Drittes Buch Banditi

Ich bin gerade mit der Union Pacific Railway, E.D., von Fort Wallace zurückgekehrt. Entlang des ganzen Schienenstrangs sind die Indianer mit ihrem barbarischen Krieg beschäftigt. Am Samstag wurden keine zwanzig Meilen von Fort Harker entfernt drei unserer Männer getötet und skalpiert ... Was kann man tun, um diesen Grausamkeiten ein Ende zu bereiten?

John D. Perry Präsident der U.P.E.D., zum Gouverneur von Kansas 1867


Die Unterzeichnung durch die Häuptlinge war eine reine Formalität. Kein Wort des Vertrags wurde ihnen vorgelesen ... Wer hat schuld, wenn so der Krieg kein Ende findet? Die Regierungskommissare.

Henry M. Stanley New York Tribune nach Medicine Lodge Creek 1867


Die Grenzlandbewohner behaupten stets, die Indianer seien auf dem Kriegspfad, und die Regierungskommissare und Indianeragenten behaupten, es herrsche Frieden; wir stehen mittendrin und werden von beiden Seiten beschimpft.

Jahresbericht von General William T. Sherman 1867

24

Ein Gewitter tobte über den Himmel und ließ die Erde erbeben. Auf der überfluteten Straße von Leavenworth City kam ein Reiter aus der Dunkelheit galoppiert.

Der müde Wachposten trat in den Regen hinaus und hielt den Reiter an. Ein Blitz tauchte ihn in blendendes Weiß. Sein Schnurrbart hing herunter, sein voller, verfilzter Bart mußte gestutzt werden. Ein ponchoartiges, aus Flicken zusammengesetztes Kleidungsstück hing ihm von den Schultern. Er kaute auf einem kalten Zigarrenstummel herum.

Von der Kappe des jungenhaften Wachpostens tropfte der Regen. »Nennen Sie Ihren Namen, und sagen Sie, was Sie hier im Armeeposten wünschen.«

»Aus dem Weg.«

»Mister, ich befehle Ihnen, mir Ihren Namen und ...«

Schnell wie ein Lidschlag war ein Armeecolt in der Hand des Mannes. Mit einer einzigen fließenden Bewegung richtete er sich auf die Stirn des Postens. Ein weiterer Blitz enthüllte die Augen des Mannes unter der Hutkrempe. Der Wachposten sah, daß in ihnen die Hölle tobte.

Erschrocken zog sich der Posten zum Wachhäuschen zurück. Seine lange Unterwäsche fühlte sich plötzlich feucht an. Er winkte. »Passieren.«

Der Reiter galoppierte bereits weiter.

Der Regen trommelte aufs Dach. Jack Duncan schenkte Brandy ein. Charles nahm seinen Drink wortlos entgegen. Dem Brigadier gefiel das ganz und gar nicht, genausowenig wie das verwahrloste Aussehen seines Überraschungsgastes und die Ringe unter seinen Augen. Charles hatte Duncan mit seiner Ankunft um halb zwei Uhr morgens verblüfft und dann noch einmal mit seiner Ankündigung, wieder in die Armee eintreten zu wollen.

»Ich dachte, dir reicht's.«

»Nein.« Charles warf den Kopf zurück und kippte den Brandy hinunter.

»Nun, Charles Main kann nicht eintreten. Ebensowenig Charles May, zuletzt in Jefferson Barracks.«

»Ich wähle einen anderen Namen.«

»Charles, beruhige dich. Du bist ja außer dir. Was ist passiert?«

Er knallte das leere Glas auf eine Packkiste, die als Tisch diente. »Adolphus Jackson hat mich durch eines der schlimmsten Jahre meines Lebens gebracht. Er hat mir mehr über die Prärie beigebracht, als ich dir in einer Woche erzählen könnte. Ich werde es den Bastarden heimzahlen, die ihn niedergemetzelt haben.«

Duncans vor Müdigkeit aufgequollenes Gesicht zeigte Mißbilligung. Er zog seinen alten Morgenmantel zusammen und marschierte neben dem alten, jetzt kalten Eisenofen auf und ab. »Ich mache dir keinen Vorwurf, daß du zornig bist über das, was die Cheyenne getan haben. Allerdings halte ich das nicht für ein ideales Motiv, um ...«

»Ich empfinde ebenso«, unterbrach ihn Charles. »Sag mir einfach nur, ob ich eine Chance habe.«

Seine laute Stimme weckte Maureen. Durch die Tür ihres Zimmers drang eine schläfrige Frage. Mit der Sanftheit eines aufmerksamen Ehemannes sagte der Brigadier: »Schlaf nur weiter. Es ist nichts.« Charles starrte die geschlossene Tür an, erinnerte sich daran, daß einst Willa hier geschlafen hatte.

»Eine kleine Chance, nicht mehr«, beantwortete Duncan seine Frage. »Kennst du den Namen Grierson?«

»Ich kenne Griersons Sechste Illinois-Kavallerie. Die sind innerhalb von sechzehn Tagen auf Konföderationsgebiet sechshundert Meilen geritten, um Pemberton wegzulocken, während Grant den Mississippi unterhalb Vicksburg überquerte. Dieser Ritt war eines Jeb Stuart oder Wade Hampton würdig. Falls es sich um diesen Grierson handelt - der Mann wäre gut genug für unsere Seite gewesen.«

Duncan freute sich, daß Charles eine Spur schwarzen Humors aufbrachte. »Es ist dieser selbe Grierson. Für einen Musiklehrer aus einer Kleinstadt, der Angst vor Pferden hatte, ist aus ihm ein verdammt guter Kavallerist geworden.«

»Angst wovor?« Charles konnte es nicht glauben.

»Es stimmt. Mit acht Jahren wurde er von einem Pony getreten. Die Narbe ist heute noch zu sehen.« Duncan berührte seine rechte Wange. »Grierson kam vorgestern hier an, um auf die Rekruten seines neuen Regiments zu warten; eines von denen, die der Kongreß im Juli genehmigt hat. Grierson ist verzweifelt auf der Suche nach guten Offizieren, die führen und ausbilden können, aber niemand will in der Zehnten Kavallerie dienen. Die Männer werden in New York, Philadelphia, Boston rekrutiert - der Abschaum des Großstadtproletariats. Meist Analphabeten.«

»Die Armee ist voll von Analphabeten.«

»Aber nicht von solchen. Griersons Männer werden ausschließlich Schwarze sein.«

Das brachte Charles zum Schweigen. Er schenkte sich Brandy nach, überlegte scharf.

Duncan erklärte, daß ein 9. Kavallerieregiment im Rahmen von Phil Sheridans Golfdivision zusammengestellt wurde; Shermans Division würde das Zehnte Regiment kriegen. »Grierson erzählte mir, die Anwerber hätten bis jetzt erst einen Kavalleristen unter Vertrag nehmen können. Das Kriegsministerium besteht auf qualifizierten weißen Offizieren, doch Unionsveteranen, die sich um ein Offizierspatent bewerben, möchten es nicht im Zehnten. Kennst du George Custer?«

»Ja. Bei Brandy Station habe ich ihm kurz gegenübergestanden. Es heißt, er sei ein ruhmsüchtiger Gockel, aber immerhin hat er Schlachten gewonnen.«

»Custer ist begierig, wieder die Uniform anzuziehen, aber ins Neunte Regiment würde er trotzdem nicht eintreten. Das ist typisch. Die Soldaten der Union haben zwar für den farbigen Mann gekämpft, aber im großen und ganzen mögen sie ihn nicht und wollen auch nichts mit ihm zu tun haben. Grierson ist da eine Ausnahme. Ein richtiger Idealist.«

»Was müßte ich tun, um ins Zehnte Regiment zu kommen?«

»Mehr, als nur den Wunsch zu äußern. Du brauchst Kriegserfahrung. Untersuchung durch einen speziellen Ausschuß. Und Begnadigung durch den Präsidenten. Auch für Charles Main, der die Militärakademie absolviert hat. Aber ich nehme nicht an, daß jemand wie du bereit ist, Neger zu kommandieren.«

»Wenn sie was taugen, warum nicht? Ich kenne die Schwarzen verdammt viel besser als die meisten Yankees.«

»Das werden Schwarze aus dem Norden sein. Als erstes werden sie deinen Akzent mitkriegen. Wird ihnen gar nicht gefallen.«

»Damit werde ich schon fertig.«

»Denk darüber nach, bevor du das sagst. Ein Schritt nach vorn, und du bist über die Klippe. Dann kannst du es dir nicht mehr anders überlegen.«

»Verdammt noch mal, ich würde Männer mit blauer Haut kommandieren, wenn sie Indianer umbringen können. Was für Chancen habe ich?«

Duncan starrte durch das Salonfenster hinaus in den scheußlichen Regen, während er darüber nachdachte. »Ungefähr fifty-fifty. Wenn Grierson dich nimmt, dann könnte er dir den Weg zu General Hancock von der Division ebnen. Ich ebenfalls.«

»Könnte ich die Begnadigung bekommen?«

»Schon, wenn du in bezug auf deinen Dienstgrad als Scout bei Hampton lügst. Stuf ihn ein bißchen runter. Sag, du habest nicht zur festen Truppe gehört. Existieren Personalakten, die das widerlegen könnten?«

»Wahrscheinlich nicht. Es heißt, die meisten seien in Rich-mond verbrannt.«

»Dann solltest du keine Schwierigkeiten haben. Für eine Begnadigung brauchst du einen anderen Namen und die Dienste eines Maklers. Das wird so um die fünfhundert Dollar kosten.«

Charles stieß etwas Obszönes hervor und lehnte sich zurück; die flackernde Flamme der Öllampe beleuchtete eine Seite seines starren Gesichts.

»Ich bringe das Geld auf«, sagte der Brigadier. »Außerdem kenne ich einen Spitzenmakler. Anwalt in Washington, namens Dills.« Pause. »Ich habe immer noch Bedenken, Charles. Ich weiß, daß du ein guter Soldat bist. Aber der Grund, aus dem du zurückkehrst, ist falsch.«

»Wann kann ich Grierson sehen?«

»Morgen, schätze ich.« Duncan räusperte sich, schnüffelte dann unmißverständlich. »Nachdem du gebadet hast.«

Weit entfernt grollte das Gewitter. Charles lächelte. Es erinnerte Duncan an die Grimasse eines Totenschädels.

Die Zehnte Kavallerie hatte an der Ostseite des Exerzierplatzes provisorische Büros zugewiesen bekommen. Ein Captain in mittleren Jahren duckte sich mit der argwöhnischen Wachsamkeit eines Mannes, der eine Festung zu verteidigen hat, hinter seinem Schreibtisch zusammen. Über heruntergezogene Mundwinkel senkte sich ein fast weißer Schnurrbart.

»Kann ich zu ihm, Ike?«

»Ich denke schon, General Duncan.« Der Captain klopfte und betrat das innere Büro.

Duncan neigte seinen Kopf in Richtung der geschlossenen Tür und sagte zu Charles: »Ike ist seit zwanzig Jahren in der Armee. Zäher Hund. Mehrfach ausgezeichnet.«

Der Captain tauchte wieder auf; die Tür ließ er offen. Der Brigadier sagte: »Das ist mein Schwiegersohn, Charles.« Sie hatten beschlossen, diesen Teil seines Namens beizubehalten. »Cap-tain Isaac Newton Bares Regimentsadjutant.«

»Stellvertretender Adjutant«, sagte Barnes mit Betonung.

Nachdem Duncan hineingegangen war und die Tür geschlossen hatte, sagte Charles: »Es ist mir ein Vergnügen, Sir.« Es zahlte sich aus, einen Adjutanten mit Respekt zu behandeln; für gewöhnlich verfügte er über mehr Macht als der kommandierende Offizier.

Mürrisch starrte Ike Barnes das Gewirr von Ordnern, Akten und Berichten auf seinem Schreibtisch an. Im Profil ähnelte er einem S - runde Schulter, konkaver Rücken, beachtlicher Bauch. Er kniff das rechte Auge leicht zusammen.

»Ich hasse diesen Job«, sagte er und setzte sich. »Ich bin Kavallerist, kein verfluchter Bürohengst. Sobald der Colonel jemanden findet, der dämlich genug ist, diese verdammten Papiere herumzuschieben, bin ich bei der C-Kompanie.«

Ein atemloser Sergeant kam hereingestürzt. »Captain! Zwei farbige Jungs an der Anlegestelle. Sie gehören Ihnen.«

»Zum Teufel noch mal, Sergeant, Sie wissen doch ganz genau, daß Sie innerhalb einer Meile von diesem Büro nicht >farbig< zu sagen haben. Der Colonel wird nicht dulden, daß sein Regiment genauso wie im Krieg bezeichnet wird. Das hier ist nicht die Zehnte Farbige Kavallerie, das ist die Zehnte Kavallerie. Entschuldigen Sie mich«, bellte er zu Charles hinüber, bevor er mit dem Unteroffizier hinausging. Sein massiver Bauch schien sich selbsttätig zu bewegen, wie eine Art Ehrengarde. Charles brachte tatsächlich ein Lächeln zustande.

Nach zehn Minuten kam Duncan heraus. »Er ist interessiert. Erzähl diesmal die Wahrheit, und schau zu, wie du klarkommst.« Er schlug Charles auf die Schultern. »Viel Glück.«

Colonel Benjamin F. Griersons gewaltiger Bart und seine kühne Nase verliehen ihm das Aussehen eines Piraten, was noch durch die Gesichtsnarbe verstärkt wurde. Nachdem er Charles einen Platz angeboten hatte, legte er ein neues Blatt Papier auf seinen Schreibtisch.

»Ich will offen sein, Mr. Main. Ihr Interesse an der Zehnten bringt mehr als ein Problem mit sich. Bevor wir uns darum kümmern, würde ich gerne wissen, weshalb Sie hier sind. Jack hat Ihnen erzählt, daß Unmengen fähiger Offiziere in dieser Armee die Idee eines Negerregimentes verabscheuen.«

»Er hat es mir erzählt, Sir. Ich bin hier, weil ich Soldat bin. Und das alles, was ich bin und kann. Die Cheyenne im Süden haben vor einigen Monaten meinen Partner und dessen Neffen getötet.«

»Jack sprach davon. Es tut mir leid.«

»Danke. Ich will es den Cheyenne heimzahlen.«

»Nicht in meinem Regiment, Sir«, sagte Grierson mit einer Spur von Zorn in der Stimme. »Das Zehnte Regiment wird keine Politik machen, sondern sie nur ausführen. General Sherman hat uns die Aufgabe gestellt, für größere militärische Präsenz im Westen zu sorgen. Das ist eine rein defensive Aufgabe. Wir haben die Siedler, die Reisewege, die Eisenbahnbautrupps zu beschützen. Wir haben nicht anzugreifen, falls wir nicht selbst angegriffen werden.«

»Sir, es tut mir leid, daß ich ...«

»Hören Sie mich an, Sir. Bevor wir unsere Aufgabe erfüllen können, müssen wir Stadtmenschen beibringen zu marschieren, reiten, schießen und sich militärisch einwandfrei zu benehmen. Und ich spreche von ungebildeten Menschen, Mr. Main - Gepäckträgern, Kellnern, Kutschern. Schwarze Männer, die nie eine Chance auf einen anständigen Beruf hatten. Ich habe die Absicht, aus diesen Männern gute Soldaten zu machen, auf die jeder Kommandant stolz sein könnte. Ich werde es auf die gleiche Art und Weise tun, wie ich früher meinen Musikschülern in Illinois die Tonleiter beigebracht habe. Mit strenger Disziplin und ständigem, erbarmungslosem Drill. Dafür werden meine Offiziere zuständig sein. Für persönliche Rachefeldzüge werden sie keine Zeit haben.«

»Ich bedaure meine Bemerkung, Sir. Ich verstehe, was Sie meinen.«

»Gut«, sagte Grierson. »Andernfalls würde ich keine weitere Zeit auf Sie verschwenden.«

Er musterte Charles abwägend und fügte hinzu: »Nein, das entspricht nicht ganz der Wahrheit. Ich unterhalte mich mit Ihnen nicht ganz freiwillig, sondern aus der vorhin erwähnten puren Not heraus. Ich muß jedoch gestehen, daß es mir etwas widerstrebt, einen Südstaatler zu rekrutieren.«

Groll stieg in Charles auf, aber er verhielt sich still.

»Ich habe eine höchst eigenartige Vision von diesem Land. Eigenartig in dem Sinne, daß sie offensichtlich nicht von Tausenden von Brevet Colonels und Generalen geteilt wird, die hinter einigen wenigen untergeordneten Offizierspatenten herjagen. Ich glaube wörtlich an Mr. Jeffersons Erklärung, daß alle Menschen gleich geschaffen wurden; auch wenn das nicht auf Geist und Körper und Umstände zutrifft, so doch zumindest, was ihre Chancen anbelangt. Ich glaube, wir haben - ganz gleich, ob das nun erkannt wird oder nicht - diesen Krieg ausgefochten, um die schwarze Rasse in diese Vision einzuschließen. Ich weiß, daß meine Vorstellung sich nicht gerade allgemeiner Beliebtheit erfreut. Viele meiner Offizierskollegen beschuldigen mich, ich würde sie - ihre eigenen Worte - >zu Tode niggern<. Soll es so sein. Die Vision muß in erster Linie in diesem neuen Regiment zum Ausdruck kommen. Wenn das Regiment nicht funktioniert, dann funktioniert die Armee nicht, dann funktioniert Amerika nicht, dann funktioniert nichts. Deshalb müssen meine Offiziere freudig die zusätzliche Bürde auf sich nehmen, zwischen ihren Männern und der extremen Feindseligkeit und den Vorurteilen, wie sie in der Armee grassieren, zu stehen.«

Sein Blick wich keinen Millimeter ab. »Sie stammen aus South Carolina. Mir ist das egal, außer es bedeutet, Sie können nicht nach meinen Regeln leben. Wenn das der Fall ist, dann will ich Sie auch nicht.«

Sehr angespannt, weil er eine Zurückweisung befürchtete, sagte Charles: »Ich kann es, Sir.«

»Sie können offen und ehrlich mit Negersoldaten umgehen?«

»Mit den Schwarzen auf der Plantage, wo ich aufgewachsen bin, habe ich mich gut verstanden.«

Wieder die falsche Antwort. Verächtlich winkte Grierson ab. »Leibeigene, Mr. Main. Sklaven. Das ist hier unwesentlich.«

Charles' Stimme wurde etwas schärfer. »Lassen Sie es mich anders ausdrücken, Sir. Nein, ich werde nicht mit jedem einzelnen Mann auskommen.« Grierson wollte etwas entgegnen, aber Charles sprach weiter. »Ich bin auch nicht mit allen weißen Männern in der Wade-Hampton-Legion oder der Zweiten Kavallerie in Texas gut ausgekommen. Jede Truppe hat ihre Idioten und Drückeberger. Diesen Typ von Mann habe ich stets gewarnt, aber immer nur einmal. Wenn er so weitermachte, habe ich ihn eingebuchtet. War dann immer noch nicht Schluß, dann sorgte ich für seine Entlassung. Im Zehnten Regiment würde ich genauso handeln.« Er starrte Grierson an. »Wie ein Profi.«

Schweigen. Grierson starrte zurück. Plötzlich blitzte zwischen dem buschigen Schnurrbart und dem üppigen Kinnbart ein Lächeln auf.

»Eine gute Antwort. Die Antwort eines Soldaten. Ich akzeptiere sie. Die Männer der Zehnten werden aufgrund ihrer Leistung beurteilt, und nichts anderes.«

»Jawohl, Sir«, sagte Charles, obwohl ihm bei seiner schnellen Antwort ein bißchen unbehaglich zumute wurde. Seine hastige Zustimmung rührte daher, daß er in ein Regiment eintreten wollte, in irgendein Regiment, und dieses hier suchte verzweifelt nach Offizieren. Doch er hatte ernste Bedenken, ob man aus Stadtnegern gute Soldaten machen konnte - genau die gleichen Bedenken, die er bei dem weißen Abschaum in Jefferson Barracks gehabt hatte.

Grierson beugte sich vor. »Mr. Main, ich verabscheue Lügner und Betrüger und werde mich doch so verhalten müssen. Sie ebenfalls, wenn der spezielle Untersuchungsausschuß Sie befragt. Zumindest ein Mitglied, Captain Krug, wird Ihnen schwer zusetzen. Er haßt jeden Mann, der das Grau der Konföderation getragen hat. Sein jüngerer Bruder starb im Gefängnis von Andersonville.«

Charles nickte, prägte sich den Namen ein.

»Jetzt zu den Einzelheiten.« Grierson tauchte seine Feder ein. »Sie haben ein Begnadigungsgesuch eingereicht?«

»Der Brief wird heute noch geschrieben.«

»Ich bin über Ihre Erfahrungen in Jefferson Barracks informiert. Was für einen Namen sollen wir diesmal nehmen?«

»Ich denke, er sollte vertraut klingen, damit ich ganz normal darauf reagiere. Charles August. Der Name August ist für mich familiär.«

»August. Gut.« Die Feder kratzte. »Was war Ihr höchster Rang bei Hamptons Scouts?«

»Major.«

Grierson schrieb: »Kein Rang - irregulärer Status (Scout).«

»Wir vergessen am besten, daß Sie jemals West Point gesehen haben. Was glauben Sie, wie viele Männer der Akademie würden Sie jetzt erkennen?«

»Jeder, der zu meiner Zeit dort war, schätze ich. So bin ich in Jefferson Barracks aufgeflogen.«

»Wer hat Sie identifiziert?«

»Ein Captain Venable.«

»Harry Venable? Ich kenne ihn. Ein ausgezeichneter Kavallerist, aber ein aufgeblasenes kleines Monster. Nun, das Risiko, daß Sie auf frühere Klassenkameraden treffen, müssen wir einfach eingehen. Nächster Punkt. Meine Offiziere sollen zwei Jahre Erfahrung im Feld haben.«

»Das geht in Ordnung. Bei der Zweiten Kavallerie in Texas.«

Trocken sagte Grierson: »Das war, bevor Sie die Seiten wechselten. Vergessen wir Texas. Das Thema könnte sich bis zur

Akademie zurückverfolgen lassen.« Charles beobachtete die Bewegung der kratzenden Feder: »Früh. Erfahr. - 4 J. Freiw.«

Sie unterhielten sich eine weitere Stunde. Zum Schluß wußte Grierson eine ganze Menge über Charles' Leben. Er erfuhr von Orry, dem Ersatzvater, von Charles' Schwierigkeiten mit Elka-nah Bent; von den entsetzlichen Eindrücken von Sharpsburg, dem Verlust von Augusta Barclay, der verzweifelten Suche nach ihrem Sohn. Schließlich schob Grierson seine Notizen beiseite und gab Charles die Hand. Der Händedruck erschien Charles mehr zeremoniell denn freundschaftlich. Der Colonel hatte sein Urteil noch nicht gefällt.

»Mein Adjutant wird Ihnen sagen, wie Sie sich auf den schriftlichen Test vorbereiten. Damit sollten Sie keine Probleme haben. Der Ausschuß ist eine andere Sache.« Grierson begleitete ihn zur Tür, strich sich über den Bart. »Tun Sie was für Ihre äußere Erscheinung. Stutzen Sie sich entweder den Bart, oder lassen Sie ihn ganz abrasieren.«

»Jawohl, Sir.« In alter West-Point-Manier betonte er das zweite Wort, ließ dann die rechte Hand im besten Kadettensalut vorschnellen. Grierson erwiderte den Gruß und entließ ihn.

Nachdem sich die Tür geschlossen hatte, ging Grierson zu seinem Schreibtisch zurück. Einen Augenblick lang starrte er das daraufstehende Bild an, dann begann er einen Brief.

Liebste Alice,

vielleicht habe ich heute einen guten Mann bekommen. Ein ehemaliger Rebell, der die Wilden auslöschen möchte. Wenn ich ihn durch die Untersuchung bringe und seine rachsüchtigen Impulse zügeln kann, dann mag das Regiment durchaus von ihm profitieren, denn bis jetzt ist mir noch kein qualifizierter Offizier begegnet, den nicht irgendein Dämon treibt .

In dem Taschenspiegel, den Duncan ihm geliehen hatte, betrachtete Charles sein eingeseiftes Gesicht. Seit Monaten hatte er sich nicht mehr rasiert. Duncans Rasiermesser riß und fetzte, als er seinen Bart in Angriff nahm.

Er dachte an Griersons Warnung, was den Prüfungsausschuß anbelangte, während er das Rasiermesser kühn nach unten zog. Die Klinge biß durch den Bart und scharrte über seine Haut. Mit jedem Strich fielen Teile seines Bartes in das Becken. Ein neues, fast fremdes Gesicht tauchte auf. Mehr Furchen. Die Zeit hatte weitere Spuren eingegraben.

»Ah!« Er packte ein Handtuch und preßte es auf seine blutende Wange. Als das Blut an der Schnittstelle allmählich gerann, schleuderte er das Handtuch beiseite und nahm die andere Gesichtshälfte in Angriff. Beim Gedanken an Holzfuß, Boy, Fen schnitt er sich ein zweites Mal tief, spürte es aber kaum.


Im allgemeinen sind die Beziehungen der angelsächsischen Rasse zu niedrigeren Rassen auf der ganzen Welt eine höchst unerfreuliche Angelegenheit. Ob es sich um Hindus, australische Ureinwohner, Jamaikaner oder - in unserem Land - um Chinesen, Neger oder Indianer handelt, diese >imperiale Rasse< hat den Hang, die Schwachen zu zermalmen ... Was wir uns mit den Indianern leisten, ist eines der düstersten Kapitel der modernen Geschichte. Erst verdrängen wir sie von ihrem Land, dann werden sie vergiftet von unseren Krankheiten und verdorben von unseren Lastern. Sie werden systematisch in die Büffelgegenden abgedrängt, und nun läßt man sie nicht einmal mehr in den wilden Bergen, die an dieses Land grenzen, in Ruhe. Die Goldgräber töten und verjagen das Wild, auf dem ihre Existenz als Jäger gründet.

Ein Kommentar in der New York Times

25

Brigadier Duncan gab das Begnadigungsgesuch telegraphisch an den Anwalt Dills durch und überwies das Geld an eine Washingtoner Bank. Er sandte einen sorgfältig formulierten Brief an General Sherman bei der Division, in dem er Griersons Bedarf an qualifizierten Offizieren und die außerordentlichen Fähigkeiten eines Charles August hervorhob. Charles fragte sich, wie Sherman wohl reagieren würde, wenn er wüßte, daß es sich bei >August< um den ungekämmten Händler handelte, dem er mitten in der Prärie begegnet war.

Charles nahm sich ein Zimmer in Leavenworth City, besuchte aber jeden Tag den Militärposten, um sich mit dem kleinen Gus wieder vertraut zu machen. Im Dezember würde der Junge zwei Jahre alt werden. Er konnte laufen, redete in bruchstückhaften Sätzen, begegnete dem großen, hageren Mann, der ihn auf Spaziergänge mitnahm und der sich selbst Pa nannte, mit einer gewissen Reserve.

Für gewöhnlich war Maureen bei diesen Spaziergängen dabei. Sie billigte es immer noch nicht, daß Charles die Elternrolle übernommen hatte - schließlich war er bloß ein Mann -, doch seit seiner Rückkehr hatte er ihr eine neue, unerfreuliche Seite seiner Persönlichkeit gezeigt. Auch jetzt, als sie am Nachmittag von einem Spaziergang am Fluß zurückkehrten, kam diese Seite wieder zum Vorschein. Charles und der kleine Gus marschierten Hand in Hand wie Soldaten. Der Junge liebte die abendlichen Paraden in Leavenworth und imitierte sie gern. Charles machte mit. Vor Duncans Haushälterin marschierten sie beide flott den Weg entlang.

An Grenzposten versammelte sich stets eine gewisse Anzahl von Indianern, die von Almosen und niederen Dienstleistungen lebten. Sie gaben ihr Geld für Whisky aus und ließen sich von den Weißen lächerliche Namen verpassen, wie Wurstnase, Fauler Mann, Fette Frau.

Fette Frau, ein ungeheuer dicker Sioux in alten Uniformhosen, kam Charles und seinem Sohn entgegen. Fette Frau stoppte, zwinkerte und streckte den Arm aus, um den lächelnden Jungen unter dem Kinn zu kitzeln. Charles ballte die Faust und schlug ihn nieder.

Fette Frau jaulte auf und kroch davon. Gus umklammerte die Hand seines Vaters, warf ihm aber einen vorsichtigen, ängstlichen Blick zu. Maureen konnte nicht schweigen. »Ein armer, harmloser Mann bedeutet keine Gefahr, Mr. Main.«

»Ich will nicht, daß dieser rote Abschaum meinen Jungen berührt.«

»Papa, Papa!« Gus zerrte an seiner Hand. »Marsch!«

»Nein.« Charles zog seine Hand weg, packte dann Gus bei den Schultern und schob ihn den Pfad entlang. »Jetzt wird nicht mehr marschiert.«

Später, als Charles nach Leavenworth zurückgeritten war, vertraute sich die Haushälterin dem in seiner Zinkbadewanne sitzenden Duncan an. »Seine Stimmungen wechseln wie das Wetter. Irgendein Dämon treibt ihn.«

»Er hat. Schreckliches durchgemacht. Könntest du etwas tiefer schrubben, meine Liebe? Ah, ja.«

»Das weiß ich, General.« Selbst im Bett gebrauchte sie die formelle Anrede. »Aber wenn er das nicht überwindet, dann wird sein Sohn ihn verachten. Augustus hat jetzt schon schreckliche Angst vor ihm.«

»Ich habe es bemerkt.« Duncan seufzte. »Ich weiß nicht, was da zu machen ist.«

Von dem Raum im Hauptquartier des Department konnte man nach Westen über den Exerzierplatz schauen. Der Tisch, an dem Charles saß, stand den vorhanglosen Fenstern gegenüber. Kein Zufall, entschied er. Genausowenig wie der Zeitpunkt. Die laut tickende Wanduhr zeigte halb sechs. Blendendes Licht stach ihm in die Augen und machte es ihm fast unmöglich, die fünf Männer zu erkennen, die an ihrem Tisch vor den Fenstern saßen.

General Winfield Scott Hancock, U.S.M.A. 1844 und Kommandeur des Missouri-Department, leitete den Prüfungsausschuß. Er war groß, sah gut aus und machte einen gelassenen Eindruck; an der Tür hatte er Charles herzlich begrüßt und ihm Glück gewünscht. Wie merkwürdig, dachte Charles, einem Mann die Hand zu geben, der wahrscheinlich auch Cousin Orry die Hand geschüttelt hatte.

Links neben Hancock saß General William Hoffman, Kommandant sowohl von der Dritten Infanterie als auch von Fort Leavenworth.

Links von Hoffman saß der Offizier, den Charles fürchtete: Captain Waldo Krug, schmächtig, ernst dreinblickend und kahl, obwohl er kaum älter als Charles war. Krug gehörte zu Hoffmans Stab, trug den Silberstern eines Brevet Brigadier und wurde mit General tituliert. Er musterte Charles mit unverhohlener Feindseligkeit.

Rechts von Hancock saß Captain I.N. Barnes; ein Major namens Coulter, ein schulmeisterlicher Mann mit ovalen Brillengläsern, machte die Runde komplett. Direkt links von Charles hatte man eine Reihe Stühle für Besucher aufgestellt. Bis auf Duncan und Grierson war niemand gekommen.

Hancocks Blicke nach rechts und links forderten Ruhe. »Gentlemen, dies ist eine Anhörung auf Ersuchen des Offizierskandidaten Charles August, der die schriftliche Prüfung erfolgreich bestanden hat. Mit Bestnoten, wie ich hinzufügen möchte.«

Sofort sagte Krug: »General Hancock, ich beantrage, die Sitzung auf unbestimmte Zeit zu vertagen. Der Kandidat ist aufgrund seiner früheren Dienste für die Konföderation nicht geeignet.«

Bärbeißig sagte Hoffman: »Schließe mich an.« Er war U.S.M.A. 1829, Lees Klassenjahrgang, ein altes Schlachtroß aus den Kriegen gegen die Seminolen und die Mexikaner.

Hancock wandte ein, der Kandidat habe seine guten Absichten gezeigt, indem er den Eid geleistet und ein Begnadigungsgesuch eingereicht habe, genau wie General Lee. Das ließ Krug explodieren.

»Robert Lee wird niemals begnadigt werden, egal, wie oft er ein Gesuch einreicht. Das sollte auch für jeden Mann gelten, der sein Land verraten hat, und da schließe ich diesen Kandidaten ein.«

Coulter schob seine Brille tief auf die Nase. »Ich hatte den Eindruck, daß die Feindseligkeiten vor über einem Jahr beendet wurden und wir nun alle wieder Amerikaner sind. Ich denke, wir sollten den Krieg vergessen und .«

»Nein, Sir, keinen Augenblick lang werde ich den Hungertod meines Bruders vergessen«, sagte Krug.

Hancock klopfte auf den Tisch, um die Ordnung wiederherzustellen. »Gefängnisdirektor Wirz hat am Galgen für seine Verbrechen bezahlt. Er war der einzige Offizier, der so bestraft wurde, und wird wahrscheinlich auch der einzige bleiben.«

»Ich würde noch eine ganze Menge von ihnen aufhängen«, sagte Krug, den Blick auf Charles gerichtet.

»Captain«, sagte Hancock, »Sie hören entweder damit auf, oder Sie disqualifizieren sich selbst. Bei dieser Anhörung werden wir uns auf die Qualifikationen des Kandidaten konzentrieren.«

Krug murmelte etwas Unverständliches. Hancock räusperte sich und schlug Charles' Akte auf. Obwohl es Herbst war, stach das Licht heiß in Charles' Augen. Er war nervöser, als er es je am Vorabend einer Schlacht gewesen war; bestimmt würde er alles verpatzen.

Er zwang sich, an Holzfuß und die Perlenhäufchen auf seinen Augen zu denken. Sein Puls verlangsamte sich ein bißchen. Er richtete sich so krampfhaft auf, daß sein Rücken schmerzte.

»Nennen Sie uns Ihren Namen«, sagte Hancock.

»Charles August.«

»Ich habe hier die Aussage von Colonel Grierson vorliegen. Darin heißt es, Sie hätten vier Jahre bei der konföderierten Armee gedient. Bitte nennen Sie uns Ihre Einheit und Ihren Rang.«

»Scout Corps, Wade-Hampton-Legion. Sie ging später nach einigen Armeeumgestaltungen in größeren Kavalleriedivisionen auf. Doch die Scouts blieben Irreguläre, ohne Rang.« Die Lüge kam ihm glatt über die Lippen.

»Gibt es Aufzeichnungen, die das belegen können?« erkundigte sich Barnes.

»Ja. Ich nehme an, in Richmond.«

»Um Himmels willen«, sagte Krug. »Richmond! Jedermann weiß, daß die Rebs kein einziges Blatt Papier in Richmond zurückgelassen haben. Sie haben alles niedergebrannt. Wir wissen nicht einmal, wie viele Verräter sich unter falschem Namen eingeschlichen haben.«

Hancock sagte scharf: »Captain!«

»Tut mir leid, Sir. Ich bin dagegen. Absolut und vollständig dagegen.«

Hoffman hob die Hand, und Hancock erteilte ihm das Wort. Beißend sagte Hoffman zu dem Ausschuß: »Wenn wir die Akten dieses Gentleman nicht begutachten können, dann wird er uns die nötigen Informationen liefern müssen. Ich würde gern seine politische Zugehörigkeit wissen.«

Darauf war Charles nicht vorbereitet. Grierson und Duncan beobachteten ihn besorgt. »Nun - Demokrat, Sir.«

»Demokrat.« Hoffman lächelte. »Natürlich. Jeder mißratene Rebell bezeichnet sich als Demokrat. Jeder Mann, der Unionsgefangene ermordet hat, nennt sich Demokrat. Jeder Verräter, der gefährliche Sprengstoffe zusammenmischte, um Städte des Nordens in die Luft zu jagen, oder der höllische Pläne ausheckte, um diese Städte mit Gelbfieber zu verseuchen, ist jetzt nichts weiter als ein >Demokrat<.«

Coulter sagte amüsiert: »Wie ich sehe, ist der General mit der Kampfrhetorik von Gouverneur Morton aus Indiana recht vertraut. Doch diese Wahlkampfrede, aus der Sie gerade zitiert haben, war für Zivilisten gedacht, Sir. Ist das hier für uns wirklich von Bedeutung?«

Hoffman kochte vor Wut. Hancock sagte: »Nein. Ich beispielsweise bin der Meinung, daß Mr. August uns recht offen gegenübertritt. Wir wissen, daß bereits Hunderte von Konföde-rierten unter falschem Namen in der Armee der Vereinigten Staaten dienen.« Duncan fuhr zusammen, was seinen Stuhl zum Quietschen brachte. Griersons Interesse konzentrierte sich auf die Zimmerdecke. »Ich möchte den Kandidaten fragen, ob er über irgendwelche militärischen Erfahrungen vor dem Krieg verfügt. In der Akte steht nichts davon.«

Charles' Kehle wurde eng. Stand ihm der Schweiß auf der Stirn? Brachte die Sonne auf seinem Gesicht die Täuschung ans Licht? Colonel Grierson wandte seine Aufmerksamkeit seinen glänzend polierten Stiefeln zu. Hancock runzelte die Stirn.

»Mr. August, unsere Zeit ist kostbar. Antworten Sie bitte unverzüglich. Waren Sie vor dem Krieg beim Militär?«

Charles wog zwei Morde gegen eine weitere Lüge ab und sagte: »Nein, Sir.«

Eine halbe Stunde ging es so weiter, gelegentlich unterbrochen von einem ärgerlichen Einwand Krugs oder einer Frage von Hoffman, die schnell in eine republikanische Litanei übergingen. Charles war schlaff, müde und schwitzte heftig, als Han-cock ihn entließ. Er, Duncan und Grierson gingen hinaus und schlossen die Tür.

»Sie werden genommen«, sagte Grierson voraus.

»Nein, das werde ich nicht. Ich habe es verpatzt.«

»Ganz im Gegenteil. Sie haben sich gut gehalten. Aber ich muß Ihnen etwas sagen, was ich bereits Jack gesagt habe. Wenn Sie je auffliegen, dann kann ich Ihnen nicht helfen. Das Regiment werde ich auf keinen Fall gefährden. Es kommt an erster Stelle. In allen anderen Dingen können Sie auf mich zählen.«

»Danke, Colonel. Aber ich glaube nicht, daß Sie sich Gedanken zu machen brauchen.«

Die Tür des Sitzungssaales ging auf. Ike Barnes trat heraus.

»Drei gegen zwei Stimmen zu Ihren Gunsten, abhängig von der Zustimmung des Department und einer Begnadigung.« Strahlend streckte Barnes die Hand aus. »Willkommen in der Zehnten, Mr. August.«

Charles überquerte den Missouri mit der Fähre und ritt in bequemen Etappen nach St. Louis; er genoß die herbe, frische Luft und das Rotgold der Blätter. Der Kalender machte es Willa unmöglich, daß sie ihre Wiedervereinigung auch körperlich genießen konnten, doch sie schliefen eng umschlungen in Willas Bett im New Planter's House.

Am Morgen küßten sie sich und murmelten sich liebevolle Worte zu. Bevor er sich anzog, seifte er sein Gesicht ein, um sich die gestrigen Bartstoppeln abzuschaben. Er pfiff vor sich hin, als er das Rasiermesser ansetzte.

»Das ist hübsch!« rief Willa von ihrem Ankleidetisch her. »Was ist das?«

»Das?« Er pfiff fünf Noten. »Ist mir bloß so letztes Jahr eingefallen. Wann immer ich an Mont Royal denke, an all das, was ich vor dem Krieg liebte, dann höre ich diese Melodie.«

»Im Theater steht ein Piano. Würdest du es noch mal summen, wenn wir dort sind, damit ich es für dich niederschreiben kann?«

»Ja, natürlich.«

Und das tat sie dann auch.

»Das ist meine Melodie?« fragte er und starrte die Noten an, die für ihn keinen Sinn ergaben. Sie nickte. »Nun, wenn du es sagst. Ich hebe es als Andenken auf.« Sorgfältig faltete er das Papier. »Vielleicht kann ich aufhören, an die Vergangenheit zu denken. Ich habe statt dessen was Besseres gefunden.«

Er beugte sich hinüber und küßte ihre Stirn. Sie schloß die Augen und hielt seinen Arm fest.

Während sie sich einige Stunden um das Theater kümmerte, schlenderte er durch die geschäftigen Straßen. Heute beunruhigte ihn die Möglichkeit einer stärker werdenden Bindung nicht; er war viel zu aufgeregt wegen seines Offizierspatents. Willa teilte diese Erregung, bis er ihr bei einem späteren Spaziergang den Grund für seinen Wiedereintritt in die Armee nannte. Er beschrieb ihr den Untergang der Jackson Trading Company -wobei er ihr die obszönen Details ersparte - und den Haß, den das bei ihm erzeugt hatte.

Willa reagierte heftig darauf, behielt ihre Meinung jedoch für sich, weil sie ihre Gefühle für ihn über ihr Gewissen stellte. Das hatte sie nie zuvor getan - zumindest konnte sie sich nicht daran erinnern.

