Scout brauchst du eigentlich nur einen Taschenkompaß und ein bißchen Mumm.«

»Mein Wort wird dir wohl genügen müssen, daß ich geeignet bin.«

California Joe lachte. »Du hast gesagt, er ist in Ordnung, Henry. Er ist in Ordnung. Main, geh zu Custer. Du findest ihn unten im neuen Camp am Bluff Creek, wo er seine Truppen drillt. Wenn er sein Okay gibt - der Lohn beträgt fünfzig Dollar im Monat.«

»Ich habe mein eigenes Pferd dabei.«

Ein weiterer Rülpser. »Dann sind's fünfundsiebzig. Verdammt, ich brauche bald wieder einen kräftigen Schluck.«

Milners trunkene Possenreißerei beeindruckte Charles nicht sonderlich. Dutch Henry bemerkte es und zupfte ihn am Arm.

»Ich brauche selbst einen Drink. Komm, Charlie, ich lade dich ein. Ich bin draußen, Jungs.« Sie marschierten zu der Bar aus rohen Baumstämmen. California Joe nahm sein neues Blatt auf und ließ drei Karten auf seine schmierige Hosen fallen.

»Das ist Custers berühmtes Schoßtierchen?« fragte Charles ungläubig.

Dutch Henry grinste. »Eins von den Zweibeinigen. Custer hat auch zwei seiner Hirschhunde mitgebracht, als Sherman es so einrichtete, daß er von Michigan zurück konnte. Hier geht's langsam los. Phil und Uncle Bill haben Grant endlich überzeugt, daß wir den Krieg zu den Wilden tragen sollten. Offensive, nicht Defensive. Der Plan geht dahin, sie wieder in ihr Territorium zurückzutreiben und diejenigen umzubringen, die nicht friedlich in die Reservation gehen und dort bleiben.«

Charles leerte ein Glas scharfen Fusels in drei Schlucken. »Du willst sagen, das ist der Plan, wo der Winter vor der Tür steht?«

»Ich weiß, es klingt alles andere als vernünftig, aber in Wirklichkeit ist es ganz schön clever von Little Phil. Die Wilden haben sich in ihren Dörfern niedergelassen, und du weißt so gut wie ich, daß ihre Pferde vom Futtermangel schwach sind.«

»Ich hab' in Leavenworth was läuten hören, daß Sherman geplant hatte, Sheridan schon letzten August loszuschicken.«

»Das stimmt, aber das verdammte Innenministerium hat ihm wieder eins ausgewischt. Die Friedenstauben haben die Armee zum Stillhalten gezwungen, bis ein sicheres Lager für die Wilden errichtet worden war, die niemanden bedrohen.«

Charles riß mit dem Daumennagel ein Streichholz an. Hinter der Flamme kniff er die Augen zusammen und paffte dicke Rauchwolken aus der Stumpenzigarre. »Wo ist das Camp?«

»Fort Cobb. Satanta hat seine Kiowa bereits reingebracht. Zehn Bären seine Comanchen. Einige Cheyenne wollten ebenfalls hinein, aber General Hazen hat sie weggeschickt, weil wir mit den Cheyenne nicht in Frieden leben. Die Cheyenne sind es, hinter denen wir her sind. Einige von ihnen haben schon wieder eine arme weiße Frau entführt, Mrs. Blinn, und ihren kleinen Jungen, drüben bei Fort Lynn, am 1. Oktober.«

»Wer waren die Cheyennehäuptlinge, die nach Fort Cobb gingen?«

»Es war nur einer. Schwarzer Kessel.«

Charles nahm die Zigarre aus dem Mund. Er rollte sie zwischen den Fingern hin und her. »Und sie haben ihn nicht reingelassen? Von der ganzen Bande ist Schwarzer Kessel am harmlosesten.«

»Ein Cheyenne ist ein Cheyenne, so hat es jedenfalls Hazen gesehen.« Dutch Henry verstand nicht, weshalb Charles besorgt dreinschaute. Abgesehen davon war es ihm egal. Er schlug seinem Freund auf die Schulter. »Herrgott noch mal, Charlie, bei Beecher's Island hast du was verpaßt. Die Rächer Salomons haben sich ganz ordentlich verkauft.«

»So nennt ihr euch, Rächer Salomons?«

»Jawohl, Sir. Wir haben einen ganzen Haufen Indianer umgebracht. Aber es warten noch eine Menge andere. Cheyenne und Arapahoe ...«

»Die Armee sollte Schwarzer Kessel in Ruhe lassen.«

»He, ich dachte, du haßt die ganze Bande.«

»Ihn nicht«, sagte Charlie unbehaglich. Ganz deutlich sah er Willas blaue Augen vor sich. Dutch Henry runzelte die Stirn.

»Charlie, ich sagte dir doch, niemand kümmert sich darum, welche Cheyenne in Ordnung sind und welche nicht. In erster Linie geht's darum, sie zu töten. Wenn du was dagegen hast, vergißt du die ganze Sache besser.«

Er dachte an Boy und Holzfuß, an den armen, geschlachteten Hund.

»Ich habe nichts dagegen.«

Er bestellte noch einen Drink. Der Rauch seiner Zigarre trieb an seinen Augen vorbei, die so kalt geworden waren wie der herbstliche Himmel.

Er verstand nicht, daß ein Schnapsfaß wie California Joe Mil-ner die Gunst von George Custer hatte gewinnen können, doch offensichtlich war das der Fall. Also schüttelte Charles dem Chef der Scouts die Hand, bevor er das Lehmgebäude verließ. Große Schneeflocken wirbelten um ihn herum. Der Himmel war fast schwarz. Ein Soldat tauchte vor ihm auf und drückte ihm etwas in die Hand.

»Mit den besten Empfehlungen des >Wählt-Grant-zum-Präsi-denten<-Clubs dieses Postens, Sir.«

Charles betrachtete das Flugblättchen mit der Gravur des Kandidaten. »Nein, danke.« Er gab es zurück.

»Sir, es ist die Pflicht eines jeden verantwortungsbewußten Bürgers zu wählen.«

»Ich hab' anderes zu tun«, sagte Charles. Der Junge mit der dunkelblauen Kappe sah seine Augen und verstummte.