An diesem Abend zeigte sie ihm in ihrem Zimmer das große, gerahmte Foto von ihnen beiden, das vor einem Jahr aufgenommen worden war. Willa auf der Samtcouch, Charles mit einer Hand auf ihrer Schulter. Amüsiert meinte er, sie sähen wie Objekte in einem Wachsfigurenkabinett aus. Sie gab ihm einen Klaps und sagte, als Rache würde sie ihm eine Kopie des Fotos aufzwingen. Er sagte, er hätte nur zu gern eins, und meinte es sogar fast ernst.

Beim Frühstück erfuhr er noch etwas über sie. Am 25. Dezember hatte sie Geburtstag. »Leicht zu merken, aber schwer, jemanden zum Feiern zu kriegen. Ich bin eine fürchterliche Köchin, aber einen schlichten Kuchen mit Zuckerguß schaffe ich schon. Meistens muß ich mir sogar die Kerzen selber kaufen.« Er lachte.

Charles blieb drei weitere Tage in St. Louis. Jeden Abend besuchte er eine Vorstellung. Dann rief ihn Brigadier Duncan mit einer telegraphischen Nachricht zurück. Das Begnadigungsgesuch war genehmigt worden.

Willa weinte beim Abschied. Sie versprach, daß sie mit Sam bald auf Tournee gehen und ihn finden würde. Und ihn dann richtig lieben würde, was ihr diesmal nicht möglich gewesen war. Er war bester Laune, als er fortritt.

Ein leichter Nieselregen setzte ein, als Willa vom Hotel zum Theater ging. In Gedanken war sie so mit Charles beschäftigt, daß sie beinahe vergessen hätte, ihren Schirm zu öffnen.

Sie wußte so viel und gleichzeitig doch so wenig über ihn. Sie spürte einen aufgestauten Zorn in ihm, eine ganz anders gelagerte Empfindung als die vom Krieg geprägte Haltung des letzten Jahres. Er hatte nun einen Feind. Deshalb hatte sie ihm auch nichts von der örtlichen Indian Friendship Society erzählt.

Es gab sechs Mitglieder. Ein Quäkerpaar, einen Prediger der Unitarier, eine ältliche Leiterin einer Privatschule, die von Kindern reicher deutscher Kaufleute besucht wurde, der alternde jugendliche Liebhaber des Theaters, Tim Trueblood, und sie selbst. Charles wäre bestimmt nicht begeistert gewesen, wenn er von den Memoranden erfahren hätte, die sie bereits an den Kongreß und ans Innenministerium geschickt hatten.

Im Theater angekommen, fand sie die Bühne verwaist, hörte allerdings irgendwo Sams Stimme. Sie schloß ihren Schirm und legte ihn auf den Souffleurstisch. Der Bühnenmanager kam hinter einer Stellwand hervorgeschossen.

»Nicht dorthin! Nicht dorthin! Wenn er das sieht, läuft er Amok.«

»Richtig, hab' ich vergessen. Keine Schirme auf den Souffleurstisch. Ich kann nicht immer an jeden Aberglauben denken. Was macht er?«

»Er benimmt sich ein bißchen merkwürdig. Erst ist er mit dem Futternapf der Katze rumgerannt, und jetzt probt er im Aufenthaltsraum.«

»Er besteht darauf, den >Hamlet< zu spielen.« Sie und der Bühnenmanager tauschten ein nachsichtiges Lächeln aus; dann folgte sie dem Klang von Trumps volltönender Stimme. Beinahe wäre sie über eine Schale Milch gestolpert. Ganz in der Nähe hatte sich die Katze Prosperity uninteressiert zusammengerollt. Willa runzelte die Stirn. Die Schale roch eigenartig. Sie nahm sie auf und schnüffelte noch einmal.

Mit der Schale in der Hand marschierte sie in den Aufenthaltsraum, wo sie Sam bei seiner Probe vor dem großen Spiel störte. Trotz des Korsetts konnten die engen, schwarzen Hosen seine Korpulenz nicht verbergen. Er wirkte albern in diesem Kostüm, was noch durch die angesteckte gelbe Chrysantheme verstärkt wurde.

»Mein liebes Mädchen«, fing er an, einen Daumen in die Augenhöhle eines Requisitenschädels gehakt. Sein Gesicht verlor an Farbe, als ihm Willa die Schale mit ausgestrecktem Arm entgegenhielt.

»Von nun an füttere ich die Katze, Sam. Du mußt die Schalen verwechselt haben. Das hier wird sie nicht anrühren.« Willa führte die Schale mit einem bühnenreifen Schnüffeln an ihrer Nase vorbei. »Katzen mögen keinen Whisky.«

Trump wäre vor lauter Hast, an die Schale zu kommen, beinahe gestürzt. »Das zählt nicht. Nur ein winziger Schluck, um mich für den Tag zu stärken.«

»Steter Tropfen höhlt den Stein. Ich habe mich schon gewundert, wieso du heute morgen so fröhlich bist.« Sie stellte die Schale auf den Tisch und sagte: »Rühr sie bloß nicht an.«

Trump schlug sich bekümmert gegen die Brust. »Natürlich nicht, meine Liebe.« Er warf ihr einen verstohlenen Blick zu, schob den Schädel beiseite und legte ihr väterlich einen Arm um die Schultern. »Du schaust unglücklich aus. Bin ich der Anlaß?«

»Nein, nicht wirklich.«

»Dann ist also Charles abgereist.«

»Es ist mehr als nur der Abschied, Sam. Er hat wieder ein Offizierspatent in der Armee erhalten.«

»Die Armee ist der richtige Platz für ihn. Da kennt er sich aus.«

»Es ist der richtige Platz, aber aus dem falschen Grund.« Mit wenigen Sätzen beschrieb sie, was mit Holzfuß und Boy geschehen war. Als sie endete, war Trump blaß geworden. »Er will Vergeltung. Wenn er davon spricht, spürt man richtig den brennenden Zorn in ihm.«

Vorsichtig sagte Trump: »Dann ist das also das Ende für euch?«

»Oh nein.« Ein beschämtes Schulterzucken. »Das sollte es sein, aber es ist zu spät. Ich liebe ihn. Ich weiß, daß es mir wahrscheinlich viel Kummer einbringen wird, aber ich kann nichts dagegen tun.«

Sie versuchte zu lächeln, brach aber statt dessen in Tränen aus. Sam Trump nahm sie in die Arme und zog sie an sich; sanft tätschelte er ihr mit beiden Händen den Rücken, während sie schluchzte.

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26

»Lieutenant August? Kommen Sie schnell.«

Charles schoß hinter seinem Schreibtisch hoch. »Hat sich jemand verletzt?«

»Nein, Sir«, keuchte der Rekrut. »Sie reißen diese Zelte ab; vor einer Stunde haben Sie uns gesagt, wir sollen sie aufbauen. Man hat es ihnen befohlen.«

»Welcher dämliche Unteroffizier ...?«

»Es ist irgendein General. Krig?«

»Krug. Verdammt.« Er schnappte sich seinen Hut. Ein wunderbarer Start für seinen dritten Tag in Uniform.

»Bei allem nötigen Respekt, Captain, was geht hier vor?«

Krugs graue Augen durchbohrten ihn. »Sie haben mich mit General anzusprechen.«

In einem unkrautüberwucherten Feld, eine halbe Meile vor dem Haupttor, mühten sich fünf schwarze Rekruten, noch keiner von ihnen in Uniform, damit ab, zwei große Zelte abzubrechen. Zeltbahnen verdeckten die umgestürzten Pfosten. Mit rotem Gesicht deutete Charles auf die Männer. »Warum bauen sie die Zelte ab?«

»Weil ich es ihnen befohlen habe. Sie haben unverzüglich auf den Grund westlich der Dampfpumpe überzuwechseln.«

»Auf diesem Feld steht das Wasser.«

Krug schob das Kinn vor. »Mäßigen Sie Ihren Ton, Mister, oder ich bringe Sie zur Meldung. Drei Viertel der Männer in diesem Posten würden Sie nur zu gerne gehen sehen.«

Die meisten meiner Männer eingeschlossen, dachte Charles. Die fünf Rekruten beobachteten ihn, als wäre er der alte Salem Jones, Mont Royals Aufseher vor dem Krieg. Mit knirschenden Zähnen sagte er: »Die uns zugewiesenen Baracken General -sind mit Ratten, Fledermäusen, Schaben verseucht; ein einziger verdammter Zoo. Während wir das Ungeziefer ausräuchern, benötigen diese Männer vorübergehend Unterkünfte. Weshalb sollen sie umziehen?«

»Weil General Hoffman heute morgen vorbeigeritten ist, August. Er schaut nicht gerne auf Niggersoldaten. Er möchte sie außer Sichtweite haben, wenn er nach Leavenworth City reitet oder von dort zurückkehrt. Ist das klar?«

Charles erinnerte sich an Griersons Warnung, was die Engstirnigkeit in der Armee anbelangte. »Sir, wenn Sie darauf bestehen, dann werden wir Bretter als Zeltböden verlegen müssen. Wir werden Gehsteige bauen.«

»Keine Bretter. Sie schlafen auf der Erde. Das sind doch Soldaten, zumindest hat man uns das weisgemacht.«

»Warum zum Teufel sind Sie so wütend auf mich, Krug?«

»Zwei Gründe, Mister. Zum einen halte ich Sie immer noch für einen Verräter. Zum anderen hat der Norden für die Erhaltung der Union gekämpft, nicht für die Glorifizierung der Schwarzen. General Hoffman teilt diese Ansicht. Und jetzt bringen Sie diese Männer in Bewegung.«

Charles näherte sich den Rekruten. Schieferfarbene Wolken ballten sich am Himmel zusammen. Die Zeltbahnen schlugen und flatterten.

Die fünf schwarzen Männer starrten ihn an; ihr Ausdruck reichte von stoisch bis mürrisch.

»Tut mir leid, Männer. Schätze, ihr werdet vorübergehend umziehen müssen. Ich versuche irgendwo ein bißchen Holz aufzutreiben.«

Ein großer, walnußbrauner Mann trat vor. Potiphar Williams, ehemaliger Koch in einem Hotel in Pittsburgh. Er hatte als Erwachsener lesen und schreiben gelernt, um Rezepte zu verstehen und Speisekarten schreiben zu können. Charles hatte ihn als vielversprechend eingestuft.

Williams sagte: »Wir besorgen das Holz, Sir.«

»Es ist meine Aufgabe.«

»Wir brauchen keine Gefälligkeiten von einem weißen Mann, der für die Rebellen geritten ist.«

Steif sagte Charles: »Damit das klar ist. Ich bin nicht in den Krieg gezogen, um für die Erhaltung der Sklaverei oder der Konföderation einzutreten. Ich habe für mein Heim in South Carolina gekämpft.«

»Oh ja, Sir«, sagte Williams. »Mein Bruder und dessen Verwandtschaft in North Carolina, die hatten nur ein Heim, für das sie kämpfen konnten, und das waren die Sklavenhütten, in denen sie lebten.« Er drehte sich um. »Also los, Jungs. Packen wir zusammen, und tun wir, was der weiße Mann uns befiehlt.«

Ike Barnes, bereits schlecht gelaunt, weil er gerade an Hämorrhoiden litt, ging in die Luft, als Charles ihm von dem Vorfall berichtete. Grierson ging zu Hoffman. Der General weigerte sich, den Befehl rückgängig zu machen. Von dem Campieren auf dem feuchten Boden bekamen zwei Rekruten Lungenentzündung. Sie wurden ins Hospital geschickt, was drei weiße Patienten veranlaßte, das Krankenhaus unter Protest zu verlassen.

In der nächsten Woche machte eine bunte Reisetruppe auf ihrem Weg nach Fort Riley Station. Die Truppe bestand aus zwei weißen Frauen, einem ehemaligen Sklaven, der kochte, einem kleinen schwarzen Jockey aus Texas, vier Pferden, einschließlich eines Paßgängers und einer Rennstute, und einigen Hunden: einem Greyhound, einem weißen Bullterrier und mehreren Jagdhunden.

»Ist das hier ein Zirkus oder eine Armee?« grollte Barnes. »Was immer es ist, es ist jedenfalls eine verdammte Schande.«

»Einverstanden«, sagte Grierson.

Die beiden standen zusammen mit Charles und einem Dutzend weiterer Neugieriger da und beobachteten den eleganten jungen Soldaten, der den Trupp führte. Während George Custer die Verladung seines Hengstes Phil Sheridan in einen Spezialwaggon der Bahn überwachte, schrie er prahlerisch herum und machte seine Witzchen.

Aus Kriegszeiten erinnerte sich Charles noch sehr lebhaft an Custer. Er war immer noch geschniegelt: lange, fließende Haare, Walroßschnurrbart, leuchtend rotes Halstuch, goldene Sporen. Charles sagte zu Barnes: »Ich habe bei Brandy Station gegen ihn gekämpft. Ich weiß, er kämpft, um zu siegen, aber für meinen Geschmack ist er zu tollkühn. Ich bin dankbar, daß ich nie unter ihm dienen muß.«

Im Herbst kam es zu einem Erdrutschsieg der Republikaner bei den nationalen und staatlichen Wahlen. Johnsons katastrophale >Tournee< hatte sich gegen ihn und für die Radikalen ausgewirkt. Wenn sich der Kongreß wieder versammelte, würde der Verlauf des Wiederaufbaus sicherer denn je in republikanischer Hand sein.

In Fort Leavenworth begann Charles allmählich das Armeeleben zu genießen, trotz gelegentlichen Ärgers mit weißen Männern wegen deren Vorurteile und trotz Ärgers mit schwarzen Männern wegen seiner Herkunft. Er mochte die Einteilung der Tage durch Horn und Trompete, Trommel und Pfeife. Seit West Point war ihm das in Fleisch und Blut übergegangen. In seiner Mönchsklause im Junggesellenquartier der Offiziere weckte ihn eine innere Uhr jeden Morgen um 4 Uhr 30, fünfzehn Minuten vor dem Trompetensignal.

Jede Kompanie des Zehnten Regiments sollte neunundneunzig Männer umfassen. Doch die Rekruten trafen so schleppend ein, daß Charles sich fragte, ob Grierson je ein Regiment in voller Sollstärke haben würde. Es half dem Ruf des Zehnten Regiments nicht sonderlich, als ein Rekrut davonrannte und in Lea-venworth die Nachricht verbreitet wurde, daß es mit der nur aus Schwarzen bestehenden Neunten Kavallerie unten in San Antonio viel Ärger gegeben hatte. Rekruten der Neunten hatten einen Zusammenstoß mit der lokalen Polizei gehabt und einen Aufruhr in Gang gebracht. Viele von ihnen landeten im Gefängnis. »Wunderbar«, schnaubte Grierson, als er davon hörte. »Genau das hat Hoffman noch gefehlt, um seine Meinung bestätigt zu sehen.«

Charles nahm freiwillig die Verantwortung für die Desertion auf sich. Der mürrische Rekrut hatte eines der Pferde mißhandelt. Charles hatte ihn daran gehindert und ihm einen zusätzlichen Arbeitsdienst aufgebrummt. »Sicher, die Haut von so einer Schindmähre geht dir über die Haut von 'nem Nigger, du Stück Südstaatenscheiße«, hatte der Rekrut gesagt und ihm einen Schlag versetzt.

Charles mußte von dem Schwarzen weggezerrt werden; um ein Haar hätte er den Rekruten mit seinen Fäusten umgebracht, hieß es später.

Zwei Nächte danach rannte der Rekrut davon. In Kansas City wurde er erkannt, wieder eingefangen und unehrenhaft aus der Armee ausgestoßen, was ihm lebenslänglich anhängen würde.

Die C-Kompanie wurde gebildet. Ike Barnes wurde Kommandeur, und Floyd Hook, ein jungenhaftes Unschuldslamm, First Lieutenant. Charles kam an dritter Stelle. Floyd oder Charles bekamen gelegentlich von Barnes die Aufgabe übertragen, neue Männer willkommen zu heißen. Charles bastelte sich eine kleine Ansprache zurecht.

»Willkommen in eurem neuen Heim, manchmal auch Arbeitshaus der Regierung genannt. Ihr werdet nicht nur lernen, hervorragende Kavalleristen zu werden, sondern könnt euch auch darauf freuen, Backsteine zu schleppen, Wände zu malen und Holz zu hacken. Ab und zu wird man dabei auch als Brevet-Architekt bezeichnet.«

Die schwarzen Rekruten zeigten nie ein Lächeln. Es lag nicht an dem Wort Brevet, das wußte Charles. Es war sein Akzent.

Geduldig brachte er jedem Neuling bei, wie man ein Paar Socken zusammenrollte und sie sich unters Hemd stopfte, um Schulterabschürfungen bei den Schießübungen zu vermeiden. Er überwachte die ersten Versuche, ein Pferd zu satteln und zu besteigen. Sobald die Rekruten nicht mehr herunterfielen, begann er mit dem Drill für Revolver und Gewehr. Er brüllte den Männern zu, sich Zeit zu lassen und ihre Waffen ruhig zu halten, während sie auf Zwiebackkisten schossen; anfangs gingen ihre Pferde im Schritt, dann im Trab und schließlich im Galopp.

»Ruhig - ruhig«, pflegte er zu brüllen. »Die Wahrscheinlichkeit ist groß, daß ihr in eurem ganzen Armeeleben nur eine Schlacht mitbekommt. Aber an diesem Tag kann dieser Drill hier über Leben und Tod entscheiden.«

Die Offiziere wurden so was wie Ersatzväter, die die Neuen vor den Schikanen der Alten zu schützen hatten - die Alten, das waren die, die vor einer Woche angekommen waren. Ein junger Neuankömmling brach zusammen und heulte.

»Sie sagten mir, ich solle mir meine Butterzuteilung aus der Messe holen. Der Koch wird versuchen, sie für sich selber zu behalten, sagten sie. Also paß auf. Ich gehe zu ihm und sagte: Gib mir meine Butter, und keine verdammte Widerrede.« Er schlug sich auf die Oberschenkel. »Es gibt keine Butterzuteilung.«

»Nein. Das ist ein alter Trick. Hör mal, jeder neue Mann wird auf den Arm genommen. Du bist jetzt durch. Du hast's überstanden.«

»Aber die anderen nennen mich jetzt Butterkopf.«

»Wenn sie dir einen Spitznamen geben, dann zeigt das, daß sie dich mögen.«

Der Rekrut wischte sich die Augen. »Ist das die Wahrheit?«

Charles lächelte. »Die Wahrheit.« Angehörige der kleinen Offiziersgruppe des Zehnten Regiments wurden >Eisenarsch< und >Der freundliche Floyd< genannt.

»Was ist Ihr Spitzname, Cap'n?«

Das Lächeln wurde steif. »Lieutenant. Ich habe keinen.«

Der Dienst in der Zehnten hatte den Vorteil, daß er den kleinen Gus häufig sehen konnte. Charles schaffte es, ihn fast jeden Tag für ein paar Minuten zu besuchen. Der Junge fühlte sich nun von seinem Vater nicht mehr so eingeschüchtert, da Charles' Haltung längst nicht mehr so schroff war.

Weihnachten näherte sich. Charles weigerte sich, irgendwelche Handarbeiten der Fort-Indianer zu kaufen, obwohl die mit Stachelschweinborsten und Perlen verzierten Artikel attraktiv und billig waren. Statt dessen kaufte er in Leavenworth ein. Er kaufte einen Satz Bürsten für Duncan, Parfüm für Maureen und Willa und ein Holzpferd für seinen Sohn.

Am 21. Dezember 1866, vier Tage vor Weihnachten, erhielt dann die Armee ein unerwünschtes Präsent.

Fort Phil Kearny bewachte den Bozeman Trail, der zu den Goldfeldern von Montana führte. Die bloße Existenz des Forts stellte eine Provokation für die Sioux und die Cheyenne im Norden dar, die dieses Land für sich beanspruchten. Kriegshäuptlinge mit bekannten Namen - Rote Wolke von den Sioux, Römernase von den Cheyenne - griffen Kearny mit zweitausend Kriegern an.

William Fetterman, ein Captain, bei dem die Tollkühnheit über die Vernunft siegte, meinte, er könne mit achtzig Mann die Linien der Angreifer durchbrechen. Er behauptete, er könnte sich durch die gesamte Sioux-Nation schlagen. So sammelte er seine Männer, die einige Holzfuhren zurück zum Fort bewachen sollten, und die Armee hatte zu Weihnachten ihr Fetter-man-Massaker. Keiner der achtzig Männer überlebte.

Ein unbarmherziger Zug in Charles nahm die schlechten Nachrichten mit Befriedigung auf. Nach dem Massaker und dem sich anschließend erhebenden Rachegeschrei glaubte er, die Armee würde nun vielleicht gegen die südlichen Stämme vorgehen. Wenn es soweit war, würde er bereit sein.

Zu Weihnachten schickte ihm Willa ihr Foto in einer kleinen, gerahmten Fassung und eine goldbeschriftete Lederausgabe von >Macbeth< mit einer romantischen Inschrift, in der es hieß, daß ihr >Pechstück< zu einem Glücksbringer für sie geworden sei, da sie sich dadurch gefunden hatten. Den Geschenken lag ein Brief voller Zärtlichkeiten bei.

Mein liebster Charles,

ich werde mir Mühe geben, daran zu denken, daß Dein neuer Nachname August lautet, und ich lege einen heiligen Eid ab, daß ich Deinen wirklichen Namen niemals laut aussprechen werde, obwohl er mir sehr am Herzen liegt...

So ging es einige Absätze weiter; die Worte freuten und erwärmten ihn trotz seiner unveränderten Bedenken bezüglich irgendwelcher Bindungen. Kurz darauf bekam er handfest vorgeführt, daß er durchaus Gründe hatte, auf der Hut zu sein.

Es wird viel über die Fetterman-Tragödie geredet. Ich bete, daß es deswegen nicht zu einem Vergeltungsschlag auf der ganzen Linie kommt. Ich kann nicht länger vor Dir verbergen, daß ich mich der örtlichen Niederlassung der Indian Friendship Society angeschlossen habe, die Gerechtigkeit für jene durchzusetzen sucht, die so lange der Gier und den Täuschungsmanövern der Weißen ausgesetzt waren. Ich lege Dir ein kleines Flugblatt der Gesellschaft bei, in der Hoffnung, Du findest es ...

An der Stelle warf er den Brief in Duncans Eisenofen, ohne ihn zu Ende zu lesen.

Am Weihnachtstag merkte er, daß er Willas einundzwanzigsten Geburtstag vergessen hatte.

27

Um seinen Schnitzer wiedergutzumachen, wandte sich Charles an Ike Barnes' winzige Frau Lovetta, deren Stimme, falls nötig, so laut werden konnte wie eine Dampfpfeife. Lovet-ta nahm etwas von Charles' Sold und versprach, etwas zu suchen, was einer jungen Frau gefallen würde. Zwei Tage später kam sie mit einer reich mit Perlen verzierten indianischen Tasche mit Schulterriemen an. Der Anblick ärgerte ihn, doch er bedankte sich bei ihr und schickte das Geschenk mit einigen entschuldigenden Zeilen nach St. Louis.

Kurz nach Neujahr begannen alle in Leavenworth darüber zu reden, daß General Hancock im Frühjahr ins Feld ziehen würde, um den Indianern gegenüber Stärke zu demonstrieren, vielleicht sogar, um jene zu bestrafen, die für das Fetterman-Massa-ker verantwortlich waren. Inzwischen gab Grierson allmählich die Hoffnung auf, sein Regiment jemals auf Sollstärke zu bringen. Bis jetzt hatten sie nicht mehr als achtzig Männer.

Fast alle mußten sie an Kaplan Grimes' Spezialunterricht teilnehmen. Das niedrige Niveau der Rekruten bürdete den Offizieren zusätzliche Lasten auf. Sie mußten sich um all den Papierkram kümmern, den normalerweise die Unteroffiziere erledigten.

Trotzdem mußte Charles widerstrebend zugeben, daß die Stadtjungs ihren Bildungsmangel durch ihre Begeisterung und ihren Eifer mehr als wettmachten. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, benahmen sie sich ordentlich. Befehlsverweigerung, Trunkenheit und kleine Diebstähle kamen weit weniger häufig vor als bei weißen Soldaten. Charles vermutete, daß die Motivation dabei eine große Rolle spielte. Die Männer wollten Erfolg haben, sie hatten sich die Armee ausgesucht, anstatt sie als Zufluchtsstätte zu betrachten.

Motivation und allgemeines Auftreten beeindruckten allerdings weder General Hoffman noch seinen Stab. Hoffman ordnete Überraschungsinspektionen der Baracken der Zehnten an und bestrafte dann die Soldaten wegen Schmutzes auf dem Boden oder Flecken an den Wänden. Durch die undichten Türen und Fenster blies der Wind Schmutz herein. Die Flecken wurden durch undichte Dächer verursacht. Hoffman ignorierte alle Erklärungen und verweigerte jegliches Reparaturmaterial.

Der Kommandeur führte einen erbarmungslosen Kampf gegen den >Niggerabschaum<. Wenn einer von Griersons Offizieren einem schreibkundigen Rekruten etwas Verantwortung übertrug, dann schickte das Hauptquartier die Berichte des Mannes mit dem Vermerk Schlampig oder Nicht korrekt zurück. Auf Anordnung von Hoffman mußte das Zehnte Regiment bei Inspektionsformationen mindestens fünfzehn Meter von weißen Einheiten entfernt antreten.

Bei den Pferden, die dem Zehnten Regiment zur Verfügung gestellt wurden, handelte es sich um abgehalfterte Wracks aus dem Krieg, einige davon gute zwölf Jahre alt. Als Grierson protestierte, meinte Hoffman achselzuckend: »Das Armeebudget ist angespannt, Colonel. Man verlangt von uns, die Waffen, Munition und Pferde zu nehmen, die bereits vorhanden sind. Ich würde sagen, diese Klepper sind gut genug für Nigger.«

»General, bei allem Respekt, ich verlange, daß meine Männer nicht als ...«

»Ihre Männer wären nicht mal hier, wenn der verdammte Kongreß nicht die Schwarzen verhätscheln würde. Ich muß niemanden verhätscheln. Abtreten.«

In der Messe sagte Grierson zu seinen Offizieren: »Wir müssen dieses Regiment auf die Beine stellen und von diesem Posten hier verschwinden. Wenn nicht, dann wird etwas Furchtbares passieren. Ich bin kein gewalttätiger Mensch. Ich bin kein gottloser Mensch. Aber wenn wir hier noch länger bleiben, dann ist Hoffman tot. Ich bringe diesen bigotten Scheißkerl persönlich um.«

Charles lachte und schloß sich dem allgemeinen Applaus an.

Grierson fügte hinzu: »Wenn Alice wüßte, wie sich Hoffman auf meinen Charakter und meine Ausdrucksweise auswirkt, sie würde sich glatt scheiden lassen.«

Barnes - oder >der Alte<, wie er allgemein genannt wurde - unterrichtete die C-Kompanie häufig in praktischen Dingen, die nicht zum offiziellen Armeerepertoire gehörten.

»Männer«, sagte er eines Tages und schritt, seinen Bauch voraus, die Reihen ab, »ihr sollt stolz auf eure Uniform sein. Das ist in Ordnung, solange wir hier im Fort sind.« Sein Blick huschte über die ernsten, aufmerksamen Gesichter, braun und bernsteinfarben, Mahagoni und Ebenholz. »Ich möchte jedoch, daß sich jeder von euch eine neue Ausrüstung fürs Feld besorgt. Es ist mir egal, wie's aussieht, solange es nur warm ist, locker sitzt und sich Stück um Stück ausziehen läßt, wenn die Sonne euch im eigenen Saft brutzeln läßt. Für die Art von Kämpfen, in die wir verwickelt werden, belastet ihr euch besser nicht mit zusätzlicher schwerer Ausrüstung. Also stellt euch eine neue Uniform zusammen - Hemd, Hose, Mantel, Hut. Kauft es euch. Feilscht darum. Wenn ihr es klaut, laßt euch nicht erwischen.«

Als wollte er die ganze Sache abschließen, strich er sich mit dem Zeigefinger über den Schnurrbart, fügte dann jedoch noch hinzu: »Je weniger Regierungsblau ich bei dieser Truppe sehe, desto glücklicher bin ich.«

Wenn Charles gelegentlich mal eine freie Stunde hatte, ritt er nach Leavenworth City. Im Prairie Dog Saloon in der Main Street wurde ein wesentlich höherprozentiger Whisky ausgeschenkt als das verwässerte Zeug, das es an der Offiziersbar beim Kantinenwirt gab.

An einem sonnigen Samstag befand er sich auf dem Weg in die Stadt, als er Schüsse hörte. Bald darauf sah er einen teuer gekleideten Zivilisten, der sein Pferd neben der Straße angepflockt hatte, um in sicherer Entfernung einige Zielübungen zu machen. Charles stoppte und beobachtete, wie der Fremde mit einer Salve aus seinen beiden .44 Kaliber-Double-Action-Colts eine Reihe von zwölf Flaschen abschoß.

Als das Echo der Schüsse verhallte, rief Charles: »Das war ausgezeichnet.«

Der Schütze schlenderte herbei. Er war ungefähr so alt wie Charles; mit Custer hatte er die langen Haare und den Schnurrbart gemeinsam. Dieses Erscheinungsbild wurde durch eine vorstehende Oberlippe gestört. Er trug einen rehbraunen Frack, eine grünseidene Weste und teure Stiefel.

»Danke«, sagte er. »Entdecke ich da nicht einen Südstaatenklang in Ihrer Stimme, Sir?«

In der Frage lag eine gewisse Schärfe. Charles sagte: »Grenzbereich«

»Ah, ein Loyalist der Union. Ich komme aus Troy Grove, Illinois. La Salle County. Abolitionistenterritorium.« Er streckte die Hand aus, und Charles schüttelte sie. »Im Augenblick verdiene ich als Meldereiter für die Armee die Summe von sechzig Dollar im Monat. Ich hoffe, daß ich im Frühjahr bei General Hancock als Scout unterkomme.«

»Sie üben viel, nicht wahr?«

»Drei, vier Stunden täglich. Da steckt keine Magie dahinter, jemanden zu töten, der einen töten will. Hängt in erster Linie von der Genauigkeit ab, plus ein paar Tricks. Halte immer auf den Kopf, nie auf die Brust. Ein Mann mit einer tödlichen Brustwunde kann noch lange genug schießen, um dich fertigzumachen.«

»Ich werde es mir merken. Nun, machen Sie weiter so, Mr. ...«

»Jim«, sagte der Fremde. »Einfach nur Jim.«

Im Prairie Dog Saloon erwähnte Charles den stutzerhaft gekleideten Fremden. Der Barkeeper wurde blaß. »Oh Gott. Sie haben ihn doch nicht beleidigt, oder? Nein, ich schätze nicht, sonst wären Sie nicht hier.«

»Wie meinen Sie das? Er schien zu der höflichen Sorte zu gehören.«

»Sagen Sie Duck Bill zu ihm, dann werden Sie schon sehen, wie höflich er ist. Ein Mann nannte ihn so, und er schoß ihn nieder. Der Schütze heißt J.B. Hickok.«

Charles kannte den Namen. Jedermann kannte den Namen dieses gefürchteten Killers. »Er sagte, er sei momentan Meldereiter für die Armee.«

»Ja. Er und so ein prahlerischer Bursche namens Will Cody.«

Charles stieß einen leisen Pfiff aus. Er hatte mit einem der gefährlichsten Männer im Grenzgebiet ein paar freundliche Worte gewechselt. Die Erwähnung von Cody überraschte ihn fast genauso. Das Golden Rule House des jungen Mannes aus Kansas hatte sich, genau wie Dutch Henry Griffenstein vorausgesagt hatte, nicht lange gehalten.

In der feuchten, nebligen Finsternis rannte Charles mit flatternden Nachthemdzipfeln auf die Laternen zu. Haare im Gesicht, Schlaf in den Augen, so rannte er, während die Furcht ihm den Mund trocken werden ließ, auf die Gruppe von Militärpolizisten östlich vom Waffenlager zu.

Einer dieser Männer hatte an seine Tür gehämmert, um ihn zu wecken. Grierson war nirgendwo aufzutreiben. Der neue Ad-jutant, ein wiedereingestellter Offizier namens Woodward, war erst nächste Woche fällig. Ike Barnes und Lovetta machten einen Kurzurlaub in St. Louis, und Floyd lag mit einer Grippe im Bett.

Schwitzend erreichte Charles das halbe Dutzend Männer, die mit ihren Laternen in einiger Entfernung von den Holzpfählen der Eisenbahnbrücke über den Missouri standen. Das Metall ihrer Revolver und Karabiner glänzte.

»Sir, der Schwarze ist einer Ihrer Männer«, sagte ein Corporal nach einem schlampigen Salut. »Er will sich nicht ergeben. Wir werden ihn erschießen müssen.«

Am Rande des Lichtkegels kauerte Shem Wallis, einer der neuen Rekruten, hinter einem Pfosten; nur ein weißes Auge und ein Stück von seinem schwarzen Gesicht waren zu sehen.

»Lassen Sie mich mit ihm reden, Corporal.«

»Sir, egal ob Weißer oder Nigger, wenn ein Soldat sich von der Truppe entfernt und Widerstand leistet, wenn er geschnappt wird, dann haben wir Befehl ...«

»Ich sagte, ich rede mit ihm.« Charles drückte den Karabiner des Corporal nach unten und entfernte sich von den murrenden Männern.

Je näher er an Wallis herankam, desto mehr sah er von ihm. Dazu gehörten auch schwarze Finger, die eine Allin Conversion umklammerten, die von der Springfield-Waffenfabrik 1865 umgebaut und der Armee angedreht worden waren. Es handelte sich dabei um eine veraltete, einschüssige Waffe, aber einen Mann konnte man damit immer noch erledigen.

Wallis machte einen entschlossenen Eindruck. »Lieutenant, Sie bleiben dort. Ich hab's diesen weißen Jungs schon gesagt, der erste, der mich überwältigen will, fährt zur Hölle.«

Charles' Magen schmerzte. Sein Kopf ebenfalls. »Shem, hör zu. Du hättest nicht versuchen sollen zu desertieren, nachdem du diesen Wachposten niedergeschlagen hattest. Aber du machst alles nur noch schlimmer.«

»Ich bin in die Armee eingetreten, weil ich auf das, was ich tat, stolz sein wollte!« schrie Wallis. »Ich bin nicht gekommen, um wieder wie ein Niggersklave mit einem Pinsel in den Händen niederzuknien. Ich habe meinen ganzen Samstag damit zugebracht, den Zaun irgendeines Offiziers zu streichen, und dann kommt er raus, schaut sich das an und meint, jeder Trottel könnte das besser.«

Charles trat einen Schritt vor, dann noch einen. Sein Atem stand in weißen Wolken um ihn herum. »Diese Art von Dienst ist eine der üblen Seiten in der Armee, Shem. Ich dachte, ich hätte das klargemacht.«

»Das haben Sie. Ich will's bloß nicht mehr tun.«

Sechs Fuß von dem Pfosten entfernt streckte Charles die Hand aus. »Gib mir das Gewehr. Ich weiß, was an dir frißt. Dieser endlose Winter. Jeder spürt das.«

Die alte Springfield richtete sich genau auf seine Brust. »Ich erschieße Sie, Lieutenant.«

Einen Meter vor dem Pfosten blieb Charles stehen. »Also gut, damit wäre diese Kugel weg. Einen zweiten Schuß hast du nicht. Die Jungs hinter mir erledigen dich dann. Gib auf, Shem. Du wirst eine Weile im Arrest sitzen, aber das ist immer noch besser, als auf dem Friedhof zu liegen. Danach wirst du dorthin zurückkehren, wo du hingehörst. Du hast das Zeug zu einem guten Soldaten. Das meine ich ehrlich. Du bist ein guter Mann.«

Mit ausgestreckter Hand ging er langsam weiter. Wallis drückte die Springfield gegen die Schulter. Zielte.

Charles sah, wie die Mündung größer und größer wurde, je näher er kam.

Größer.

Wallis' angespannter Oberkörper bewegte sich. Charles verlagerte sein Gewicht, aber er wußte, daß er der Kugel nicht mehr ausweichen konnte.

Die Springfield polterte zu Boden. Mit einem verlorenen Stöhnen schlug Wallis beide Hände vors Gesicht. Dann richtete er sich auf, trat hinter dem Pfosten hervor und hob die Hände. Zwischen seinen Fingern konnte Charles noch ein bißchen weiße Farbe sehen.

Hancock verkündete seine Absicht, ins Feld zu ziehen, sobald sich das Wetter besserte. In der letzten Februarwoche teilte er eines Abends einer Versammlung von Offizieren des Postens mit, daß seine Soldaten aus Leavenworth durch Männer von A.J. Smith's Siebenter Kavallerie verstärkt würden. Diese kombinierten Kräfte würden von Fort Riley aus ins Indianerland vorstoßen.

»Einige von Ihnen werden mich begleiten. Andere werden hierbleiben. Ihnen allen jedoch sollte das Ziel dieser Expedition klar sein. Ich habe Befehl von General Sherman, die Indianer einzuschüchtern und mich mit den wichtigen Häuptlingen zu treffen, um ihnen zu sagen, daß sie sich dieses Jahr von der Eisenbahn und den Wagenrouten fernzuhalten haben. Wenn sie darauf trotzig und herausfordernd reagieren und eine kriegsmäßige Haltung einnehmen, dann sollen sie ihren Krieg haben. Weder Aufsässigkeit noch Frechheit werden geduldet. Das ist jetzt die offizielle Regierungspolitik.«

In seinem nächsten Brief an Willa schrieb Charles nichts von Regierungspolitik. Er vermutete, sie würde zeitig genug davon erfahren.

»Setzen Sie sich, Soldat«, sagte Charles zu Potiphar Williams. Mißtrauisch nahm der frühere Koch auf dem Besucherstuhl Platz.

»Die C-Kompanie braucht einen First Sergeant. Lieutenant Hook und ich haben Sie vorgeschlagen, Captain Barnes hat zugestimmt, und ich freue mich, sagen zu können, daß Colonel Grierson unserer Empfehlung gefolgt ist. Sie kriegen den Job, nicht nur, weil Sie lesen und schreiben können, sondern weil Sie sich als guter Soldat erwiesen haben.«

Ganz kurz blitzte der Stolz in Williams auf, bevor er durch die alte, kaum verhüllte Feindseligkeit ersetzt wurde. »Sir, ich weiß das Angebot zu schätzen, kann es aber nicht annehmen.«

»Seien Sie nicht so verflucht halsstarrig. Ich weiß, daß Sie mich nicht mögen. Das macht keinen Unterschied. Im Krieg habe ich mit einer Menge Männer zusammen gedient, die ich nicht leiden konnte.« Williams räusperte sich. Charles zwinkerte. »Moment mal. Geht es nur um mich oder um noch was anderes?«

»Es ist ...« Williams erstickte fast daran. »Das Sehen.«

»Was?«

Williams Schultern sanken herab. »Meine Augen sind schlecht. Das Gewehrschießen auf ein Ziel macht mir keine Schwierigkeiten. Ich kann auch die Aufschrift auf der Standarte lesen, wenn sie ein Stück entfernt ist. Aus der Nähe aber - nun ja, ich habe die Hotelküche unter anderem auch deshalb verlassen, weil ich beim Schneiden und Teilen nicht richtig sehen konnte. Beim Schneiden von Karotten oder Bohnen habe ich Blut und Wasser geschwitzt.« Er zeigte eine lange, blasse Messernarbe zwischen Daumen und Zeigefinger. Charles war die Narbe nie aufgefallen.

»Da gibt es eine einfache Möglichkeit, Williams. Lassen Sie sich vom Arzt eine Brille verpassen.«

Wieder ein unbehagliches Schweigen. »Äh, Sir - ich kann mir keine Brille leisten. Ich schicke fast meinen ganzen Lohn an meine vier Brüder und Schwestern nach Pittsburgh.«

»Meine Güte, ich werde Ihnen das Geld leihen, und bitte keine Diskussion darüber.«

Williams musterte Charles lange und sorgfältig, dann fragte er: »Die weißen Offiziere wollen mich wirklich als First Sergeant?«

»Ja.«

»Sie auch?«

»Die Wahl war einstimmig.«

Williams blickte zur Seite. »Sie sind nicht so übel, wie ich dachte. Was Sie für Shem Wallis getan haben, das war anständig. Ich werde das Geld sobald wie möglich zurückzahlen.«

»Gut. Eine kleine Warnung. Sie werden den Spitznamen Sterngucker kriegen. Jeder Kavallerist mit einer Brille ist ein Sterngucker.«

Williams dachte darüber nach. »Nun, ich denke, das ist immer noch besser als mein jetziger Spitzname.« Charles hob eine Augenbraue. »Von Potiphar sind die Jungs auf Pißpott gekommen.«

Charles lachte. Williams ebenfalls. »Das ist eine eindeutige Verbesserung. Gratulation.« Charles streckte die Hand aus. »Sergeant.«

Williams runzelte die Stirn. Er studierte die weiße Handfläche und die Finger, dann nickte er leicht und schüttelte die Hand.

Es war der 1. März 1867. General Winfield Scott Hancock, elegant und würdevoll aussehend, verließ Fort Leavenworth.

Es war ein feuchter, kalter Morgen. Charles stand zwischen jubelnden Soldaten, Ehefrauen und Campgefolgschaft, die den Aufbruch beobachteten. Die Militärkapelle spielte alle gängigen Sachen, einschließlich des beliebten Marsches >The Girl I Left Behind Me<.