Charles striegelte und fütterte Satan, dann legte er sich in den Ställen von Fort Dodge schlafen. Am nächsten Morgen versorgte er sich mit frischem Proviant und brach zu dem Lager der Siebten Kavallerie am Nordufer des Arkansas auf, ungefähr zehn Meilen südlich des Forts. Immer noch wirbelten Schneeflocken aus dem schiefergrauen Himmel; bald schon war er wieder bis auf die Knochen durchfroren. Er hielt sich bei Laune, indem er die kleine Melodie pfiff, die ihn an zu Hause erinnerte.

Camp Sandy Forsyth war nach dem Kommandeur der Rächer Salomons benannt worden. Durch die Düsternis der frühen Dämmerung sah Charles die Lichter schimmern. Der Wachposten, der ihn anrief, meinte, er habe Glück gehabt, daß er nicht ein paar Cheyenne in die Hände gefallen war, die sich in letzter Zeit in der Nähe des Lagers herumgetrieben hätten. Charles zuckte die Achseln und sagte, er habe kein Anzeichen von Indianern gesehen. Er hatte so viel Pech gehabt, dachte er, da konnte er ruhig auch mal ein bißchen Glück haben.

Mit Erlaubnis des Unteroffiziers vom Dienst schlug er sein Nachtlager im Wagenpark auf. Nachdem er etwas Zwieback gekaut hatte, zog er die Ohrenklappen seiner Bisammütze herunter, sicherte sie mit einem Kinnriemen und rollte sich in seine Decken. Er war durstig, aber das Wasser in seiner Feldflasche war gefroren. Er fühlte sich müde, allein, deprimiert.

Was er dann kurz vor dem Wecksignal sah und hörte, brachte sein Blut allerdings wieder in Wallung. Gewehrfeuer im gleichmäßigen Rhythmus von Schießübungen zog ihn auf die andere Seite des Zeltlagers. Er entdeckte ein Dutzend Kavalleristen, die auf Holzschießscheiben feuerten. Er erkundigte sich bei einem alten Veteranen mit drei Streifen, was hier vor sich ging.

»Wenn wir auf die Wilden stoßen, dann will Old Curly auch sicher sein, daß wir sie niedermachen. Diese Jungs hier sind einige von den vierzig Mann, die er für seine Elitetruppe ausgesucht hat. Scharfschützen. Leutnant Cooke führt das Kommando.«

Charles setzte seinen Spaziergang fort. Das ganze Lager summte vor Aktivitäten, ein sicheres Anzeichen für einen größeren Feldzug. Er zählte zwanzig Versorgungswagen und vierzig Ochsen.

Hämmer knallten auf heiße Ambosse; Charles sah ein halbes Dutzend Hufschmiede, die damit beschäftigt waren, eine ganze Menge Pferde neu zu beschlagen. Die Kapelle der Siebten übte nach den Klängen von >Garry Owen<. Ihre grauen Pferde erinnerten ihn an Sport.

Im Laufe des Nachmittags kamen ein weiteres halbes Dutzend Wagen an. Kurz nach fünf Uhr durfte er das große Zelt von Custer betreten.

»Still, Maida.« Custer tätschelte den großen Hirschhund, der bei Charles' Anblick knurrend aufgesprungen war. Der General wusch sich gerade die Hände; das Wasser in der Schüssel war immer noch klar, als er damit fertig war. Custer trocknete sich die Hände und kam voller Energie auf ihn zu; sein Lächeln ließ die Zähne unter dem rötlich-goldenen Schnurrbart aufblitzen. Blaue Augen funkelten über den scharfen Bogen seiner Backenknochen. Als sie sich die Hände schüttelten, roch Charles das Zimtöl auf Custers Locken.

»Mr. Main. Ich habe Sie erwartet. Bitte setzen Sie sich.«

»Jawohl, Sir, General. Danke.« Charles setzte sich auf einen Segeltuchstuhl. Auf Custers vollem Schreibtisch bemerkte er Zeitungen aus dem Osten. Eine mit schwarzer Tinte eingekreiste Schlagzeile stach ihm ins Auge. Sie hatte irgendwas zu tun mit Grants Präsidentschaftskampagne.

Custer musterte ihn, die Ellenbogen auf den Schreibtisch gestützt. Charles mußte sich selbst erst wieder klarmachen, daß dieser weltberühmte Soldat noch keine dreißig Jahre alt war.

»Wir sind uns irgendwo schon mal begegnet«, sagte Custer.

»Sie haben recht, General. Wir standen uns auf verschiedenen Seiten bei Brandy Station gegenüber.«

»Das ist es.« Custer lachte. »Ich erinnere mich, Sie haben mich ganz schön ins Schwitzen gebracht. Welche Einheit?«

»Wade Hamptons Legion.«

»Feiner Kavallerieoffizier, Hampton. Ich habe Südstaatler schon immer gemocht.« Custer schlug eine Akte auf. »Sie kennen das allgemeine Ziel unserer Expedition, nehme ich an. Wir haben den Feind aufzuspüren und anzugreifen, wenn er es am wenigsten erwartet; dabei versuchen wir, so viele Krieger wie nur irgend möglich zu töten. Um den Satz von Senator Ross zu benützen: Wir haben vor, uns den Frieden zu erobern.«

Charles nickte. Custer überflog ein Aktenblatt. »Die Armee muß eine gewisse Anziehungskraft für Sie besitzen. Wie ich sehe, haben Sie zweimal versucht, wieder reinzukommen, jedesmal unter einem anderen Namen.«

»Ich habe nichts anderes gelernt, General. Ich kam einige Jahre vor Ihnen nach West Point. Jahrgang '57.«

»Steht hier. Ich graduierte '61 durch die Gnade Gottes und den Fall von Fort Sumter.« Er schloß die Akte. »Kennen Sie das Indianerterritorium?«

»Ihr Milner hat mich das schon gefragt. Ich war über ein Jahr mit ein paar Handelspartnern dort, die dann von den Cheyenne niedergemetzelt wurden.«

Die blauen Augen nagelten Charles fest. »Sie würden also nicht zögern, wenn es darum geht, Wilde zu töten?«

»Nein, keine Sekunde.«

Doch irgend etwas störte ihn an seiner Antwort. Er entschied, der Grund dafür sei der, daß man Schwarzer Kessel in Fort Cobb die Zuflucht verweigert hatte. Nun, die Chancen standen gut, daß die Expedition die Tipis des Friedenshäuptlings verfehlen würde. Das Indianerterritorium war ein weites, leeres Land.