Die Fahnen der Nation, der Division und des Department wurden vorbeigetragen. Infanteriekompanien marschierten los. Von Pferden gezogene Wagen beförderten die leichten, zuverlässigen Zwölfpfünder Berghaubitzen. Die Segeltuchdächer der Versorgungswagen segelten langsam wie Schoner vorbei.

Die Kolonne war nicht vollständig mit dem Blau der Armee bekleidet. Spurensucher der Osage und der Delaware mischten sich unter einige Zivilisten, darunter auch Mr. Hickok, der in engen hirschledernen Reithosen und einer grellen, orangefarbenen Zuavejacke steckte. Seine beiden Revolver mit den Elfenbeingriffen trug er deutlich sichtbar. Hickoks Stute, Black Neil, tänzelte flott dahin; hutschwenkend salutierte ihr Reiter vor der Menge. Als er Charles entdeckte, begrüßte er ihn herzlich. Die Kavalleristen der C-Kompanie starrten Charles an, als hätte er urplötzlich einen Heiligenschein bekommen.

Eine schwankende Ambulanz beförderte Mr. Davis, der für >Harper's Monthly< schrieb, und Mr. Henry Stanley, der den >New York Herald< und andere Zeitungen repräsentierte. Die Generäle Hancock und Sherman wünschten eine gute Presse.

Der Alte spuckte aus und sagte zu Charles: »Weißt du, was in einigen dieser Wagen ist? Pontonboote, bei Gott.«

»Pontonboote? Wozu?«

»Na, um Flüsse überqueren zu können. Wenn Hancock ein paar Indianer auf der anderen Flußseite entdeckt, verstehst du, dann sollen die Indianer 'nen halben Tag warten, damit Hancock seine Pontonboote auslegen, übersetzen und kämpfen kann.« Wieder spuckte er aus. »Das zeigt, wieviel die vom Krieg in den Prärien verstehen. Das geht nicht gut, Charlie.«

PULASKI CITIZEN f.o. mccord, Lokalredakteur Pulaski, Tenn.

Freitag morgen, 29. März 1867

was bedeutet das? - Die folgende mysteriöse Nachricht, >Ach-tung<, wurde gestern morgen frühzeitig unter unserer Tür gefunden; zweifellos wurde sie in der Nacht durchgeschoben. Will uns jemand damit etwas mitteilen, falls die Sache überhaupt irgendeine Bedeutung hat? Was ist ein >Ku-Klux-Klan<, und wer ist dieser >Große Zyklop<, der diese geheimnisvollen, gebieterischen Befehle erteilt? Kann uns jemand in dieser Angelegenheit Aufklärung geben? Hier ist der Befehl: »ACHTUNG - Der Ku-Klux-Klan wird sich an seinem gewohnten Treffpunkt versammeln, der >Höhle<, kommende Dienstagnacht, genau um Mitternacht, im Kostüm und mit den Waffen des Klans.

Befehl vom Großen Zyklopen. G.T.«

Erste Erwähnung des Klans in der US-Presse

»Ich wünschte trotzdem, wir könnten mit.«

»Willst dir ein paar rote Skalpe holen, was?«

»Ja.«

Ike Barnes studierte das Gesicht seines Lieutenant; der kalte, starre Ausdruck gefiel ihm ganz und gar nicht. »Du wirst deine Chance kriegen«, sagte er, ohne seine Mißbilligung zu verbergen.

28

Charles war gerade Offizier vom Dienst, als ein weiterer Rekrut ankam. Auf den ersten Blick wirkte er nicht sonderlich auffällig, ein kräftiger schwarzer Mann mit rundem Gesicht Ende Zwanzig, der all seine Habseligkeiten in einem großen Tuch zusammengebunden hatte. Ein schwarzseidenes Taschentuch bauschte sich in der Brusttasche seines alten Fracks, der ein Loch in einem Ellbogen hatte. Die Zehen seines linken Schuhs schauten ins Freie.

»Stillgestanden, während ich einige Informationen sammle.« Charles glaubte daran, daß man Rekruten schnell an den Armeeton gewöhnen mußte. Er studierte die Papiere des Mannes. »Sie heißen Magee?«

»Jawohl, Sir.« Der Rekrut grinste, das breiteste, sonnigste Lächeln, das Charles je bei einem menschlichen Wesen gesehen hatte. Das ansteckende Lächeln riß ihn aus der trüben Stimmung, in die der morgendliche Regen ihn versetzt hatte. Das Leben mochte dem Mann in ein paar anderen Punkten einiges vorenthalten haben, doch diese Zähne waren absolut perfekt.

»Wendell Phillips Magee«, fügte er hinzu. »Mama nannte mich nach .«

»Ich weiß«, unterbrach Charles, »der Abolitionist.« Wieder studierte er die Papiere. »Sie haben sich in Chicago gemeldet.« Illinois mußte ein langweiliger Staat sein. Eine Menge Leute gingen da weg; Leute wie Hickok und einige andere Revolverkünstler wie Earp und Masterson, den Floyd Hook ihm gegenüber erwähnt hatte. »Was haben Sie in Chicago gemacht, Ma-gee?«

»Hausdiener in einem Saloon. Böden gewischt. Spucknäpfe geleert.« Es klang nicht bitter, es war lediglich eine Feststellung. »Hab' von den Gästen ganz schön was abgekriegt, weil ich ein Nigger bin. Als meine Tante Flomella starb - die Schwester meiner Mama, meine einzige Verwandte -, bin ich auf einen Artikel in einer Zeitung aufmerksam geworden.«

»Sie können lesen, ja?«

»Jawohl, Sir, General.«

»Ich bin Lieutenant.«

»Jawohl, Sir, tut mir leid. Ich kann auch rechnen.« Der Rekrut hatte eine fröhliche, lockere Art; Kritik schüchterte ihn nicht ein. Seine schnellen Sprüche und sein breites Lächeln waren womöglich als Verteidigung gegen die von ihm erwähnten Schmähungen gedacht. »In der Zeitung stand: >Ihr jungen farbigen Männer, zieht das Blaue der Armee an.<« Magee überraschte Charles damit, daß er plötzlich das schwarze Tuch aus seiner Brusttasche riß. Mit dem rechten Zeigefinger stopfte er das Seidentuch in seine linke Faust. »Also sagte ich mir, Magee, sagte ich, das klingt gut, was?« Blitzschnell verschwand das Tuch. »Krempel dein ganzes Leben um. Schwarz zu Blau.« Er zupfte an der anderen Seite seiner Faust und zog ein langes Seidentuch hervor. In leuchtendem Blau.

Charles lachte. Entzückt schwenkte Magee das Tuch mit der rechten Hand, während er seine leere linke Handfläche zeigte. »Schwarz zu Blau«, wiederholte er mit seinem verblüffenden Grinsen. »Ein ganz neues Leben, und froh bin ich drüber.« Er steckte das Tuch weg.

»Kennen Sie noch mehr solche Tricks?«

»Oh ja, Sir, General. Die ersten hab' ich von einem Barkeeper gelernt, kurz nachdem ich mit der Arbeit angefangen hatte. Da war ich so ungefähr neun. Im Laufe der Jahre hab' ich eine ganze Menge aufgeschnappt. Münzen, Karten, Tassen und Bälle. Ich hab' auch von Tricks gelesen. Damals, als die Ritter noch in ihren Rüstungen herumritten, hatten sie Zauberer, wußten Sie das? Die Chinesen hatten vor ein paar tausend Jahren welche. Gibt einem Mann so das Gefühl, als gehöre er zu einer guten alten Familie.« Ein weiteres Grinsen. »Verstehen Sie, was ich meine?«

Charles dachte an Hickok und dessen Revolver. Er sagte: »Sie müssen eine Menge üben.«

»Jeden Tag. Die Zauberei hat mir schon viel Gutes eingebracht. Ich führte einigen dieser gemeinen Bast. den Männern, die sich im Saloon herumtrieben, meine Tricks vor, und sie warfen mir eine Münze oder zwei zu, anstatt mich in den Arsch zu treten, bloß weil ich ein Farbiger war.« Das Lächeln blieb, aber für einen kurzen Moment waren die Wunden darunter zu sehen.

»Können Sie reiten?«

»Ich fürchte nein, General. Aber ich werde es lernen. Ich bin mächtig stolz, ein US-Soldat zu sein, und ich hab' vor, ein guter Soldat zu werden.«

»Ich glaube, das werden Sie.« Charles streckte die Hand zur üblichen Begrüßung aus. »Willkommen in der Zehnten Kavallerie, Magee.«

Das Regiment nahm den neuen Mann gut auf; beim Drill war er ein emsiger Schüler, immer gut aufgelegt und unterhaltsam. An Magees drittem Tag beim Regiment erschien Grierson zum morgendlichen Neun-Uhr-Appell bei den Baracken, bloß um Magee zuzuschauen. Als der Colonel einen Trick sehen wollte, produzierte Magee ein Stück Schnur. »Funktioniert besser mit einem Seil, aber wer kann sich vom Lohn eines Hausdieners schon ein Seil leisten?«

»Vom Lohn eines Soldaten wirst du dir's auch nicht leisten können«, sagte Sergeant Sterngucker Williams. Der Kreis der Männer brach in Gelächter aus.

Magee legte die Schnur in einer Hand zu einer Schlinge zusammen und schnitt die nach unten hängende Schlaufe mit einem Taschenmesser durch. Dann nahm er die Einzelteile und knotete die durchschnittenen Enden zusammen. Er zeigte die Schnur in voller Länge, spannte die Enden über seinem Kopf, um auf den Knoten in der Mitte aufmerksam zu machen. Dann wickelte er die Schnur in mehreren Windungen um seine linke Hand, tippte dagegen und spannte sie dann wieder. Die Schnur war aus einem Stück, der Knoten war verschwunden.

Grierson applaudierte. »Das war sehr gut, Soldat. Wie haben Sie das gemacht?«

»Aber General, wenn ich Ihnen das verraten würde, dann würden Sie mich bald nicht mehr Magic Magee rufen, nicht wahr?«

»Das ist bereits sein Spitzname?« flüsterte Floyd Hook Charles zu, der zurückflüsterte: »Was hattest du erwartet?«

Haufen schmelzenden Schnees und ein gelegentlich milder Tag versprachen das Ende des Winters. Das Zehnte Regiment wuchs und machte mit der Ausbildung weiter. Barnes, Hook und Charles drillten ihre Kavalleristen, beendeten Schlägereien, veranstalteten Razzien nach den Glücksspielen in den Baracken und beschlagnahmten Würfel oder Kartenspiele, schrieben Briefe für die Männer, hörten sich Geschichten über Liebeskummer oder Familienprobleme an und beteten, der Tag möge kommen, an dem sie zum Einsatz im Westen losreiten würden. Die C-Kompanie hatte fast Sollstärke erreicht. Charles konnte den Aufbruch kaum erwarten.

Kuriere brachten Berichte über Hancocks Feldzug ins Department-Hauptquartier. Hancock war südwestlich nach Fort Lar-ned an der Pawnee-Gabelung des Arkansas marschiert und hatte dort mit 1.400 Mann von der Siebzehnten Kavallerie, der Siebenunddreißigsten Infanterie und der Vierten Artillerie sein Lager aufgeschlagen. Er schickte Lieutenant Colonel Edward Wyn-koop los, den ehemaligen Kommandanten von Fort Lyon und jetzt die Southern Agency befehlenden Mann des Innenministeriums, um die Indianer herzuholen, damit sie sich seine Warnungen anhören konnten. Dabei handelte es sich um Cheyenne und einige Oglala-Sioux, die zusammen in einem großen Tal lebten, fünfunddreißig Meilen von der Pawnee-Gabelung flußaufwärts. Der Ausgang dieser Unterredung würde mit den nächsten Berichten gemeldet werden.

Barnes meinte, da die Kompanie bald aufbrechen würde, könnte Charles St. Louis einen kurzen Besuch abstatten, falls er das wünschte. Der April wurde wärmer, und Charles ging an Bord eines Missouri-Bootes. Gleich nach seiner Ankunft am späten Nachmittag und vor Willas abendlichem Auftritt als Ophelia liebten sie sich voller Inbrunst.

»Jetzt habe ich bestimmt meinen ganzen Text vergessen«, sagte sie lachend, als sie ihr Silberhaar wieder hochsteckte, das sich in der Hitze des Gefechts gelöst hatte. »Zumindest bin ich ausreichend entspannt, um die Wahnsinnigenszene zu spielen.« Sie küßte ihn auf den Mund. »Und schönen Dank auch, daß du an meinen Geburtstag gedacht hast. Ich meine nachträglich.«

Er gab ihr ein paar leichte Klapse auf den nackten Hintern, und sie fielen lachend und einander kitzelnd aus dem Bett.

Sie versprach, daß sie nach der Vorstellung mit einigen anderen Mitgliedern der Truppe zu Abend essen würden. Die fünf Akte von >Hamlet< erschienen Charles unendlich lang. Sam Trump tobte und stürmte durch die ruhigen Monologe des Prinzen und steigerte sich beim Schlußduell in eine derartige Erregung hinein, daß er zweimal stürzte, was einiges Gejohle hervorrief.

Trump rieb sich sein aufgeschlagenes Knie und bat, ihn beim Essen zu entschuldigen. So blieben noch Charles und Willa sowie der junge Bühnenmanager Finley und Trueblood übrig, der den jugendlichen Liebhaber nur noch mit Hilfe von größeren Mengen Gesichtspuder und Rouge spielen konnte. Finley erschien etwas zu spät in dem Biergarten unter freiem Himmel. Die anderen tranken bereits fröhlich das dunkle deutsche Bier aus ihren Krügen. Finley verscheuchte den allgemeinen Frohsinn, indem er die neueste Ausgabe der Missouri Gazette herumzeigte.

»Hancock hat ein Indianerdorf niedergebrannt.«

»Was?« Die Fröhlichkeit wich aus Willas hellen Augen.

»Hier steht's.« Finley tippte auf die Schlagzeile. »Die Häuptlinge wollten nicht zum Palaver kommen. Vielleicht hatten Hancocks Drohungen sie erschreckt, denn sie zogen sich mitsamt Frauen und Kindern zurück. Custer setzte ihnen nach und entdeckte eine niedergebrannte Postkutschenstation. Also brannte auch Hancock die leeren Hütten nieder - insgesamt zweihundertfünfzig. Hier steht alles«, sagte er, setzte sich und gab dem Kellner einen Wink.

»Wann ist das passiert?« fragte Trueblood empört.

Willa glättete das Papier. »Am neunzehnten. Mein Gott, fast tausend Kleidungsstücke zerstört, die Kochgeräte, all die Sachen, die sie zurückgelassen haben. Wie herzlos. Wie empörend!«

Charles sagte: »Hancock ist ausgerückt, um den Häuptlingen vor Augen zu führen, daß sie in diesem Sommer besser Frieden halten.«

»Und jetzt kann er sicher sein, daß sie das nicht tun werden.« Sie hielt ihm die Zeitung vor die Nase. »Lies selber. Es bestand absolut keine Verbindung zwischen dem Dorf, das Hancock zerstörte, und der niedergebrannten Station.«

»Keine Verbindung, außer daß alles Teil des gleichen Problems ist. Die Häuptlinge hätten zum Palaver kommen sollen.«

»Wo General Hancock von Anfang an so anmaßend war? Ich habe gelesen, was er so alles von sich gegeben hat, Charles. Bombastisch. Herausfordernd.«

»Schau, ich hab's satt, mir das anzuhören. Du weißt, wie ich meinen Partner im Kampf gegen die Cheyenne verloren habe. Ein feiner Mann, der ihr Freund war, der nie jemandem ein Leid zugefügt hatte, wenn man ihn in Ruhe ließ.«

»Und deshalb soll sich die Armee genauso brutal aufführen? Brutalität bringt nur weitere Brutalitäten hervor, Charles. Es drückt die Armee auf das Niveau der wenigen Indianer herab, die gewalttätig reagieren.«

»Es sind mehr als nur einige wenige«, fing er an.

»Nun, über diese Sache wird Washington von der Gesellschaft einiges zu hören bekommen«, erklärte Trueblood. Er schnappte sich die Zeitung und schnaubte auf, als er nochmals den Bericht las.

Charles sagte: »Jeder Indianer ist ein potentieller Mörder, Willa. Das ist ihr Lebensstil. Genauso, wie sie ihre Opfer hinterher aufschneiden.«

Ätzend sagte sie: »Bitte.« Sie schob ihren Teller beiseite. Im Licht der Papierlaternen des Biergartens blitzten ihre Augen auf. Der Aprilwind spielte mit einer ihrer Haarsträhnen. Sie starrte Charles voller Abneigung an, stand dann ruckartig auf. »Ich bin fertig.«

Sie ließen Finley und Trueblood in verlegenem Schweigen zurück. Charles nahm ihren Arm. Sie zog ihn weg. Auf dem Weg zum Hotel versuchte er mehrmals, ein Gespräch in Gang zu bringen. Jedesmal schüttelte sie stumm den Kopf; einmal sagte sie: »Bitte nicht. Dein blutdürstiges Gerede hängt mir zum Hals heraus.«

Im Bett schliefen sie weder miteinander, noch berührten sie sich nach einem oberflächlichen Gutenachtkuß. Charles schlief schlecht. Am Morgen entschuldigten sich beide für ihre schlechte Laune, jedoch für nichts anderes. Er sah nicht ein, weshalb er sich überhaupt entschuldigen sollte.

Sein Flußboot legte um fünf ab. Nach einer Probe am späten Morgen schützte Willa Kopfschmerzen vor und wollte ins Hotel zurückkehren. Charles zog sie in eine ruhige Ecke hinter der Bühne. »Das ist vielleicht für längere Zeit das letzte Mal, daß wir uns sehen. Grierson schickt die C-Kompanie ins Feld.«

Tränen des Zorns traten ihr in die Augen, als sie sagte: »Ich hoffe, du findest jeden Tropfen Blut, auf den du so scharf bist - obwohl Gott allein wissen mag, weshalb du nach vier Jahren Krieg immer noch so scharf darauf bist.«

»Willa, ich habe es dir erklärt.«

»Ist auch egal. Ist völlig egal, Charles. Wahrscheinlich ist es ganz gut, daß du für eine Weile von deinem kleinen Jungen wegkommst. Er ist zu jung, um zu lernen, wie man haßt.«

Charles packte ihr Handgelenk. »Ich habe einen sehr guten Grund für meinen ...«

»Für Barbarei gibt es nie einen guten Grund.« Sie machte sich steif, versuchte sich zu befreien, bis er sie losließ. »Nicht für die Barbarei der Männer, die deine Freunde umgebracht haben, aber auch nicht für deine. Auf Wiedersehen, Charles.«

Erstarrt sah er zu, wie sie herumwirbelte und ging. Er hörte das laute Knallen der Tür zur Olive Street.

Brodelnder Zorn mischte sich mit Reue. Er riß gerade ein Streichholz an seiner Stiefelsohle an, als Trump aus der Dunkelheit angewatschelt kam, ein fleckiges Handtuch über der nackten, blassen Schulter.

»Mir war so, als hätte ich so was wie einen Streit gehört. Wieder mal die Indianerfrage.«

»Sie versteht einfach nicht ...«

»Sie versteht ihre eigene Position, und es ist ihr ernst damit. Das weißt du seit vielen Monaten. Du hast sie zu weit getrieben und eine Entscheidung erzwungen. Mit der hattest du nicht gerechnet, he?« Der alte Schauspieler wischte sich etwas Puder von der Wange. »Wenigstens kann ich es mir sparen, dich niederschlagen zu müssen. Du hast ihr weh getan, aber du hast deine Strafe auch weg.«

»Red doch nicht wie ein verdammter Narr, Sam. Ich liebe sie.«

»Wirklich? Warum treibst du sie dann von dir?«

Er warf Charles einen forschenden Blick zu und entfernte sich.

Charles lehnte an der Bootsreling und beobachtete, wie die Lichter von St. Louis allmählich in der Dämmerung versanken.

Wasserkaskaden stürzten rauschend über die Schaufelräder am Heck.

Er hatte das getan, was Trump ihm vorgeworfen hatte, nicht wahr? Er hatte sie absichtlich vertrieben.

Warum? Weil er vor einem größeren Schmerz Angst hatte, wenn die Beziehung andauerte? Oder lag es wirklich daran, daß sie seine Besessenheit in bezug auf die Cheyenne haßte? Zum Teufel, er wußte es nicht.

Er dachte an ihre Augen und ihr Haar. An ihre Leidenschaft und ihre Zärtlichkeit. An ihren Esprit und ihren Idealismus, so voller Energie und von Zeit und Realität noch unbeschadet. Sie war auf ihre Art so wunderbar wie Augusta Barclay, die er ebenfalls von sich getrieben hatte. Er sah sich selbst das Muster wiederholen, versuchte dann seine Schuldgefühle durch Erinnerungen an Holzfuß, Boy und Fen auszulöschen.

Ich hab' recht, verdammt noch mal. Sie ist nicht realistisch. Wird es auch niemals sein.

Und doch spürte er, während er die fernen Sterne hoch über sich betrachtete, tief in seinem Inneren einen Kummer.



Hancock ließ das Dorf bewachen. Kurz nach neun Uhr ... wurde entdeckt, daß die Indianer das Dorf verließen . Cu-ster erhielt den Befehl, mit seinem Kommando - ungefähr sechshundert Männer der Siebten Kavallerie - das Dorf zu umzingeln, es aber weder zu betreten noch die Indianer anzugreifen. Das Umzingelungsmanöver wurde mit großer Geschwindigkeit durchgeführt; nähere Untersuchungen enthüllten..., daß Indianer das Dorf verlassen und sich Richtung Norden auf die Smoky Hills zurückgezogen hatten ... Custer erhielt den Befehl, sein Kommando auf den Aufbruch bei Tagesanbruch vorzubereiten, um die Indianer zu überholen und sie zur Rückkehr zu zwingen. Er führte dieses Manöver in größtem Tempo durch und erreichte Lookout Station auf Smoky Hill, als die Station noch brannte. Unter Aschehaufen entdeckte er dort die halb verbrannten Leichen der Stationsmänner. Er schickte sofort einen Boten zu Hancock ... Nach Erhalt dieser Nachricht bekam Smith von Hancock den Befehl, das Indianerdorf niederzubrennen .

Theodore davis: >Präriesommer<

Harper's Magazine, 1868

29

»Hundesohn«, sagte Ike Barnes im Hereinstürmen.

»Ich?« erkundigte sich Charles und ließ die Februarausgabe von >Harper's Monthly< in die Schreibtischschublade gleiten. Das Heft war in ganz Leavenworth wegen eines G.-W.-Nichols-Artikels über Hickok herumgegangen. Nichols hatte Hickoks Heldentaten aufgezählt, die er als Scout für General Sam Curtis im Südwesten, als Soldat der Union bei Wilson's Creek und Pea Ridge und als Revolverschütze, der seinesgleichen suchte, vollbracht hatte. Er berichtete, daß >Wild Bill<, wie er ihn nannte, mindestens zehn Männer erschossen hatte. Obwohl niemand zu wissen schien, woher Hickok seinen Spitznamen hatte, hegte Charles keinen Zweifel, daß nach diesem Artikel der Name bald in ganz Amerika bekannt sein würde.

»Nein, nicht du. Versuch bloß keine Witze zu machen«, sagte Barnes. »Der Hundesohn, den ich meine, ist dieser Hundesohn Hoffman. Wenn wir morgen nach Riley aufbrechen, dürfen wir unsere Wäscherinnen nicht mitnehmen.«

Das schreckte Floyd Hook aus seinem Dösen hoch; er kleidete sich stets äußerst penibel. »Warum zum Teufel nicht, Captain?«

»Weil Hoffman es so will, deshalb nicht. Die Frauen haben Befehl, den Posten nicht in den Wagen der C-Kompanie zu verlassen.«

Charles kratzte sich nachdenklich am Kinn. »Nun, wenn das ein Befehl ist, dann befolgen wir ihn auch. Bitten wir die Damen doch, daß sie vor dem Tor auf uns warten.«

Der Alte blinzelte. »Verdammt, Charlie, seit du aus St. Louis zurück bist, hast du dich aufgeführt wie ein tollwütiger Hund, aber jetzt bin ich froh, daß ich dich hier behalten habe.«

Charles verbrachte den Abend mit Brigadier Duncan und dem kleinen Gus. Er tobte mit seinem Sohn herum, der vor Vergnügen gurgelte; bevor er ins Bett ging, umarmte er seinen Vater lange.

Duncan erkundigte sich nach Willa. »Du hast sie kein einziges Mal erwähnt.«

»Ihr geht es gut. Ist mit einem neuen Kreuzzug beschäftigt.« Ohne weitere Erklärungen ließ er es dabei bewenden.

Der nächste Tag dämmerte herauf; der Himmel war klar und hell. Zweiundsiebzig Männer, drei Offiziere und zwei Frauen der C-Kompanie machten sich bereit, Fort Leavenworth zu verlassen. Grierson schüttelte jedem Offizier die Hand. »Ich bin stolz auf diese Kompanie und dieses Regiment. Ich möchte nur lange genug durchhalten, um euch Männer im Feld zu führen. Wenn ich bis zum Herbst nicht von Hoffman wegkomme, dann begehe ich selber Fahnenflucht.«

»Tun Sie das nicht, Sir«, sagte Hook. »Wir schicken Lieutenant August, damit er Hoffman für Sie erschießt. Er ist begierig darauf, jemanden zu erschießen. Irgend jemanden.«

Charles, so bösartig gelaunt wie ein hungriger Wolf, sagte nichts darauf.

Die Kompanie setzte sich in Bewegung. Charles stand neben Satan und tätschelte ihn, während er zusah, wie die Kavalleristen auf ihren Pferden in Viererreihen vorbeizogen. Sie hatten sich den Vortrag des Alten über Felduniformen zu Herzen genommen. Charles entdeckte eine Vielzahl von Hemden - verblaßte graue Baumwolle, gelber Kersey, grüne Seide. Er sah Kavalleriehosen, Jeans, indianische Leggings. Er sah Kappen, Pelzmützen, Strohhüte, sogar einen mexikanischen Sombrero. Und er sah viele neue Bowiemesser und Handfeuerwaffen.

Charles selbst trug bequeme, gelbschwarz gestreifte Hosen und ein weiches Hirschlederhemd. Sein blaues Armeezeug hatte er in seinen Reisekoffer gestopft, zusammen mit seinem Zigeunermantel und einem neuen, mit Schaffell besetzten Wintermantel.

Magic Magee ritt vorbei, auf dem Kopf eine schwarze Melone mit einer Truthahnfeder. Er sah Charles und salutierte flott. In dem Moment, in dem seine Hand die Stirn berührte, tauchte die Karodame zwischen seinem Zeigefinger und seinem Mittelfinger auf. Er schob die Karte unter seinen linken Arm, wo sie spurlos verschwand. Er ließ sein wunderbares Lächeln aufblitzen und ritt weiter.

Ein Reiter tauchte in dem aufgewirbelten Staub hinter dem Wagen auf, in dem Lovetta Barnes, Floyd Hooks verhärmte junge Frau Dolores und deren kleine Tochter saßen. Charles' Muskeln spannten sich, seine Hand glitt zu der Spencer im Sattelhalfter.

Waldo Krug hielt sein Pferd an. »Wo ist Barnes?«

»An der Spitze der Kolonne, Sir.«

»Nun, richten Sie ihm aus, daß ich seine Gaunerei durch schaut habe. General Hoffman wird das in die Regimentsakte eintragen.«

Charles tat unschuldig. »Gaunerei, Sir?«

»Reden Sie nicht in diesem gottverdammten falschen Ton mit mir. Sie wissen genau, daß die Wäscherinnen eindeutigen Befehl hatten, den Posten nicht zusammen mit der C-Kompanie zu verlassen.«

»Das haben sie auch nicht. Soviel ich weiß, verließen sie den Posten vor einer Stunde. Wollen Sie etwa sagen, die Armee hätte etwas dagegen, wenn wir sie höflicherweise mitnehmen, falls wir sie zufällig auf der Straße treffen sollten?«

»Den ganzen Weg bis zum verfluchten Fort Riley?« Krugs Wangen verfärbten sich. »Geben Sie mir eine Antwort, Sie Bastard.«

»Hören Sie, Krug. Ich bin Soldat, genau wie ...«

»Scheiße. Sie sind ein Verräter. Sie sind eine Schande für die Uniform, die Sie sich weigern zu tragen. Wenn Grierson Sie nicht verhätscheln würde, dann würde ich Sie deswegen zur Meldung bringen. Sie und diese Nigger. Schauen Sie doch hin -bunt zusammengewürfelt wie ein Haufen sizilianische Banditti.«

Charles schwang sich in den Sattel. »Auf Wiedersehen. General!«

In Leavenworth City lud die C-Kompanie die Wäscherinnen in einen Wagen. Jenseits der Stadt kamen sie durch einen Gürtel von Farmen, in deren fetter schwarzer Erde sich bereits grüne Schößlinge zeigten. Die weißgetünchten Häuser und Schuppen wirkten alt und dauerhaft, obwohl sie wahrscheinlich noch keine zehn Jahre alt waren.

Die Kompanie schwenkte von der Eisenbahn und der parallel laufenden Linie der Telegraphenpfosten ab. Wind kam auf und ließ die Äste der Bäume rauschen. Über sanfte, unter Tausenden von Sonnenblumen verborgene Hügel, durch glitzernde Bäche, an denen wilde Erdbeeren wuchsen, ritt die C-Kompanie durch ein Meer von Gras nach Westen.

Charles trug eine Reihe von Erinnerungen an Willa mit sich -und einen tiefen Schmerz. Er summte die kleine Melodie, die sie für ihn niedergeschrieben hatte. Er hatte die Noten sorgfältig in den Falten seines Zigeunermantels verpackt. An diesem Morgen stimmte ihn die Melodie unerklärlich traurig, also hörte er auf zu summen und ritt schweigend weiter.

Die belebende Luft und das sonnenhelle Land milderten nach und nach seine Melancholie. Mit Baritonstimme sang er eines der süßtraurigen Lieder, die er erstmals von der Sklavenkapelle gehört hatte, als er noch klein und sorglos gewesen war und nichts von der Welt und dem Leid, das in diesem Lied zum Ausdruck kam, verstanden hatte.

I'm rollin', I'm rollin',

I'm a-rollin' through this unfriendly world...

Hook trieb sein Pferd neben das seine.

»Wo hast du solche Trappersongs gelernt, Charlie?«

»Das ist kein Trappersong, das ist eine Hymne. Eine Sklavenhymne.«

»Du gibst ihr wirklich einen fröhlichen Schwung. Freut mich, daß du zur Abwechslung mal gut gelaunt bist.«

Charles lächelte und behielt seine Gedanken für sich.

Der Stiefel der Militärdiktatur zertritt unseren entkräfteten Staat. Ihre Bajonette zwingen uns das neue Evangelium der Lust und der Rassenvermischung auf. Zu uns kommen die blaugekleideten Missionare des Zorns, ausgestattet mit neuer, ungeheurer Macht, um Haß zu schüren und die Saat der Verdammung zu säen . Sie winken mit ihrer von Sünden befleckten Bibel und ihrer Verfassung, befleckt mit Verbrechen und politischen Schikanen, und predigen nur einen Sermon: Radikalismus ... Wir sollten lieber den Antichrist persönlich willkommen heißen als diese Sendboten der Hölle.

Leitartikel in The Ashley Thunderbolt Frühjahr 1867

MADELINES JOURNAL

April 1867. Der Kongreß hat das Ruder übernommen. Das Wiederaufbaugesetz vom vergangenen Monat verwandelte die zehn unbußfertigen Staaten in fünf Militärbezirke. Die beiden Carolinas bilden den zweiten Bezirk. Stanton ernennt die Militärgouverneure. Wir haben den alten, kränkelnden Gen. Sickles. Wir werden erst dann wieder Teil der Union sein, wenn es einen neuen Konvent schwarzer ebenso wie weißer Wähler gibt, eine neue Staatsregierung, die den Schwarzen das Stimmrecht sichert und die Anerkennung des 14. Verfassungszusatzes. Der >Thunderbolt< und selbst die besseren demokratischen Zeitungen klingen schrill, um nicht zu sagen gewalttätig, und weisen das alles zurück.

Solche Ereignisse scheinen vom Tagesablauf auf Mont Royal sehr weit entfernt zu sein. Im letzten Jahr haben zwei ordentliche Reisernten einen kleinen Gewinn eingebracht, den ich fast ausschließlich dazu verwendete, unsere Schulden bei Dawkins Bank zu senken. Die Bank zeigt sich jetzt absolut unnachgiebig, was verspätete Zahlungen anbelangt. So was wird nicht mehr geduldet.

... Yankee-Spekulanten fallen wie die biblischen Heuschrecken über uns her. Sie bringen Anleihen für den Bau von Eisenbahnlinien in Umlauf, die niemals erstellt werden, an Versteigerungstagen schnappen sie sich Land für 8 Cent, das einen Dollar wert ist, übernehmen bankrotte Geschäfte, von denen einst die Einheimischen lebten. Ein überraschender Brief von Cooper, sehr knapp und kurz, in dem er mich davor warnt, in derartige Unternehmungen zu investieren, da es sich seiner Meinung nach meist um Betrügereien handelt. In diesem Fall werde ich seinen Rat befolgen. Man kann einen ehrlichen Yankee nicht von einem Aasgeier unterscheiden.

... Heute teilte mir der ehemalige Sklave Steven mit, daß er mit seiner Frau und seinen drei Kindern gehen wird. Traurig; er ist ein zuverlässiger, ordentlicher Arbeiter. Doch der Auswanderungsagent, dessen Wagen vor Gettys Laden steht, hat ihn mit seinen Versprechungen abgeworben: garantierte 12 Dollar pro Monat, eine Hütte, Garten und eine wöchentliche Ration von einem Viertelscheffel Mehl, zwei Pfund Speck, einem Topf Melasse und Brennholz - all das bekommt er irgendwo in Florida. Diese Werber für die Emigration in andere Staaten sind unsere zweite Plage.

... Der Jolly-Klan, die Siedler, sind geblieben. Gelegentlich hören wir von einem Maultier, einer Ladung Maismehl oder einer Frau, die sich >Captain< Jack und seine einfältigen Brüder mit der Waffe in der Hand genommen haben. Sie diskriminieren niemanden. Sie suchen sich ihre Opfer unter beiden Rassen. Sie versetzen mich in Angst und Schrecken, vor allem der Alteste, der damit prahlt, beim Massaker in Ft. Pillow, Tenn., Nigger bloß so zum Vergnügen nie-dergemetzelt< zu haben.

Prudence sprach gestern abend davon, wie unglücklich sie über den Zustand der Schule sei...

»Madeline, ich habe jetzt vierzehn Schüler, die mit dem Alphabet und dem Elementarbuch arbeiten; zwei könnten fast schon zum Lesebuch übergehen, und Pride hat es bis zur zweiten arithmetischen Serie geschafft. Ich würde gern ein Geographiebuch für ihn kaufen und für die anderen Schiefertafeln. Wir haben gerade drei Tafeln für alle, das reicht nicht einmal annähernd.«

Den Kopf gesenkt, so spazierte Madeline nachdenklich mit der Lehrerin am Ufer des Ashley entlang. Es war ein Frühlingsabend, dunstig, voll von den schrillen Schreien der Nachtvögel. Für gewöhnlich beruhigte sie der Anblick des Wassers mit dem dichten Wald dahinter. Am heutigen Abend jedoch war es anders.

»Ich kann dir nur die Antwort geben, die du bereits kennst«, sagte sie. »Es ist kein Geld da.«

Ausnahmsweise schien die rundliche Lehrerin für einmal ihre christliche Geduld zu verlieren. »Dein Freund George Hazard hat genug davon.«

Madeline stoppte und sagte scharf: »Prudence, ich habe doch klar zum Ausdruck gebracht, daß ich Orrys besten Freund nicht anbetteln werde. Wenn wir es nicht schaffen, durch unsere eigene Initiative und unseren Einfallsreichtum zu überleben, dann haben wir es nicht besser verdient.«

»Das klingt zwar edel, aber es hilft sehr wenig, jemandem ein bißchen Bildung zu ermöglichen.«

»Es tut mir leid, daß du dich darüber ärgerst. Vielleicht bin ich im Unrecht, aber das ist nun mal meine Ansicht. Ich werde tun, was möglich ist, sobald wir die erste Reisernte verkauft haben.«

»Ich kann nichts Unrechtes darin sehen, wenn man eine kleine Spende von einem sehr reichen Mann verlangt.«

»Nein«, sagte Madeline; gleichzeitig fragte sie sich voller Bitterkeit, wie sie je ihren Traum von einem neuen Mont Royal wahrmachen sollte, wenn sie nicht einmal ein paar notwendige Kleinigkeiten für die Schule kaufen konnte. »Wir werden einen anderen Weg finden, das verspreche ich dir.«

Prudence warf Madeline einen traurigen Blick zu. Schweigend kehrten die Frauen zu dem weißgetünchten Haus zurück. Es dauerte eine Stunde, ehe sie wieder miteinander sprachen. Madeline fing zuerst an, doch auch Prudence schien nur darauf gewartet zu haben. Doch trotz ihrer Aussprache fühlte Madeline die Hohlheit und Leere ihres Versprechens, als sie schlaflos vor Sorgen im Bett lag.

Wer hofft entgegen aller Hoffnung. Prudence mochte trotz allem noch so ein Mensch sein. Sie nicht.

30

An einem regnerischen Samstag des gleichen Monats brachte eine Pferdedroschke Virgilia zu einem kleinen Backsteinhaus in der South B Street, hinter dem Kapitol. Sie wirkte matronenhaft und düster im Gegensatz zu den blühenden Farben im Vorgarten.

Virgilias Gesicht war verhärmt. Sie läutete und umarmte Lydia Smith, die Haushälterin, sehr herzlich. Sie folgte Lydia ins Wohnzimmer, wo ihr Freund vor einem silbernen Teegeschirr wartete.

»Thad!« Der Atem stockte ihr. Er sah weiß aus und viel älter als bei ihrer letzten Begegnung, die bereits einige Monate zurücklag. Mit großer Mühe erhob er sich aus seinem Sessel.

Lydia schob die Vorhänge zurück, um mehr von dem grauen Licht hereinzulassen, aber das ließ Stevens auch nicht besser aussehen. Die Haushälterin entschuldigte sich. Stevens setzte sich wieder. Durch das Prasseln des Regens hindurch hörte Vir-gilia seinen mühsamen Atem.

»Tut mir leid, daß es so lange gedauert hat, bis ich deiner Einladung nachkommen konnte«, sagte sie. »Für gewöhnlich arbeite ich jeden Samstag. Heute kam Miss Tivertons Neffe aus Baltimore zu Besuch. Er gab mir den Nachmittag frei.«

»Wie geht es der alten Dame? Du leistest ihr nun schon Gesellschaft seit - wie lange schon?«

»Zehn Monate.« Virgilia gab Sahne in ihren heißen Tee. »Nächsten Dienstag feiert sie ihren neunzigsten Geburtstag.

Physisch ist sie ungemein belastbar. Aber ihr Geist ...« Ein Schulterzucken sagte alles.

»Was machst du mit ihr?«

»Meistens sitze ich bei ihr. Sorge dafür, daß alles ordentlich ist. Mache sie sauber, wenn es sein muß.« Als Antwort auf Stevens Grimasse sagte sie: »So schlimm ist es auch wieder nicht. In dem Feldhospital während des Krieges war es schlimmer.«

»Du nimmst es ziemlich gelassen hin. Und jetzt sag mir, wie dir wirklich zumute ist.«

Ein müder Seufzer. »Ich hasse es. Die Monotonie ist entsetzlich. Im Schwesterncorps hatte ich mich daran gewöhnt, den Leuten dabei zu helfen, wieder gesund zu werden, aber Miss Ti-verton wird sich niemals mehr erholen. Ich bin nichts weiter als ein Leichenbestatter, aber ich kann wohl kaum wählerisch sein. Jobs für alleinstehende Frauen sind selten. Etwas anderes konnte ich nicht finden.«

»Vielleicht können wir dagegen was tun.« Er wollte noch etwas sagen, doch der silberne Teelöffel glitt ihm aus der Hand. Er bückte sich, um ihn aufzuheben, und griff sich plötzlich an den Rücken. Langsam richtete er sich auf. »Mein Gott, Virgilia, es ist die Hölle, wenn man alt wird.«

»Du siehst nicht gut aus, Thad.«

»Das Klima in dieser Stadt verschlimmert mein Asthma. Das Atmen bereitet mir Probleme, und die meiste Zeit habe ich Kopfschmerzen. Ein Teil der Kopfschmerzen rührt zweifelsohne von dem Kampf mit diesem Narren im Weißen Haus her.« Virgilia verfolgte diesen Kampf im >Star<, kam sich allerdings in Miss Tivertons weiträumigem, verlassenem Haus draußen in Georgetown sehr fern von alledem vor.

Der Kongreßabgeordnete lehnte sich ihr entgegen, seine Perücke wie üblich leicht verrutscht, und sie begannen die letzten Ereignisse zu diskutieren. Sie äußerte sich verächtlich über Minister Sewards Sieben-Millionen-Dollar-Narretei, den Ankauf des wertlosen, eisigen Territoriums Alaska von Rußland. Stevens konnte Gerüchte weder bestätigen noch leugnen, daß Jef-ferson Davis nach Zahlung einer gewaltigen Kaution bald schon aus Fort Monroe entlassen würde, um auf seine Gerichtsverhandlung zu warten.

»Unser dringendstes Problem bleibt der Süden«, sagte Stevens. »Diese verfluchten Aristokraten in den Dixie-Legislativen weigern sich, die Staatskonvente einzuberufen, wie es von dem Wiederaufbaugesetz gefordert wird. Wir haben ein zweites Ergänzungsgesetz durchgebracht, das es den Militärkommandanten der Bezirke erlaubt, geeignete Mittel zur Registrierung der Wähler einzusetzen, damit wir mit der Sache vorankommen. Bei jedem Schritt versucht uns Johnson zu hindern und zu hemmen. Er versteht einfach den Kernpunkt nicht.«

»Der ist?«

»Gleichberechtigung. Gleichberechtigung! Jeder Mann hat das gleiche Recht, und das Gesetz sollte ihm diese Rechte zusichern. Das gleiche Recht, das einen Afrikaner verurteilt oder freispricht, sollte einen weißen Mann verurteilen oder freisprechen. Das ist das Gesetz Gottes, und es sollte auch das Gesetz dieses Landes sein, doch diese Südstaatler ersticken an der Vorstellung, und Johnson lehnt es ab. Dabei müßte er auf unserer Seite stehen! Ich sage dir, Virgilia«, er hatte sich in eine derartige Erregung gesteigert, daß er Tee aus seiner Tasse verschüttete, »dieser Mann treibt mich noch zur Verzweiflung. Er betreibt eine Obstruktionspolitik, die schon ans Kriminelle grenzt. Dagegen gibt es nur ein Heilmittel.«

»Und was ist das?«

»Wir müssen ihn loswerden.«

Ihre dunklen Augen weiteten sich in der verwaschenen Dämmerung. »Du meinst, er soll unter Anklage gestellt werden?«

»Ja.«

»Mit welcher Beschuldigung?«

Endlich tauchte auf dem alten Falkengesicht ein Lächeln auf. »Oh, da finden wir schon was. Ben Butler und einige andere sind auf der Suche danach. Und das keinen Moment zu früh. Andrew Johnson ist der gefährlichste Präsident in der Geschichte dieser Republik.«

Gefährlich oder lediglich zu halsstarrig, um dem Kongreß die Macht zu überlassen? Virgilia stellte ihrem Freund diese Frage nicht. Sie stellte fest, daß sie die ganze Angelegenheit überraschenderweise kaum berührte.

»Alle wichtigen Senatoren sind für eine Anklage«, fuhr Stevens fort. »Sam Stout ist einverstanden.«

Der Satz versickerte. Er wartete ab. Ruhig sagte sie: »Ich weiß es nicht. Ich sehe ihn nicht mehr.«

»Das hörte ich.« Eine weitere Pause. »Sam glaubt, daß seine Wählerbasis nun gesichert ist. Folglich hat er die Absicht geäußert, sich von Emily scheiden zu lassen und irgend so ein Tanzhallenflittchen zu heiraten.«

»Mit Nachnamen heißt sie Canary.« Es klang wie eine beiläufige Konversation. Doch ihre Hände zitterten; die Neuigkeit hatte sie wie ein Schlag getroffen. »Ich wünsche ihm alles Gute.« Sie wünschte ihn zur Hölle.

Stevens musterte sie. »Mit deiner gegenwärtigen Situation bist du ganz und gar nicht zufrieden, was?«

»Nein. Ich bin nicht mehr die Kreuzritterin, die ich vor zehn Jahren war, aber wie ich schon sagte, ich komme mir mit der Pflege einer alten Frau, die nie mehr gesund werden wird, sehr isoliert und nutzlos vor.«

»Hast du Kontakt zu deiner Familie?«

Virgilia wich seinem Blick aus. »Nein. Ich fürchte, sie - würden das nicht begrüßen.« Spät nachts sehnte sie sich manchmal so sehr danach, daß ihr die Tränen kamen.

»Nun, meine Liebe, ich bat dich nicht nur zu mir, um dich zu sehen, sondern um auch einen eventuellen Stellungswechsel mit dir zu besprechen. Eine Position, die dir vielleicht befriedigender erscheint, weil du damit den unschuldigsten Opfern dieser verdammten Rebellen helfen würdest. Kindern.«

Zum zweitenmal verblüffte er sie. »Was für Kinder meinst du?«

»Ich zeige es dir. Bist du morgen beschäftigt?«

»Nein. Die Sonntage habe ich für mich.« Ein melancholisches Lächeln. »Für gewöhnlich habe ich nichts zu tun.«

»Kannst du dich um zwei bereithalten? Gut. Mein Fahrer und ich werden dich in Georgetown abholen.«

Am Ende eines von Fahrspuren zerfurchten Weges abseits der Tenth Street im heruntergekommenen Negro-Hill-Bezirk hielten Stevens und Virgilia vor einem weißen, gepflegt wirkenden Haus. Auf der einen Seite waren zwei oder drei große Räume offenbar erst kurz zuvor angebaut worden, noch waren nicht alle Wände gestrichen.

Nachdem die Kutsche angehalten hatte, öffnete Stevens nicht gleich die Tür. »Was du da vor dir siehst, ist ein Waisenhaus für heimatlose Negerkinder. Die Kinder erhalten Unterkunft und Grundunterricht, bis sie bei Adoptiveltern untergebracht werden können. Ein Mann namens Scipio Brown hat das Waisenhaus gegründet. Er leitete es persönlich, bis er sich einem farbigen Regiment anschloß. Nach seiner Entlassung kehrte er zurück und fand mehr Waisenkinder denn je vor, hauptsächlich die Kinder von nach Norden geflohenen Sklaven, die irgendwie von ihren Eltern getrennt worden waren. Im letzten Monat heiratete Browns Assistentin, ein weißes Mädchen, verantwortlich für den Unterricht der Kinder, und zog in den Westen.« Er brach ab. Die ganze Zeit schon hatte sie etwas sagen wollen.

»Thad, ich kenne Scipio Brown.«

»Tatsächlich! Ich zog die Möglichkeit in Betracht, aber ...«

Sie nickte. »Ich bin ihm während des Krieges auf Belvedere begegnet. Mein Bruder George hatte dort mit seiner Frau einen Ableger von Browns Waisenhaus eingerichtet. Sie nahmen alle Kinder auf, die er hier in Washington nicht mehr unterbringen konnte.«

»Dann bist du ja mit seiner Arbeit bestens vertraut. Gut. Bist du an der Stelle interessiert?«

»Vielleicht.«

»Nicht gerade eine begeisterte Antwort.«

»Tut mir leid. Es ist eine ehrliche Antwort.« Wie sollte sie ihm erklären, daß sie kaum noch Begeisterung für irgendwas aufbrachte, nachdem Stout sie verlassen und sie sich ihrer Familie entfremdet hatte?

Er öffnete die Tür der Kutsche. »Nun, ein kurzer Besuch kann ja nicht schaden.«

Auf seinen Stock gestützt, führte er sie langsam ins Innere des Hauses. Er stellte sie den Dentons vor, einem schwarzen Paar in mittleren Jahren, die im Waisenhaus wohnten und für die gegenwärtig zweiundzwanzig Kinder kochten und putzten.

Sieben der Jungen, eine lärmende, fröhliche Bande, waren Heranwachsende. Die anderen waren noch Kinder. Stevens kannte jeden mit Namen. »Hallo, Micah. Hallo, Mary Todd -Liberty - Jenny - Joseph.«

Er gluckste und machte viel Aufhebens um sie, berührte Hände, küßte Wangen, umarmte sie, als handle es sich um seine Enkel. Wieder einmal wurde Virgilia klar, daß Stevens nicht zu jenen Radikalen gehörte, die Gleichheit nur aus politischen Gründen forderten.

»Und hier haben wir einen gutaussehenden Freund von mir.« Stevens mit seinem Klumpfuß drehte sich ungeschickt und hob lachend einen hellbraunen, sechsjährigen Jungen hoch. Der Junge trug ein sauberes, geflicktes Hemd und einen Overall.

»Das ist Tad.« Stevens herzte und küßte den Jungen. »Tad, das ist meine Freundin, Miss Hazard. Gibst du ihr die Hand?«

Feierlich, aber durchaus vor der fremden Frau auf der Hut, streckte Tad die Hand aus. Virgilia spürte, wie ihr unerwartet Tränen in die Augen stiegen.

»Wie geht es Ihnen, Miss Hazard?« sagte Tad sehr korrekt.

»Ich ...« Lieber Gott, sie brachte keinen Ton mehr heraus. Die Ähnlichkeit war nicht überwältigend, aber groß genug, um einen tiefen Schmerz in ihr auszulösen. Er hätte das Kind von Grady, ihrem ermordeten Geliebten, sein können. Es kostete sie gewaltige Anstrengung, ihren Schock zu verbergen und zu sagen: »Mir geht es gut, danke. Dir hoffentlich auch.«

Der Junge grinste und nickte. Stevens tätschelte ihn erneut und setzte ihn wieder ab. Er flitzte davon. Der Kongreßabgeordnete schnüffelte in Richtung Küche, aus der ein angenehmer Duft drang. »Was steht da auf dem Herd, Mrs. Denton?«

»Gumbo zum Abendessen.«

Die Haustür ging auf. Ein großer, bernsteinfarbener Mann trat ein und schüttelte die Regentropfen von seinem Hut. Er hatte breite Schultern wie ein Stauer und eine Mädchentaille. Virgilia schätzte, daß er jetzt so um die Fünfunddreißig sein mußte. Ohne zu zögern, reichte er ihr die Hand.

»Wie geht es Ihnen? Es freut mich sehr, Sie wiederzusehen.«

»Mr. Brown.« Sie lächelte in der Erinnerung daran, daß sein gutes Aussehen sie schon damals angezogen hatte. Nun wirkte er erwachsener und bezauberte sie mit lässiger Herzlichkeit: »Ich bedaure, daß wir uns nur einmal in Lehigh Station getroffen haben. Danach habe ich oft von Ihnen gehört.«

»Nichts Erfreuliches, vermute ich.«

»Oh, das möchte ich nicht behaupten.« Er lächelte sie an. »Der Kongreßabgeordnete sagte mir, Sie seien vielleicht daran interessiert, beim Unterricht dieser Kinder zu helfen.«

»Nun ...«

»Ist das Gumbo, Mrs. Denton? Ich habe mein Mittagessen versäumt. Leisten Sie mir Gesellschaft, Miss Hazard? Thad?«

»Draußen ist es feucht, und Gumbo wärmt mich immer auf«, sagte Stevens. »Ich nehme ein paar Bissen. Und du, Virgilia?«

Sie wußte nicht, wie sie ablehnen sollte, und stellte fest, daß sie es auch gar nicht wollte. Sie setzten sich, die Schüsseln mit der schmackhaften Suppe vor sich. Während sie mit Brown und Stevens plauderte, irrte ihr Blick häufig zu dem kleinen, fröhlichen Jungen ab, der sie so an Grady erinnerte. Der Anblick seines unschuldigen Gesichts, noch unberührt von den Grausamkeiten, die seine Hautfarbe provozieren würde, brachte sie erneut an den Rand der Tränen. Und dann kam ihr ein plötzlicher, verblüffender Gedanke. Sam war für sie verloren. Selbst zu Beginn ihrer Affäre hatte sie gewußt, daß sie ihn nicht ewig würde halten können. Vielleicht war es an der Zeit, die Verbitterung und den Kummer abzulegen. Vielleicht war es an der Zeit, sich um jemanden zu kümmern, der von ihrer Liebe profitieren würde.

Wie eine plötzliche Erscheinung sah sie auf einmal den toten Soldaten im Feldhospital vor sich. Sie starrte ihre Hände an. Andere konnten das Blut daran nicht sehen, aber sie schon. Dieses Blut würde sich nie abwaschen lassen. Aber sie konnte anfangen zu sühnen.

Stevens löffelte die letzten Reste seiner Suppe und meinte, er habe am Spätnachmittag ein Treffen mit den Angehörigen des Komitees der Fünfzehn. Scipio Brown drängte Virgilia nicht zu einer Antwort, zeigte jedoch deutlich, daß er sehr daran interessiert wäre, sie bei sich im Waisenhaus zu haben. Zum Abschied schüttelte er ihr kräftig die Hand. Er hatte eine direkte Art, in seinen Augen und seinem ganzen Auftreten lag Stolz. Sie mochte ihn.

In der auf die Stadtmitte zuschwankenden Kutsche legte Stevens beide Hände auf den Knauf seines Stockes. Sie dachte dabei an einen Löwen. Ein alter Löwe, aber immer noch von seinem Instinkt getrieben.

»Ich verliebe mich jedesmal neu, wenn ich diese Waisenkinder besuche, Virgilia.«

»Das kann ich verstehen. Sie sind sehr anziehend.«

»Und was hältst du von der Sache?«

»Viel, Thad. Sehr viel.«

Der alte Mann drückte ihre Hand. »Du wärst gut für sie. Ich glaube, sie wären auch gut für dich. Ich weiß, was du für Sam empfunden hast. Aber er gehört der Vergangenheit an, denke ich.«

Endlich kamen ihr die Tränen; Virgilia konnte nur nicken und sich abwenden.

An diesem Abend sagte sie in Georgetown Miss Tivertons Neffen höflich, aber bestimmt Bescheid, daß sie ihre Stelle aufgeben würde.

31

Wie eine Königin, die aus ihrem Palast auftaucht, trat Ashton in den Junisonnenschein hinaus. Das Gebäude, das sie eben verlassen hatte, war allerdings kein Palast, sondern ein Gasthaus in der Jackson Street, direkt am Rande von Chicagos übelster Gegend, einem Gewirr von Hütten und Schuppen, Conley's Patch genannt. Seit Monaten saß Ashton nun schon in einem großen, dreckigen Einzelzimmer fest, zusammen mit Will Fenway und seinen Bergen von Konstruktionszeichnungen, Kostenkalkulationen, Lieferungsangeboten, Darlehensverträgen. Sie haßte es.

Noch mehr haßte sie die Anonymität, die Will ihr verordnet hatte, seit sie Santa Fe verlassen hatten. Sie wollte ein gemeinsames Foto machen lassen; er lehnte ab. Von ihr dürften überhaupt keine Bilder mehr gemacht werden, meinte er. Hatte ihr nicht die Senora in Santa Fe die Behörden wegen des Mordes an ihrem Schwager auf den Hals gehetzt? Wann immer Will das erwähnte, trat ein merkwürdiges Glitzern in seine wäßrigen blauen Augen; ein Ausdruck, den Ashton nicht verstand.

An diesem Morgen, während sie sich von dem angenehmen Sonnenschein wärmen ließ, ähnelte sie, wenn schon nicht einer Königin, so doch einer Frau von bester Herkunft. Ihr Kleid und der dazu passende Hut waren aus leuchtend roter Seide; allein in dem keilförmig zugeschnittenen Rock steckten zwölf Meter Stoff. Eine aus sechs sprungfederähnlichen Drähten geformte Tournüre hob ihren Rock hinten provokativ an. Diese Tournüre war die neue Mode. Es war die reinste Tortur, das Ding an- und auszuziehen, aber ihr gefiel die Art und Weise, wie dadurch ihr Sex-Appeal betont wurde.

Unglücklicherweise geschah das am Rande von Conley's Patch am falschen Ort. Ein heruntergekommener, triefäugiger Arbeiter kam auf sie zugeschwankt.

»Hallo, Süße.« Stinkend wie eine ganze Kneipe, blockierte er den Gehsteig. »Deinem Kleid nach bist du im Dienst, schätze ich. Wieviel?«

Ashton preßte die Lippen zusammen. Mit ihrer zierlichen Hand im roten Handschuh schlug sie ihm den roten Sonnenschirm kräftig ins Gesicht. Dann hielt sie ihm die andere Hand unter die Nase. Unter dem Handschuh zeichneten sich die Umrisse eines mächtigen Diamanteherings ab.

»Du dreckiger, ungebildeter Kerl. Ich bin eine anständige verheiratete Frau.«

»Für mich schaust du wie eine Hure aus.« Er griff nach ihr.

Ashton stieß ihm die Schirmspitze hart zwischen die Beine. Seine Augen schielten ganz fürchterlich, als er zurücktaumelte, mit beiden Händen seine untere Partie umklammernd. Zwei besser gekleidete Gentlemen traten zwischen das heruntergekommene Wrack und Ashton.

»Ich danke Ihnen«, sagte sie mit ihrer lieblichsten Stimme. Sie tippten an ihre Melonen, während sie den Betrunkenen festhielten. Ashton rauschte weiter, auf die Van-Buren-Street-Brücke zu. Sie war bereits zu spät, und an diesem wichtigen, um nicht zu sagen schicksalsträchtigen Tag wollte sie auf keinen Fall zu spät kommen.

Im Weitereilen dachte sie über die ungeschickte Attacke nach. Zumindest war das ein Beweis dafür, daß sie mit einunddreißig noch nichts von ihrem guten Aussehen eingebüßt hatte. Vielleicht sah sie jetzt sogar noch besser aus als früher. Das war allerdings auch das einzige, was sich verbessert hatte. Sie haßte das Leben ohne einen Penny, das zu führen sie gezwungen war. Oft konnte sie es kaum glauben, wie weit sie und der griesgrämige, knickerige alte Mann als Partner herumgekommen waren. Von Santa Fe nach San Francisco, dann Virginia City und schließlich Chicago.

So viele Pläne, so viele Kämpfe. Und ihre ganze Zukunft hing von diesen Pianozeichnungen ab, die Will angefertigt hatte, wieder und wieder, unzählige Male, manchmal bis drei oder vier Uhr morgens; er wertete seine eigenen Erfahrungen aus und suchte in obskuren deutschen und französischen Büchern nach Produktionsdiagrammen und nach Möglichkeiten, hier oder dort einen Dime einzusparen.

Heute strebte alles dem Höhepunkt entgegen. Alles; das Geld, das sie von Virginia City mitgebracht hatten, knapp über hunderttausend Dollar in einer Packtasche. Die beiden Darlehen, die sie ausgehandelt hatten, um die Miete und die Löhne von Wills vier Arbeitern und dem Verkäufer zu zahlen, den er von Hochstein abgeworben hatte. Um eines der Darlehen zu bekommen, hatte Ashton eine Nacht mit dem Bankier verbringen müssen, einem fürchterlichen Mann mit einem Schweinebauch, der stundenlang auf ihr lag, ohne was zustande zu bringen.

Nachdem er sich fünfzehn Minuten lang bemüht hatte, war sie zu dem Entschluß gelangt, daß sie keinen Hosenknopf des Bankiers für ihre Schatulle wünschte. Den größten Teil der Nacht lag sie da und starrte an seinem Kopf vorbei in die Dunkelheit. Sie sah sich herrlich gekleidet, reich und mächtig, dank Wills Erfolg. Sie sah sich nach Mont Royal zurückkehren, sie sah eine Reihe von Konfrontationen mit der arroganten Madeline - jede dieser Phantasien war so gestaltet, daß sie Madeline verletzte und von dem Familienbesitz trieb, der rechtmäßig ihr, Ashton, gehörte.

Oh, sie hatte eine Menge für Will Fenway und ihre gemeinsamen Pläne getan; daß sie von dem fetten, schwitzenden Bankier fast zu Tode gequetscht wurde, war nur ein Teil davon. Zuerst hatte sie einen Notar in San Francisco verführt. Er war gar nicht so übel, zwar reichlich hausbacken, aber potent. Sie brauchte lediglich eine Woche, um ihm eine gefälschte Heiratsurkunde zu entlocken, die besagte, daß sie Mr. Lamar Powell am 1. Februar 1864 geheiratet hatte.

Obwohl sie aus reiner Bequemlichkeit den Namen Mrs. Willard P. Fenway angenommen hatte, war sie in Wirklichkeit mit einem Mann verheiratet, der ihres Wissens nach immer noch in Virginia City, Nevada, lebte. Ezra Leaming war ein rotgesichti-ger weißhaariger Witwer mit traurigen Augen ohne Familie. Er war schüchtern und ein Tölpel, was Frauen anbelangte. Ashton mußte ein scheinbar zufälliges Zusammentreffen arrangieren -eine kleine Ohnmacht auf der Straße - und so tun, als wäre sie selbst sehr schüchtern und wegen des Todes von Mr. Powell bitterer Armut preisgegeben. Ihr blieb es überlassen, dafür zu sorgen, daß er ihr den Hof machte; sie füllte Mr. Leaming mit einer ganzen Flasche Mumm's ab und brachte ihn so dazu, ihr einen Heiratsantrag zu machen.

Im Bett erwies sich Leaming als recht lebhafter Ehemann. Wesentlich lebhafter als der gute alte Will, der es nur einmal in San Francisco probiert und nach einer halben Stunde geseufzt hatte: »Das reicht. Ich schlafe gern mit dir, um mich zu wärmen, wenn du nichts dagegen hast, aber für das andere, schätze ich, bin ich zu alt. Bleiben wir Partner. Was meinst du dazu?«

Ezra Leaming stahl sie einen Hosenknopf. Während der acht Monate ihrer Ehe genoß er ihre Vorzüge in reichem Maße. Er war der Chef des örtlichen Schürfbüros; natürlich war er nur zu glücklich, seiner lieben Frau dabei behilflich zu sein, ihren eindeutigen Besitzanspruch auf die Mexikanische Mine, Eigentum ihres verstorbenen Mannes, durchzusetzen. Schließlich konnte sie ihre Heiratsurkunde vorweisen, nicht wahr?

Ashton heuerte Männer an, um die Mine wiederaufzumachen, die anfangs auch sehr vielversprechend aussah. Aus dem silberhaltigen Erz ließen sich 103.000 Dollar herausholen, bevor die Ader erschöpft war. Still und heimlich hob sie das Geld von ihrem Bankkonto ab, und spät nachts, als Ezra Leaming schnarchte, setzte sie sich mit Will Fenway, der sich während der Zeit in einem billigen Zimmer aufgehalten und ungeduldig Pianos gezeichnet hatte, in die nächste Kutsche.

O ja, der Weg nach Chicago hatte durch ein wahres Labyrinth geführt. Mit vielen Verwirrungen und Irritationen. Sie gab sich als Mrs. Fenway aus, war aber immer noch Mrs. Leaming. Als Will am Tag nach ihrer Ankunft in der Stadt sagte, sie dürfe nicht zum Fotografen, warf sie einen Schuh nach ihm. Um ihm eins auszuwischen, marschierte sie am nächsten Tag zu Field, Leitner und Co., einem vornehmen Bekleidungsgeschäft in der State Street. Dort kaufte sie mit Geld von ihrem Bankkonto -Geld, das für die Pianofirma reserviert war - die scharlachroten Sachen, einschließlich der Tournüre.

Will war wütend. Er beschimpfte sie, wie sie ihn nie zuvor hatte schimpfen hören. Ashton erkannte, daß sie einem Mann begegnet war, dessen Stärke der ihren gleichkam. All die Sorgen und die Nachtarbeit hatten ihn alt und müde werden lassen, aber weder ihre Schönheit noch ihr hoheitsvolles Benehmen schüchterten ihn ein; auch daß sie auf seine Flüche mit Schreien reagierte und sagte, sie werde ihn verlasen, brachte ihr nichts ein.

Er schlug sie. Nur einmal, aber so fest, daß sie auf das zerwühlte Bett taumelte. Dann zeigte er ihr seine Faust. »Du machst weiter. Ich habe meine ganze Seele und dein ganzes Geld in diesen Plan gesteckt. Wenn dir all das egal ist, wenn du nicht mehr in dem Stil nach South Carolina zurück willst, von dem du immer gesprochen hast, dann geh einfach zur Tür raus. Ich behalte all das Geld, das wir verdienen, und dann suche ich mir eine andere Frau.«

Ashton stand wie vom Donner gerührt da. Sie bat und bettelte, weinte und erniedrigte sich, bis er sie wieder als Partnerin aufnahm. Seitdem hatte sie ihn weder verärgert noch herausgefordert.

Das war der Grund für ihre Eile, als sie von der Van Buren nach Westen auf die Holzbrücke über den Südarm des Chicago River abbog. Wenn Fremde sie aufdringlich anstarrten, dann warf sie nur verächtlich den Kopf zurück. Ihr Herz gehörte Will und dem, was er heute enthüllen würde.

Westlich des Flusses war Chicago fast schon ein Slum, mit seinen dicht gedrängten Kneipen, Holzlagerplätzen, Sägemühlen, den Bootsmolen am Wasser und den trostlosen, billigen Wohnungen der vielen Iren und Schweden und Böhmen. Hier in der Canal Street führte eine dunkle Treppe nach oben, vorbei an einem grob mit der Hand geschriebenen Schild, das auf fen-way's piano Company hinwies.

Atemlos hetzte sie nach oben auf den Speicher, wo sich Eisenrahmen türmten, Spulen unterschiedlich starken Klavierdrahtes, noch nicht zusammengebaute Gehäuse von Schoenbaum aus New Jersey, Tasten von Seaverns in Massachusetts. Mit Ausnahme des Gesamtentwurfs war nichts an dem Piano Will Fenways Eigenschöpfung.

»Will, verzeih mir.« Zerknirscht eilte sie auf ihn zu. Die vier jungen Männer in Lederschürzen und der stattliche Norvil Wat-less, der Verkäufer, lächelten und grüßten sie, als sie die Arme um Wills Nacken schlang und ihn küßte. »Auf der Brücke war so viel Verkehr. Ich mußte zehn Minuten warten, bis ich hinüber konnte.«

»Schon gut, ich habe gewartet«, sagte er nervös, während er mit den Fingern auf das unter einem Laken verborgene Objekt trommelte, das im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stand. »Schätze, wir sind alle da. Werfen wir mal einen Blick darauf.«

Sie bemerkte, wie seine Hand zitterte, als er das Tuch packte. Außerdem bemerkte sie die roten Ränder tief in seinen Augen; er brauchte eine Brille, wollte sich aber keine kaufen. Doch seine Schultern strafften sich, als er eine auf Wirkung bedachte Pause einlegte, ehe er das Laken wegriß.

Die Arbeiter klatschten. »Allmächtiger, was für eine Schönheit«, keuchte Norvil Watless. Selbst Ashton blieb der Atem weg.

Bei dem Piano handelte es sich um ein Klavier, das in Frankreich populär geworden war, da es sich gut in diese kleinen, im neuen Stil gehaltenen Pariser Wohnungen, appartements genannt, einfügte. Das Gehäuse bestand aus glänzendem, schwärzlichem Holz mit breiter, rostfarbener Maserung. In alter englischer Schrift tauchte über der Tastatur in einer Goldblattgirlande der Name Fenway auf.

»Das ist ein wunderbares Rosenholzgehäuse«, begann Watless.

»Brasilianische Jacaranda«, unterbrach ihn Will. »Ist billiger. Aber Sie können trotzdem Rosenholz dazu sagen.«

Er strich über die glatte Oberfläche; die Müdigkeit schien von ihm abzufallen, als er Ashton erklärte: »Für das Geld kann ich kein besseres bauen. Es hat einen vollen Eisenrahmen, kreuzsai-tige Skala.«

»Französische Mechanik«, rief Watless. Ashton hatte gelernt, daß eine in Paris hergestellte Klaviermechanik gleichbedeutend mit guter Qualität war.

»Nein. Ich habe die Mechanik in den Vereinigten Staaten gekauft«, sagte Will. »Doch im Verkaufsprospekt steht, es sei im französischen Stil gehalten, also sorgen Sie dafür, daß man glaubt, es komme aus Paris. Schließlich zählt unsere Kundschaft ja auch nicht gerade zu den ehrlichsten Leuten der Welt.«

Ashton wollte etwas sagen, was ihn freute. »Du kannst stolz sein, Will.«

»Ich kann stolz, aber auch bankrott sein, wenn sie sich nicht verkauft. Es ist übrigens eine Sie - ich habe dieses Modell >Ash-ton< getauft.«

Sie quietschte überrascht auf, fühlte sich dann aber tatsächlich gerührt. Wieder umarmte sie ihn und spürte, wie sein Körper ganz kurz müde und erschöpft gegen den ihren fiel. Er winkte. »Probieren Sie sie aus, Norvil.«

Der Verkäufer zog sich einen Hocker heran, spreizte seine Finger und schlug dann zögernd >Camptown Races< an.

»Lauter, Norvil«, sagte Will.

Norvil spielte lauter.

»Schneller.« Norvil steigerte das Tempo. Die Musik schien durch die geschlossene Front des Pianos mit einem leicht metallischen Klang zu dringen. Norvil wechselte zu >Marching Through Georgia< über. Man konnte praktisch die Hörner und die stampfenden Füße hören.

Einer der Arbeiter legte einen kleinen Tanz hin. »Verdammt, das ist 'n Klavier!«

»Richtig«, stimmte Will zu. »In einem Bordell schert man sich einen Dreck um süße, sanfte Töne. Man will Krach. Krach, Norvil!«

Gehorsam spielte Norvil einen Verdi-Chor. Entzückt klatschte Ashton mit ihren kleinen roten Handschuhen. Will warf ihr einen seltsamen, ernsten Seitenblick zu, dann sagte er: »Ich kann so viele bauen, wie Sie verkaufen können, Norvil, aber wenn Sie überhaupt keins verkaufen, dann können Sie mich im Armenhaus besuchen, vorausgesetzt, die Lieferanten haben mich nicht schon zuvor erschlagen. Nun, ich denke, wir machen jetzt besser die Flasche Whisky auf, was?«

Ashton hatte noch keine Feier erlebt, die mit weniger Begeisterung angekündigt worden wäre. Der Gedanke, was passieren würde, wenn das Ashton-Klavier ein Fehlschlag wurde, ließ auch sie ein bißchen ernst werden.

Nachdem Norvil und die Arbeiter die Flasche geleert hatten, gab Will ihnen den Rest des Tages frei und schloß den Speicher ab. Die leere Flasche warf er in eine Mülltonne. »Die Karten sind ausgeteilt, Ashton. Wir können genausogut unser letztes Geld für ein gutes Steak im Café an der Ecke ausgeben.«

Sie war einverstanden. Keiner von ihnen sprach viel, bis sie zwischen Farntöpfen in dichtem Zigarrenqualm unter ansonsten nur männlichen Gästen saßen, die ihr auffallendes Aussehen beglotzten.

Ihr roter Handschuh schloß sich um seine Hand. »Will, was hat dich in diese trübe Stimmung versetzt?«

Er wich ihrem Blick aus. »Das würde dich nicht interessieren.«

»Oh doch, das würde es.« Sie zog ein hübsches Schmollmünd-chen. »Doch!«

Der Blick seiner müden, rotgeränderten Augen richtete sich auf sie. »Ich habe dir das nie gesagt, weil ich nie sicher war, daß wir so weit kommen würden. Aber es frißt an mir, Ashton.«

»Was?« Ihr Schmollen wirkte jetzt erzwungen und nervös.

»Was?«

»Santa Fe.«

»Wie bitte?«

»Was mich beunruhigt, ist Santa Fe. Dieser Luis, den du erschossen hast, als es gar nicht mehr notwendig war.« Ärger rötete ihr Gesicht. Er packte ihr Handgelenk, und sie spürte die verborgene Kraft, die in diesem verfallenen alten Leib steckte. »Laß mich ausreden. Dieser Mann bereitet mir Alpträume. Ich bin weiß Gott keine Säule der Tugend. Und ich mag dich, ich mag dich wirklich. Ich mag deine Keckheit, dein Aussehen, deinen Mumm, deinen Ehrgeiz, den du nicht hinter einem Haufen schwülstiger Lügen versteckst. Aber da ist ein gewisser Zug in dir, den dein Daddy aus dir hätte herausprügeln sollen. Ein übler Zug. Der hat dich dazu gebracht, einen wehrlosen Mann zu erschießen. Ob nun die Fenway-Pianos eine Katastrophe oder ein umwerfender Erfolg werden, ganz egal ...« Die nächsten Worte kamen nach einigen schweren Atemzügen, als müßte er eine Last heben. »Ich habe beschlossen, wenn du je wieder etwas derart Gemeines tust, dann sind wir fertig miteinander. Nein, komm mir jetzt nicht mit Argumenten. Keine Entschuldigungen. Du hast ihn ermordet.« Seine Stimme war leise, damit niemand sie belauschen konnte. Aber in ihren Ohren klang sie wie ein tobender, kalter Januarsturm.

Er zog seine Hand weg. »Wenn du so etwas noch mal tust, sind wir fertig, kapiert?«

Ihre erste Reaktion war erneuter Zorn. Huntoon hatte einst etwas Ähnliches zu ihr gesagt, und sie hatte ihn verhöhnt und verspottet. Jetzt öffnete sie ihren feuchten roten Mund, um dasselbe mit Will zu tun - und konnte es nicht.

Sie schauderte. Hastig ging sie ihre Chancen durch, dann senkte sie den Kopf.

»Ich habe verstanden.«

Er lächelte. Ein erschöpftes Lächeln, aber ein Lächeln. Er tätschelte ihre Hand. »Gut. Jetzt fühle ich mich besser. Bestellen wir. Oder besser noch, lassen wir den ganzen verdammten Tag sausen und besaufen uns. Entweder es ist alles vorbei, oder es fängt erst an. Ich habe alles gegeben. Du ebenfalls.«

Ihre Blicke trafen sich in einem merkwürdigen, stillen Moment gegenseitigen Verstehens. Warum bewunderte sie diesen zerbrechlichen alten Mann? Weil er reinen Stahl in sich hatte? Weil er einen Befehl erteilen und dafür sorgen konnte, daß sie ihn befolgte? Zu ihrer eigenen Überraschung wurden ihre Augen feucht.

»Ja, das haben wir. Trinken wir wie die Könige, und dann gehen wir ins Bett.«

»Wahrscheinlich werde ich gleich einschlafen.«

»Das macht nichts. Ich halte dich warm.«

Das munterte ihn auf, und eine gewisse Heiterkeit kam bei ihm zum Vorschein, als er mit den Fingern nach dem Kellner schnippte. »Nun, warum nicht? Jetzt liegt alles bei Norvil. Bei Norvil und den Puffbesitzern dieser großartigen Vereinigten Staaten.«

32

Jemand berührte seinen Fuß.

Charles war sofort hellwach; er fegte seinen schwarzen Hut vom Gesicht, während seine rechte Hand zum Colt schnellte.

Der Revolver fuhr hoch. Dann erkannte er Corporal Magee, auf dessen dunkles Gesicht die durch die abgestorbenen Pappelblätter fallenden Sonnenstrahlen ein Muster malten.

Charles' Herz beruhigte sich wieder. »Anrufen, nicht anfassen, wenn ich schlafe. Sonst kriegst du womöglich eine Kugel verpaßt.«

»Tut mir leid, Sir. Wir haben Rauch gesichtet.«

Er deutete nach Südwesten, wo das Band des Smoky Hill River im Mittagslicht wie aus Zinn gegossen glänzte. Eine dünne, schwarze Säule stand am Himmel. Charles raffte sich hoch und machte sich auf die Suche nach seinem Spurenleser.

Er patrouillierte mit seinem Zehn-Mann-Trupp vor Fort Harker einen Fünfundzwanzig-Meilen-Streifen entlang der Postkutschenroute südlich und westlich des Militärpostens. Jetzt hatten die Soldaten unter den Bäumen am Fluß Schutz vor der Julihitze gesucht. Viel nützte es nicht. Das rote Tuch um Charles' Hals fühlte sich wie ein nasser Lappen an. Seine nackte Brust glänzte vor Schweiß.

Der Spurenleser war ein Kiowa namens Großer Arm, den der Alte Charles zugewiesen hatte. Er war ein gutaussehender Indianer und ein geschickter Reiter, aber stets mürrisch gestimmt. Barnes sagte, er stamme von einer Kiowa-Bande unten im nördlichen Texas, wo er vor einigen Jahren bei einer Büffeljagd einen unverzeihlichen Fehler begangen hatte. Er war ungeduldig geworden, war vor den anderen Jägern losgestürmt und hatte so die Herde in die Flucht geschlagen. Niemand hatte auch nur einen Büffel erlegt. Die Besitztümer von Großer Arm wurden zerbrochen, und er wurde ausgestoßen. Zwei Winter hielt er das durch, dann trat er voller Haß in den Dienst des weißen Mannes - in seinem Fall war es ein Haufen Schwarzer oder Büffelsoldaten, wie sie von den Prärieindianern genannt wurden, da das wollige Kraushaar der Schwarzen an ein Büffelfell erinnerte.

»Was hältst du davon?« sagte Charles zu Großer Arm in gereiztem Tonfall. Der Kiowa, der nur mit Charles oder dessen Männern redete, wenn es unumgänglich erschien, war ihm aus tiefstem Herzen zuwider.

Großer Arm antwortete mit einem für ihn typischen Achselzucken, dann zog er ein glänzendes Messingteleskop aus dem Gürtel. Er wollte es gerade öffnen, als Charles es ihm aus der Hand schlug.

»Wie oft muß ich dir das noch sagen? Dieses Ding leuchtet wie ein Spiegel. Was brennt da? Die nächste Postkutschenstation?«

Mürrisch schüttelte Großer Arm den Kopf. »Zu nah für Station, muß neue Farm sein. Nicht da letztes Mal, als ich Fluß ritt.«

Alarmiert brüllte Charles: »Wallis! Blase zum Aufsitzen!«

Nach Verbüßung seines Arrestes hatte Shem Wallis seinen Dienst wieder aufgenommen und ein gewisses Talent als Trompeter gezeigt. Jetzt blies er das Kommando in scharfen, drängenden Tönen. Die schwarzen Kavalleristen rappelten sich fluchend auf. Charles teilte zwei Mann als Wache für den Versorgungswagen ein und rannte zu seinem angepflockten Schecken.

Trotz der Hitze zündete er sich eine Zigarre an. Die Nerven. Schweiß lief ihm über Brust und Rücken, als er an der Spitze der acht Männer in Zweierreihe aus dem Schatten der Bäume trabte.

Das mit Rasenstücken gedeckte Haus stand noch. Der Rauch stammte vom Gerippe eines Farmwagens. Charles ließ seine Männer antreten, und sie näherten sich mit schußbereiten Gewehren und Revolvern. Die Krempe von Charles' schwarzem Hut warf einen scharfen, diagonalen Schatten über sein Gesicht.

Seine Blicke huschten hin und her. Plötzlich drang ihm ein übler Geruch in die Nase. »Was zum Teufel ist das?«

Großer Arm wußte offensichtlich Bescheid. »Schlimm«, sagte er.

Sie hielten am Rand des zertrampelten Hofes. Vom Pferderücken aus las Charles die Spuren in dem zertretenen Gras neben dem kleinen, verdorrenden Gemüsegarten des Siedlers. »Ich zähle acht Ponys, vielleicht eins mehr.« Großer Arm grunzte zustimmend.

»Woher weiß er das?« murmelte einer seiner Männer hinter ihm. Charles zog es vor, sie in ständiger Ehrfurcht vor seinen Präriekenntnissen zu halten; nie erzählte er davon, daß Holzfuß ihm alles beigebracht hatte und daß kaum ein Tag verging, an dem er nicht die eine oder andere Lektion verwenden konnte. Sie wußten nicht, daß es so einfach war. Wenn er sie richtig geformt hatte, dann würde er ihnen vielleicht einige Geheimnisse enthüllen und mit dem ernsthaften Unterricht beginnen. Doch noch war es nicht soweit.

Er ließ absitzen und schickte drei Zwei-Mann-Teams los, um den Boden in verschiedenen Richtungen abzusuchen. Er selbst führte Magee, Großer Arm und einen weiteren Kavalleristen um das quadratische Haus herum, das aus Lehmziegeln mit einem Grasdach bestand. Hohe Gräser wuchsen aus den Rasenstücken, ein Unkrautfeld gegen den hitzeflimmernden Himmel.

Der Gestank wurde schlimmer.

»Riecht wie gekochtes Fleisch«, sagte der Kavallerist.

Sie bogen um die hintere Hausecke und sahen vor sich auf dem Boden das, was von dem weißen Siedler übriggeblieben war.

»Gott, sie haben Feuer auf ihm gemacht.«

Magee, der sich so leicht von nichts beeindrucken ließ, zeigte Verblüffung. »Das letzte Feuer auf seiner Brust.« Der andere Soldat rannte ins hohe Gras und übergab sich.

Charles gab Magee einen Stoß. »Okay, gehen wir eine Schaufel holen.« Beide wollten sie so schnell wie möglich von der Leiche wegkommen. Vorne sah er, wie Großer Arm mit seinem Teleskop gegen die Tür des Hauses stieß. »Um Himmels willen, geh da nicht rein, bis wir uns davon überzeugt haben, daß es sicher .«

Er war noch mitten im Satz, als Großer Arm die Tür aufstieß und eintrat. Dröhnender Donner schleuderte ihn wieder heraus. Von Rauchschwaden umgeben, landete er auf seinem Rücken. Aus einem Loch in der Brust seines Hirschlederhemdes quoll es rot hervor.

Charles drückte sich seitlich neben der Tür gegen die Wand. »Wir sind Soldaten. Armee der Vereinigten Staaten. Nicht mehr schießen.«

Er lauschte. Schwerer Atem. Dann ein Wimmern. Ein Schatten strich neben ihm über den Boden. Ein kreisender Geier.

»Nicht schießen. Ich komme rein.«

Unter den Blicken der anderen atmete Charles tief durch und trat in den Türrahmen. »Soldaten«, sagte er laut und schob sich in die fast undurchdringliche Dunkelheit hinein.