»Griffenstein hat Sie für diesen Feldzug empfohlen. Sie beide haben zusammen gejagt?«

»Jawohl, Sir. Wir haben für Buffalo Bill Cody gearbeitet.«

»Sprechen Sie Cheyenne?«

»Einigermaßen.«

»Ich habe einen Mexikaner, der bei dem Stamm aufgewachsen ist. Sie können ihn unterstützen.« Er machte sich eine Notiz. »Jetzt zurück zu Ihren Erfahrungen. Wie gut kennen Sie das Indianerterritorium?«

»Ich habe Milner die exakte Wahrheit gesagt. In einem Teil davon bin ich gewesen. Jeder Mann, der mehr behauptet, ist ein Lügner. Der ganze westliche Teil ist nie systematisch erforscht worden. Die Salt-Gabelung vom Arkansas, die Canadiens - weiße Männer haben Abschnitte davon gesehen, das ist alles.«

»Das ist nur fair. Aufrichtigkeit ist mir lieber als Lügen.«

Nach ein paar weiteren Fragen nickte Custer. »Okay, Sie sind dabei. Ihre Befehle nehmen Sie von Milner oder von mir entgegen. Bei der ersten Befehlsverweigerung werden Sie diszipliniert.«

Ein Muskel an Charles' Kiefer zuckte. Er wußte Bescheid über Custers berühmte Disziplinarverfahren. Darin enthalten waren solch illegale Bestrafungen wie kahlrasieren, auspeitschen, einsperren in eine Grube - und dann gab es natürlich noch Cu-sters Befehl an seine Untergebenen, Deserteure zu erschießen.

Charles' Zögern ärgerte Custer. »Hab' ich mich irgendwie unklar ausgedrückt, Mr. Main?«

»Nein, Sir. Alles klar.«

»Gut«, sagte Custer nicht mehr ganz so freundlich.

Charles wertete das als Entlassung. Im Aufstehen stieß er versehentlich den Zeitungsstapel vom Schreibtisch. Als er die Zeitungen von dem gefrorenen Boden aufsammelte, bemerkte er einige andere mit Tinte markierte Artikel. »Sie müssen sich für Politik interessieren.«

Custer warf ihm einen kalten Blick zu, während er sich erhob und seine Fransenhandschuhe anzog. »Ich mache kein Geheimnis daraus. Ich behalte General Grants Wahlkampagne genau im Auge, da einige bedeutende Leute im Osten vorgeschlagen haben, ich sollte in Erwägung ziehen, ebenfalls zu kandidieren. Der Schritt von einem militärischen Sieg zur Präsidentschaft ist nicht so groß, vorausgesetzt, es ist ein wichtiger Sieg, der genügend Schlagzeilen bekommt.« Charles fragte sich, wie stark das die Taktik beim Feldzug beeinträchtigen mochte.

»Guten Abend, Sir«, sagte Custer, hob die Zeltbahn und folgte Charles nach draußen. Ein Mann erregte Charles' Aufmerksamkeit, der gerade durch den Lampenschein vor dem Hauptquartier ging. Der leichte Schneefall ließ zwar keine gute Sicht zu, doch der rostbraune Bart und die steife Haltung waren unverkennbar.

Der Mann duckte sich in ein Zelt. Custer sagte: »Kennen Sie den Mann?«

»Unglücklicherweise ja.«

»Wenn Sie etwas gegen ihn haben, dann behalten Sie das für sich. General Sherman hat vor, sich uns anzuschließen. Eine Anzahl seiner Adjutanten vom Stab des Departements sind bereits hier. Captain Venable ist einer von ihnen.« Gezielt fügte er hinzu: »Ein erstklassiger Offizier. Fähig und loyal.« Loyal. Das Wort bestätigte, was Charles zuvor schon gehört hatte: Man war entweder Custers Anhänger oder sein Feind. Ein Mittelding gab es nicht.

»Jawohl, Sir«, sagte er.

»Entschuldigen Sie mich.« Aus der Art und Weise, wie der General ihm den Rücken zuwandte, konnte Charles schließen, daß er zum Schluß nicht gerade den besten Eindruck auf Custer gemacht hatte.

Custer eilte in die Dunkelheit hinein. Schnee sammelte sich auf Charles' Schultern und seiner Hutkrempe. Venable. Guter Gott. Er erinnert sich, daß der Wachtposten bei seiner Ankunft eine Bemerkung über sein Glück gemacht hatte. Jetzt schien es sich wieder von ihm abgewandt zu haben.

47

Er wartete oben auf dem Kutschsitz; der Wagen stand dicht an der Wand des Kornspeichers. Über ihm an der Wand ragte das Bild eines gewaltigen Kopfes auf, der heroische Kopf eines Soldaten in Uniform, begrenzt von roten und blauen Farben, mit weißen Sternen geschmückt, gib uns den frieden, stand in großen Lettern über dem Kopf. Ähnlich groß stand darunter:

GRANT.

Ein kalter Regen fiel aus dem Nachthimmel. Bent saß da und starrte das Kandidatenporträt an. Von Zeit zu Zeit schauderte er zusammen; die Novemberluft war so kalt wie Januar. Alle Angehörigen der kleinen Farmergemeinschaft von Grinnell saßen sicher und warm hinter verschlossenen Türen.

Drossel kam aus dem Kornspeicher, ein Bündel Geld in seinen fetten Fingern. Drossel war ein Farmer, für den Bent gearbeitet hatte, seit er im Spätsommer auf diesen kleinen Weiler in Iowa gestoßen war. Drossel war kleiner als Bent, ein älterer, aber robuster Mann. Er trat dicht an den Wagen heran, zählte einige Geldscheine ab und reichte sie hoch. »Ihr Lohn«, sagte er mit seinem starken Akzent.

»Ich danke Ihnen, Herr Drossel.« Herr und Frau Drossel sprachen sich ebenfalls so an, mit der Formalität der Alten Welt, und er hatte die Gewohnheit übernommen.

Die Drossels waren kurz nach den politischen Unruhen im Europa des Jahres 1848 nach Amerika emigriert. Sie hatten im Poweshiek County, Iowa, fruchtbares Land und eine vielversprechende Zukunft gefunden. Sie waren Republikaner, Lutheraner; sanfte, fleißige Menschen, die fraglos Bents Erklärung akzeptiert hatten, er sei ein Veteran der Union auf der Reise nach Westen, der in Colorado nach Verwandten suchen wollte. Er wollte wieder mit seiner Familie vereint sein, sagte er. Die Dros-sels verstanden dieses Verlangen und seine Einsamkeit. Gott hatte ihnen alles, nur keine Kinder geschenkt, hatte Bent von Frau Drossel an seinem dritten Tag auf der Farm beim Abendessen erfahren. Dabei hatte sie mit abgewandtem Gesicht geweint.

»Der letzte Rest der Ernte ist gut verkauft worden. Unsere Krippen sind für den Winter gefüllt. Folgen Sie mir ins Haus, Herr Dayton. Ich habe für diesen festlichen Abend einen besonderen Schnaps bereitgestellt.«

»Kein sehr festliches Wetter«, sagte Bent, die Geldrolle im Auge behaltend, die Drossel unter seinen schäbigen Wollmantel steckte. Drossel war recht gewichtig, trug eine Halbbrille und hatte einen ordentlichen weißen Bart von einem Ohr bis zum anderen. Seine Stiefel klatschten durch den Schlamm, als er auf einen vor Bent stehenden Wagen zuging. Bents Gedanken rasten, planten; er deutete auf ein anderes Poster an der Wand des Kornspeichers. Grants Plakat war darübergeklebt worden, und darunter waren nur noch die Buchstaben mour sichtbar.

»Ich nehme an, in diesem Teil von Iowa ist der demokratische Kandidat nicht sonderlich beliebt?«

»Tscha«, sagte Drossel, eine Art klickendes Geräusch. Er drückte sich seinen runden Wollhut auf den Kopf und kletterte über das Rad auf den Bock des ersten Wagens. »Was wissen wir denn von diesem Seymour? Ein New Yorker Gouverneur. Genausogut könnte er vom Mond kommen. Grant allerdings, Grant kennen wir. Grant ist ein Mann der ganzen Nation. Deswegen wurde er nominiert. Deswegen wird er gewinnen.«

»Aufgrund seiner Reputation«, sagte Bent; er spürte den ersten schmerzhaften Stich der spitzen Ahle zwischen seinen Augen. Winzige Lichtblitze begannen durch seinen Kopf zu schießen. Militärischer Erfolg hätte ihn bis ins höchste Amt der Nation tragen können, wenn seine Feinde ihm nicht seine Armeekarriere zerstört hätten.

Ruhig, dachte er. Bleib ganz ruhig. Der Gedanke an alte Wunden würde dieselben nur wieder aufreißen. Niemals würden sie heilen. Er konnte nichts anderes tun, als weiterhin den Blutpreis für sie einzutreiben. So hatte er es in Lehigh Station getan, und bald würde er es bei seinem nächsten, sorgfältig ausgewählten Opfer wieder tun.

»Herr Dayton, schlafen Sie?« Drossel scherzte, aber mit einer gewissen teutonischen Strenge. Während der zurückliegenden Wochen harter Arbeit in den Kornfeldern hatte Drossel oft genug Bent befohlen, dieses oder jenes zu tun, und Bent wäre dem alten Mann beinahe an die Kehle gesprungen. Nur wegen des größeren Ziels - er brauchte das Geld, um seinen Rachefeldzug fortführen zu können - hatte er den heftigen Drang unterdrücken können, Drossel an seinen eigenen Befehlen ersticken zu lassen.

»Es regnet sehr stark. Wir verschwenden Zeit. Frau Drossel wartet mit dem Festessen.«

In Bents Kopf verwandelte sich eine weiße Lichterexplosion in ein warmes Rosa. Heute abend wird noch mehr warten, dachte er mit einem verschlagenen Lächeln, das Drossel nicht sah. Der alte Mann ließ die Zügel über seinen Maultieren knallen und den Wagen in die Dunkelheit rollen, fort von den Lichtern der Farmergemeinschaft.

Die Drossels lebten eine halbe Stunde von Grinnell entfernt, im welligen Hügelland. Innerhalb von zwei Meilen gab es keinen Nachbarn; aufgrund der Topographie waren ihr hübsches weißes Haus und die Ställe aus der Entfernung kaum zu sehen.

Im Haus angekommen, zog sich Bent ein trockenes Hemd und trockene Socken an. Frau Drossel, die der knopfäugigen Puppe eines kleinen Mädchens ähnelte und deren Mund nie stillstand, brachte dampfende Platten mit Schnitzeln und Rotkohl auf den hübsch gedeckten Tisch. Herr Drossel bot seine verstaubte Flasche Schnaps an, als handle es sich um Champagner. Der heiße, scharfe Pfefferminzgeschmack besänftigte Bents Nerven etwas; er wärmte ihn und ließ ihn das eintönige Geräusch des Regens vergessen. Kurz darauf hörte es auf zu regnen. Bent war dankbar. Das kam seinem Plan zugute.

»Es tut uns leid, daß Sie uns verlassen, Herr Dayton«, sagte Frau Drossel nach der Mahlzeit. »Es ist sehr einsam hier draußen. Die langen Winterabende sind schwer zu füllen.«

Darüber brauchst du dir keine Sorgen mehr zu machen, dachte Bent. Nur mit Mühe brachte er ein Grunzen als Antwort hervor, weil sein Kopf so schmerzte. Als Drossel sich vom Tisch erhob, bemerkte Bent seine vom Bargeld ausgebeulte Hosentaschen. Der Farmer behielt das Geld bei sich, als er unten die Fensterhaken überprüfte und die Türen absperrte. Bent schützte Müdigkeit vor und sagte gute Nacht.