In einer Ecke inmitten zerbrochener Möbel lag die Frau des Siedlers, ein Mädchen mit kastanienbraunem Haar. Kleiderfetzen lagen um sie verstreut herum. Sie versuchte ihre Nacktheit zu verbergen, während ihre rechte Hand zitternd eine Pistole umklammerte. Charles warf nur einen kurzen Blick auf ihre feuchten Schenkel, aber es reichte, um sie zu demütigen. Er mußte nicht fragen, was sie ihr angetan hatten.

Veilchenblaue Augen füllten sich mit Tränen. »Eulus hat mir die Pistole gegeben. Ich sollte die letzte Kugel für mich selber aufheben. Sie haben mir die Waffe weggenommen, bevor sie -bevor sie - ist mit Eulus alles in Ordnung?«

Charles wäre am liebsten im Boden versunken. »Nein.«

Eine Art wahnsinnigen Elends blitzte in den veilchenblauen Augen auf. Ihre freie Hand glitt über ihre Schenkel, als wollte sie die Schandflecken wegwischen. Er versuchte seine Gefühle unter Kontrolle zu bekommen und vernünftig zu denken.

»Hören Sie, es tut mir leid. Legen Sie sich hin, ich suche eine Decke für Sie. Dann holen wir unseren Wagen und bringen Sie - nicht!«

Er stürzte sich auf sie, aber zu spät. Seine ausgestreckte Hand fuhr einen Meter von ihr entfernt durch die Luft, als sie auf den Abzug der Pistole drückte, die sie sich in den Mund geschoben hatte.

Magic Magee berührte den Körper von Großer Arm mit seinem perlenbesetzten Mokassin. »Ich bin ja nur ein Stadtjunge, Lieutenant, aber mir scheint, daß dieser Fährtensucher hier sein Geschäft nicht besonders gut verstanden hat.«

Charles starrte zum weißen Horizont hinüber und biß auf seiner kalten Zigarre herum. »Verdammter Narr. Verdammte Wilde. Verdammter Hancock.« Er wandte sich ab, um den in ihm tobenden Sturm an Emotionen zu verbergen.

Magee sagt zu Shem Wallis, dem die Tränen in den Augen standen: »Wird ein mächtig langer Sommer.«

Vor kurzem war Hancocks Krieg, wie die Presse die Frühjahrsexpedition bezeichnete, zu Ende gegangen. Hancocks herausfordernde Demonstration der Stärke hätte den Frieden fördern sollen; das impulsive Niederbrennen des Dorfes an der Pawnee-Ga-belung hatte für Krieg gesorgt. Die Präriestämme betrachteten die Zerstörung von Tipis, Büffelfellkleidung und anderen persönlichen Besitztümern als Wiederholung von Sand Creek und als direkten Verstoß gegen den Little-Arkansas-Vertrag.

Und sie schlugen zurück.

Banden junger Sioux und Cheyenne, geführt von Hitzköpfen wie Pawnee Killer und Narbengesicht, strömten nach Kansas hinein und überfielen Heimstätten wie jene, die Charles gefunden hatte, brannten Postkutschenstationen nieder, stürzten sich auf unbewaffnete Bautrupps der U.P.E.D., die in einem verzweifelten Wettrennen zum hundertsten Meridian ihre Schienen verlegten. Zwischen Fort Harker, der gegenwärtigen Spitze des Schienenstrangs, und Fort Hays, einem noch primitiveren Militärposten sechzig Meilen westlich gelegen, weigerten sich die US-Trupps, ohne bewaffnete Schutztrupps zu arbeiten.

Von der Division aus erließ Sherman den Befehl, Kavallerie-und Infanterie-Einheiten zur Bewachung der Trupps abzustellen. Die eigenen Sicherheitskräfte der Eisenbahn, geführt von einem ehemaligen Pinkerton-Agenten namens J.O. Hartree, verstärkten die Armeekommandos. Hartree genoß den Ruf eines Killers, aber das reichte nicht aus, um die Überfälle zu stoppen. Die Direktoren der Eisenbahn schrien nach weiteren Männern, weiteren Waffen. Gouverneur Crawford von Kansas schrie nach Schutz für seine Bürger und begann ein Sonderkavallerieregiment des Staates aufzubauen. Sherman wollte die Armee zum Einsatz bringen: »Wir dürfen nicht in der Defensive bleiben. Bei jeder sich bietenden Gelegenheit müssen wir sie verfolgen. Wir müssen die Gegend zwischen Platte und Arkansas von Indianern säubern.«

Das klang alles schön und gut, wenn man von der Reaktion all der Kongreßabgeordneten, Bürokraten, Prediger und Journalisten absah, die sich auf Seiten der Indianer schlugen und die jeder indianischen Untat eine zuvor erfolgte Untat der Weißen unterschoben. Von Bostoner Kanzeln und New Yorker Redaktionsräumen aus sprachen sie mit mächtiger, überzeugender Stimme. Sie nannten den Brand an der Pawnee-Gabelung einen feigen, provokativen Akt. Sie druckten Handzettel, veranstalteten Fackelumzüge und schickten Unmengen von Memoranden an Präsident Johnson. Zu den stärksten Trägern dieser Clique zählte Willas Indian Friendship Society - eine Tatsache, an die Charles nicht zu denken versuchte.

Ehe der Vorfall mit dem Siedlerpaar geschah, hatte er seinen Trupp mit einem guten Gefühl in den Einsatz geführt. Es war wesentlich besser, durch die Smoky Hills zu patrouillieren und Indianer zu jagen, als in den elenden, rattenverseuchten Schlammhütten in Fort Harker zu hausen. Bald schon war ihm klargeworden, daß es einem kleinen Trupp an der nötigen Feuerkraft fehlte, um große, herumstreunende Kriegsbanden zu verfolgen und zu vernichten. Schlimmer noch, es war ihnen auch nicht erlaubt. Sie durften nur reagieren, nicht agieren. Je bewußter ihm diese Tatsache wurde, desto übler wurde Charles' Laune; im Hochsommer spürte er das gleiche mörderische Gefühl in sich, das er bei der Entdeckung der Leichen von Boy und Jackson empfunden hatte.

Charles und seine Männer hatten die übelkeitserregende Aufgabe übernommen, die Siedler zu begraben und ihre wenigen Habseligkeiten durchzusehen, um sie identifizieren zu können. Sie hatten eine Bibel gefunden, allerdings ohne irgendeine Inschrift. Sie hatten nichts weiter als einen Namen, Eulus. Es war pure Ironie, daß angesichts dieser Metzelei die Friedensstifter vorübergehend das Kommando übernahmen. Senator Hender-son aus Missouri, ein mächtiges Mitglied der Friedenslobby, brachte ein Gesetz ein, mit dem eine weitere Kommission bevollmächtigt werden sollte, einen dauerhaften Frieden mit den Prärieindianern auszuhandeln.

Wie so viele in Uniform kam sich Charles verraten und verkauft vor; man hinderte ihn daran, einen Krieg zu gewinnen, der ständig unschuldige Opfer forderte wie den Siedler Eulus und dessen Frau. Charles glaubte, daß sich die Friedenslobby nicht ewig halten würde. Letzten Endes mußte man die Armee loslassen, mit der Erlaubnis, den Kampf bis zum endgültigen Sieg fortzuführen. Dann würde sich ihm die Chance bieten, seinen Racheschwur wahrzumachen, den er über den verstümmelten Leichen von Holzfuß und Boy abgelegt hatte.

Während Charles mit der Leiche von Großer Arm nach Fort Harker zurückkehrte, sagte er sich, daß er eigentlich dankbar sein müsse. Obwohl seine Schwarzen von ihren weißen Brüdern verachtet wurden, hätte er es anderswo wesentlich schlimmer treffen können. Zum Beispiel bei der Siebten Kavallerie.

Dieses Regiment wurde zwischen verschiedenen Parteien hin und her gerissen; es gab viel Ärger. Custer hatte an Hancocks Expedition teilgenommen und war anschließend den Republi-can River hochgeschickt worden, um Indianer zu jagen. Eine Anzahl von ihm angeordneter Gewaltmärsche hatte zu Massendesertionen geführt. Eines Nachts verschwanden fünfunddreißig Männer. Voller Wut hatte Custer ihnen seinen Bruder Tom, einen Adjutanten und einen Major Elliot nachgehetzt, mit dem Befehl, jeden Mann zu erschießen, den sie erwischten.

Die Verfolger schnappten fünf Mann; drei davon wurden verwundet. Custer verweigerte ihnen eine Zeitlang jede medizinische Versorgung. Einer starb in Fort Wallace, und Charles hörte, daß sich Custer rühmte, bei ihm würden es sich potentielle Deserteure zweimal überlegen, bevor sie flüchteten.

Kurz vor ihrem Aufbruch zur Patrouille hatte Charles noch etwas über den Boy General gehört. Anscheinend hatte er Fort Wallace ohne Erlaubnis verlassen und war durch Fort Hays und Fort Harker gehetzt, um seine Frau aufzusuchen, deren Gesundheit und Sicherheit ihm Sorge bereiteten. Zusätzlich zu dem Indianerproblem hing die Drohung einer Choleraepidemie in der Luft.

Captain Barnes betrachtete den stämmigen Indianer mit gerunzelter Stirn. »Lieutenant August, hier ist dein neuer Spurenleser, Graue Eule.«

Charles rutschte das Herz in die Hosentasche. Im Vergleich zu diesem Galgenvogel war Großer Arm eine schillernde Persönlichkeit gewesen. Der Indianer mochte um die Vierzig sein und steckte trotz der Hitze in einem Büffelfell. Er hatte breite, dunkle Backenknochen und eine Nase wie eine stumpfe Axt. Seine Flechten hatte er mit bemalten Hirschlederriemen zusammengebunden, aber davon abgesehen konnte Charles nichts entdecken, was einen Hinweis auf seinen Stamm gegeben hätte. Ganz sicher gehörte der Fährtensucher weder zu den Delaware noch zu den Osage. Vielleicht irgendein Sioux-Zweig? Sehr verwirrend. Die Sioux befanden sich auf dem Kriegspfad.

Barnes bemerkte Charles' starren Blick und sagte: »Er gehört zu den südlichen Cheyenne. Seit ich hier draußen bin, arbeitet er schon als Spurenleser für die Armee.«

»Ich will verdammt sein. Erzähl mir bloß nicht, er hat auch eine Büffelherde in die Flucht geschlagen.«

»Nein. Er kann sein Volk nicht leiden. Warum, will er nicht sagen.«

Charles sah ganz kurz den Schmerz in den Augen des Fährtensuchers aufblitzen, zumindest bildete er sich das ein. Es war ein merkwürdiges Gefühl, über den Indianer zu sprechen, als wäre er gar nicht anwesend. »Na gut, komm mit, Graue Eule. Ich werde dich meinen Männern vorstellen.«

»Jawohl. Schönen Dank«, sagte Graue Eule. Charles fuhr herum. Der Cheyenne sprach deutlich und fast akzentfrei. Er mußte viel Zeit unter Weißen zugebracht haben. In einem Punkt war er jedenfalls besser als Großer Arm: Er gab Antwort, wenn man ihn etwas fragte, und zwar mehr als nur einige Worte. Er hatte jedoch ein anderes Problem. Er war nicht mürrisch, aber er weigerte sich hartnäckig zu lächeln.

»Verstehst du, Magic«, sagte Charles zu seinem Corporal, »ich kann keine Leistung aus ihm rausholen, solange ich nicht an ihn herankomme. Und um an ihn heranzukommen, muß ich einiges über ihn wissen. Was er will, was er mag, wer er wirklich ist. Zweimal habe ich ihn nach dem Grund gefragt, weshalb er sich von seinem Stamm abgewandt hat. Er weigert sich, es mir zu sagen. Wir stehen im Begriff, ein gutes Kommando aufzubauen. Ich will nicht, daß er das kaputtmacht, so wie Großer Arm. Wir müssen ihn herumkriegen. Der erste Schritt dazu ist, dieses steinerne Gesicht zu knacken. Ich denke, du bist der richtige Mann dafür.«

»Ich möchte dir eine kleine Geschichte erzählen«, sagte Magee. »Aber zuerst muß ich was überprüfen. Soweit ich weiß, hast du dich eine Zeitlang bei den Forts herumgetrieben, richtig?«

Graue Eule nickte. Eingewickelt in sein Büffelfell saß er mit untergeschlagenen Beinen da und zeigte soviel Gefühl wie ein Felsbrocken vom Grunde eines Flusses.

Der kühler gewordene Wind ließ das Campfeuer aufflammen. Charles und seine Männer waren übereingekommen, Zelte in der Prärie zwischen Posten und Fluß aufzustellen, um nicht in diesen finsteren, stinkenden Hütten mit Ameisen, Läusen und Gott weiß was noch schlafen zu müssen.

»Dann weißt du vielleicht auch, was das ist?« sagte Magee und holte ein abgenutztes Kartenspiel hervor. »Du hast Kavalleristen mit solchen Karten spielen sehen, nicht wahr?«

Ein weiteres Nicken.

»Du bist also sicher, daß du weißt, was in so einem Kartenspiel steckt, ja?« Er breitete die Karten fächerförmig aus. »Die Augen, die Bilder? Siehst du, es gibt vier verschiedene Arten von Königen, vier verschiedene .«

»Ich habe Karten gesehen«, unterbrach ihn Graue Eule; Ärger blitzte kurz in seinen Augen auf.

»Also gut. Gut! Ich mußte bloß herausfinden, ob du auch die volle Bedeutung der Geschichte, die ich dir erzählen werde, zu schätzen weißt. Es ist eine gute Geschichte, denn sie zeigt, wie weit man es in dieser Armee bringen kann, wenn man den richtigen Ehrgeiz hat. Tatsächlich heißt die Geschichte >Der ehrgeizige Unteroffizier^«

Magee kniete vor Graue Eule nieder. »Dieser Unteroffizier, das war ein mächtig flinker junger Bursche namens Jack.« Er drehte die oberste Karte um, den Karobuben. Wallis und ein weiterer Kavallerist schlenderten herbei, um zuzusehen. »Jack war ehrgeizig wie der Teufel. Er wollte Erster Sergeant werden und wurde auch bald befördert.«

Magee winkte mit der Karte den Zuschauern zu. Charles saß rauchend da und betrachtete amüsiert die Darbietung.

»Der Jammer mit Jack war, daß er ein loses Mundwerk hatte. Er wurde einem der Offiziere gegenüber frech, und sie degradierten ihn.« Er streckte die Karten aus. »Lieutenant? Verdeckt. Wohin Sie wollen.«

Charles nahm den Buben und steckte ihn mitten ins Kartenspiel. Magee legte den Stoß Karten auf seine Handfläche. »Doch der alte Jack war immer noch ehrgeizig. Er schuftete schwer. Dauerte nicht lange, da machten sie ihn wieder zum Sergeant.«

Magee drehte die oberste Karte um. Der >Jack of Diamonds<, der Karobube.

Graue Eule schloß kurz die Augen, das Blinzeln eines Reptils. Das feuerte Magee an.

»Der arme Jack - trotz seines Ehrgeizes hatte er das übliche Problem, das wir Soldaten haben. Er nahm gern einen Schluck, und eines abends hatte er ein paar Schlucke zuviel. Er wurde zum zweitenmal degradiert.«

Auf ein Nicken von Magee hin nahm Wallis den Buben von oben und steckte ihn ins Spiel zurück. Wieder holte Magee den Buben als oberste Karte vom Stoß.

»Jack hatte auch viel für die Damen übrig. Er machte eine unschuldige Bemerkung, die die Frau eines Generals empörte, worauf er wieder degradiert wurde. Aber er war ehrgeizig.«

Wieder führte Magee den Trick vor, was bei dem Fährtensucher ein mehrmaliges Blinzeln zur Folge hatte.

»Sergeant Jack wurde so oft degradiert und arbeitete sich so oft wieder hoch, daß er zu einer Art Legende wurde. Jeder wollte so ein Stehaufmännchen werden wie Jack.« Er drehte die mittlerweile vertraute oberste Karte um und legte sie mit dem Bild nach unten ab. »Jedermann mochte Jacks unbändigen Ehrgeiz. Und weißt du, was? Bald wurde die ganze Armee davon angesteckt. Selbst die Fährtensucher.«

Er reichte Graue Eule das Kartenspiel, mit dem verdeckten Buben obenauf. Er bedeutete dem Indianer, die Karte zu nehmen und sie in das Spiel zurückzustecken. Mit heftig gerunzel-ter Stirn nahm Graue Eule die Karte, dachte eine Weile nach und schob sie dann vorsichtig ziemlich weit unten in den Kartenstoß. Magee nahm die Karten, hielt sie so, daß alle sie sehen konnten, und schnippte die oberste Karte um.

Charles klatschte. Wallis pfiff. Ungläubig nahm Graue Eule den Karobuben und untersuchte ihn von beiden Seiten. Er biß leicht darauf. Er bog die Karte um, schwenkte sie und schnippte mit dem Fingernagel dagegen. Magee wartete.

Graue Eule reichte die Karte zurück. Und lächelte.

Ein Kavallerist warf weiteren Büffelmist ins Feuer. Graue Eule schien so von Magee fasziniert zu sein, daß seine Zurückhaltung dahinschmolz. »Die Schamanen meines Volkes würden dich ehren.«

»Schamanen?« Magee kannte den Ausdruck nicht. »Soll das heißen, es gibt Indianer, die auch so einen Hokuspokus praktizieren?«

Graue Eule kannte den Ausdruck Hokuspokus nicht. »Zauber? Ja. Sie haben sehr starken Zauber. Ich habe gesehen, wie sie weiße Federn in weiße Steine verwandelten. Ich habe gesehen, wie der Körper eines Schamanen unsichtbar von einem Tipi ins andere gelangte, fünfzig Schritt entfernt.«

Magee verzog das Gesicht. »Tunnel«, verkündete er. »Sie müssen irgendwie einen Tunnel benützen.«

»Sie können sogar einem Mann den Kopf abschlagen und wieder draufsetzen. Unter den Cheyenne, die Wunder wirken, wärst du ein großer Mann. Geehrt. Gefürchtet.«

Magee warf einen nachdenklichen Blick auf sein Kartenspiel. Charles sagte zu ihm: »Denk dran, falls du jemals deine Haare retten mußt.«

In Harker verbrachten sie eine Woche, um sich mit Proviant zu versorgen und die Ausrüstung der Pferde zu reparieren. Charles rechnete täglich damit - zumindest wünschte er es sich -, daß die Post einen Brief von Willa bringen würde. Kein Brief kam. Er schrieb selbst zwei Briefe, konnte dann aber den entschuldigenden Tonfall nicht ausstehen, der sich einschlich, und zerriß sie wieder. Statt dessen sandte er eine Nachricht an Brigadier Duncan und legte für den kleinen Gus eine Adlerfeder dazu.

Graue Eule redete jetzt mit Charles. Gelegentlich lächelte er sogar. Sie kamen miteinander ganz gut aus. Der Spurenleser war auf seinem Gebiet ein Experte, wesentlich besser als Großer Arm, und führte Befehle, ohne zu murren, aus. Doch Charles war dem Geheimnis, weshalb Graue Eule sein Volk verlassen hatte, immer noch keinen Schritt nähergekommen. Bevor er das nicht wußte, konnte er dem Cheyenne nicht vollständig vertrauen.

Drei herumstreifende Rees querten ihren Weg. Das schlechtgelaunte Trio beschwerte sich über eine neue Whisky-Ranch, die einen halben Tagesritt nach Süden aufgemacht hatte. Die Besitzer - Halbblutbrüder - verkauften Waffen und Whisky, dessen Herkunft im dunkeln lag. Einer der Rees wäre beinahe an einer Überdosis Whisky gestorben.

Charles entschied, daß die Geschichte der Wahrheit entsprach, und so machte sich das Kommando auf den Weg nach Süden. Whisky-Ranches waren nichts weiter als schlichte Saloons draußen in der Wildnis, betrieben von skrupellosen Männern, die davon profitierten, daß sie die Indianer bewaffneten und trunken machten. Die Soldaten fanden die Ranch zwischen einigen Sandhügeln, stürmten sie, nachdem sie ein paar Salven abgefeuert hatten, und nahmen die Besitzer ohne Schwierigkeiten in Gewahrsam.

Die beiden schäbigen Händler hatten auch noch die Gunst einer melancholischen, plumpen Comanchen-Frau verkauft, die Graue Eule erzählte, sie sei aus der Hütte ihres Mannes in Texas entführt worden.

Als Charles erklärte, er werde die Händler zurück nach Fort Harker schicken und dem Indianerbüro übergeben, setzte der ältere Bruder plötzlich zu einer Tirade über seine Angst vor dem Gefängnis an. Abrupt fuhr seine rechte Hand unter seinen Mantel. Charles jagte ihm eine Kugel in jedes Bein, bevor die Hand wieder auftauchte.

Magee kniete nieder und bog die schlaffen Finger des Mannes auf; er war ohnmächtig geworden. Magee hielt ein Bündel Banknoten in Händen.

Charles untersuchte das Geld. »Eine Bestechung. Mit Geld der Konföderierten, dieser verdammte Narr.« Er schleuderte das Papiergeld in die Luft. Der Präriewind wirbelte die Wolken wertlosen Reichtums nach oben. Den Blick auf den blutenden Mann gerichtet, sagte er: »Man kann nie wissen, was ein Mann unter seinem Mantel trägt.«

Später in der Nacht flüsterte Wallis empört Magee zu: »Er hätte nicht auf diesen Händler schießen müssen.«

»Doch, mußte er«, sagte Magee; es war keine Entschuldigung, sondern lediglich eine Feststellung.

Charles ließ die Frau laufen und schickte die beiden Brüder mit zwei Mann Bewachung zurück nach Fort Harker. Die Soldaten brannten die Whisky-Ranch am 28. Juli nieder, dem gleichen Tag, an dem die Armee George A. Custer wegen Desertion vom Dienst unter Arrest stellte.

Die Kriegsfeuer breiteten sich über die südlichen Prärien aus und steckten auch den Norden an. Auf einer Wiese in der Nähe von Fort C.F. Smith am Bozeman's Trail wehrten zweiunddreißig Soldaten und Zivilisten erfolgreich eine Attacke von mehreren hundert Cheyenne ab. Am nächsten Tag ereignete sich ein ähnlicher Vorfall, der später als >Wagenburg-Kampf< bezeichnet wurde; eine kleine Gruppe aus Fort Phil Kearny schlug eine Sioux-Bande unter Führung von Rote Wolke in die Flucht.

In verständlichem Stolz erhöhte die Armee bald schon die Anzahl der Cheyenne-Angreifer auf achthundert, die Zahl der Sioux auf tausend. Diese Vorfälle brachten neues Selbstvertrauen. Die Präriestämme waren nicht unbesiegbar. Sie waren nur unüberwindlich erschienen, weil reguläre Soldaten sich nicht an den indianischen Guerillakrieg gewöhnen konnten. Wenn die Stämme der konzentrierten Feuerkraft der Armee standhalten mußten, dann wurden sie aufgerieben.

Zurück in Fort Harker, bekam Charles all das zu hören und verfluchte sein Pech, daß er zur falschen Zeit bei der falschen Truppe war.

Nachträglich zeigte sich, daß der Tag der Wiesenschlacht für das Zehnte Regiment von noch größerer Bedeutung war. Cap-tain Armes und zweiunddreißig Männer der F-Kompanie hatten einige Cheyenne den Saline hochgejagt und sie gefangen; anschließend hatten sie sich in einem über fünfzehn Meilen hinziehenden Kampf den Weg freischießen müssen. Bill Christy, ein allgemein beliebter kleiner Mann, der einst eine Farm in Pennsylvania gehabt hatte, fing sich einen tödlichen Kopfschuß ein. Lovetta Barnes zerschnitt ein großes, schwarzgefärbtes Tuch, der Alte verteilte die Streifen, und jeder Offizier und Soldat der C-Kompanie band sich einen davon um seinen linken Ärmel. Andere Kompanien folgten dem Beispiel. Das Zehnte Regiment trauerte um seinen ersten Gefallenen.

Die Nachricht von dem bevorstehenden Umzug von Grier-sons Hauptquartier nach Fort Riley klang da schon ein bißchen besser. Endlich würden er und seine Männer dem bigotten General Hoffman entkommen.

Obwohl die Überfälle auf die Eisenbahnlinie, die Postkutschenroute und einsame Heimstätten anhielten, sah Charles seine Felle davonschwimmen. Die Friedenslobby hatte sich in Washington gehalten: Eine Friedenskommission war gebildet worden, und für den Herbst war eine Friedensexpedition geplant. Wieder bereitete er sich, auf seine Chance lauernd, darauf vor, sein Kommando hinauszuführen.

»Dafür kommst du besser zurück«, sagte Barnes am Morgen ihres Aufbruchs. Er gab Charles einen Handzettel aus Lavendelpapier.

EINZIGE WESTERN-SONDERTOURNEE IN DIESER SAISON

Mr. SAM' L.H. TRUMP, Esq. >Amerikas Schauspieleras<

In einer vollständigen Abendaufführung erheiternder und bewegender

SZENEN VON SHAKESPEARE

assistiert von Mrs. Parker und anderen Mitgliedern dieser weltbekannten Theatertruppe aus St. Louis - Eintritt 50 Cent -Programm absolut geeignet für Frauen und Kinder

Charles erinnerte sich, daß Willa etwas von einer Tournee gesagt hatte. Sam Trumps Name war doppelt so groß gesetzt wie der von Mr. Shakespeare. Bei der Zeile über Mrs. Parker brauchte man schon ein Vergrößerungsglas.

»Das ist sie, nicht wahr?« fragte der Alte. »Von der du vor einiger Zeit geredet hast?«

»Ja, das ist sie«, sagte Charles; sein Lächeln verblaßte.

»Nun, du hast meine Erlaubnis, das Kommando am Abend zuvor reinzubringen, wenn du nicht gerade in einer Klemme steckst.« Ganz unten auf dem Handzettel standen mit Tinte geschrieben die Worte Ft. Harker 3. Nov. - Ellsworth City 4. Nov.

Und so ritt er an diesem Morgen mit dem Wissen hinaus, daß er Willa wiedersehen konnte, und dem Gefühl, daß er sie sehen wollte. Er fragte sich, wie ein Wiedersehen über die Bühne gehen würde. Glücklich? Explosiv? Würden sich die Schmerzen verstärken, die ihn wie Zahnschmerzen begleiteten, seit er von ihr in St. Louis fortgeritten war?

Im November würde er das sicherlich erfahren.

MADELINES JOURNAL

August 1867. Gen. D. Sickles ist zum bestgehaßten Mann im Staat geworden. Er mischt sich in die Zivilgesetze ein - er erlaubt Negern den Zugang zu Jurys und öffentlichen Transportmitteln. Aber was noch schlimmer ist (so heißt es allgemein), er registriert befreite Negersklaven für die Wahl in den 109 Bezirken, in die S.C. nun aufgeteilt ist. Vielleicht hält sich Sickles nicht mehr lange. Es heißt, daß Andrew J. ihn für zu radikal hält.

... Noch ein Yankee-Eindringling. Ein Mann namens Klawdell ist in den Bezirk gekommen, um eine Union League oder Loyal League zu gründen. Wie ich erfahren habe, wurde die Union League während des Kriegs im Norden gegründet, um Lincoln und seinen Generälen patriotische Unterstützung zukommen zu lassen. Patriotismus wird jetzt durch Politik ersetzt. Die neuen Bünde sollen zu Clubs zur Erziehung der Schwarzen in Regierungsangelegenheiten wie beispielsweise den Wahlen werden. Im Grunde ein durchaus aufrichtiges Anliegen - aber wird man den Schwarzen von der Demokratischen Partei ebenso berichten wie von der Republikanischen Partei? Ich bezweifle es.

Andy fragte mich, was ich davon hielte, wenn er zu einem dieser Treffen ginge. Ich erinnerte ihn daran, daß er meine Erlaubnis nicht benötigte, warnte ihn aber gleichzeitig davor, daß das weiße Gesindel durch dieses letzte Beispiel radikaler Einmischung noch viel gewalttätiger werden könnte ...

Randall Gettys' Reaktion auf die Nachricht von einem politischen Organisator im Bezirk war genau die, die Madeline erwartet hatte. Wut und Zorn. Er konnte sich kaum auf seinen monatlichen Bericht über die Profite seines Dixie-Ladens konzentrieren. Den Bericht hatte er an eine Adresse in Washington, D.C., zu schicken, was auch für die Berichte der anderen 43 Dixie-Läden galt, die nun in South Carolina betrieben wurden.

Die Firma, an die Gettys seine Berichte, seine Warenbestellungen und zweimal im Jahr Geldüberweisungen sandte - die Profite des Ladens waren enorm -, nannte sich Mercantile Enterpri-ses. Er hatte keine Ahnung, was da für Leute dahintersteckten. Wer immer die Yankee-Besitzer sein mochten, sie hielten sich im dunkeln. Zweimal hatten sie ihm über einen Rechtsanwalt namens J. Dills, Esq., Anweisungen erteilt.

Gettys beendete seinen Bericht. Er warf einen Blick auf den schlecht gedruckten Wandkalender. Heute war Samstag. Er konnte mit einem flotten Verkauf von Whisky an Captain Jolly und einige der anderen Weißen im Bezirk rechnen - vielleicht sogar mit etwas Spaß, falls ein Schwarzer so dumm sein sollte, sich heute - an dem anerkannten Vergnügungstag des weißen Mannes - in die Nähe der Summerton-Kreuzung zu wagen.

Auf den unteren Rand des Kalenders hatte Gettys geschrieben: Des fällig am 1. Okt. Sobald sein Freund entlassen war, würde er ihm als erstes von dieser Schandtat berichten, diesem Club für Nigger. Jetzt mußte er sich erst einmal um die andere Korrespondenz kümmern, die sich in den letzten Wochen angesammelt hatte. Da war eine pathetische Bitte von einem Verwandten, der Geld für eine Augenoperation benötigte. Gettys zerriß den Brief. Zwei schäbige Rundbriefe von deutsch geführten Ramschläden warben für >die besten Güter und die vollständigen Bibliotheken führender Carolina-Familien zu Schleuderpreisen^ Gettys warf sie weg.

Ganz unten im Stoß fand Gettys einen Umschlag mit der Adresse von Sitwell Gettys, einem weiteren Verwandten. Sitwell war oben im York County, wo vielleicht die glühendsten Südstaatenanhänger wohnten, Schullehrer und loyaler Demokrat. Sitwell hatte einen ausgeschnittenen Artikel >vom Pulaski, Tenn. Citizen, der dich vielleicht interessieren könnte<, beigelegt.

Was auch der Fall war. In wenigen Absätzen wurde ein Gesellschafts- oder Sportclub der Weißen beschrieben, der vor ein paar Monaten in Pulaski von mehreren Kriegsveteranen gegründet worden war. Gettys' besonderes Interesse konzentrierte sich auf die Tatsache, daß die Mitglieder in phantastischen Kostümen, hinter denen sich ihre Gesichter verbargen, nachts durch die Gegend zogen. Sie besuchten zu frech gewordene Neger, gaben sich als wiederauferstandene Tote der Konföderierten aus und versetzten die Schwarzen mit Erfolg in Angst und Schrecken.

Der Club hatte einen eigenartigen Namen. Wenn sich Randall recht an seine Schulzeiten erinnerte, dann bedeutete das Wort kuklos Kreis, wovon der Name der Organisation offensichtlich abgeleitet worden war. Mit wachsender Erregung las er den Artikel ein zweites Mal und spießte ihn dann auf einen Nagel an der Wand. Sobald Des aus dem Gefängnis entlassen worden war, mußte er ihm von diesem neuen Ku-Klux-Klan erzählen. Für ihr eigenes Problem bot das eine verblüffend einfache Lösung: Anonymität. Mit Des' Billigung würde er sich bemühen, weitere Einzelheiten in Erfahrung zu bringen.

In Charleston. Bei Judith zu Hause. Marie-Louise hatte sich einen Tag von ihren Studien in Mrs. Allwick 's Female Academy freigenommen, einer von Dutzenden solcher Akademien, die in diesem Staat ihre Pforten geöffnet haben, um jungen Damen und Herren eine anständige Südstaatenerziehung unter (ausschließlich weißen) Gleichgestellten zu bieten. M.-L. ist mit ihrem Vater zur Inspektion der Charleston & Savannah-Eisenbahn gefahren. Cooper gehört zu einer Gruppe von Investoren, die die Schuldscheine der zahlungsunfähigen Linie aufgekauft haben. Selbst für 30.000 Dollar ist das kein tolles Geschäft. Die Linie ist bankrott, die Schienen laufen ungefähr 60 Meilen bis zum Coosawhatchie und enden am Charleston, wo eine Fähre benötigt würde; die Bockbrücke über den Ashley ist noch nicht wieder aufgebaut worden.

Was auch für die herrliche Altstadt zutrifft, wie ich entdeckt habe. Überall fensterlose, mit Brettern vernagelte Gebäude. Zerlumpte Neger faulenzen überall herum, und Weiße, die sich vor der Hibernion Hall herumtreiben, spucken Kautabak in der Gegend herum und pöbeln Frauen an. Ich habe einen ins Gesicht geschlagen. Hätte er von meinem >Rassenstatus< gewußt, dann hätte ich ernsthafte Schwierigkeiten bekommen.

Die Tradd Street bleibt eine Insel der Sauberkeit und der Ruhe, obwohl der faulige Gestank der Viehfutter transportierenden Nachtzüge auch schon in Judiths Küche dringt. Wir sprachen über Sickles, was Judith zu der Bemerkung veranlaßte, daß sie nun vollkommen an Coopers politischem Starrsinn verzweifelt .

Die Glocke schepperte. Die Luft war schwer und feucht unter den dunkelgrauen Wolken. Cooper half Marie-Louise die zerbeulten Metallstufen zu dem einzigen Passagierwagen hoch.

Er haßte es, zurück in den Waggon zu müssen. Die Hinfahrt war schon schlimm genug gewesen. Die Hälfte der Sitze und sämtliche Glasscheiben fehlten. Der Wagen war auf seiner langsamen, ruckenden Fahrt nach Süden zur Coosawhatchie Station fast leer gewesen, aber Cooper stellte vom Wagenende aus fest, daß jeder Sitz von militärischen oder zivilen Fahrgästen belegt war. Unter mehreren großen Löchern im Dach stand ganz vorne im Wagen eine riesige schwarze Frau mit einem Bündel in der Hand und betrachtete schüchtern die Sitze. Dieser verfluchte Sickles hatte es möglich gemacht, daß sie zusammen mit weißen Passagieren in einen Wagen durfte. Keiner der Männer erhob sich, um ihr seinen Platz anzubieten.

Donnergrollen kündigte an, daß es bald regnen würde. Rostige Eisenräder quietschten und kreischten, als die Lokomotive anruckte.

»Hier, lehn dich gegen diesen Teil der Wand«, sagte Cooper zu seiner Tochter. »Der ist sauberer als der Rest.«

Marie-Louise dankte ihm mit ihren dunklen Augen und wollte gerade ihre Position wechseln, als ein junger Zivilist mit blassem Gesicht, Schnurrbart und den lebhaften blauen Augen und hellen Haaren eines Deutschen oder Skandinaviers von seinem Sitz aufstand. Mit einer Geste bedeutete er der Schwarzen, sich zu setzen.

Über das Quietschen der Räder hinweg hörte Cooper das Ge-murre der anderen Fahrgäste. Die Negerin schüttelte den Kopf. Der junge Mann lächelte und machte eine deutlichere, dringendere Geste. Ihr Bündel umklammernd, näherte sich die Frau zögernd dem Platz. Der Mann, der am Fenster saß, gab sofort seinen Platz auf. Die schüchterne Schwarze setzte sich.

Der Mann, der aufgestanden war, warf dem Jüngling einen zornigen Blick zu. Ein anderer Fahrgast auf der gegenüberliegenden Gangseite griff nach seinem Messer im Gürtel. Seine hagere Frau hielt seine Hand fest. Der junge Zivilist grüßte das Paar, indem er voller Ironie gegen seinen Hut tippte, und ging dann zum vorderen Ende des Wagens; dort lehnte er sich mit gekreuzten Armen an, ohne ein Anzeichen des Bedauerns über seinen Akt der Höflichkeit zu zeigen.

Während der junge Mann sich bequem hinstellte, bemerkte er Marie-Louise am anderen Ende des Wagens. Cooper sah, wie seiner Tochter die Röte in die Wangen schoß. Dann bemerkte er, wie sich auf dem Gesicht des jungen Zivilisten deutliches Interesse abzeichnete.

Ein Donnergrollen. Durch die Löcher im Dach begann es kräftig zu regnen. »Rück näher«, sagte Cooper und öffnete den Regenschirm, den er für einen solchen Notfall mitgenommen hatte.

Die meisten Passagiere wurden durchnäßt, während der Zug der Charleston & Savannah-Linie gen Norden ratterte. Cooper starrte auf den Hinterkopf der Schwarzen. Er war empört. Was würde als nächstes kommen? Mischehen? Sickles und die Radikalen hatten die Absicht, die Südstaatenzivilisation zu zerstören.

Den jungen Zivilisten vergaß er nicht - genausowenig wie Marie-Louise, wenn auch aus völlig unterschiedlichen Gründen.

Sickles wird abgelöst. Vielleicht ist es gut so. Wir haben bereits genügend Vorwände für Gewalt.


... Seit dem Vertrag von '65 haben die Cheyenne gegen das Volk der Vereinigten Staaten Krieg geführt; die mit ihnen verbündeten Apachen und Arapahoe sind zum Teil ebenfalls in die aus diesem eingeschlagenen Kurs entstandenen Probleme verwickelt.

Ihre Jahreszahlungen sind zurückgehalten worden; sie versanken allmählich wieder in ihre wilden, barbarischen Sitten und Gebräuche, als sie erfuhren, daß eine gewaltige Friedenskommission auf dem Weg in ihr Land ist, um all diese Schwierigkeiten zu bereinigen und die allgemeine Harmonie wiederherzustellen ...

Von unserem eigenen Korrespondenten The New York Times Freitag, 25. Oktober 1867

33

Es war die Zeit des Wandels. Das Präriegras färbte sich gelb, und die Blätter der Ulmen und Dattelpflaumenbäume begannen in ihrer Farbenpracht aufzuflammen.

Es gab auch Änderungen im Kommando. Über General Grant befahl Johnson den Generälen Hancock und Sheridan, ihre Positionen zu tauschen. Hancock sollte wegen seines Abenteuers an der Pawnee-Gabelung diszipliniert werden, Sheridan wegen seiner zu strikten Durchsetzung des Wiederaufbaus im Fünften Militärbezirk in New Orleans; die Radikalen favorisierten ihn, aber ansonsten hatte er kaum Anhänger in Washington.

Sheridan stattete den Prärien eine schnelle Inspektionstour ab, obwohl für ihn eigentlich ein verlängerter Urlaub anstand und er das volle Kommando erst spät im Winter übernehmen würde. Charles wußte einiges über den Yankee, Akademiejahrgang '53. Er war klein, von irischer Herkunft und befleißigte sich unermüdlich und sehr erfinderisch einer üblen Ausdrucksweise. Er war es gewohnt, Kriege zu führen und zu gewinnen. Charles fragte sich, wie der Kommandowechsel zu der herbstlichen Friedensinitiative paßte, die von vielen in der Armee hämisch als >Quäkerpolitik< bezeichnet wurde.

Im Schicksal großer Unternehmen gab es Veränderungen. Mittlerweile war klar, daß die Union Pacific in Nebraska als erste den hundertsten Meridian erreichen würde, wahrscheinlich im Oktober. Die U.P.E.D. hatte den Wettkampf verloren, und Charles hörte, daß wahrscheinlich zwölfhundert Leute arbeitslos werden würden. Das schloß allerdings nicht die schießfreudigen Sicherheitskräfte von J.O. Hartree ein, dessen Männer in jedem Personenzug mitfuhren. Außerdem sollte die Linie möglicherweise einen etwas individuelleren Namen bekommen. >Kansas Pacific< wurde erwähnt.

Es gab fundamentale Veränderungen in der stolzen, aber innerlich zerrissenen Siebten Kavallerie. Custer wurde nach Leavenworth beordert, wo ein Kriegsgericht auf ihn wartete aufgrund von Beschuldigungen, die einer seiner verärgerten Cap-tains, Bob West, und sein eigener Kommandeur A.J. Smith gegen ihn erhoben hatten. Die Anklagepunkte waren zahlreich, aber an den Kragen gehen konnte es ihm nur wegen Verlassens seines Kommandos in Fort Wallace, der Blitztour nach Osten, um Libbie zu suchen, und der Exekution der Deserteure. Charles hörte, daß der Boy General dem Ausgang des Verfahrens zuversichtlich entgegensah und viel von seiner tiefen Religiosität sprach. Charles betrachtete das schon zynischer; wenn sie geschnappt wurden, dann hüllten sich die Gauner oft genug in die Flagge oder Proklamierten ihren christlichen Glauben.

Vor allem war es eine Zeit, die voller Möglichkeiten für einen Wandel der Präriearmee steckte. Sie mußten begrenzten Patrouillendienst verrichten, während die große Friedenskommission, die noch nicht einmal ein einziges erfolgreiches Treffen mit den nördlichen Sioux zustande gebracht hatte, durch das herbstliche Kansas nach Süden zog, um einen weiteren Versuch bei den südlichen Stämmen zu starten.