»Gute Nacht, Herr Dayton«, sagte Frau Drossel und stellte sich impulsiv auf die Zehenspitzen, um seine stoppelige Wange zu küssen. Er mußte sich beherrschen, um nicht angewidert zurückzuzucken. Ihre feuchten alten Augen machten ihn ganz krank. »Das hat gutgetan, Ihre Gesellschaft all die Wochen.«

»Ich wünschte, ich könnte bleiben, Frau Drossel. Sie und Ihr Mann sind für mich wie eine Familie.« Hinter seinen Augen blitzten und explodierten die Lichter. Seine herabhängende Schulter pochte von der feuchten Kälte. »Ich werde Sie wirklich vermissen. Aber das Leben führt einen jeden von uns eine andere Straße entlang.«

»Ja, welch ein Jammer«, rief sie, während er in einer Vision den höllischen Glanz am Ende ihrer Straße vor sich sah. Beinahe hätte er gekichert, behielt aber seinen frommen Gesichtsausdruck bei, als sie ihn tätschelte. »Ich verstehe, daß Sie jene finden müssen, die Ihnen nahestehen.«

»Ja, ich bin ihnen schon recht nahe. Es kann nicht mehr lange dauern.«

»Gute Nacht, Herr Dayton«, rief Drossel, als Bent die enge, kleine Treppe hochkletterte. Als er die Tür zur Bodenkammer schloß, hörte er Drossels abschließende Bemerkung: »Sie sind ein guter Mann.«

Anstatt sich ins Bett zu legen, zog er seinen Mantel wieder an und wickelte sich ein langes, wollenes Tuch um den Hals. Er zerrte seinen Koffer unter dem Bett hervor und inspizierte den Inhalt. Das tat er jeden Abend, eine Art abergläubisches Ritual, das ihm Erfolg garantieren sollte.

Das zusammengerollte Gemälde lag unten am Boden unter einigen schmutzigen Kleidungsstücken. Dann wühlte er zwischen den Sachen herum, bis seine Finger den Tränenohrring ertasteten.

Lächelnd schloß er den Koffer wieder. Aus einem Regal in der Ecke nahm er den verschmutzten Zylinderhut, den er gestohlen hatte, um den in Lehigh Station verlorenen Zylinder zu ersetzen. Er setzte ihn auf, dann zog er Handschuhe an, bei denen die meisten Fingerspitzen fehlten. Voll angekleidet ließ er sich auf dem Bettrand nieder, während die schmerzhafte Ahle sich tiefer und tiefer in seinen Schädel bohrte und die blendend hellen, imaginären Lichter explodierten.

Unten hörte er die Uhr im Schlafzimmer des alten Paares halb eins schlagen. Es war Zeit.

Er schlich die Treppe hinab und drehte langsam den Türknauf. Er öffnete und lauschte dem regelmäßigen Atem der beiden Schläfer. Er trat ein und schloß mit einem leisen Klicken die Tür. Einen Augenblick später erfüllten unterdrückte, gedämpfte Schreie das Haus.

Der Regen hatte aufgehört, aber überall war es noch feucht. Bent zitterte, als er aus dem Hof der Farm humpelte. Er bog nach links auf die nach Westen führende Straße ab. Mit saugenden Geräuschen klatschten seine Stiefel in den Schlamm.

Er marschierte eine Viertelmeile, bevor er sich sicher genug fühlte, um anzuhalten und zurückzublicken. Seine linke Hand blieb in der Tasche; seine Finger streichelten zärtlich über das gewaltige Geldbündel, das er Herrn Drossel abgenommen hatte. Seine erregte Männlichkeit preßte sich von innen gegen das Bündel.

»Ah!« Ein seliger Seufzer. Jetzt war das Farmerhaus nicht mehr nur ein Schatten in der Nacht. Im oberen Stockwerk glühte rosiges Licht hinter rauchenden Vorhängen auf. Während er zusah, flammten die Vorhänge auf.

Bent duckte sich am Straßenrand zusammen, genoß die Vorfreude auf die köstlichen Laute, die er einen Moment später hörte. Das alte Paar. Bewußtlos geschlagen, dann mit Streifen des Lakens sicher ans Bett gefesselt. Sie erwachten. Spürten die Hitze des Feuers, das er unten im Wohnzimmer entfacht hatte. Fühlte das Sengen und Knistern unter ihrem Bett - dem Bett, dem sie nicht entrinnen konnten.

Sie hatten ihn für solch einen guten Mann gehalten. Sie hätten lernen sollen, daß es in dieser Scheißwelt gefährlich war, der äußeren Erscheinung zu trauen oder Fremden aufs Wort zu glauben.

Eines der oberen Fenster barst, dann ein anderes. Flammen schossen hinaus. Das Fauchen wurde von Schreien übertönt.

Bent wandte dem strahlenden Glanz den Rücken zu und beugte sich über seinen Koffer. Er holte den Tränenohrring mit seiner filigranen Goldfassung hervor. Ein paarmal strich er mit den Fingerspitzen über die Perle, was ihn jedesmal in heftigere sexuelle Erregung versetzte. Die Erinnerung an Constances zerfetzte Kehle war noch sehr lebhaft.

Von seinen Lippen sprühten kleine Schaumflocken, als er sich den Ohrring in sein linkes Ohrläppchen bohrte. Es erfreute und amüsierte ihn, das Mahnzeichen der Bestrafung George Hazards zu tragen.

Er stülpte sich den Zylinder auf den Kopf und humpelte westwärts. Die hüpfende Perle fing das Licht des brennenden Farmhauses ein; es war, als hinge ein schillernder Tropfen geronnenen Blutes an seinem linken Ohr.

Bald schon verschwand der Schein des Feuers hinter dem Horizont, und er humpelte in die Dunkelheit hinein. Das große Geldbündel und der Gedanke an sein nächstes Opfer hielten ihn warm. Bald. Bald.

LEKTION XI

Jungen beim Spiel

Kannst du einen Drachen steigen lassen? Sieh, wie der Junge seinen Drachen steigen läßt. Er hält die Schnur fest, und der Wind trägt ihn hoch ...

Jungen rennen und spielen gern.

Aber sie dürfen nicht grob sein. Brave Jungen spielen nicht in grober Weise, sondern passen auf, daß sie einander nicht weh tun.

Wenn Jungen spielen, müssen sie freundlich sein und dürfen nicht schlecht gelaunt sein. Wenn du schlecht gelaunt bist, möchten brave Jungs nicht mit dir spielen.

Wenn du hinfällst, darfst du nicht weinen, sondern mußt aufstehen und weiterrennen. Wenn du weinst, halten dich die anderen Jungs für ein Baby ...

McGuffeys Ausgewähltes Lesebuch für die erste Klasse 1836-1844

MADELINES JOURNAL

Oktober 1868. Die Zivilbehörden finden keinen Täter für den Mord an May und Ridley. Wie konnte ich nur etwas anderes annehmen? Gerechtigkeit könnte sich durchsetzen, wenn das Militär Nachforschungen anstellen würde, aber das dürfen sie nicht. S.C. befindet sich im >Wiederaufbau< ...

Theo hat eine alte Schiffsglocke in C'ston gekauft. Ich habe sie poliert und neben der Haustür angenagelt, damit man damit - falls nötig - Alarm schlagen kann. Wir haben jetzt unsere eigene Miliz im Ashley-Bezirk - ausschließlich Neger, die meisten von M.R. -, die Zwischenfälle bei den Wahlen verhindern soll. Der Klan läßt sich häufig im Bezirk blicken. Die Situation bleibt sehr angespannt. Deshalb bewacht ein Mann jede Nacht dieses Haus. In einem zivilisierten Land, in einem Land, das in Frieden lebt, scheint das unvorstellbar. Und doch höre ich den Wachmann patrouillieren, höre seine nackten Füße über den Boden rascheln und weiß, das Unheil ist ganz real....

M.-L. wird teilnahmslos und gleichgültig in der Beengtheit, der sie hier unterworfen ist. Ihre Ausbildung wird vernachlässigt. Eine unbefriedigende Situation. Muß etwas unternehmen ...

... November 1868. In der Stadt gewesen, am vorletzten Tag vor der Wahl. Habe eine Soldatenparade gesehen - marschierende Einheiten, die sich Jungs in Blau für Grant< nannten.

Seymour, Grants Gegner, genießt hier kaum Ansehen, doch Blair, der als sein Vizepräsident kandidiert, ist der Liebling der weißen Bürger. Blair bezeichnet die Wiederaufbauregierungen als >Promena-denmischungen<, verspricht lautstark, die >Geburtsrechte< des Südens wiederherzustellen, und erklärt öffentlich, die weiße Rasse sei >die einzige Rasse, die sich fähig gezeigt hat, eine freie Regierung zu unterhaltene Kein Wunder, daß die Yankees sagen: »Kratz an einem

Demokraten, und ein Rebell kommt darunter zum Vorschein.« Judith sagt, sie fürchtet sich, an Cooper zu kratzen, weil sie Angst vor der Wahrheit hat. Hinter diesem mühsamen Scherz versteckt sich große Besorgnis; C. ist ein fanatischer Anhänger von Blair...

Alles vorbei. Grant ist gewählt. Im Dixie-Land hat Seymour lediglich Louisiana und Georgia hinter sich gebracht. Jeder in Frage kommende Mann auf M.R. hat gewählt, worauf ich sehr stolz bin ...

Theo war zum Abendessen da. Ist gegangen, kurz bevor ich mich zum Schreiben dieser Zeilen niedersetzte. Zum erstenmal schnitten er und M.-L. das Thema Heirat an. Ich habe nichts dagegen, aber sie ist Coopers Kind. Wie lange kann ich es wagen, einer Sache Vorschub zu leisten, die mit Sicherheit viel Unfrieden - muß Schluß machen. Lärm draußen ...

Hintereinander bogen die Reiter von der Uferstraße in den Weg. Ein bläßlicher Mond ließ die Läufe ihrer Waffen aufschimmern.

Langsam und leise ritten sie unter den Bäumen hindurch und dann um das weiße Haus herum. In einer Reihe bauten sie sich vor der Eingangstür auf. Im Mondlicht schimmerten ihre Roben und Kapuzen fast schwarz. Die Gucklöcher reflektierten überhaupt kein Licht.

Der Reiter in der Mitte hob seine alte Flinte. Der Mann rechts von ihm sah das Signal, riß ein Streichholz an seinem Absatz an und hielt es an die ölgetränkte Fackel, die sofort aufflammte und das halbe Dutzend Reiter beleuchtete.

»Ruft sie heraus«, sagte der Mann ganz rechts in der Reihe. Der Reiter saß dicht unter den tiefhängenden Ästen einer riesigen, knorrigen Eiche auf seinem Pferd. Der obere Teil des Eichenstammes war unter Moos verborgen. Irgendein Vogel oder Eichhörnchen bewegte sich dort mit leisem Rascheln. Der Reiter spähte nach oben, konnte aber nichts erkennen.

Der Mann in der Mitte hob ein altes Hörrohr. Plötzlich flog die Haustür auf, und Madeline trat heraus; ihre linke Hand griff nach dem Seil der Schiffsglocke.

»Bleib stehen«, befahl der Mann mit dem Hörrohr und der Flinte. Madeline sah blaß aus, als sie den alten Männermorgenrock vorn zusammenraffte. Hinter ihr tauchten die stämmige Schullehrerin und dann Marie-Louise auf.

»Wir sind die Ritter des Unsichtbaren Reiches«, sagte der Mann in der Mitte. Sein nervöses Pferd scheute.

Madeline überraschte sie alle durch ihr Lachen. »Ihr seid kleine Jungs, die ihre Gesichter verstecken, weil sie Feiglinge sind. Ich erkenne Ihre langen Beine, Mr. LaMotte. Haben Sie wenigstens soviel Anstand, die Kapuze abzunehmen und sich wie ein Mann zu benehmen.«

Ein Klansmann auf der linken Seite raffte seine Robe hoch und griff mit beiden Händen nach den Kolben seiner Revolver. »Bringen wir das verdammte Miststück um. Ich bin nicht hier, um mit einer Niggerin zu diskutieren.«

Der Mann in der Mitte hob seine Flinte, um den Sprecher zum Schweigen zu bringen. Zu Madeline gewandt, sagte er: »Sie haben vierundzwanzig Stunden, um den Bezirk zu verlassen.« Die Fackel knisterte. Ein klickendes Geräusch ertönte, ein Gewehr wurde durchgeladen, und eine Stimme rechts hinter der Linie der Reiter dröhnte:

»Nein, Sir. Noch nicht.«

Alle drehten sie sich um; Madelines Blick flog zu dem bemoosten Baum. Ein stämmiger Schwarzer mit rundem Gesicht war auf einem dicken Ast zu sehen, der sich unter seinem Gewicht durchbog. Er stemmte die Schultern gegen einen höheren Ast, damit er beide Hände fürs Gewehr frei hatte. Madeline erkannte den sanften, zurückhaltenden Foote. Sie hatte nicht gewußt, wer heute nacht Wache hatte.