Der Himmel war bläulich metallisch gefärbt, als die Kavalkade Harker verließ. Trommeln und Pfeifen spielten den Erkennungsmarsch >Garry Owen< der hundertfünfzig Kavalleristen der Siebten, denen eine Infanterieabteilung folgte, wiederum gefolgt von der B-Batterie der Vierten Artillerie, die zwei neue Gatlings mit sich führte. Charles fragte sich, ob eine Gatling mit ihren zehn Läufen wirklich hundertfünfzig Schuß in der Minute abfeuern konnte. Ike Barnes meinte, Gatlings würden sich schnell überhitzen und dann Ladehemmung kriegen. Die Siebte hatte noch keine Gatling getestet; Custer bezeichnete sie als wertlose Spielzeuge, und A.J. Smith weigerte sich, die Munition für einen Schußtest zu genehmigen, weil er befürchtete, das Kriegsministerium könnte es ihm von seinem Lohn abziehen.

Die Regierungskommissare und ihr Zivilistengefolge saßen in hochrädrigen, planenbedeckten Armeeambulanzen. Sieben Mann bildeten die Kommission: Senator J.B. Henderson aus Missouri, der die diesbezügliche Gesetzesvorlage eingebracht hatte; der Kommissar für indianische Angelegenheiten, N.G. Taylor; Colonel Sam Tappan, der erste Mann in der Armee, der sich heftig für eine Untersuchung von Sand Creek eingesetzt hatte; General John Sanborn, einer der Unterzeichner des Little-Arkansas-Vertrages; der heikle General Alfred Terry, der das Dakota-Department kommandierte; und General C.C. Augur vom Platte-Department als Ersatz für Sherman, der nach Washington zurückbeordert worden war, um Grant Rede und Antwort zu stehen, nachdem er einige unbeherrschte Worte der Kritik an der Kommission geäußert hatte. Das Kommando führte General William Harney, ein wuchtiger, weißbärtiger Soldat mit einem beachtlichen Ruf als Indianerkämpfer. Ein wirklich hübscher, kriegerischer Haufen, der da die Feuer in den Prärien eindämmen sollte, dachte Charles, während er beobachtete, wie die Karawane nach Süden auf Fort Larned zu verschwand.

Gouverneur Crawford befand sich ebenso wie Senator Ross bei der Expedition. Elf Reporter und ein Fotograf fuhren in Ambulanzen und Versorgungswagen mit, deren Gesamtzahl sich auf fünfundsechzig belief. Die Wagen waren mit Handels-gütern beladen, einschließlich Messern und Glasperlen, ausgemusterten Armeeuniformen, Hüten, Stiefeln und vierunddreißig alten Signalhörnern - ein brillant dämlicher Einfall von General Sanborn.

Charles sah zu, wie die Karawane verschwand, und fragte sich, was für unverschämte, anmaßende Indianer ihnen über den Weg laufen würden. Cheyenne-Banden streiften immer noch durch Kansas, zerstörten Postkutschenstationen und griffen Züge und Arbeitstrupps an.

Charles hatte keinen Zweifel, daß Narbengesicht und dessen Freunde unter ihnen waren. Wer würde zurückbleiben, um den Regierungs-Kommissaren vorzulügen, daß sie mit ihren wenigen Stimmen für Hunderte von anderen Indianern sprachen?

Sein Name war Träumender Stein. Er war zerbrechlich und zählte achtzig Winter. Er besaß keinen einzigen Zahn mehr, und sein Haar ähnelte einigen dünnen Fäden grauer Wolle. Doch seine Augen blickten stolz, und sein Verstand hatte ihn nicht verlassen, wie das sonst bei alten Männern häufig der Fall war.

Er wurde Träumender Stein genannt, weil er in seiner Jugend Visionen gesucht hatte. Wenn er sich von allen anderen entfernte, fastete und zu dem Einen betete, der alle Dinge gemacht hatte, dann verschleierten sich seine Augen kurz, und daraufhin stiegen die unterschiedlich großen Steine in die Luft, blieben über ihm hängen und sprachen abwechselnd zu ihm über tiefschürfende, bedeutsame Angelegenheiten.

Steine waren, wie viele andere Naturobjekte auch, den Cheyenne heilig. Steine symbolisierten Beständigkeit, die unwandelbaren Wahrheiten des Lebens, die ewige Erde und den Einen, der all das aus dem Nichts geformt hatte. Träumender Stein hatte aus seiner Vision gelernt, daß im Vergleich zu diesen Dingen Ehrgeiz, Liebe, Haß der Sterblichen nichts weiter waren als vom Sturm gepeitschte Grashalme.

Als er aus der Wildnis zurückkehrte, berichtete er dem Rat von seiner Vision. Die Alten waren beeindruckt. Da hatten sie einen jungen Mann vor sich, der eindeutig für ein spezielles Leben bestimmt war. Er wurde angewiesen, sich der Gemeinschaft der Bogensehnen anzuschließen, einer Gemeinschaft der Tapferen, der Reinen und der Unverheirateten, die es durchaus miteinander vereinbaren konnten, im Kampf Feinde zu töten und dann über Frieden und Stammesleben zu philosophieren.

Und so stieg er in diesen Reihen auf. Bogensehne, Bogensehnen-Gemeinschaftsführer, Dorfhäuptling, als er für den Kampf zu alt geworden war, Friedenshäuptling, als er noch älter geworden war. Im Oktober 1867 schlug er sein Tipi unter zweihundertfünfzig anderen Tipis am Westrand des Beckens des Medi-cine Lodge Valley auf; hier hausten ungefähr tausendfünfhundert Cheyenne. Das Becken lag ungefähr drei Tagesritte von dem Platz des Sonnentanzes entfernt, der von der großen Karawane der weißen Häuptlinge benutzt werden sollte, die von Norden her herangezogen kam, um Frieden mit den Fünf südlichen Stämmen zu schließen.

Ungefähr dreitausend Comanchen, Kiowa, Kiowa-Apachen und Arapahoe im Umkreis von zwanzig Meilen vom Vertragsort. Die Cheyenne kamen nicht so nahe heran wie die anderen Stämme, da sie gewisse einzigartige Erinnerungen hatten. Chi-vington. Sand Creek. Die Pawnee-Gabelung.

Die Friedensverhandlungen begannen nicht weit entfernt von der Grenzlinie zwischen Kansas und dem Indianerterritorium. Ein spezieller Abgesandter ritt den weiten Weg bis ins Cheyenne-Lager, um sie zu bitten, sich ebenfalls mit den weißen Häuptlingen zu treffen. Nacheinander wurden alle Räte und Würdenträger konsultiert. »Was hältst du davon, Träumender Stein?« wurde er gefragt.

»Wir sollten gehen«, sagte er. »Aber nicht der Geschenke wegen. Wir sollten gehen, weil es Dummheit ist, einen Krieg heraufzubeschwören, den wir nicht gewinnen können. Es gibt zu viele Weiße. Wir sind zu wenige. Wenn wir nicht in Harmonie mit ihnen leben, dann werden sie uns zertrampeln.«

Er haßte es, solch bittere Worte sprechen zu müssen, aber er glaubte daran. Ein abtrünniger Whiskyhändler hatte Träumender Stein einmal ein Bild von einer Stadt des weißen Mannes gezeigt: Es war eine Gravur der Fifth Avenue in New York, was Träumender Stein allerdings nicht wußte. Er bedeckte lediglich seinen Mund und starrte mit herausquellenden Augen auf die unaussprechlichen Wunder, die er da sah. Und das war nur ein winziger Teil eines Dorfes des weißen Mannes, hatte ihm der Händler erzählt, und es gab Hunderte solcher Dörfer.

Deshalb sprach sich Träumender Stein, der seine letzten Winter in Frieden verbringen wollte, für eine gütliche Einigung aus. Einige andere, zu denen auch sein Freund, der Friedenshäuptling Schwarzer Kessel, gehörte, stimmten dem zu. Einige Kriegshäuptlinge jedoch waren anderer Meinung, ebenso wie die meisten der jungen Männer, vor allem jene, die nach der Führung in den Soldatengemeinschaften griffen. Wenn Träumender Stein das halsstarrige Benehmen dieser Gruppe betrachtete, gelangte er zu dem traurigen Schluß, daß das Alter nicht länger respektiert wurde und die traditionelle Stammesdisziplin allmählich zusammenbrach. Einer der am meisten gefürchteten und bewunderten jungen Männer, ohne jeden Zweifel tapfer, aber nach der Meinung von Träumender Stein unnötig grausam, schwor, daß er sich niemals den weißen Häuptlingen unterwerfen würde, solange noch ein Atemzug in ihm steckte.

Diese Worte von Mann-bereit-für-den-Krieg hatten besonderes Gewicht, denn es galt als sicher, daß er im Frühling bei der jährlichen Umgestaltung seiner Gemeinschaft zum Träger der Hundeschnur gewählt werden würde. Die Hundeschnur war eine breite Schärpe aus gegerbter Tierhaut, ungefähr neun Fuß lang und mit Farbe, Stachelschweinborsten und Adlerfedern dekoriert. Vier Männer der Hundegemeinschaft wurden jedes Jahr aufgrund ihrer Tapferkeit mit dieser Schärpe, die sie auch im Kampf trugen, ausgezeichnet.

Mann-bereit-für-den-Krieg und andere junge Männer wie er sprachen überzeugender und eindringlicher als alte Männer wie Träumender Stein. Und so hielten sich die Cheyenne abseits im Medicine Lodge Valley, während andere große Indianerhäuptlinge - der zerbrechliche Satank, der stolz eine Medaille mit dem eingravierten Kopf von James Buchanan trug; der bärenhafte Santana, ein weiterer gefürchteter Kiowa, der sich gern mit einem Offiziersmantel der US-Artillerie schmückte - ihre Abordnungen zum Konferenzort führten, wo sie den besänftigenden Worten der weißen Häuptlinge lauschten, ihr Zeichen unter ein Vertragspapier setzten, in dem ihnen noch mehr von ihrem Stammesland abverlangt wurde, worauf sie schließlich mit Waren aller Art und Waffen belohnt wurden.

Doch die Cheyenne blieben fern, obwohl es wegen der Geschenke sehr unterschiedliche Meinungen gab. Mann-bereit-für-den-Krieg spottete über die Vorstellung, sein Geburtsrecht für ein paar Ballen billigen Stoffes oder, wie er gehört hatte, defekte Revolver zu verkaufen. Träumender Stein gelangte zu dem traurigen Schluß, daß sein Wunsch, seine letzten Winter in Frieden zu verbringen, wohl nicht in Erfüllung gehen würde.

Der Oktober warf längere und kühlere Schatten. Kurz bevor die weißen Häuptlinge ihre großen Zelte abbrechen wollten, ritt zum letztenmal ein Bote in das Lager der Cheyenne und bat sie zum Konferenzort. Träumender Stein sprach sich fast die ganze Nacht dafür aus. Schließlich waren ungefähr vierhundert Mann bereit, der Einladung Folge zu leisten und der Verachtung der anderen zu trotzen, da ungefähr fünfzehnhundert Arapahoe ebenfalls hingingen.

Träumender Stein ritt zusammen mit einem ganzen Trupp zum Konferenzort, sorgfältig darauf bedacht, in der Nähe seines weisen, guten Freundes Schwarzer Kessel zu bleiben und sich von einer Kriegerschar der Hundegemeinschaft fernzuhalten, die sich im letzten Moment entschlossen hatte, mitzukommen. Über den Grund war sich Träumender Stein nicht ganz im klaren; womöglich wollten sie ihre Waffen ergänzen oder, noch wahrscheinlicher, Ärger machen.

Im verblassenden, melancholischen Licht des sterbenden Tages erreichten die Cheyenne den Fluß und sahen auf der anderen Seite die großen Zelte, die Wagen und Pferde und die vielen blauen Uniformen. Die Hundesoldaten begannen sofort ihre Lanzen und Gewehre zu schwenken, zu heulen und zu johlen und zu singen. Einige donnerten in drohender Manier durch den Fluß. Der weißbärtige kommandierende Häuptling der Kommission streckte eine Hand in die Luft, um seine Männer zurückzuhalten. Träumender Stein sah viele Armeegewehre glänzen, als die johlenden Krieger ihre Pferde durch den Fluß trieben. Im letzten Moment zügelten sie durch und schüttelten sich vor Lachen über die besorgten Weißen.

Der weißbärtige General senkte seinen Arm. Dort, unter seinem Zeltdach, hatte er während des Angriffs mit keiner Wimper gezuckt. Ein tapferer Krieger, entschied Träumender Stein.

Nach einem abendlichen Festmahl lagerten die Cheyenne neben dem viel größeren Trupp der Arapahoe. Am Morgen setzten sich die Häuptlinge der Cheyenne und der Arapahoe in weitem Halbkreis vor das Hauptzelt der Kommission, den weißen Häuptlingen gegenüber.

Über einen Dolmetscher verkündeten die weißen Häuptlinge ihre Botschaft; eine sehr vernünftige Botschaft, wie Träumender Stein meinte.

»Wir haben böse Männer unter uns, die aus den Problemen auf beiden Seiten Profit schlagen möchten, und diese bösen Männer suchen ständig den Krieg. Wir glauben jetzt, daß diese bösen Männer General Hancock im letzten Frühjahr hinterhältige Lügen erzählt haben.«

Die glatten Worte der weißen Häuptlinge enthielten bittere Wahrheiten:

»Vielleicht haben einige eurer jungen Krieger mit mehr Blut als Hirn etwas dagegen, daß ihr mit uns Frieden schließt. Solche Männer müssen ausgestoßen werden. Ihr Rat ist der Tod. Ein lange anhaltender Krieg kann nur mit der totalen Vernichtung der Indianer enden, weil ihre Zahl viel kleiner ist.«

Träumender Stein erinnerte sich an das Bild mit dem Dorf der Weißen, das bis heute in seinen Alpträumen auftauchte, und nickte Schwarzer Kessel zu, der zurücknickte.

Es war weise von den weißen Häuptlingen, daß sie den empfindlichsten Punkt ansprachen:

»Solange der Büffel über die Prärie zieht, könnt ihr ihn jagen, vorausgesetzt, ihr haltet die am Little Arkansas abgeschlossenen Verträge ein. Doch die Büffelherden werden jedes Jahr weniger, ihre Zahl nimmt ab ...«

Verärgert unterbrach Träumender Stein: »Ich, frage die weißen Häuptlinge, wessen Schuld das ist? Unsere jungen Männer sagen, der Büffel werde jetzt aus Spaß gejagt, nicht mehr, um Leben zu erhalten. Ihr braucht den Büffel nicht wie wir zum Leben. Was sollen wir tun, wenn ihr uns den Büffel raubt?«

Die weißen Häuptlinge hielten eine traurige Antwort bereit: »Statt des Büffels müßt ihr euch Herden von Ochsen, Schafe, Schweine halten, wie die weißen Männer.«

Büffelhäuptling von den Cheyenne erhob sich und setzte zu einer hitzigen Entgegnung an:

»Wir sind keine Farmer. Wir entstammen der Prärie. Wir leben von ihr. Ihr glaubt, ihr tut sehr viel für uns, indem ihr uns Geschenke macht, doch selbst wenn ihr uns all die Waren geben würdet, die ihr uns geben könnt, dann würden wir trotzdem unser eigenes Leben vorziehen und so leben, wie wir es immer getan haben.«

Und als die weißen Häuptlinge das Thema der Überfälle auf Heimstätten und Eisenbahnlinien anschnitten, war der Kleine Rabe von den Arapahoe darauf vorbereitet.

»Ihr seid es, die eure jungen Männer in den Forts auf ihre Pflichten aufmerksam machen müßt. Sie sind wie Kinder. Ihr müßt sie daran hindern, wild herumzurennen. Das provoziert Krieg.«

Den Blauröcken gefiel diese Rede ganz und gar nicht; einige hoben drohend ihre Waffen. Die weißen Häuptlinge beruhigten sie. Der Tag schritt voran, und die Kampfeslust der Indianer ließ nach, während die Gier nach Geschenken und Waffen wuchs. Um sie in Versuchung zu führen, stellten die weißen Häuptlinge ihre Bedingungen:

Die Arapahoe und die Cheyenne müssen sich aus Kansas zurückziehen und sich mit den drei anderen südlichen Stämmen in einem Spezialreservat von 48.000 Quadratmeilen, das vom Indianerterritorium abgegrenzt wird, niederlassen. Auf diesem Land würden die fünf Stämme mit speziellen Indianeragenten als Vermittler leben. Gebäude würden errichtet werden für ei-nen Arzt, einen Landwirtschaftsexperten, einen Müller, einen Lehrer, einen Schmied und was sonst noch an Weißen benötigt wurde, um aus einer Rasse von Nomaden Farmer zu machen. Außerdem würde noch eine jährliche Gabe von den Weißen Vätern hinzukommen.

Als Gegenleistung mußten die Indianer versprechen, ihre Überfälle auf die Kutschen- und Eisenbahnlinien von Santa Fe, Smoky Hill und Platte River einzustellen. Sie mußten versprechen, sich aus Kansas fernzuhalten, obwohl ihnen erlaubt war, den Büffel auf dem offenen Land unterhalb des Arkansas zu jagen, solange es noch Büffelherden gab. Bei der Jagd durften sie sich einer Straße oder einem Fort nie mehr als zehn Meilen nähern.

Wieder seufzte Träumender Stein. Wie konnten so wenige für so viele derartig umfassende Änderungen beschließen? Viele bedeutende Häuptlinge - Großer Bulle, Medizinpfeil, Römernase - und Hunderte von Angehörigen des Volkes waren nicht da.

Doch letzten Endes wurde es so gemacht. Einige wenige Häuptlinge, in deren Bedauern sich die Erkenntnis der traurigen Realität mischte, stimmten schließlich zu. Sie setzten ihr Zeichen unter ein Dokument, das ihnen niemand vorgelesen oder übersetzt hatte.

Nicht alle Unterzeichner des Vertragspapiers taten es frohen Herzens. Büffelbär tobte: »Nun, wenn ihr es ernst meint, dann meine ich es auch so.« Er drückte die Feder so hart auf das Dokument, daß die Spitze abbrach.

Die Versammlung, die sich den ganzen Tag hingezogen hatte, war fast vorbei, und Träumender Stein hörte bereits das aufgeregte Gerede über die Geschenke. Plötzlich sprang der weiße Häuptling Terry auf und deutete.

Eine Staubfahne im Westen kündigte einen Reiter an, der auf das Lager neben dem Fluß zusprengte. Das Herz von Träumender Stein sank. Er erkannte Mann-bereit-für-den-Krieg.

Er kam in voller Kriegstracht, in einer Hand seine acht Fuß lange Lanze mit der blitzenden Stahlspitze, in der anderen seine Schlangenrassel mit den klickenden Afterklauen der Antilope. Er hatte sein Gesicht mit roter Farbe, vermischt mit Büffelfett, bemalt; nur die lange, gekrümmte Narbe hatte er ungefärbt gelassen.

Während die Soldaten um das Hauptzelt herum nach ihren Waffen griffen, sprang Narbengesicht von seinem Pony und marschierte zum Vertragstisch. Träumender Stein faltete die Hände. Der Wind, plötzlich kalt wie im tiefen Winter, wehte ihm das Haar wie einen grauen Vorhang über die besorgten Augen.

Narbengesicht starrte die anderen Männer seiner Gemeinschaft voller Verachtung an, die sich mit beschämten Gesichtern zusammendrängten. Dann schleuderte er den sitzenden Cheyenne-Häuptlingen einen flammenden Blick entgegen. Es war klar, was er von ihnen dachte.

Er betrachtete kurz die ausgebreiteten Dokumente, die feinen Federn und silbernen Tintenbehälter. Er sprach, assistiert vom Dolmetscher, schnell und voller Leidenschaft:

»Dieses Papier ist das Werk von Teufeln, die das Volk verraten. Was taugt das Versprechen des weißen Mannes? Das einzige Versprechen, das er hält, ist das Versprechen, unser Land zu stehlen. Und was taugen die Zeichen zahnloser alter Schwächlinge, wie sie dort sitzen? Wie können sie Land weggeben, das der Große Geist dem ganzen Volk gegeben hat? Sie können das nicht, und wir Männer der Hundegemeinschaft werden das nicht zulassen. Wir werden den Krieg fortführen, bis alle weißen Teufel und weißen Frauen und weißen Kinder tot sind.«

Die Regierungskommissare sprangen mit lauten Rufen auf. Narbengesicht lachte, entzückt von der Reaktion. Bevor ihn jemand aufhalten konnte, stieß er die Spitze seiner Lanze unter den Vertragstisch und kippte ihn um.

Dokumente flatterten. Federn fielen zu Boden. Tinte spritzte durch die Gegend. Irgend jemand feuerte einen Schuß ab, und ein älterer Arapahoe krümmte sich. Höhnisch lachend ging Mann-bereit-für-den-Krieg mit langsamem, hochmütigem Schritt zu seinem Pony zurück. Er schwang sich in den Sattel, warf den Kommissaren einen weiteren verächtlichen Blick zu, weil es ihnen an Mut fehlte, zurückzuschlagen, und ritt davon, auf das letzte Licht in den westlichen Hügeln zu.

Voller Scham und Zorn schlug Schwarzer Kessel beide Hände vors Gesicht. Träumender Stein spürte Tränen, die zu verbergen er sich nicht die Mühe machte. Die anderen Häuptlinge schauten unglücklich und besorgt drein. Taylor, einer der weißen Häuptlinge, schnarrte die Männer an, die alles mitgeschrieben hatten.

»Streicht diese Rede aus euren Notizen«, sagte er ihnen. »Wessen Zeitung das druckt, wird keine Zulassung mehr westlich des Missouri bekommen. Dies ist eine erfolgreiche Konferenz. Berichtet auch dementsprechend.«

Es war eine Zeit des Wandels. Die südlichen Cheyenne zogen sich in ihre Dörfer am Cimarron zurück, um dort friedlich zu überwintern, während sie auf ihren Umzug in das neue Reservat warteten. Charles hörte von Narbengesichts flammender Rede, als das Kontingent des Siebten Regiments nach Fort Harker zurückkehrte. Außerdem vernahm er, daß lediglich vier- oder fünfhundert Cheyenne die dreitausend Mitglieder des Stammes repräsentiert hatten. »Gut«, sagte er, während seine Augen wie die Spitze eines polierten Messers glitzerten. Seine Mundwinkel zogen sich leicht nach oben.

Auf den Handzetteln für den bevorstehenden Besuch von Trumps Schauspielertruppe zeigte sich eine Änderung. Die Vorstellung in Fort Harker war gestrichen worden.

»Ich habe gehört, daß dafür deine Freundin verantwortlich ist«, sagte Barnes zu Charles. »Sie hat entdeckt, daß die Führungsspitze keine Farbigen in die für Weiße bestimmte Halle lassen wollte. Deine Freundin schrieb einen Brief, daß sie die Angelegenheit mit Trump besprochen habe und die Armee in Fort Harker könne sich zum Teufel scheren. Wenn du sie sehen willst, dann wirst du schon rüber nach Ellsworth müssen.«

Typisch Willa, dachte er. Diese Kreuzzugsmentalität war ein untrennbarer Teil ihrer Persönlichkeit. Das war zwar nicht der Hauptgrund, aber immerhin einer der Gründe, weshalb er ihr fernbleiben wollte. Dann wieder erinnerte er sich an das silbriggoldige Glänzen ihres Haares, an ihre lebhaften fröhlichen Augen und wie sie sich in seinen Armen anfühlte.

Er wußte, daß er nach Ellsworth gehen würde - und zum Teufel mit den Konsequenzen.

St. Louis, Freitag, 1. November

hon. o.h. browning, Minister des Inneren:

Bitte gratulieren Sie dem Präsidenten und dem Land zu dem umfassenden Erfolg der indianischen Friedenskommission. Dieser Erfolg gipfelte in einem am 28. Okt. abgeschlossenen

Vertrag mit den südlichen Cheyenne, dem einzigen Stamm, der in dieser Gegend auf dem Kriegspfad war. Mehr als 2.000 Cheyenne waren anwesend ...

(gezeichnet) n.g. taylor Regierungskommissar für Indianische Angelegenheiten und Präsident der Friedenskommission

34

Trumps Schauspieler traten in Frank's Hall, Kansas City, auf, setzten dann mit der Fähre über den Fluß und wiederholten ihre Darbietung am folgenden Abend in der Halle des Militärpostens Leavenworth. Die Truppe bestand aus Sam, Willa, Tim Trueblood und einer stämmigen Charakterdarstellerin namens Miss Suplee. In einem großen Koffer waren ihre wenigen schlichten Requisiten und Kostüme untergebracht.

Brigadier Duncan besuchte die Shakespeare-Aufführung. Er hatte Willa eingeladen, bei Maureen zu bleiben, bis ihr Zug nach Fort Riley am nächsten Nachmittag um fünf Uhr abfuhr. »Ich denke, Sie möchten gern meinen Großneffen sehen«, sagte er.

»Er ist ja wahnsinnig gewachsen«, sagte sie am nächsten Tag. Duncan war gerade zum Mittagessen gekommen, das er hier statt in der Offiziersmesse zu sich nahm. Der kleine Gus kletterte ständig von seinem Stuhl. Freundlich, aber bestimmt wies Duncan ihn zurück.

»Gegen Ende des Jahres wird er drei.« Der Brigadier nahm einen Löffel von der heißen Schildkrötensuppe, die Maureen gekocht hatte. Der Junge hüpfte wieder von seinem Stuhl und packte Willa bei der Hand. »Spazieren, Tante Willa?«

Sie bemerkte Duncans scharfen Blick, und ihr Gesicht rötete sich. »Nach deinem Mittagsschläfchen, nicht vorher.«

Maureen hob ihn hoch und trug ihn zu Bett. In uneingeschränktem Frohsinn schlug er mit Armen und Beinen um sich. Er krähte vergnügt, als sich die Tür hinter ihm schloß.

Duncan sagte: »Tante Willa.« Mit einem zustimmenden Lächeln neigte er den Kopf.

»Ich habe ihn nicht dazu veranlaßt. Es war seine Idee.« Den Krach einer Truppe Berittener auf dem Exerzierplatz übertönend, sagte Duncan: »Sie wären gern mehr als nur seine Tante. Für ihn wäre das gut. Und für seinen Vater auch.«

»Nun«, leicht nervös zuckte sie mit den Schultern, »das stimmt. Aber ich bin mir nicht sicher, was Charles darüber denkt. Er ist ein wunderbarer Mann, doch in ihm steckt ein seltsamer, fremder Zug.«

»Der Krieg.« Willa schaute den Brigadier mit ihren hellen Augen fragend an. »Der Krieg hat das einer Menge Soldaten angetan. Charles hat zusätzlich noch das Massaker an einem Mann miterleben müssen, der sein Freund war.«

»Das verstehe ich. Ich weiß nur nicht, wie lange jemand die Vergangenheit als Entschuldigung für sein gegenwärtiges Benehmen benutzen kann.«

Duncan runzelte die Stirn. »Bis die Geduld der anderen erschöpft ist, denke ich. Geduld und auch Zuneigung.«

Sie konzentrierte sich darauf, ihre Serviette zu falten. »Das letztere niemals. Doch was die Geduld anbelangt - ich weiß nicht recht. Meine Geduld ist manchmal wirklich fast am Ende. Ich weigere mich, all das zu leugnen, an das ich glaube, bloß um Charles einen Gefallen zu tun.«

»Charles ist stark, genau wie du. Ob richtig oder falsch, er wird seinen Rachefeldzug gegen die Indianer nicht aufgeben.«

»Und ich hasse das. Ich hasse es für alles, was es verkörpert und was es ihm antut.« Sie machte eine Pause. »Ich habe fast Angst, ihn in Ellsworth zu sehen.«

Die Hand des alten Soldaten schloß sich über der ihren. Sie wandte sich ab, die Augen voller Tränen. Der Druck seiner kraftvollen Finger sagte, daß er ihre Angst verstand. Seine Augen sagten, daß sie Grund dazu hatte.

Charles' Kommando kam am Abend vor der Vorstellung zurück. Er fand Ike Barnes und Floyd Hook vor, die über Einzelheiten eines Clubs der C-Kompanie diskutierten, der nach dem Vorbild der Internationalen Guttempler, einer Gesellschaft zur Förderung der Temperenz, aufgebaut werden sollte. In vielen Militärposten des Westens gab es solche Gruppen. Wie der Alte erklärte, war die allgemein in der Armee grassierende Trunksucht noch nicht bis in seine Truppe vorgedrungen, und der Club würde dafür sorgen, daß es auch dabei blieb. First Sergeant Sternengucker Williams war für die Einberufung der Gründungssitzung verantwortlich.

Der Gedanke, Willa wiederzusehen, machte Charles nervös, obwohl er es andererseits kaum erwarten konnte, sie zu sehen; er rasierte sich und putzte sich mit einer sauberen Uniform und einem großen gelben Halstuch heraus. Da sich Satan ausruhen sollte, nahm er ein anderes Kompaniepferd für den Fünf-Meilen-Ritt am Nordufer des Smoky Hill entlang. Beim Reiten pfiff er die Melodie vor sich hin, die Willa für ihn niedergeschrieben hatte. Seine Carolina-Musik, wie er sie bei sich nannte.

Ein Großteil des von der Ellsworth Town Company eingeebneten ursprünglichen Bauplatzes war im Juni zerstört worden, als der normalerweise sanfte Smoky Hill über seine Ufer trat und die dürftigen Hütten und Läden wegspülte. Kaum waren sie verschwunden, da kauften die Stadtgründer neues, höher gelegenes Land im Nordwesten. Sie ließen eine neue Parzelle in Salina eintragen, um dort neues Baugelände zu erschließen; bald zeigte sich, daß dies wahrscheinlich das richtige Ellsworth werden würde. Es hatte bereits seinen eigenen Bahnhof, als Ergänzung des Bahnhofs von Fort Harker; der erste Zug war am 1. Juli von Osten her eingerollt.

Der Novemberabend war klar und kalt. Charles hatte sich in seinen knielangen Büffelfellmantel gehüllt. Als er sich durch die vielen Wagen und Pferde der Hauptstraße kämpfte, bemerkte er ein Dutzend hintereinander fahrender Wagen. Rotfleckige Planen bauschten sich. Breite Streifen getrockneten Blutes markierten die Seiten der Wagen. Vor dem Wagen ritt ein junger Mann, den Charles erkannte. Der Reiter neben dem jungen Mann erkannte Charles.

»Wie geht's? Du bist Main. Wir sind uns im Golden Rule House begegnet.«

Charles war es nicht gewöhnt, seinen richtigen Namen zu hören, ließ sich aber nichts anmerken. »Ich erinnere mich. Du bist Griffenstein.« Er zog den Handschuh aus und gab ihm die Hand.

»Das hier ist mein Boß, Mr. Cody.«

Charles gab auch dem jungen Mann die Hand. »Griffenstein meinte, Sie würden nicht im Hotelgeschäft bleiben. Seid ihr Jäger für die Eisenbahn?« Der in der Luft hängende Blutgeruch war unverkennbar.

Cody sagte: »Für Goddard Brothers, die Fleischlieferanten der Eisenbahn. Sie zahlen fünfhundert im Monat, dafür garantieren ich und meine Jungs, daß sie genügend Büffelfleisch für ihre Mannschaften kriegen. Wir schießen die Büffel so schnell ab, da springt ein ganz schöner Profit heraus.«

Charles musterte die Wagen, deren stinkende Fracht sich in der Silhouette gegen den Himmel abzeichnete. Dutch Henry Griffenstein grinste. »Du weißt gar nicht, was das Wort schnell bedeutet, bevor du nicht Buffalo Billy bei der Arbeit gesehen hast. In der Zeit, die wir anderen brauchen, um eine Winchester zu laden, legt er elf, zwölf Büffel um.«

»Ganz schön langweilig«, sagte Cody. »Hätte nichts dagegen, wieder als Scout zu arbeiten. Wir beeilen uns besser, Jungs. Ist bald dunkel.«

Er winkte die Wagen vor und ritt weiter. Dutch Henry grinste in seinen gewaltigen, brustlangen Bart. »Wenn du das Soldatenleben mal satt hast, Main, dann komm zu uns. Einen guten Schützen können wir immer brauchen.«

Nachdem Dutch Henry davongetrabt war, sah sich Charles vorsichtig nach allen Seiten um, ob jemand vielleicht seinen Namen gehört haben könnte.

»Unsere Festlichkeiten sind nun vorbei. In Luft, in dünne Luft haben sich unsere Schauspieler aufgelöst.«

Mit überschwenglichen Gesten schleuderte Sam Trump Pros-peros Abschied dem Publikum entgegen. Diesen Teil hatten sie vom Ende des vierten Aktes des Maskenspiels entliehen. Trump war zuversichtlich, daß niemand es bemerken würde. Im Halbkreis angeordnete abgeschirmte Lampen beleuchteten die improvisierte Bühne. An Seilen aufgehängte Decken dienten als Seitenvorhänge. Der Speisesaal des noch unfertigen Drover-town-Hotels diente als Theater.

Charles war zu spät gekommen, um einen Sitz auf den für diesen Abend aufgestellten Bänken zu ergattern. Er stand hinten zwischen einigen anderen Offizieren aus dem Fort, ebenfalls Junggesellen. Vor ihm saßen Offiziere, deren Frauen und schlicht gekleidete Einwohner der Stadt, aber kein einziger schwarzer Soldat.

Über die Köpfe des Publikums hinweg entdeckte ihn Willa, kaum daß er hereingekommen war. Sofort unterlief ihr ein Versprecher bei Julias Text der Balkonszene. Sie spielte gegen Trumps heiterkeitserzeugenden Romeo an. Trump war nicht nur zu dick und zu alt, sondern er schlug sich auch noch an jeder romantischen Stelle mit beiden Händen aufs Herz.

Das Publikum jedoch dürstete nach Unterhaltung, war eindeutig von den Shakespeare-Auszügen begeistert und lauschte zwei Stunden lang sehr aufmerksam. Während dieser Zeit mußte lediglich ein beschwipster Kutscher entfernt werden.

Trump hatte kaum seine letzte Zeile gesprochen, da setzte er in Erwartung einer Ovation zu einer tiefen Verbeugung an. Er bekam sie. Willa, Trueblood und die stämmige Charakterdarstellerin eilten hinter den Decken hervor. Alle reichten sich die Hände und verbeugten sich. Ike Barnes' Frau sprang auf und schrie: »Bravo! Bravo!«, was Trump veranlaßte, zu einer Soloverbeugung vorzutreten, wobei er eine Lampe umstieß. Ein Soldat in der vordersten Reihe verhinderte eine Katastrophe, indem er das auslaufende, aufflammende Öl austrat. Trump achtete nicht darauf.

Jedesmal wenn sich Willa verbeugte, blieb ihr Blick auf Charles gerichtet. Er hielt seine Hände hoch, damit sie ihn klatschen sehen konnte. Oh Gott, wie schön sie aussah; bei ihrem Anblick wurde ihm ganz warm ums Herz. Für einen Augenblick spürte er Frieden; er fühlte sich frei von Haß, von seiner Vergangenheit - von all seinen Schmerzen.

Als sich das Publikum erhob, drängte er zusammen mit anderen nach vorn, um dem Ensemble zu gratulieren. »Mein lieber Junge«, brüllte Trump, als er Charles erspähte; er stürzte vor, um ihm die Hand zu schütteln. »Wie schön, dich hier zu haben. Ich bin froh, daß du diese Vorstellung gesehen hast. Diese Tournee ist ein einziger Triumph. Ich bin sicher, daß sie im Osten bereits von uns gehört haben. Wenn sie nach uns verlangen, werde ich den Rest der Tour absagen müssen.« Und damit wandte er sich dem nächsten Bewunderer zu.

Charles eilte auf Willa zu, griff nach ihren Armen und küßte ihre Stirn. »Du warst wunderbar.«

Sie umarmte ihn. »Und du tust meinen Schauspielkünsten ganz und gar nicht gut. Bringst du mich hier raus?«

»Auf der Stelle«, sagte er, ihre Hand umklammernd.

»Ich möchte gern zu Fuß gehen«, sagte sie. Er machte sie auf die Kälte aufmerksam. »Ich habe einen alten, sehr warmen Wollmantel und einen Muff.«

Sie gingen hinaus, weg von dem unfertigen zweistöckigen Drovertown-Hotel. Ganz plötzlich standen sie einer schwarzen Prärie gegenüber; weiße und gelbe Sterne funkelten am Himmel.

»Willst du nicht zum Abendessen gehen?« erkundigte er sich. »Bist du nicht nach all der Arbeit halb verhungert?«

»Später. Erst möchte ich alles über dich wissen.« Die Worte sprudelten nur so aus ihr heraus. »Alles in Ordnung mit dir?«

»Alles in Ordnung.« Sie hakte sich bei ihm ein. Er lobte sie dafür, daß sie sich geweigert hatte, in Fort Harker zu spielen. »Sam sagte mir, die Tournee wäre ein Triumph. Du kannst mir die Wahrheit sagen.«

Sie lachte. »Fort Riley war mittelmäßig. Das Publikum war irgendwie daneben, vielleicht auch wir. Ich erwischte Sam, wie er kurz vor der Vorstellung zum Marketender schleichen wollte.«

»Habt ihr in Leavenworth gespielt?«

»Ja. Das Publikum dort war gut.«

»Hast du zufällig meinen Jungen gesehen?«

»Hab' ich. Er ist wundervoll, Charles. Sehr klug. Der Brigadier sagte, er habe sich selber an den Nachttopf gewöhnt, noch bevor er achtzehn Monate war.« Charles räusperte sich. Sie lachte ein zweitesmal. »Oh, stimmt ja. Anständige Damen erwähnen Gentlemen gegenüber solche Dinge nicht. Die Verruchtheit meines Berufs dringt wieder durch.«

Amüsiert sagte er: »Ich kenne die Geschichte mit dem Nachttopf.«

»Das hätte ich mir denken können. Der Brigadier meinte, für ihn sei es schwierig, mit Gus zurechtzukommen, weil er den Jungen anbetet und schrecklich verzieht, auch wenn er nicht die Absicht hat. Er zeigt ihm ständig dein Foto. Gus weiß, wer du bist. Er vermißt dich.« Wieder drückte sie seinen Arm. »Ich vermisse dich auch. Lad mich zum Essen ein, und traktier mich mit etwas Wein, dann zeige ich dir, wie sehr.«

Sie drehte sich um, stellte sich ihm in den Weg. Sie schlang einen Arm um seinen Nacken und zog ihn zu einem Kuß herunter. Er legte beide Arme um ihre Taille und spürte, wie ihr kalter Mund schnell warm wurde. Schweigend hielten sie sich umschlungen. Dann fing irgend etwas in Charles an, von ihr wegzustreben.

»Oh, wie ich dich vermißt habe. Ich liebe dich, Charles. Ich kann nicht anders.« Sie machte keine Pause, verzichtete auf das übliche Signal, daß er ihr dasselbe sagen sollte. »Vielleicht wirst du Gus jetzt öfter zu sehen bekommen. In den Prärien scheint alles friedlich zu sein.«

Sie gingen weiter, einen kleinen Hügel hoch. Oben angekommen stoppten sie, blickten ehrfürchtig zu dem gewaltigen Sternenzelt empor.

Endlich antwortete er ihr. »Im Winter ist es immer friedlich.«

»Ja. Aber ich meine, da gibt es jetzt schließlich den Medicine-Lodge-Vertrag. Das sollte doch ...«

»Willa, fangen wir nicht damit an. Du weißt doch, daß wir bei dem Thema Indianer immer Streit miteinander kriegen.« Wollte er Streit? Legte er deshalb eine gewisse Schroffheit in seine Stimme?

Sie hörte es, und es reizte sie. »Warum sollten wir nicht darüber reden, Charles? Schließlich ist es ein bedeutsamer Vertrag.«

»Komm, komm. Kein Vertrag besitzt große Bedeutung, und Medicine Lodge war noch schlimmer, weil nur einige wenige Häuptlinge unterzeichnet haben. Hast du die Artikel gelesen, die Mr. Stanley für die New York Tribune geschrieben hat? Diese dämlichen Regierungskommissare haben Schwarzer Kessel und den anderen nicht mal den gesamten Vertrag vorgelesen. Die Häuptlinge wollten den Kommissaren gefällig sein, sie wollten die Waren und die Waffen, also unterzeichneten sie.« Mittlerweile hatte sie ihm ihren Arm entzogen. »Sobald sie merken, was sie weggegeben haben, werden sie den Vertrag verwerfen. Falls die Krieger der Hundegemeinschaft sie nicht zuvor schon umgebracht haben.«

»Und das wünschst du dir, vermute ich?« Sie sah ihn an, ihr Gesicht blaß und verschwommen im Sternenschein. Ihr Atem breitete sich als weiße Wolke vor ihr aus.

»Ich will die Männer, die meine Freunde getötet haben. Ich wünschte, du würdest damit nicht anfangen.«

»Ich fange damit an, weil mir an dir was liegt.«

»Ach, zum Teufel.« Er drehte sich weg.

»Du möchtest, daß der Vertrag fehlschlägt.« Sie begann die Beherrschung zu verlieren, was für sie sehr ungewöhnlich war; er hörte es an ihrer schwankenden Stimme.