»Ich denke, ihr kehrt besser um und reitet davon«, sagte Foote.

»Jesus, das ist bloß ein Nigger«, protestierte der Mann mit den zwei Revolvern.

»Ein Nigger mit einem Repetiergewehr«, sagte ein anderer Klansmann. »Ich würde nichts überstürzen, Jack.«

»Keine Namen«, rief der Mann in der Mitte.

Marie-Louise wisperte an Madelines Schultern:

»Es ist Mrs. Allwicks Tanzlehrer. Ich kenne seine Stimme.«

Madeline nickte mit zusammengepreßten Lippen. Der Mann in der Mitte fing an: »Madam!« Madeline sprang vor und versuchte ihm die Kapuze vom Kopf zu reißen.

Sein Pferd tänzelte seitlich weg. Er schlug mit der Flinte nach Madeline, aber sie ließ sich nicht abhalten. Wieder sprang sie mit ausgestreckter Hand nach der Kapuze. Diesmal riß sie sie herunter. Des LaMottes Gesicht wurde rot vor Wut.

»Na endlich. Der berüchtigte Mr. LaMotte. Und mir bleibt von Ihrem Besuch wenigstens ein Souvenir.« Sie hielt die Kapuze in die Höhe.

Alle hatten nur Augen für sie - die beiden anderen Frauen und die Klansmänner und Foote auf dem durchsackenden Ast. Währenddessen hatte unbemerkt von allen anderen der eine Klansmann seine beiden Revolver gezogen. Er beugte den rechten Arm, legte den Lauf seines linken Revolvers darauf und drückte ab.

Der Revolver donnerte los. Die Pferde wieherten und bockten. Foote bekam die Kugel in den linken Oberschenkel, wurde von dem Ast gefegt und verschwand hinter dem bemoosten Stamm.

»Foote!« schrie Madeline und rannte an den Pferden vorbei auf ihn zu. Vor ihr trieb der Reiter, der dem Baum am nächsten war, seinen Gaul unter die Zweige. Ein weiterer Schuß dröhnte. Madeline stoppte brüsk. »Foote!«

»Haltet die andere auf!« brüllte der Klansmann mit den Zwillingsrevolvern. Jack Jolly riß sich die Kapuze vom Kopf und zielte auf Prudence, die nach dem zweiten Schuß hinausgestürzt war. Die entstellende Narbe leuchtete weiß in seinem Gesicht.

Jolly zögerte einen Moment, einer weißen Frau eine Kugel zu verpassen. Dieses Zögern nutzte Prudence aus, um nach dem Glockenseil zu greifen. LaMottes Schrei ging in dem hallenden Gedröhne unter. Ein anderer Mann brüllte: »Das war's! Verschwinden wir!«

LaMotte schrie, die Augen ganz glasig vor Verwirrung, Madeline zu: »Sie haben vierundzwanzig Stunden. Verschwindet. Alle. Diese Lehrerin, die Niggermiliz ...«

Etwas in Madeline zerbrach. Wieder rannte sie auf LaMottes Pferd zu, packte es am Zügel und schrie ihn mit der Stimme eines Dockarbeiters an: »Den Teufel werde ich! Das ist mein Land. Mein Zuhause. Ihr seid nichts weiter als ein Haufen Feiglinge, die sich fürs Varieté verkleidet haben. Wenn ihr mich von Mont Royal runter haben wollt, dann müßt ihr mich schon umbringen. Anders werdet ihr mich nicht los.«

Das Pferd des Klansmanns links außen begann zu stampfen. LaMotte warf seinen Männern besorgte Blicke zu. Jolly tobte vor Wut. »Wenn du Angst hast, eine Niggerin umzubringen, ich hab' keine.« Mit beiden Leech & Rigdons zielte er grinsend auf Madeline. »Hier hast du das Ticket ohne Rückfahrkarte zum Bahnhof Hölle.«

Der Kapuzenmann neben ihm schlug ihm den Bruchteil einer Sekunde, bevor der Revolver losdonnerte, die Arme nach oben. Eine Kugel fuhr in die Dachschindeln, die andere irgendwo in die Dunkelheit. Die Klansmänner waren jetzt in Panik, waren allerdings kaum verängstigter als Madeline, die sich mit dem Rücken gegen das Haus geworfen hatte, überzeugt davon, daß eine der Kugeln sie treffen würde.

»Das dulde ich nicht«, sagte der Mann, der Jolly eben gehindert hatte.

Voller Verblüffung hörte Madeline zum erstenmal diese Stimme.

»Vater Lovewell? Mein Gott.«

»So tief werde ich nicht sinken«, sagte er. Jolly richtete die Revolver auf ihn. Unbeirrt griff der Priester wieder nach seinen Armen. »Schluß damit, Jolly. Ich lasse es nicht zu, daß Frauen ermordet werden, nicht mal eine Farbige.«

»Du frömmelnder Scheißkerl!« schrie Jolly und riß einen seiner Arme aus der Umklammerung. Er zielte auf Vater Lovewells Kapuze. Wieder schlug der Priester gegen Jollys Arm, bevor sich der Schuß löste. Die Kugel wirbelte unter dem Bauch von Vater Lovewells Stute eine Staubfontäne auf. Als Antwort auf die Glocke riefen draußen in der Dunkelheit Männer durcheinander.

Vater Lovewell entriß Jolly einen Revolver. Jolly brachte seine andere Waffe in Anschlag. Sein nervöses Pferd stieg hoch und zwang ihn, mit dem Schuß noch zu warten. Vater Lovewell umklammerte mit beiden Händen den Revolver und drückte ab.

Jack Jolly richtete sich im Sattel auf, sackte dann nach vorn. Blut färbte die Front seiner glänzenden Robe dunkel und lief dann an den Flanken seines Pferdes herab. Die anderen Klansmänner befanden sich nun in totaler Auflösung; Neger konnte man rennen und rufen hören.

Des LaMotte sah fuchsteufelswild aus, als er sein Pferd herumriß und davonsprengte. Bei dem Versuch, ihm zu folgen, behinderten sich die anderen Klansmänner gegenseitig. Jollys Pferd galoppierte ganz am Schluß; sein toter Reiter drohte jeden Moment herunterzufallen.

Madeline hatte Beine wie Pudding. Sie stemmte die Hände gegen die weißgetünchte Wand, um sich zu stützen. Bitterer Pulverdampf würgte sie. Der Fackelschein der Klansmänner verblaßte.

»Alles in Ordnung? Wer hat geschossen?« Das war Andy, der von den alten Sklavenhütten her angerast kam.

Madelines Nerven gaben plötzlich nach; sie fing an zu zittern. Die Haare fielen ihr in die Augen, als sie in die Dunkelheit unter den Baum rannte. »Foote. Oh, Foote!«

Bevor sie ihn erreichte, mußte sie sich abwenden und sich heftig übergeben.

Am Rande des dunklen Sumpfes beschwerten sie im Fackelschein Jack Jollys Leiche mit Steinen und ließen sie ins Wasser gleiten.

»Sie haben ihn erschossen, und er fiel direkt beim Haus vom Pferd. Das ist die Geschichte«, sagte LaMotte heiser. »Wir konnten ihn nicht mitnehmen, weil sie von allen Seiten über uns herfielen. Keine Sorge, seine Verwandtschaft wird niemals nach Mont Royal gehen, um seine Leiche abzuholen.«

»Und wir gehen auch nicht mehr hin«, sagte Vater Lovewell.

»Und ob wir das tun «, sagte LaMotte. »Ich übernehme die Verantwortung für das, was geschehen ist. Ich hätte nie gedacht, daß sie einen Wachposten hinstellt. Aber ich lasse mich nicht von einer Frau unterkriegen. Noch dazu von einer Niggerfrau. Sie hat meine Cousine gedemütigt, hat sie vernichtet.«

»Des, gib auf. Vater Lovewell hat recht.« Zum erstenmal machte Randall Gettys den Mund auf.

»Wenn ihr solche Südstaatler seid, in Ordnung«, sagte LaMotte. Sein Gesicht war fast so rot wie sein Haar. Er war wütend, weil Monate des Wartens wegen dieser einzigen verpfuschten Nacht umsonst gewesen waren. Doch er würde nicht aufgeben. »Sie wird nicht am Ashley bleiben und überall herumstolzieren. Sie wird sterben. Ich verstecke mich für eine Weile, dann komme ich allein zurück, wenn ihr anderen zu feige seid.«

Niemand sagte etwas. Sie warfen ihre zischenden Fackeln in das Brackwasser und gingen auseinander; Jack Jolly blieb unter Wasser zurück, mit ein paar Fischen und Fröschen und einem drei Fuß langen kleinen Alligator als Gesellschaft. Der Alligator schwamm dicht an ihn heran, öffnete seinen Rachen und begann mit nadelscharfen Zähnen an dem Gesicht herumzunagen.

Wir haben Foote beerdigt. Cassandra untröstlich. Sie verlor Nemo, als Foote zurückkehrte. Und jetzt das. Nichts, was ich sagte, half. Am späten Nachmittag war sie verschwunden ...

... Nach C'ston - nicht gerade mit Begeisterung. Mit kaltem Gesicht lauschte Cooper meiner Geschichte und meiner Versicherung, daß Prudence und seine eigene Tochter sie bestätigen könnten. Er war sichtlich verärgert, daß M.-L. der Gefahr so nahe gewesen war, beherrschte sich aber - noch. Was den Besuch des Klans anbelangte, so gab er mir den knappen Rat, die Sache zu vergessen, da kein Gericht in California sie verurteilen würde. Außerdem würde Des' Familie ganz sicher Zeugen auftreiben, die bekundeten, daß er zu dem Zeitpunkt ganz woanders war. Vater Lovewells Anwesenheit würde ohnehin keiner glauben, Zeugen hin und her.

Cooper sagte, er sei sicher, daß es nicht zu weiteren Zwischenfällen kommen würde. Ich weiß nicht, woher er diese Sicherheit nimmt. Plötzlich begann er mich dann heftig wegen Marie-Louise zu bedrängen. Ich gab nicht nach und meinte, sie könne, solange sie wollte, auf Mont Royal bleiben. Das löste eine Flut wüster Beschuldigungen aus. Bevor es so schlimm wie beim letztenmal werden konnte, floh ich.

Orry, ich weiß nicht, was ich tun soll. Ich habe es so satt, Furcht zu haben und diese Furcht ständig unterdrücken zu müssen ...

»Ja, das verstehe ich«, sagte Jane, als Madeline ihr gegenüber ihre Gefühle zum Ausdruck brachte. »Mein Volk hat seit Generationen mit dieser Art von Furcht gelebt. Aber ich weiß nicht, ob Mr. Cooper recht damit hat, daß der Klan aufgegeben hätte. Erinnern Sie sich, als Mr. Hazard gleich nach dem Krieg zu Besuch hier war? Ich sagte, bis zum letzten Sieg würde es noch jahrelange Schlachten geben. Ich glaube das immer noch.«

»Ich könnte zu General Hampton gehen. Er hat mir Hilfe versprochen.«

»Wie könnte er helfen? Er hat doch keine Truppen mehr, oder?«

Madeline schüttelte den Kopf.

»Ich glaube, wir bleiben besser auf dem Posten«, sagte Jane. »Ein Mann wie LaMotte, der nimmt vielleicht eine Niederlage von einem Mann hin, der seiner Klasse angehört, aber von einer Frau? Einer Farbigen? Ich möchte wetten, eher verliert er den Verstand, bevor er das geschehen läßt.«

»Ich glaube, er hat ihn bereits verloren.«

Jane zuckte die Achseln. »Das war nicht die letzte Schlacht. Er wird zurückkommen.«

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