»Willa, ich habe dir gesagt, was ich will. Was das andere anbelangt, da befindest du dich immer noch auf der Bühne. Du träumst! Die Cheyenne werden nicht aufgeben, bevor sie nicht eingepfercht oder tot sind. Das mag nicht hübsch klingen, das mag dir oder deinen Quäkerfreunden nicht gefallen, denen das Herz beim Gedanken an einen Haufen Wilde blutet, mit denen sie nie was zu tun haben, aber so ist es nun mal. Du solltest allmählich aufwachen.«

»Ich bin hellwach, besten Dank. Ich dachte, du hättest dich vielleicht ein bißchen verändert. Du willst dem Vertrag keine Chance geben.«

»Weil es sinnlos ist. Henry Stanley hat das gesagt. General Sherman sagt das seit nunmehr zwei Jahren.«

»Und wenn deine Prophezeiungen wahr werden? Warum prophezeist du dann nicht mal zur Abwechslung Frieden?«

»Bei Gott, du bist die blindeste, unrealistischste ...«

»Du bist es, der blind ist, Charles. Du bist blind dafür, was aus dir wird. Irgendeine haßerfüllte Kreatur, die lebt, um zu töten. So einen Mann will ich nicht.«

»Keine Sorge, du hast ihn auch nicht auch wenn du verdammt eifrig hinter ihm her bist.«

Er brüllte. Sie schrie auf: »Du Bastard!« und schlug mit der flachen Hand nach ihm. Er wich aus und trat zurück. Er stand stocksteif, als er erkannte, daß sie weinte, während sie ihn verfluchte.

Wie ein Tölpel schaute er ihrer fliehenden Gestalt nach, die auf die ersten Lichter der Stadt zurannte. »Willa, warte. Für eine Frau allein ist es nicht sicher!«

»Sei still!« schrie sie über die Schulter zurück. Sie blieb stehen, drehte ihm ihr Gesicht zu. »Du kannst dich nicht wie ein anständiges menschliches Wesen benehmen. Du treibst alle von dir. Der Krieg ist daran schuld, sagte Duncan. Der Krieg, der Krieg ich habe den Krieg satt, und ich habe dich satt.«

Sie wandte sich um und rannte los. Er hörte ihr Weinen. Das Geräusch verklang langsam, dann verlor er ihre rennende Gestalt gegen die schwarzen Umrisse der Gebäude aus den Augen.

Langsam ging er zu dem Geländer vor dem Drovertown-Ho-tel, wo er sein Pferd angebunden hatte. Er wollte gerade in den Sattel steigen, als jemand aus dem tiefen Schatten geschwankt kam. Der Mann hatte sich dort versteckt und auf ihn gewartet. Charles sprang von Panik erfüllt zurück, weil er seinen Revolver im Fort gelassen hatte. Als der Angreifer in das aus der nächsten Saloontür fallende Licht trat, sah Charles die Chrysantheme am Aufschlag und roch den Gin.

»Du verfluchter, übler Kerl!« Sam Trumps Gesicht war ganz fleckig vor Zorn. Haarfärbemittel lief über seine Schläfen. Er hob die Faust, um sie Charles auf den Kopf zu schlagen. Charles bekam seinen Unterarm zu fassen und hielt ihn sich mühelos vom Leibe. Trump versuchte sich loszureißen.

»Laß los, verdammter Main, verdammter. Ich werde dir das verpassen, was ich dir versprochen habe, weil du dieser feinen jungen Frau weh getan hast.«

»Ich habe ihr nicht weh getan. Wir hatten bloß eine Meinungsverschiedenheit.«

»Das war mehr als eine Meinungsverschiedenheit. Sie kam schluchzend angerannt. Sie hat einen unerschütterlichen Mut, aber ich habe sie noch nie so kaputt gesehen.« Er versuchte Charles das Knie zwischen die Beine zu rammen. Charles brachte ihn mit Leichtigkeit aus dem Gleichgewicht. Der Schauspieler schrie auf und landete auf dem Boden.

Trumps Atem kam in scharfen Stößen. Er bewegte sich vorsichtig auf dem Boden, als hätte er sich etwas verknackst. »Es muß dir viel Befriedigung verschaffen, Leute zu verletzen, die schwächer sind als du. Du bist nicht besser als diese Wilden, die du zu hassen vorgibst. Verschwinde aus meinem Blickfeld.«

Charles holte mit dem Stiefel aus, um den alten Narren zu treten. Dann siegte die Vernunft. Er schwang sich in den Sattel und trabte schnell die Straße entlang, geschüttelt von Zorn und Selbstbeschuldigungen. Falls noch irgendwas zwischen ihm und Willa Parker übriggeblieben war, dann war es jetzt dahin.

MADELINES JOURNAL

November 1867. Unmöglich, mit dem Gettys-Laden Geschäfte zu machen. Seine Wucherzinsen bleiben bei 70% und einem Anteil an der Ernte. Das sind seine Bedingungen für Weiße. Schwarze werden abgewiesen.

... Die Ernennung von Gen. Edw. Canby zum Kommandeur des Militärbezirks hat die Leute etwas besänftigt. Er stammt aus Kentucky; nicht so hart wie der alte Sickles. Von Gen. Scott, der das staatliche Büro leitet, heißt es, er hätte den Ehrgeiz, der nächste Gouv. zu werden. Sehr merkwürdig für einen Mann, der Carolina erstmals als Kriegsgefangener kennenlernte. Die Meinungen über ihn sind geteilt. Einige halten ihn für einen Opportunisten. Will er den Staat regieren, um ihn in aller Ruhe ausbeuten zu können?...

Unser Flirt mit dem Bankrott geht weiter. Ein später Sturm trieb die Salzflut den Ashley hoch. Unsere Reisernte wurde vernichtet. Die alte, dampfgetriebene Säge, auf die ich so mühsam gespart hatte, brach an ihrem zweiten Betriebstag. Reparaturen sind teuer. Um sie bezahlen zu können, werde ich Dawkins' nächste Bankrate kürzen müssen. Er wird darüber nicht glücklich sein.

Aber es gibt auch Brosamen an guten Nachrichten. Brett hat endlich geschrieben. Ihr kleiner Junge, G. W, wächst und gedeiht im Klima von San Francisco. Nach einem harten, mühevollen Jahr hat Billys Installationsfirma den Vertrag für die Errichtung der Wasser-, Gas- und Liftinstallationen in einem neuen Hotel bekommen.

Wenn ich von solchen Erfolgen höre, gerate ich manchmal in Versuchung, hier alles aufzugeben und drüben noch mal von vorn anzufangen. Nur mein Versprechen, das ich dir gegeben habe, Orry -der Traum vom Wiederaufbau -, hält mich hier. Doch jeder Tag scheint die Verwirklichung dieses Traumes in weitere Ferne zu schieben ...

... Bald schon wird in einer speziellen Wahl entschieden, ob wir eine verfassunggebende Versammlung haben werden. Die Armee registriert weiterhin männliche Wähler. Sind sie schwarz, dann unterweist sie der neue UL-Club, wie sie dieses Recht auszuüben haben ...

In der herbstlichen Dämmerung eilte Andy Sherman durch das Dörfchen Summerton. Ein Soldat bei der Wählerregistratur holte die amerikanische Flagge ein, die über der vom Militär übernommenen verlassenen Hütte hing. Ganz in der Nähe plauderte ein Corporal mit einem barfüßigen weißen Mädchen, das immer wieder eine Haarsträhne um ihren Finger wickelte. Andy staunte. In manchen Punkten war es so, als hätte es den Krieg nie gegeben.

In anderen Punkten blieb er nüchterne Realität. Von der dunklen Veranda aus verfolgte ihn jemand von einem Schaukelstuhl aus mit seinen Blicken. Das sterbende Licht blitzte noch einmal in den Brillengläsern auf. Andy konnte die Feindseligkeit fast riechen.

Nachdem er eine weitere Meile marschiert war, bog er von der Uferstraße in einen schmalen, baumbestandenen Weg ab. Der Mond hing nun als strahlender weißer Kreis über den Bäumen. Ein schwarzer Junge mit schlechten Zähnen bewachte den Weg mit einer alten Flinte. Andy nickte ihm zu und wollte vorbeigehen. Der Junge versperrte ihm mit der Flinte den Weg und sagte dümmlich: »Kennwort, Sherman.«

Kennwort - Andy fand es kindisch und erniedrigend. Unglücklicherweise genossen die meisten Clubmitglieder solche Dinge.

»Freiheit«, sagte er. »Lincoln. Liga.«

»Gott segne General Grant. Geh durch, Bruder.«

Er betrat die Hütte, nachdem er von Wesley, einem bulligen Schwarzen mit einer Pistole im Gürtel, inspiziert worden war. Wesley half dem Clubgründer, eine Aufgabe, für die er sich bestens eignete; er war ein Schlägertyp.

Sie tauschten einen Blick voller gegenseitiger Abneigung aus. Dann ging Andy zu einer der hinteren Bänke. Ungefähr zwanzig Personen, junge und alte, waren anwesend. Der Organisator nickte einen Gruß vom anderen Ende der Hütte, wo er unter einem gerahmten Porträt von Lincoln stand.

Es gab nichts an Lyman Klawdell, was Andy beeindruckt hätte. Weder die schäbige Kleidung und die vorstehenden Zähne noch die jaulende Yankee-Stimme oder der tiefgeschnallte Colt. Klawdell befahl, eine Laterne auszublasen, worauf nur noch eine einzige Kerze auf einer Kiste in der Nähe des Porträts brannte. Die Kerze beleuchtete Klawdells Kinn und seine lange Nase von unten. Seine Augen glänzten in ihren tiefen schwarzen Höhlen. Das hatte eine unheimliche Wirkung, auf die manche mit nervösem Schaudern und Grinsen reagierten.

Klawdell schlug mit einem Hammer auf die Kiste. »Die Versammlung des Union League Club, Ashley-River-Bezirk, ist hiermit eröffnet. Gelobet sei Gott, gelobet sei die Freiheit, gelobet sei die Republikanische Partei.«

»Amen«, sagten die Zuhörer im Chor. Andy schwieg. Mußte man als freier Mann auf ein Schlüsselwort reagieren?

»Boys!« Falls einer von den anderen das als Beleidigung wertete, so merkte Andy zumindest nichts davon. »Wir nähern uns einem für South Carolina monumentalen Tag. Ich beziehe mich damit auf die spezielle Wahl zur Einberufung einer verfassunggebenden Versammlung, die diesen Staat auf den richtigen Weg bringen wird. Wir brauchen diese Versammlung, um Mr. Johnson in die Schranken zu weisen«, Stöhnen, höhnische Zurufe, »der sich nicht gerade als Freund des schwarzen Mannes gezeigt hat. Er arbeitet weiterhin gegen den Kongreß, der versucht, euch eure Rechte zu garantieren.«

Andy sah Verwirrung auf vielen Gesichtern als Folge von Klawdells billigen Worten. Mußte man Menschen verwirren, um sie zu beeindrucken?

». der sich vor kurzem eine noch größere Unverschämtheit geleistet hat, als er einen eurer besten Freunde, den Ehrenwerten E.M. Stanton, Kriegsminister und loyaler Anhänger eures geliebten Präsidenten Lincoln, entmachtete. Johnson will Stanton daran hindern, seinen Job zu tun, weil er ihn so gut macht. Es war Mr. Stanton, der die Soldaten geschickt hat, die euch beschützen. Wißt ihr, was mit Johnson passieren wird?«

Die Männer antworteten: »Nein.« Andy verzog das Gesicht. Klawdell schlug ein paarmal mit dem Hammer zu.

»Eure republikanischen Freunde werden Johnson den Hals umdrehen. Vielleicht werfen sie ihn sogar aus dem Amt.«

Applaus und Stampfen. »Schon gut, beruhigt euch«, schnappte Klawdell. »Wir haben hier zu Hause wichtige Geschäfte zu erledigen. Wie viele von euch Jungs sind nach Summerton gegangen und haben sich zugunsten der Versammlung eintragen lassen?«

Bis auf Andy und einen alten Mann hoben alle die Hand. Klawdell mochte Andy nicht; er deutete mit dem Hammer auf ihn. »Erklär das mal, Sherman.«

Empört sprang Andy auf. »Ich arbeite den ganzen Tag, bloß um zu überleben. Abends kann man sich nicht mehr eintragen, und ich habe nur da Zeit.«

»Komm schon, raus mit der Wahrheit«, sagte Klawdell. »Diese Frau, die Mont Royal leitet, läßt dich nicht. Sie gibt vor, auf seiten der Farbigen zu sein, aber das ist sie nicht. Warum sprichst du nicht offen und klagst sie an?«

»Weil sie eine Freundin ist; ich werde keine Lügen über sie verbreiten.«

Klawdell leckte sich die Lippen. »Sherman, einigen dieser Jungs ging es vor einiger Zeit noch genauso mit ihren Herren. Weißt du, was mit ihnen passiert ist?«

»Oh ja.« Er deutete auf Rafe Hicks, einen hellbraunen Jungen mit einem schmutzigen Kopfverband. »Ein paar von ihnen wurden in der Dunkelheit überfallen und verprügelt.«

»Dann lerne was draus. Klag sie öffentlich an.«

»Das werde ich nicht. Wenn das von mir verlangt wird, gehöre ich nicht mehr zu diesem Club.«

Er ging, innerlich angespannt, schnell zur Tür. Wesley blockierte seinen Weg; es zuckte ihm in den Fingern, seine Pistole zu ziehen. Andy stoppte, ballte seine Hände zu Fäusten und starrte Wesley an. Mit leiser Stimme sagte er: »Wenn du mich aufzuhalten versuchst, Wesley, dann wirst du gleich ein paar gebrochene Knochen haben. Oder Schlimmeres.«

Wesley fluchte und zog seine Pistole. Klawdell riß seinen Revolver heraus und hämmerte mit dem Kolben auf die Holzkiste. »Schon gut, schon gut, beruhigt euch. Wir brauchen deine Stimme dringender als einen Kampf, Sherman. Wenn du bereit bist, dich registrieren zu lassen.«

»Das bin ich. Ich muß nur die Zeit dazu finden.«

»Dann wollen wir das andere vergessen.«

Andy warf ihm den gleichen durchdringenden Blick zu, mit dem er Wesley bedacht hatte. Dann kehrte er zu seiner Bank zurück. Andy spürte eine leichte Befriedigung, aber auch Bitterkeit. Die Männer der Liga strömten in den Süden - um bei der Erziehung der befreiten Neger behilflich zu sein, wie sie sagten. Aber mußten sie deshalb Mißtrauen, sogar Haß gegen gute weiße Freunde säen?

Klawdell fuhr fort: »Dieser Sonderkonvent wird eine großartige Sache werden, Jungs. Aber er wird nie stattfinden, wenn nicht die Mehrheit der Wähler von South Carolina dafür ist. Sherman und Newton müssen bis zum 19. November unterschrieben haben.«

Der alte Mann Newton sagte: »Aber wir müssen das in Summerton tun, Captain. Gettys und seine Freunde, wie dieser Cap-tain Jolly, die sagen, halt nicht in Summerton an, Nigger. Lauf gleich durch.«

»Was glaubst du, warum zwei Soldaten an der Kreuzung stehen, Newton? Nicht bloß, um dich zu registrieren. Die sorgen auch dafür, daß sich niemand einmischt, wenn du's tust. Du kannst Gettys und seinen Kumpels sagen, sie sollen dich gefälligst am Arsch lecken.«

Inmitten des aufbrandenden Gelächters und Klatschens krümmte sich Andy innerlich zusammen. Der Tonfall lag hier völlig daneben. Irgendwie wurden seine schwarzen Freunde und Nachbarn wie Kinder behandelt. Beinahe wäre er aufgestanden und endgültig gegangen. Nur das größere Ziel des Clubs, wichtiger als Klawdells Benehmen, hielt ihn davon ab.

Klawdell bekam Andys Widerwillen mit und schlug einen gemäßigteren Ton an. »Ich sage es noch einmal, Sherman - wir brauchen dich und Newton. Jede Stimme zählt. Laßt euch registrieren. Bitte.«

Nun, das war schon besser. »Keine Sorge. Ich werde es tun.«

»Gelobet sei Gott!« rief Klawdell. Er steckte seinen Revolver weg und griff zum Hammer. »Also gut, dann raus mit der Sprache. Was ist die Partei des farbigen Mannes?«

Alle bis auf Andy sagten: »Unions-Republikaner.«

Wumm. »Wer sind eure Feinde?«

»Johnson. Demokraten.«

Wumm, wumm. »Wer will euch die Rechte stehlen, für die wir gekämpft und geblutet haben, für die Abe Lincoln gestorben ist?«

»Demokraten!«

»Und jetzt sagt mir den Namen eurer wahren Freunde.«

Bei jedem Wort stampften sie auf. »Unions-Republikaner.«

»Wer wird diesen Staat übernehmen?« Jetzt brüllte Klawdell. »Wer wird dieses ganze Land übernehmen und es richtig führen?«

»Unions-Republikaner! Unions-Republikaner!« Das Gestampfe ließ die Hütte erbeben. Andy machte ein finsteres Gesicht, während die anderen klatschten und die Hütte mit ihrem Lärm füllten. »Unions-Republikaner! Unions-Republikaner!« Einige der Männer funkelten Andy zornig an. Er gab die Blicke genauso zornig zurück; der Teufel sollte ihn holen, wenn er sich wie ein abgerichteter Hund benahm. In schweigendem Protest blieb er weiterhin stocksteif sitzen.

Am nächsten Tag erschien Andy eine Stunde vor Sonnenuntergang an der Summerton-Kreuzung. Mit schnellem Schritt näherte er sich der flaggengeschmückten Hütte. Der Corporal trat heraus, schüttelte ihm die Hand und begleitete ihn hinein.

Durch das Fenster seines Ladens hatte Randall Gettys die Szene beobachtet. Als Andy zehn Minuten später wieder mit zufriedenem Gesicht auftauchte und sich auf den Heimweg machte, begann Gettys sofort einen Brief an Des in Charleston zu schreiben:

Sie hat alle ihre Nigger registrieren lassen. Ich habe zur Vorsicht gedrängt, aber wir können nicht viel länger warten. Du kommst besser her, um alles zu besprechen.

Dann schrieb er an seinen Cousin Sitwell oben im York County:

Die pestartige Republikanische Liga hetzt alle örtlichen Farbigen auf. Sie sind mehr als wir und werden uns auch bei den Wahlen in diesem Monat überstimmen. Wir sind verzweifelt auf der Suche nach ein paar sicheren Methoden, mit denen wir sie einschüchtern könnten. Hast du noch was von dieser Geheimgesellschaft in Tennessee gehört?

Die Wahl zur Einberufung eines Konvents wurde mit überwältigender Mehrheit gewonnen. Ich denke, daß es daran auch nie einen Zweifel gegeben hat. Mindestens 80.000 Neger haben sich registrieren lassen und halb so viele Weiße.

Das Militär hat Andy überredet, sich als Delegierter aufstellen zu lassen, was er auch getan hat. Er wird im Januar nach Charleston gehen.

Das ist unsere einzige gute Nachricht. Zwei Mißernten in diesem Jahr - die Dampfsäge immer noch nicht repariert - Dawkins verlangt die Quartalszahlungen - wir stehen dichter vor dem Bankrott denn je. Gestern abend haben Prudence und ich wieder darüber diskutiert, ob ich wich an George H. wenden soll. Ich bin fest geblie-ben, frage mich aber, ob es richtig ist. Ist es nicht besser zu betteln, anstatt alles zu verlieren? Wie sehr ich mir doch wünsche, du wärst hier, um mir zu raten.

35

Charles, Graue Eule und weitere zehn Mann rückten wieder aus, um entlang der Eisenbahnlinie östlich von Fort Harker zu patrouillieren. Auf diesem Abschnitt ereigneten sich Indianerangriffe zwar nicht so häufig wie zwischen Harker und Fort Hays im Westen, kamen aber doch vor.

Charles war dankbar, wieder im Einsatz zu sein. Es half ihm, seine Trauer, aber auch seinen Zorn über Willa in den Hintergrund zu drängen. Von diesen Gefühlen abgesehen ging es ihm gut. Er besaß ein großartiges Pferd; Satan war schnell, wurde unter Feuer nicht nervös und besaß eine unglaubliche Ausdauer. Er ritt den Schecken nun schon so lange, daß Pferd und Mann fast die Gedanken des anderen lesen konnten.

Genauso zufrieden war er mit seinen Männern. Er ließ sich bis ans Ende zurückfallen und inspizierte sie. In Zweierreihe kamen sie an ihm vorbei, jeder mit einem Messer an der linken Hüfte, an der rechten den Revolver mit nach vorn gerichtetem Kolben. Nur ein Mann trug den regulären Patronengurt. Die anderen führten ihre Patronen in selbstgenähten Gurten mit. Für ehemalige Stadtjungs waren sie eine wilde Bande; im Grunde ähnelten sie herumstreifenden, auf alle Eventualitäten vorbereiteten Banditen.

Shem Wallis ritt vorbei. Charles hörte, wie er zu Corporal Magic Magee sagte: »Gott, ist das heiß. Ich kann nicht glauben, daß wir November haben. Wann machen wir Mittagspause?«

»Bald«, sagte Magee. »Hier, paß auf die Münze auf.«

Charles rief Wallis zu: »Wir halten dort.« Er deutete auf ein kleines Wäldchen links vor ihnen. Da Bäume für gewöhnlich auf feuchtem, tiefliegenden Land wuchsen, fanden sie dort vielleicht einen Bach und Pappelrinde für die Pferde.

Charles ließ sich jetzt bis zu Graue Eule zurückfallen. Die Männer mochten den Spurenleser; Magee war ganz begeistert von ihm, weil Graue Eule so ein großartiges Publikum für seine Tricks abgab. Charles wußte immer noch nichts von seiner Vergangenheit, vor allem nicht, weshalb er sein Volk verlassen hatte. Der Spurenleser schien entspannt und gut gelaunt, also probierte Charles es noch einmal.

»Graue Eule, wenn du für mich als Spurenleser arbeitest, dann würde ich gern einiges über dich wissen. Erzähl mir von deiner Familie.«

Der Indianer zog sich tiefer in sein Büffelfell zurück. Trotz der Hitze zeigte sich auf seinem zerfurchten Gesicht kein Schweißtropfen. Er dachte eine Weile nach, bevor er antwortete. »Mein Vater war ein großer Kriegshäuptling namens Krummer Rücken. Meine Mutter war eine weiße Frau, die er gefangen hatte. Es hieß, sie sei schön gewesen und habe helle Haare gehabt. Sie ist schon sehr lange tot.«

Diese überraschende Information war ein erster Ansatzpunkt. »Noch weitere Verwandtschaft?«

»Nein. Vor acht Wintern ging meine Schwester in die ewigen Jagdgründe. Vor fünf Jahren folgte ihr mein einziger Bruder.

Beide starben an der gleichen Krankheit. Die Krankheit, die wir gar nicht kannten, bevor euer Volk sie uns brachte.«

»Pocken?«

»Ja.« Graue Eule warf Charles einen langen Blick zu, den ein vages Schuldgefühl überkam. Der Indianer starrte nach vorn auf die Hitzewirbel.

Charles räusperte sich. »Ich möchte wirklich gern wissen, weshalb du bereit bist, für die Armee als Spurenleser zu arbeiten.«

»Als junger Mann suchte ich meine Vision, um ein Krieger zu werden und den Sinn meines Lebens zu finden. Im Schwitzzelt brannte ich das Gift des Zweifels und des Hasses und der Selbstsucht aus. Ich malte mein Gesicht weiß, um es zu reinigen, und ging, wie es Suchern vorgeschrieben ist, an einen gefährlichen Ort. Einen einsamen Ort, wo das Gras so hoch und trocken ist, daß der kleinste Funke ein gewaltiges Feuer entzündet, das mich verschlingen würde.«

Charles hielt den Atem an. Er ging voran.

»Drei Tage und Nächte lag ich in dem hohen Gras verborgen und rief nach meiner Vision. Ich aß nichts. Ich trank nichts. Ich wurde belohnt. Der Weise über uns, der Heilige Geist, den ihr Weißen Gott nennt, begann aus den Wolken zu sprechen, aus den Steinen in einem Fluß und aus einer vorbeigleitenden Schlange. Ich sah mich selbst so hohl und glatt wie ein trockenes Rohr, bereit, gefüllt zu werden.

Dann bewegte sich Gott. Alle Gräser beugten sich, jeder Halm deutete nach Norden auf den uralten heiligen Berg. Im leeren Himmel tauchte ein Adler auf. Er strich knapp über meinen Kopf und flog nach Westen. Dann senkte sich aus der Mitte der Sonne eine große Eule hernieder. Die Eule sprach eine Weile. Dann machte mich die Sonne blind.«

»Wurde die Eule zu deinem Geburtsvogel?«

Graue Eule zeigte sich überrascht; Charles wußte mehr von den Stammessitten, als er vermutet hatte. »Ja. Ich trage immer die Klaue einer großen Eule bei mir.« Er tippte gegen seinen Medizinbeutel, den er an seinem Gürtel befestigt hatte. »Und wenn ich darum bitte, erscheint stets eine große Eule und leitet mich, wenn ich verloren oder verwirrt bin. Ich lernte den Sinn und Zweck meines Lebens von der Eule und dem Adler.«

»Und worin besteht der?«

»Dem Volk zu helfen, den richtigen Weg zu finden. Es zu den Winterlagern und den Zeremoniengründen für die großen Sommerfeste zu führen. Dem Büffel mit dem Schnee nach Süden zu folgen und mit dem grünen Gras nach Norden. Als ich mit meiner Vision zurückkehrte, trug ich die Insignien eines Kriegers, doch danach folgte ich stets meinem Ziel.«

»Das Volk zu führen. Doch jetzt führst du uns. Warum?«

Das Gesicht von Graue Eule wurde steinern. »Das Volk hat sich so weit von dem richtigen Weg entfernt, daß nicht mal Gott es zurückführen könnte. Es ist Zeit zu rasten. Soll ich diese Bäume dort vorn absuchen?«

Es war, als wäre in Trumps Theater der Vorhang gefallen. Frustriert nickte Charles. Der Cheyenne drückte seinem Pony die Mokassins in die Flanken und trieb es auf das ferne Wäldchen zu.

Zehn Meilen weiter östlich verließ ein Personenzug das Dörfchen Solomon und fuhr nach Westen ins Saline County hinein. Im Frachtwaggon putzten zwei Mann ihre Waffen, während zwei andere Karten spielten.

In einem Zweite-Klasse-Wagen schaute eine junge Frau, die unterwegs zu ihrem Mann nach Fort Harker war, aus dem Fenster auf die kahle, öde Landschaft hinaus. Sie war noch nie west-lich des Mississippi gewesen. Ihr Ehemann war vor kurzem zur Siebten Kavallerie versetzt worden.

In dem Sitz vor ihr las ein Kavallerieoffizier sehr aufmerksam in einem Buch über Taktik. Am Ende des Wagens zählte der Schaffner die abgerissenen Fahrkarten. Die anderen Passagiere unterhielten sich oder dösten vor sich hin; niemand warf einen zufälligen Blick auf die Südseite des Zuges. Dort trieben zwanzig Berittene in einer Linie ihre Pferde einen flachen Hügel hinunter. Unten angekommen, galoppierten sie auf den Zug zu.

Während sie auf Graue Eule warteten, zog Magee sein Übungsseil hervor. Er reichte das Seilstück dem Kavalleristen George Jubilee, dann überkreuzte er seine Handgelenke und bat Jubilee, ihn zu fesseln.

»Richtig fest«, sagte Magee. Jubilee drängte sein Pferd näher an ihn heran und schlang das Seil mit äußerster Konzentration mehrmals um Magees Handgelenke. Er merkte nicht, wie sich Magees Rückgrat plötzlich versteifte, wie seine Unterarme zitterten und Adern auf den dunkelbraunen Handrücken seiner Fäuste auftauchten. Charles jedoch sah es von seiner Position aus; er hatte schon öfter Magees Entfesselungskünste erlebt und schaute genau hin. Fast unmerklich spannte Magee das Seil, während Jubilee seine letzten Schlingen legte und zweimal verknotete.

Jubilee lehnte sich in seinem Sattel zurück, zufrieden mit seinem Handwerk. Magee begann mit geblähten Nasenflügeln seine Hände in entgegengesetzten Richtungen zu drehen. Er grunzte einmal auf und plötzlich, schneller als Charles folgen konnte, waren seine Hände frei. Das Seil war immer noch um sein linkes Handgelenk geknotet. Er hatte gerade genügend Spannung erzeugt, um eine Hand herausdrehen zu können.

Magee lächelte träge und zupfte an den Knoten, während Kavallerist Jubilee ihn verblüfft anstarrte. Er war relativ neu in der Truppe und noch nicht an Magees Tricks gewöhnt.

Graue Eule kehrte nach zehn Minuten zurück. Er war bleicher, als Charles ihn je gesehen hatte.

»Weiße sind dort vorbeigekommen«, sagte er mit unterdrückter Wut. »Unter den Bäumen liegen tote Männer und tote Pferde. Die Leichen sind ausgeraubt worden.«

Charles setzte sich an die Spitze und führte seine Truppe zu dem Wäldchen. Aus einiger Entfernung schon sah er den Bach, mit dem er gerechnet hatte, ein sich schlängelndes gelbes Band am Nordrand des Wäldchens.

Ein widerlicher Geruch entströmte den blattlosen Bäumen. Charles erkannte ihn sofort. Den gleichen Gestank hatte er bei Sharpsburg und Brandy Station und an anderen Orten gerochen, wo die Toten lange nach Feuereinstellung noch herumgelegen hatten. Einer seiner jungen Männer beugte sich nach rechts aus dem Sattel; seine Schultern zuckten konvulsivisch.

Charles zog seinen Säbel aus der Scheide und gab das Haltzeichen. »Ich gehe als erster. Ich versorge inzwischen eure Pferde mit Wasser.«

Er stieg ab, nahm den Säbel in die linke Hand und zog seinen Colt. Vorsichtig näherte er sich dem Wäldchen. Graue Eule folgte ihm, ohne um Erlaubnis zu fragen; Charles nahm ihn nur als einen durch das trockene Gras huschenden Schatten wahr.

Vom Rande des Wäldchens aus sah er ein totes Pferd, dann zwei weitere Pferde. Kriegspferde, die für gewöhnlich am Leben gelassen wurden, damit ihre Besitzer im Paradies gute Reittiere zur Verfügung hatten. Das bedeutete, daß sie wahrscheinlich nicht von Indianern erschossen worden waren.

Er schluckte, machte einige weitere Schritte und entdeckte die drei verwesenden Leichen. Ihrer Kleidung beraubt, lagen sie zwischen zerbrochenen Teilen hölzerner Plattformen. In der Mitte des Wäldchens standen immer noch senkrechte Stämme, die die Plattformen getragen hatten. Charles zwang sich, näher an die nackten Leichen heranzugehen. Neben ihnen fand er zerbrochene, mit leuchtenden Farben bemalte Pfeile. Alles andere war geplündert worden.

Er hörte den Zorn in der Stimme von Graue Eule. »Weißt du, was hier passiert ist?«

»Ja. Bei deinem Volk ist es Sitte, ihre Toten auf diese Begräbnisplattformen zu legen, wenn der Winterboden zu hart zum Graben ist. Das hier waren besondere Männer - Kriegshäuptlinge, Lagerhäuptlinge, vielleicht Gemeinschaftsführer -, da sie auf diese Weise beerdigt wurden, als der Boden nicht gefroren war.«

Da die Toten auf der Plattform dem Himmel näher waren, konnten sie schneller die Straße zum Paradies beschreiten. Es gehörte zu den Sitten der Cheyenne, den Toten auch noch persönliche Schätze, Waffen und ein Lieblingspferd mitzugeben, damit es dem Toten in dem Leben danach an nichts fehlen würde. Trotz seines Hasses auf die Cheyenne stellte Charles fest, daß ihm die Leichenschändung Übelkeit bereitete.

»Schau genauer hin«, sagte Graue Eule zu ihm. Der Fährtensucher stammelte fast vor Wut. »Geh hin. Schau!«

Charles trat vor, blieb aber gleich wieder mit blassem Gesicht stehen. Nicht nur die Totenkleidung war verschwunden, sondern auch Fleischstücke, herausgehackt aus Armen, Beinen und Rumpf. In den faustgroßen Löchern wimmelte es von Maden.

»Jesus Christus. Wozu?«

Graue Eule schrie: »Köder.« Er winkte wild in Richtung des Flüßchens. »Fischköder. Ich habe das schon einmal erlebt. Ein Soldat der Siebten prahlte damit.« Aus den Augen von Graue Eule liefen die Tränen. Einen Augenblick lang dachte Charles, der Cheyenne würde sein Messer ziehen und ihn niederstechen. »Der weiße Mann ist Dreck. Er begeht seine Heldentaten an den Toten.«

»Manchmal sind deine eigenen Leute ...«, fing er an, in Gedanken bei Holzfuß und Boy und dem Mädchen in dem Lehmhaus mit den veilchenblauen Augen. Er hielt inne, weil diese Grausamkeiten die Untaten hier nicht ungeschehen machen konnten.

Ein langgezogenes Pfeifen im Osten zerriß das Schweigen. Ein nach Westen fahrender Zug.

Graue Eule wandte sich ab und verließ das Wäldchen. Es war ganz deutlich, daß er in diesem Moment Charles und alle anderen Weißen haßte. Warum zum Teufel arbeitete er dann für sie?

Aus der Ferne hörte er schwache Explosionen. Er stürzte aus dem Wäldchen, froh über die Ablenkung, und schwenkte den Säbel. »Aufsitzen. Das ist Gewehrfeuer.«

Drei Kavalleristen am Fluß hoben ihre nassen Gesichter, als er erneut brüllte: »Aufsitzen!« Er schwenkte noch einmal den Säbel über seinem Kopf und rannte auf Satan zu; durch den plötzlichen Einsatz wurden seine Emotionen gnädig in den Hintergrund gedrängt.

Die Indianer teilten sich; die Hälfte von ihnen galoppierte um den letzten Waggon des keuchenden U.P.E.D.-Lokalzugs. Die parallelen Kolonnen griffen den Zug von beiden Seiten an.

In dem Zweite-Klasse-Abteil schaute die Frau des Sergeant aus dem Fenster und sah braunhäutige Männer mit im Wind flatternden Haaren, die auf blankem Pferderücken ritten. Einige hatten Gewehre, andere Jagdbogen. Vorne im Wagen sprang eine ältere Frau auf und fiel dann in Ohnmacht. »Mein Gott, Lester, Cheyenne«, rief ein Mann seinem Reisebegleiter zu.

»Arapahoe«, sagte der Kavallerieoffizier auf dem Platz vor der Frau. »Man erkennt sie an den offenen Haaren.« Er riß seinen Dienstrevolver heraus, zerbrach mit drei Stößen seines Ellbogens das Fenster und feuerte. Die Kugel ging daneben.

Die Frau des Sergeant starrte ungläubig in ein wildes, bemaltes Gesicht, keine drei Fuß von ihr entfernt. Es war kein Mann, sondern ein Junge, höchstens siebzehn oder achtzehn. Er riß sein Gewehr hoch, während er sein rasendes Pony mit den Knien lenkte. Der Junge und die Frau starrten sich einen endlosen Augenblick lang an, nur die Fensterscheibe und der Gewehrlauf zwischen ihnen.

»Runter!« brüllte der Offizier mit dem rostbraunen Bart sie an. Er stand auf und zielte auf den Indianer. Der junge Krieger sah ihn und schoß zuerst. Der Körper des Colonel wurde herumgerissen, er verdrehte die Augen und sank zu Boden.

Ein Mann schrie: »Wir werden alle sterben!«

»Den Teufel werden wir!« rief der Schaffner. »In dem Zug sind ein Paar Männer der Eisenbahn versteckt.«

In dem Frachtwaggon verborgen lachte J.O. Hartree seinen drei Gefährten zu, als er die donnernden Hufe, die schrillen Schreie und die ersten Schüsse hörte. Er war ein rundlicher, relativ junger Mann, der mit seinem welligen Haar und dem langen, an den Spitzen gewachsten Schnurrbart auf eine sanfte Art und Weise ganz gut aussah. Er hatte ein frommes, unaufrichtiges Lächeln und tückische Augen.

»Turk, du stellst dich neben mich«, sagte er und streifte sich schnell glänzende Lederhandschuhe über. Er rollte die Ärmel seines weißen Seidenhemdes hoch und beugte die Knie, um sicher zu sein, daß er das richtige Gefühl für den fahrenden Zug hatte. Wenn es losging, konnte er sich nicht mehr mit den Händen festhalten.

Hartree und seine angeheuerten Scharfschützen fuhren seit Wochen auf dieser Linie, in der Hoffnung, daß sich ihnen diese Chance einmal bieten würde. Den ganzen Sommer hindurch hatten die Stämme die Baustellen überfallen, die Arbeiter terrorisiert und einige von ihnen niedergemetzelt, die sich dummerweise allein auf Abwege begeben hatten. Hartree hatte Befehl, den verdammten Roten klarzumachen, daß sie die Linie nicht ungestraft überfallen konnten. Es war eine Aufgabe, die er genoß.

Er glättete die Front seiner grünen, mit zwei Antilopen geschmückten Samtweste. »Red, wenn ich den Befehl gebe, dann schieb die Tür auf. Dann hilf Wingo beim Laden der Gewehre.« Auf dem Boden lagen acht mächtige Sharps-Büffelflinten vom Kaliber .45, vier für jeden Schützen. J.O. Hartree plante sorgfältig.

Zwei Kugeln klatschten außen gegen den Waggon. Über den Lärm hinweg hörte Hartree das Geräusch brechenden Fensterglases. Die Passagiere wurden angegriffen. Nun, er würde diesem roten Abschaum eine echte Überraschung bereiten.

»Die ersten beiden Gewehre, Red. Spannt die Hähne. Turk, wenn du feuerst, bevor ich es sage, dann jage ich dir die erste Kugel in den Kopf.«

Charles und seine Männer kamen über den nächstgelegenen Hügel in Formation gestürmt. Dichte Rauchwolken hingen über dem Zug. Heulende Indianer mit offenem Haar galoppierten nebenher. Die Indianer bemerkten die Kavalleristen und reagierten überrascht und verwirrt darauf.

Der Zug befand sich ungefähr eine Viertelmeile links von den Soldaten. Charles preßte seine Knie gegen Satans Leib und bemühte sich, seine Spencer ruhig zu halten; er wußte, daß die Chance auf einen Treffer vom galoppierenden Pferd aus sehr klein war.

Ein Indianer schwang seinen Bogen nach oben und zielte auf Magic Magee, der links neben Charles ritt. Charles beugte sich hinüber und schlug Magee gegen die Schulter. Magee schwankte einen Moment und rutschte nach vorn, tief über den Pferdenacken. Der Pfeil zischte durch die Luft, dort, wo eben noch seine Kehle gewesen war.

Magee raffte sich wieder hoch und warf Charles einen dankbaren Blick zu. Shem Wallis zielte und holte den Bogenschützen aus dem Sattel. Die Indianer verlangsamten ihr Tempo nun; sie waren zwar den Soldaten gegenüber in der Überzahl, ihnen aber an Feuerkraft unterlegen. Charles brüllte seine Befehle, und die Hälfte der Kavalleristen bog ab, um auf der anderen Zugseite hinter den Indianern herzujagen.

Charles näherte sich dem Zug, brachte die Spencer erneut in Anschlag. Dann geschah etwas, auf das die Soldaten überhaupt nicht vorbereitet waren.

J.O. Hartree fuhr mit der Hand über den Lauf der Sharps und begann lautlos bis zehn zu zählen. Er hörte, wie sich Pfeile in den Waggon bohrten. Er suchte festen Stand neben Turk und hörte auf zu zählen.

»Öffnen!«

Die Tür rollte quietschend auf. Die doppelläufigen Sharps der beiden Scharfschützen blitzten im Morgenlicht auf. Ein Arapahoe glotzte, als die Männer der Eisenbahn so plötzlich auftauchten. Hartrees braune Augen funkelten, und sein frommes Lächeln wurde breiter. »Schieß sie nieder, Turk.«

Rauch und Donner brach aus der Tür des Frachtwaggons. Der indianische Gewehrschütze kippte vom Rücken seines Ponys und wurde sofort von den Pferden zweier Arapahoe niedergetrampelt.

Voller Unglauben sah Hartree hinter den galoppierenden Indianern einen Haufen dieser schwarzen Niggerkavalleristen auftauchen, verlottert wie Banditen. Die Soldaten und ihr weißer Offizier, die nun neben dem Zug hergaloppierten, brüllten den Eisenbahnleuten zu, sie sollten das Schießen einstellen, da sie sich direkt in der Feuerlinie befanden. Hartree ignorierte sie, reichte die heiße Büffelflinte nach hinten und erhielt eine andere. Sein nächster Schuß ging fehl, blies aber einem Nigger den Strohhut vom Kopf, der sich sofort tief über sein Pferd duckte.

»Ich bin Ihnen was schuldig«, brüllte Magee, während er neben Charles galoppierte. »Dieser rote Bastard hätte mich beinahe erwischt.«

Charles schrie zurück: »Diese Idioten im Zug bringen uns noch um.« Er pumpte die Spencer über seinem Kopf auf und nieder. »Feuer einstellen! Das ist ein Befehl! Feuer ...«

Der Schütze in der grünen Weste gab einen Schuß ab, um zu zeigen, was er von dem Befehl hielt. Die Arapahoe, die zwischen den Eisenbahnern und den galoppierenden Soldaten in der Falle saßen, schätzten ihre Chancen ab; ihr Anführer bedeutete ihnen, sich zurückfallen zu lassen. Bald schon befanden sich alle hinter dem Zug und versuchten den Kugeln der Kavalleristen von der anderen Seite zu entgehen. Sie erwiderten das Feuer kurz mit Pfeilen und Gewehrkugeln. Ein Indianer warf die Arme in die Luft und rutschte mit blutüberströmter Brust vom Pferd. Die anderen zogen sich unmittelbar darauf in Richtung Süden aus der Gefahrenzone zurück.

All das war in knapp zwei Minuten geschehen. Charles war wütend. Seine erste vernünftige Chance, Holzfuß zu rächen, war so gut wie dahin, und er hatte keinen einzigen Indianer erwischt. Nicht einen.

»Sollen wir hinter ihnen her, Lieutenant August?« schrie einer seiner Männer.

Charles hätte die Frage gern bejaht, doch die Pflicht verlangte, daß er sich um den beschädigten Zug und die Verwundeten kümmerte. Er nahm an, daß es welche gab. Er sah kein einziges Gesicht in den zerschossenen Fenstern des Waggons.

»Nein, verdammt noch mal. Wir verfolgen sie nicht.«

Wütend, weil die Soldaten ihm die Show verderben konnten, sagte J.O. Hartree: »Jemand soll die Notbremse ziehen. Stoppt den Zug. Ich will Gefangene.« Das Feuergefecht war so schnell vorbei, wie es begonnen hatte; der Zug ruckte, als die Bremsen griffen und das Tempo verlangsamten.

Charles und seine Männer trieben ihre Pferde neben den Zug, der vor bemalten Pfeilen nur so starrte. In einer Dampfwolke, vermischt mit absinkendem Staub, kam die Rogers-Lokomotive zum Stehen. Charles beobachtete, wie der Mann mit der grünen Weste aus dem Frachtwagen sprang und auf ihn zu stolziert kam. Ein Blick auf das Gesicht des Mannes genügte Charles, um zu wissen, daß es Ärger geben würde.

36

Charles schob die Spencer zurück und trabte auf den Frachtwagen zu. Drei weitere Zivilisten sprangen heraus; eine üble Bande. Der rundliche Mann mit den glänzenden Handschuhen und der grünen Samtweste führte offensichtlich das Kommando. Charles gefiel er immer weniger.

»J.O. Hartree«, sagte der Mann, als hätte der Name etwas zu bedeuten. Aus dem zerschossenen Wagen drangen die aufgeregten Stimmen der geschockten Fahrgäste. Weil man ihn nicht erkannte, fügte Hartree mißgestimmt hinzu: »Chef der Eisenbahnsicherheitskräfte.«

»Lieutenant August, Zehnte Kavallerie. Sie sind uns zuvorgekommen. Wir haben kaum einen Schuß abgegeben.« Sein Bedauern war offensichtlich.

»Wir fahren schon eine Zeitlang mit der Linie und warten auf die roten Bastarde. Sie haben ja gesehen, was für Feiglinge das sind.«

»Da befinden Sie sich im Irrtum, Mr. Hartree. Ein alter Freund von mir sagte mal, in der Prärie müsse man seine Vorstellungen umkehren. Wenn meine Abteilung einen Mann verliert, dann schickt die Armee in einem Monat einen anderen. Wenn die Indianer einen Mann verlieren, dann dauert es fünf bis zehn Jahre, bis ein Junge herangewachsen ist, um seinen Platz einzunehmen. Sie sind nicht feige, sondern lediglich verdammt vorsichtig.«

Es tat Charles gut, den Mann ein bißchen von oben herab behandeln zu können, doch Hartree gefiel das ganz und gar nicht. »Sie brauchen mich nicht zu belehren«, sagte er. Eine aufgelöste Frau schaute durch eines der zerbrochenen Fenster, entdeckte die schwarzen Soldaten und sank mit entsetztem Gesichtsausdruck wieder zurück. Hartree hob schützend eine Hand und starrte mit zusammengekniffenen Augen gegen die Sonne nach Osten, durch den immer noch hinter dem Zug treibenden Staub hindurch.

»Boys, wenigstens einer von denen da hinten lebt noch. Bringt ihn her. Wir werden ein Exempel statuieren.«

»Wovon reden Sie?« fragte Charles. Hartree ignorierte ihn. Magee machte ein finsteres Gesicht und klopfte eine Beule aus seiner Melone.

Der Schaffner erschien auf der Wagenplattform. »Wir haben hier drinnen einen Verwundeten.«

Charles fragte: »Schlimm?«

»Fleischwunde. Er ist bei Bewußtsein.«

»Ich sehe erst mal bei meinen eigenen Männern nach.« Kaum hatte er das gesagt, als Wallis vom Ende des Zuges, seine Mütze schwenkend, angeritten kam. »Lieutenant? Toby hat's erwischt. Ein Pfeil im Bein.« Charles fluchte. »Dort drüben liegt auch ein Indianer.«

Hartree sagte zu dem Scharfschützen mit den roten Haaren: »Schnappt ihn euch.« Die anderen rannten los.

Charles übergab seine Zügel einem seiner Kavalleristen und trat dicht an Hartree heran. Inzwischen hatten Hartrees Männer einen Arapahoe erreicht, der in der Nähe des Bremswagens lag. Der Rotschopf trat ihn, rollte ihn herum, schüttelte den Kopf und ging weiter zu dem nächsten Arapahoe, der, aus einer Schulterwunde blutend, auf Händen und Knien kroch.

Der Indianer taumelte hoch und versuchte zu rennen. Rotschopf erwischte ihn und zerrte ihn zurück. Die beiden anderen Schützen verschwanden hinter dem Zug auf der Suche nach dem anderen Krieger.

Einige Männer tauchten an den Zugfenstern auf. Charles hörte einige klatschende Geräusche und eine besorgte Stimme. »Wach auf, May Belle. Dir fehlt nichts. Das sind doch bloß Niggersoldaten.«

Der verwundete Arapahoe kam, gestoßen von dem Rotschopf, auf Charles zugeschwankt. Blut floß am Arm des Indianers herab und tropfte von seinen Fingern. Zu Fuß und verletzt machte der Krieger einen harmlosen, gewöhnlichen Eindruck. Einer von Hartrees Männern tauchte hinter dem Zug auf, einen Indianer schleppend. »Beinwunde!« brüllte der Mann. »Kann nicht laufen!«

»Laß ihn fallen«, schrie Hartree zurück. »Du bist nicht seine verdammte Krankenschwester.« Der Mann ließ los, und der Indianer jaulte auf, als er auf den Boden knallte.

»Hören Sie, Hartree«, sagte Charles. »Ich glaube, wir klären das besser gleich mal. Es fällt unter die Zuständigkeit der Armee, Gefangene nach Fort Harker zu bringen.«

»Das geht Sie überhaupt nichts an, Mister. Dieser Abschaum hat Eisenbahnbesitz angegriffen.« Er packte das glänzende, schulterlange Haar des Arapahoe-Gefangenen und riß daran. »Die Eisenbahn wird sich um sie kümmern.« Er kauerte sich nieder und wischte sich den Handschuh an dem gelblichen Gras ab. »Verfluchte, verdreckte Bastarde.«

Hartrees Blicke huschten zwischen den blutenden Gefangenen und dem am Zugende auf dem Rücken liegenden Indianer hin und her. Ganz plötzlich schien er, seinen Mandarinschnurrbart streichend, einen Entschluß gefaßt zu haben.

»Der hier ist in besserer Verfassung. Den lassen wir laufen, nachdem wir uns um seinen Freund gekümmert haben. Ich will, daß dieser Junge hier mitkriegt, was wir mit den Roten anstellen, die Eisenbahnbesitz bedrohen. Ich will, daß er es den anderen erzählt. Turk, hol diese Weidepflöcke aus meinem Koffer.«

Der Scharfschütze namens Turk kletterte zurück in den Frachtwaggon. Ein unangenehmes Gefühl kroch in Charles hoch. Turk kam mit zwei scharfen Metallpfählen, die zum Anpflocken von Pferden dienten, wieder herausgesprungen. In der Hoffnung, keine Aufmerksamkeit zu erregen, schlenderte Charles langsam zu Magee zurück, der abgesessen war.

Hartree nahm die Weidepflöcke. Vor dem verwundeten Arapahoe warf er sie hoch und fing sie wieder auf. Charles murmelte Magee etwas ins Ohr. Magee sagte: »Yessir, ich schau' mal nach, ob vorn jemand verletzt ist.« Mit seiner Springfield im Arm marschierte er auf die Lokomotive zu.

Weitere Passagiere schauten aus dem Waggon. Hartree wandte sich ihnen zu. »Gentlemen - und ganz besonders Ladys -, ich möchte Sie höflichst bitten, im Wagen zu bleiben, während ich mich um diese Wilden kümmere. Ich habe die Absicht, einen von ihnen in der gleichen Weise zu bestrafen, in der sie mit weißen Gefangenen umgehen. Von dieser Lektion werden alle Weißen in Kansas profitieren.«

»Zurück, Hartree«, sagte Charles. »Ich habe Ihnen doch schon erklärt, daß dies Sache der Armee ist.«

Zwei von Hartrees Scharfschützen hoben ihre Büffelflinten. Hartree sagte: »Nein, Sir, das ist Sache der Eisenbahn. Mischen Sie sich nicht ein, sonst können Sie Ihrem kommandierenden Offizier erklären, wie es zu ein paar toten Niggern gekommen ist.«

Ein Kavallerist griff zu seinem Revolver. Graue Eule hielt seine Hand fest. »Wir stehen auf der gleichen Seite. Zumindest sollte es so sein.«

Charles blickte zur Lokomotive. Magee war verschwunden. Hartree warf Turk die Weidepflöcke zu. Der Schaffner umklammerte das Geländer der Plattform und sagte: »Mr. Hartree, das geht ein bißchen zu weit.«

Hartree schrie: »Halt dein verdammtes Maul, sonst heben wir uns einen Pflock für dich auf. Turk?« Der Mann, der auf das Zugende zuging, drehte sich um. »Reiß zuerst seinen Lendenschurz runter. Red, bring dieses Dreckstück hier nach hinten, damit er zusehen kann.«

Der Arapahoe mit dem blutenden Arm wurde weggeschleift. Er sah krank aus. Charles schluckte seinen säuerlichen Speichel.

Graue Eule blickte zum Zug. Plötzlich fiel ihm der Unterkiefer herunter. Charles warnte ihn mit einem Blick, dann sah er bewegungslos zu, wie erst eine Truthahnfeder und dann eine schwarze Melone über dem Dach des Frachtwaggons auftauchten. Magic Magee kletterte hoch, unbemerkt von Hartree oder den Fahrgästen unter ihm.

Charles spürte, wie ihm der Schweiß von der Nase tropfte. Magee hob die Springfield an seine Schulter und nahm den Rücken der grünen Samtweste aufs Korn. Einer von Hartrees Männern am Ende des Zuges entdeckte Magee und schrie auf, gerade als Charles sagte: »Drehen Sie sich um, Mr. Hartree. Wenn Sie diesen Indianer kreuzigen, dann kostet es Sie das Leben.«

Hartree wirbelte herum, sah Magee, ballte die Hände zu Fäusten. »Scheiße.« Er warf seinen Männern einen Blick zu. Sie waren zu weit entfernt, um ihm etwas zu nützen. Charles zog seinen Armee-Colt und brachte ihn in Anschlag. Hartree wirbelte mit scharlachrotem Gesicht zurück.

»Sie Bastard, Sie, dafür kriegt die Eisenbahn Sie am Arsch.«

Charles sagte zu seinen Kavalleristen: »Sammelt die drei ein, und bringt sie in den Frachtwaggon. Die Indianer können im Bremswagen mitfahren.«

Hartree ließ eine Schimpfkanonade los, bis die Männer im Wagen protestierten. Magee gab Graue Eule ein Zeichen. Der Fährtensucher lief vor und fing Magees Springfield auf. Magee hängte sich an das Dach des Wagens und ließ sich fallen.

»Gut gemacht«, sagte Charles zu ihm. »Jetzt können Sie den Schuldschein wieder zerreißen.«

»Oh nein, Sir. Das war doch gar nichts. Ich stehe tief in Ihrer Schuld. Wann immer Sie Hilfe brauchen, ein Wort genügt.«

Emotionen stiegen in Charles auf. Bis jetzt hatte er gar nicht so richtig bemerkt, was für gute Soldaten aus den Männern geworden waren. Sie reagierten schnell, befolgten Befehle und taten ganz allgemein eine Menge mehr, als nur auf den Feind zu schießen. Eine Woge von Stolz überflutete ihn.

Magee übernahm es, Hartree und dessen Scharfschützen in den Frachtwaggon zu befördern; nachdem er ihn geschlossen hatte, stellte er zwei Wachen davor. Drinnen konnte man den Sicherheitschef stampfen und fluchen hören.

Wieder bat der Schaffner Charles, er möge sich um den Verwundeten kümmern.

»Steht es schlimm um ihn?«

»Nein, nicht schlimm.«

»Dann sehe ich erst nach meinem Mann.« Er war gereizt, weil er Dinge tun mußte, die er gar nicht wollte: schießwütige Zivilisten im Zaum halten; verwundete Indianer retten. Alles, bloß nicht das, weshalb er wieder zur Armee gegangen war.

Er kletterte zur Plattform hoch, ohne den intensiven Blick zu bemerken, den Graue Eule ihm zuwarf - ein Blick, in dem neuer Respekt und neue Achtung lagen.

Kavallerist Washington Toby, ein schlaksiger Mulatte aus Philadelphia, lag neben dem Bremserhäuschen; seine schöne Hirschlederhose war blutgetränkt. Ein abgebrochener Pfeil ragte aus seinem Bein. Toby umklammerte sein Bein, während er vor Schmerzen fluchte und weinte.

»Leg dich zurück, Toby.« Charles versuchte, sich seine Besorgnis nicht anmerken zu lassen. »Laß dein Bein los.«

Widerstrebend gehorchte Toby. Charles kniete nieder und zog sein Bowiemesser. Er verlängerte den Riß im Wildleder auf mehr als einen Fuß. Seit die Stämme ihre steinernen Pfeilspitzen durch Spitzen aus Eisenblech ersetzt hatten, verursachten sie schreckliche Wunden. Wenn das Eisen auf einen Knochen traf, dann verformte es sich oft so, daß man es nur unter schlimmsten Qualen wieder entfernen konnte. Wenn die Pfeilspitze allerdings auf einen Muskel traf oder eine Ader ritzte ... Charles sagte zu einem der herumstehenden besorgten Kavalleristen: »Lauf zu Satan, und öffne meine rechte Satteltasche. Bring mir den Kautabak, den du dort findest. Entspann dich, Toby. Du hast Glück gehabt«, log er. »Ein Pfeil im Bein ist gar nichts. Wenn du einen Pfeil in den Bauch oder in die Brust verpaßt kriegst, dann spielen sie dir den Beerdigungsmarsch, noch bevor du ganz umgefallen bist.«

Tobys Mund verkrampfte sich, der traurige Versuch eines Lächelns. Schweißtropfen erschienen auf seinem Gesicht. Charles zog das Wildleder von der Wunde weg und studierte den Pfeil.

»Nimm meinen linken Arm. Halt dich ganz fest.«

Der Kavallerist kam mit dem Kautabak zurückgerannt. Charles machte den Mund auf, und der Soldat steckte ihm den Tabak hinein. Charles begann heftig zu kauen, während er den Pfeilschaft sanft hin und her bewegte. Irgendwie schien er festzuhängen. Er übte mehr Druck aus. Tobys Augen quollen hervor. Seine Nägel gruben sich fast durch Charles' Hemd.

»Ruhig, ruhig«, wiederholte Charles; wegen des Kautabaks klangen die Worte gequetscht. Toby grunzte schmerzerfüllt, hob dann seine Schultern vom Boden. »Drückt ihn runter«, rief Charles. Zwei Soldaten hielten den Verwundeten fest.

Blut strömte nun aus der Wunde. Er bewegte den Schaft weiter in eine Richtung, dann in die andere, vor und zurück, vor und zurück.

Er spürte, wie der Pfeil sich lockerte. Ein Klumpen, groß wie ein Stein, formte sich in seiner Kehle. »Alles in Ordnung, Toby, in ein paar Minuten sind wir fertig.« Er redete, um die Aufmerksamkeit des Mannes abzulenken. »Halt bloß noch einige.« Er riß. Washington Toby schrie auf und verlor das Bewußtsein.

Charles sackte in sich zusammen. In seiner rechten Hand hielt er den Pfeilschaft mit der nur leicht verbogenen, blutigen Spitze. Kurz darauf schlug Toby die Augen auf. Noch völlig benommen, begann er zu weinen.

»Nur zu, weine nur«, sagte Charles. »Ich weiß, es tut weh. Was ich jetzt tue, wird dir ein bißchen helfen, bis wir ins Fort kommen. Tabak ist eine alte Präriemedizin für Wunden.«

Er spuckte mehrmals darauf, füllte die Wunde mit brauner Soße. Er knetete die Ränder, um Blut und Tabaksaft gründlich zu mischen. Das Blut spritzte nicht heraus, es kam auch kein dunkleres Blut. Der Pfeil hatte keinen größeren Schaden angerichtet.

Er legte eine Presse an und befahl seinen Männern, Toby in Decken zu wickeln und ihn an Bord des Zuges ruhen zu lassen. Einer der Kavalleristen, ein scheuer Junge namens Collet, schenkte Charles einen bewundernden Blick.

»Sie sind ein guter Offizier, Mist' August.«

Als er auf der anderen Seite des Zuges ankam, sagte Graue Eule zu ihm: »Ein Arapahoe ist tot. Sollen wir ihn liegenlassen?«

Charles fuhr sich über den Mund. Er wollte gerade ja sagen, überlegte es sich dann aber anders. »Wenn du eine der Plattformen in dem Wäldchen reparieren kannst, dann leg ihn drauf. Da er bereits tot ist, können wir das schon für ihn tun. Ich halte den Zug so lange an.«

Graue Eule schaute ihn unbewegt an, drehte sich dann um und ging los.

»Lieutenant«, sagte der Schaffner mit einem klagenden Unterton in der Stimme, »Sie müssen sich die Zeit nehmen, den Verwundeten hier drin anzusehen. Ich glaube, er ist ganz in Ordnung, aber ich bin kein Doktor.«

Charles nickte und kletterte müde die Metallstufen hoch. Die Zivilisten wichen zurück, um ihn durchzulassen. Zwischen zwei Sitzen ragten Stiefel und gelbgestreifte Kavalleriehosen in den Gang. Der Verwundete lehnte mit schlaff herabhängendem Arm an der Wand.

Einen Augenblick lang sah Charles nichts als die Wunde, ein feuchtes, rotes Loch im oberen Ärmel. Dann betrachtete er den Mann etwas näher; er sah ein feingeschnittenes Gesicht mit gletscherblauen Augen und rostfarbenem Schnurrbart und Bart. Weil so viel geschehen war, dauerte das Erkennen etwas länger. Es traf ihn, als er sich gerade hinknien wollte.

»Main«, sagte der Offizier. »Oder lieber May?«

»Mein Name ist ...« Er hielt inne. Es hatte keinen Sinn.

Vom Gang her sagte der Schaffner: »Der Name des Mannes ist Lieutenant August.«

»Den Teufel ist er.«

»Ich werde mir Ihre Wunde ansehen«, fing Charles an.

»Rühren Sie mich nicht an«, sagte Captain Harry Venable. »Sie stehen unter Arrest.«

37

Generalmajor Philip Henry Sheridan, Missouri-Department, VJ zitierte Grierson nach Leavenworth. Die beiden Männer trafen sich an dem Tag, an dem Sheridan seinen verlängerten Urlaub antrat.

Grierson kam herein, als Sheridan noch mit seinem Adjutanten, Colonel Crosby, konferierte. Sheridan war sechsunddreißig, Junggeselle, mit dunklem irischem Gesicht und rauhen Manieren; sein Mongolenschnurrbart und seine gelockten Haare verstärkten diesen Eindruck noch. Er schüchterte Grierson ein. Es war mehr als nur der Rang oder die traditionelle Spannung zwischen West-Point-Offizieren und Nicht-West-Point-Offizieren. Sheridan war bekannt für seinen Starrsinn und seine Unbarmherzigkeit.

»Bin gerade mit dem Report über das Zuggefecht fertig«, sagte er, nachdem er Griersons Salut erwidert hatte. »Setzen Sie sich.« Er schob seinem Adjutanten einen Stoß Papiere zu. »Telegraphieren Sie der Eisenbahn, sie sollen diesen verfluchten Idioten Hartree aus Kansas verschwinden lassen. Ich lasse es nicht zu, daß sich Vigilanten in Angelegenheiten der Armee der Vereinigten Staaten mischen.«

Colonel Crosby räusperte sich. »Jawohl, General. Das ist allerdings ein heikles Thema. Die Eisenbahnaktionäre sind immer noch sehr erregt über die Bedrohung durch die Indianer.«

»Gottverdammt noch mal, Sam Grant und Cump Sherman haben mich an diesen Platz gestellt, damit ich mich um diese verfluchten Indianer kümmere, und das werde ich auch. Ich habe für sie nichts übrig. Die einzigen guten Indianer, die ich je gesehen habe, waren tote Indianer. Befolgen Sie meine Anweisungen. Hartree hat zu verschwinden.«

Der Adjutant salutierte und zog sich zurück. Als sich die Tür geschlossen hatte, ging Sheridan zu dem Eisenofen, um sich die Hände zu wärmen. Es war Ende November, ein grauer, trostloser Tag.

»Grierson, ich kann absolut nichts für Charles Main tun. Harry Venable kam letztes Frühjahr in den Stab des Departments, um unter Winnie Hancock zu dienen. Ich mag den kleinen Scheißer nicht, aber er ist ein fähiger Soldat.«

»Main ist ein hervorragender Soldat.«

»Ja, aber er ist auch ein Rebell ohne Begnadigung, der in bezug auf seine Kriegserfahrungen und die Akademie gelogen hat. Zweimal.«

»Das zweite Mal hab' ich ihn dazu ermutigt, General. Er machte einen erstklassigen Eindruck auf mich, und ich wollte ihn für das Regiment. Mich trifft mindestens genausoviel Schuld.«

»Ich will kein weiteres verdammtes Wort hören. Und die letzten hab' ich auch nicht gehört. Ich bin mir Mains Fähigkeiten durchaus bewußt. Er kam kurz vor meiner Graduierung ins Sommerlager. Ungefähr ein Jahr später hörte ich, daß Bob Lee ihn für den besten Reiter im Kadetten-Corps hielt. Aber er muß gehen.«

»Custer suspendieren sie lediglich für ein Jahr vom Dienst, und das angesichts all der Anklagen, die gegen ihn erhoben wurden.«

»Colonel, ich will nichts mehr hören«, sagte der kleine Kommandeur. Seine schwarzen Augen bohrten sich in die des Kavalleristen. »Curly Custer kämpfte für die Union. Und ich werde Ihnen noch was sagen. Er wirkt wie ein gottverdammter Magnet auf die Männer. Sie schneiden sich gegenseitig die Kehle durch, um unter ihm dienen zu können.«

»Einige. Nicht die Männer, die gegen ihn ausgesagt haben. Nicht sein eigener kommandierender Offizier.«

»Würden Sie um Himmels willen den Mund halten? Ich kann Mains Arsch nicht retten auf der Basis von dem, was mit Cu-ster geschehen ist. Außerdem will ich Curly so schnell wie möglich wieder in meinem Department haben, weil dieser Scheißvertrag niemals halten wird. Und jetzt gehen Sie zurück zu Main, und sagen Sie ihm, daß es mir leid tut, er aber dankbar sein kann, daß es mir gelungen ist, ihn mit einer unehrenhaften Entlassung loszuwerden; drei Jahre verschärftes Arbeitslager mit einer Eisenkugel am Bein wären für seinen Fall normal gewesen.«

Grierson erhob sich. »Jawohl, General. Ist das alles?«

Sheridans Gesichtsausdruck wurde sanfter, während er eine Zigarre zwischen seinen Handflächen rollte. »Ist das nicht genug? Abtreten.«

In Fort Harker teilte Grierson am nächsten Tag Charles das Urteil mit, der in stoischem Schweigen vor ihm stand. Seit er in dem Zug auf Harry Venable gestoßen war, hatte er gewußt, daß dieser Augenblick unausweichlich kommen würde.

»Ich habe Ihnen zuvor gesagt, daß ich Sie nicht retten kann, wenn Sie auffliegen, Charles. Ich hab's versucht. Ich habe mir verdammt viel Mühe gegeben. Sie sind der einzige hundertprozentige Rebell in diesem Regiment, und trotzdem sind Sie der stärkste Anhänger dieser Neger.«

»Ich gewähre ihnen keine besonderen Vergünstigungen, Sir. Von ein paar Ausnahmen abgesehen, sind sie gute Soldaten. Sie geben sich mehr Mühe als die meisten anderen.«

»Das stimmt. In unserem ersten Jahr hatten wir die niedrigste Desertionsrate der gesamten Armee und die wenigsten Disziplinarvergehen. Ich sagte Ihnen, ich hatte eine Vision für die Zehnte, und Sie haben mir geholfen, diese Vision zu verwirklichen. Es tut mir nur verdammt leid, daß die Sache für Sie kein gutes Ende nimmt.«

»Ich schätze, heutzutage kann man einem Mann alles verzeihen, außer daß er ein Südstaatler ist.«

»Ihre Verbitterung ist verständlich.« Er schwieg einen Moment. Charles sah zu, wie sich draußen vor Griersons Fenster die Nacht herabsenkte. Im Büro war es eiskalt. Es begann zu schneien. »Was werden Sie tun?«

»Ich weiß nicht. Mich besaufen. Arbeit suchen. Ein paar Cheyenne umbringen.«

»Darüber sind Sie immer noch nicht weg?«

»Darüber werde ich nie wegkommen.«

»Aber Sie haben die Arapahoe-Gefangenen gerettet.« Einer war einen Tag nach seiner Einlieferung in das Arrestlokal von Fort Harker gestorben. Der andere, der jegliche Nahrung verweigert hatte, lag auf der Krankenstation im Koma.

»Ich sagte umbringen, Sir. Ich habe nichts von foltern gesagt. Das ist ein Unterschied.«

Grierson studierte den großen, leicht bedrohlich wirkenden Soldaten mit den zornigen Augen. Dann strich er sich über seinen gewaltigen Bart und fragte: »Was ist mit Ihrem Sohn?«

»Er wird noch ein bißchen auf Jack Duncans Wohltätigkeit angewiesen sein.«

»Nun, bleiben Sie mit ihm in Verbindung. Ein Mann kann den Verlust vieler Dinge ertragen, aber nicht den Verlust der Menschen, die er liebt.«

Charles zuckte mit den Schultern. »Vielleicht ist es bereits zu spät. Alles andere habe ich weiß Gott schon verloren.«

Weiteres Schweigen. Grierson konnte es kaum ertragen. Er vermied Charles' Blick, als er sagte: »Morgen früh müssen Sie vom Militärposten weg sein. Aber niemand wird was dagegen haben, wenn es etwas länger dauert, bis Sie auf Wiedersehen gesagt haben.«

»Es wird nicht länger dauern, Colonel. Ein schneller, sauberer Schlußstrich ist immer das beste.«

»Charles!«

»Habe ich Erlaubnis, mich zu entfernen, Colonel?«

Grierson nickte. Er erwiderte den Salut und sah zu, wie Charles eine Kehrtwendung machte und die Tür hinter sich schloß. Dann ließ er sich auf seinen Stuhl fallen und starrte das gerahmte Photo seiner Frau an.

»Alice, manchmal hasse ich diese gottverdammte Welt.«

Der Schneefall wurde stärker. Charles sammelte seine paar Habseligkeiten ein und drehte seine Abschiedsrunde. Die Wachen in der eisigen Dunkelheit setzten zu einem zackigen Salut an, der respektvoller auszufallen schien als je zuvor.

Im Offiziersquartier für Junggesellen verabschiedete er sich von Floyd Hook. Floyd war ungekämmt und unrasiert. Er war eine Woche vor Charles von der Patrouille zurückgekehrt und hatte feststellen müssen, daß seine Frau mit einem Fahrer der Butterfield-Postkutsche durchgebrannt war. Die dreijährige Tochter hatte sie mitgenommen. Charles hatte gehört, daß Dolores Hook im letzten Jahr einen Selbstmordversuch unternommen hatte. Manche Armeefrauen brachen unter den Sorgen und der Einsamkeit einfach zusammen. Auch Floyd sah so aus, als würde er kurz vor dem Zusammenbruch stehen. Er roch nach Bier. Charles mühte sich zehn Minuten lang ohne Erfolg, ihn aufzuheitern.

In den Quartieren für verheiratete Offiziere verabschiedete er sich von Ike Barnes und der kleinen Lovetta, die weinte und ihn wie eine Mutter in die Arme nahm. Der Alte, alles andere als redselig und stets ängstlich darauf bedacht, nur ja keine Gefühle zu zeigen, quetschte nichtsdestoweniger mehrmals Charles' Arm und drehte seinen Kopf weg.

Charles entdeckte Graue Eule, der in der Dunkelheit mit gekreuzten Beinen schlafend unter der Dachkante des Marketenders saß. Der Fährtenleser hatte sich in mehrere Decken und Büffelfelle gewickelt; ein Fell bedeckte seinen Kopf wie eine Mönchskapuze. »Du wirst noch an Erkältung sterben«, warnte Charles ihn, nachdem er ihn geweckt hatte.

»Nein. Bis auf einen Blizzard ertrage ich jedes Wetter. Das habe ich mir vor langer Zeit beigebracht.« Graue Eule erhob sich, schüttelte die Felle und Decken ab. Er packte Charles an der Schulter und starrte ihm in die Augen. »Ich werde dich vermissen. Du bist ein guter Mann. Daß du die Gefangenen trotz deines Hasses verschont hast, das war gut.«

Bis auf ein müdes Achselzucken wußte Charles darauf keine Antwort. Graue Eule stellte die gleiche Frage wie Grierson, und Charles antwortete: »Ich weiß nicht, was ich tun oder wohin ich gehen werde. Der Colonel hat mir die Spencer und Satan gelassen.«

»Ich glaube, wir sind uns sehr ähnlich«, sagte der Fährtensucher. »Ausgestoßene. Ich habe mich von meinem Volk getrennt, als sie ihren Weg verloren.«

Graue Eule beobachtete das Schneetreiben. »Wie mein Vater nahm ich eine gefangene weiße Frau zum Weib. Ich behandelte sie gut und liebte sie sehr. Vor drei Wintern, während ich die Männer der Gemeinschaften und die jungen Krieger zur Herde für die letzte Jagd des Jahres führte, quälten einige eifersüchtige Squaws meine Frau mit scharfen Stöcken. Sie verblutete, und niemand wollte die Frauen wegen ihrer Grausamkeit bestrafen. Der Bruder der Frau, die die anderen angestiftet hatte, ein haßerfüllter Mann namens Narbengesicht, lobte sie und erzählte ihre Geschichte viele Male. Als ich zurückkehrte und all das sah, da wußte ich, daß mein Volk zu weit vom Wege abgeirrt war, als daß ich es hätte zurückführen können. So wandte ich mich für immer von ihnen ab. Doch wenn du dich je verirrst, Charles, und ich dich wieder auf sicheren Boden führen kann, dann werde ich das tun.«

»Danke«, sagte Charles kaum hörbar. Er wollte die restlichen Verabschiedungen so schnell wie möglich hinter sich bringen. Es begann zu sehr zu schmerzen.

Er umarmte Graue Eule und verließ den Cheyenne, der sich wieder gegen die aus Baumstämmen errichtete Wand des Marketenders drückte. Nach einigen Schritten schaute er zurück. In der von Lampen erhellten Finsternis sah er Graue Eule, eingehüllt in seine schneebedeckten Felle, wie einen seltsam verkümmerten Strauch zusammengekauert dasitzen.

Bei diesem Wetter blieb den Männern der Zehnten keine andere Wahl, als in den stinkenden, engen Hütten, die in Fort Harker als Baracken dienten, Unterschlupf zu suchen. Charles bog um die Ecke einer Hütte, in der die meisten Männer seines Kommandos hausten. Durch die Bohlentür hindurch hörte er Magic Magees Stimme.

Vorsichtig drückte er die Tür ein paar Zentimeter auf. Im Lichte der Öllampen sah er Magee auf dem Lehmboden knien. »Okay, Jungs, ihr seht, daß ich in dieser Hand drei ganz gewöhnliche Blechtassen habe, aus denen wir jeden Tag trinken. Würdest du ein bißchen zurückrutschen, Sergeant Williams? Ich brauche mehr Platz.«

Es war das erstemal seit längerer Zeit, daß Charles wieder lächelte. Er beobachtete, wie Magee eine Tasse nahm und sie mit schneller, fließender Bewegung verkehrt herum auf den Boden stellte. In der gleichen Weise stellte er die anderen Tassen daneben.

»Was ich euch jetzt zeigen werde, Jungs, ist eines der unglaublichsten Geheimnisse aller Zeiten. In Chicago hat mir jemand erzählt, daß es in irgendeinem alten Grab in Ägypten Bilder von einem Magier gebe, der den gleichen Trick mit Tassen und einem Ball vorführt. Hier ist der Ball. Eine gewöhnliche kleine Korkkugel.«

Er zeigte ihn zwischen Zeige- und Mittelfinger der rechten Hand, dann schob er ihn in die linke Hand oder tat zumindest so, wobei er ihn verschwinden ließ.

»Shem, wo ist der Ball?«

»Verschwunden«, sagte Wallis.

»Wohin verschwunden?«

»Weiß nicht.«

»Komm schon. Er ist auf Reisen gegangen.« Schwungvoll hob Magee die erste Tasse hoch; darunter kam der Ball zum Vorschein.

Er nahm den Ball, ließ ihn wieder in der Hand verschwinden und unter der zweiten Tasse auftauchen. Charles hatte den Trick oft genug gesehen, um das Geheimnis zu kennen: vier Bälle, in jeder Tasse einer; Magees Geschick beim Umdrehen der Tassen und dem schnellen Aufsetzen auf den harten Boden hinderten sie am Herausfallen. Magee fing wieder von vorn an, doch Williams hatte den Zug von der Tür gespürt, hob eine Hand und griff nach seiner Waffe. »Jemand draußen?«

Charles stieß die Tür auf und trat ein. »Habe mir nur die Vorstellung angesehen. Ich ziehe los, Jungs. Den Mantel und die Kappe hab' ich euch mitgebracht. Verkauft die Sachen, und legt das Geld in die Kompaniekasse.«

Ein gemurmelter Dank, dann wurde es wieder still. Charles fühlte sich genauso befangen wie die Männer. Ihr Lächeln war traurig.

Charles räusperte sich. Er war so unbeholfen und nervös wie damals in West Point, als er zum erstenmal an die Tafel gerufen wurde. »Ich wollte nur sagen - Männer, ihr seid gute Soldaten. Jeder Offizier wäre«, er stockte, räusperte sich erneut, »wäre stolz, euch zu führen.«

»Wir sind stolz, daß Sie uns geführt haben«, sagte Shem Wallis. »Sie haben mit Ihnen ein schlechtes Geschäft gemacht, diese Generäle.«

»Ja, nun, manchmal ist das Leben halt so. Nichts weiter als ein verdammt schlechtes Geschäft.« Er machte eine leichte Bewegung mit dem rechten Arm, in dessen Beuge sein Gewehr lag. »Wenigstens hat Colonel Grierson mir die Spencer und mein Pferd gelassen.«

Sternengucker erhob sich, rieb sich mit den Knöcheln über den Mund. Zögernd sagte Williams: »Da ich der erste war, der sich gegen Sie ausgesprochen hat, sollte ich auch der erste sein, der das alles zurücknimmt. Für einen Südstaatler sind Sie ein echter weißer Mann.«

Die Soldaten lachten über den unbeabsichtigten Rassismus in dieser Bemerkung. Charles lächelte. Verlegen streckte Williams die Hand aus.

»Wir werden Sie vermissen, C.C.«

Charles' Hand blieb in der Luft hängen. »Was?«

»Er sagte C.C«, entgegnete Washington Toby. Sein Bein war noch bandagiert, aber er konnte damit laufen.

»Das bedeutet Cheyenne Charlie«, sagte Magee. »Cheyenne deswegen, weil Sie die so mögen.«

»Hm. Cheyenne Charlie. Ich glaube, der Spitzname paßt. Gefällt mir. Vielen Dank.«

Er drehte sich um und wollte hinausgehen. »Sir? Hab' ich glatt vergessen«, sagte Williams und griff unter sein äußeres Flanellhemd, von denen er zwei über der Armeebluse und seiner Unterwäsche trug. »Das liegt seit einer Woche in meinem Schreibtisch. Schätze, sie haben's reingetan, während wir die Eisenbahn abritten.«

Charles nahm den blaßgrauen Umschlag mit der vertrauten Handschrift entgegen. Er tippte nachdenklich mit den Fingerspitzen dagegen, während seine Augen wieder zu Eis wurden.

»Danke. Gute Nacht«, sagte er und ging. Das letzte, was er hörte, bevor er die Tür schloß, war der Ruf von Magee:

»Und vergessen Sie nicht, ich bin Ihnen noch was schuldig.«

Bei dem Wachposten in der Nähe des Stalles brannte ein Feuer gegen die klirrende Kälte. Charles ging auf die Flammen zu, die der Präriewand ihm horizontal entgegenpeitschte.

Als er am Feuer vorbeikam, warf er Willas Brief ungeöffnet in die Flammen. Dann verschwand er schnell in der Dunkelheit des Stalles. Zehn Minuten später hörte der Wachposten Hufschläge im Schnee, die sich schnell entfernten.

HERBSTMODE 1867 DUPLEX-RÖCKE

J.W. Bradleys gefeierte, patentierte Duplex-Ellipsenröcke sind die widerstandsfähigsten, wirtschaftlichsten Röcke, die es gibt; jeder Reifen besteht aus zwei wunderbar gehärteten Stahlfedern, raffiniert miteinander verflochten, und obwohl sie sehr flexibel und bequem für die Trägerin sind, gehören sie zu dem Stärksten und Leistungsfähigsten, was Röcke heutzutage aufzuweisen haben. Es gibt die modischsten und elegantesten Formen für

REZEPTION, PROMENADE, OPER, KIRCHE,

haus und für das strassenkleid ...

MADELINES JOURNAL

Dezember 1867. Weihnachten steht vor der Tür, und wir sind dem Verhungern näher denn je. Bald werde ich es allen sagen müssen Prudence, den Shermans, den anderen loyalen freien Negern. Für den Cent, den wir verdienen, muß ich zwei bezahlen. Wenn ich keinen Bittgang zu George H. antrete, sehe ich keine Alternative, als den Fehlschlag einzugestehen und Cooper zu informieren, daß es mir an der Fähigkeit mangelt, Mont Royal erfolgreich zu leiten. Die Aussicht, diesen Ort verlassen zu müssen, ist ungemein schmerzlich. Doch Abdankung, falls dies die richtige Bezeichnung ist, scheint mir die einzige Möglichkeit zu sein.

Ich glaube, Andy wird es von allen hier am schwersten treffen, wenn ich diesen Weg einschlage. Er ist stolz und aufgeregt, daß er als Konventdelegierter nach Charleston geht. Redet ständig davon ...

Auch Des LaMotte redete darüber, zusammen mit Gettys und Captain Jolly in Jollys Bruchbude.

Es war zwei Wochen vor Weihnachten; das Wetter war trüb und regnerisch. Die Monate im Gefängnis hatten Des völlig abmagern lassen. Im Gegensatz dazu sah Jolly gesund und munter aus; er trug einen neuen leinenen Staubmantel, den er einem Reisenden gestohlen hatte. Er war eifrig damit beschäftigt, mit einem fettigen Lappen den Lauf eines seiner Leech & Rigdons zu putzen.

»Wir müssen ein bißchen mehr tun als nur reden«, erklärte Des. In den Augen seines Freundes bemerkte Gettys tiefe Verletzung. Des erzählte so gut wie nichts von seiner Zeit hinter Gittern, aber es war ganz offensichtlich ein quälendes Erlebnis gewesen.

Jolly spuckte auf den Lauf und strich liebevoll mit dem Lumpen darüber. »Scheiße, das ist alles, was wir je tun, rumsitzen und quatschen. Sie schickt ihren Nigger zum Konvent. Warum schaue ich nicht mal bei ihm vorbei und schieße ihn nieder?«

»Weil dann ein anderer geschickt wird oder dieses und jenes passiert, bis sie den ganzen Bezirk auf die Seite der Nigger gebracht hat.«

»LaMotte, das hängt mir zum Hals raus«, sagte Jolly. »Willst du sie loswerden oder nicht?«

»Das weißt du ganz genau.«

»Dann tun wir's doch. Ansonsten bist du bloß ein zahnloser Hund, der bellt und nicht beißt.«

Der große Tanzlehrer ging Jolly an die Kehle. Der Captain drückte die Mündung seines Revolvers gegen Des' Handfläche. Er grinste. »Nur zu. Versuch doch, mich zu erwürgen. Ich jage dir eine Kugel durch die Hand in den Schädel.«

Mit rotem Gesicht senkte Des die Hand. »Du kapierst einfach nicht, was? Ich will ihren Tod, aber ich möchte dafür nicht ins Gefängnis. Ich bin dort gewesen, im Gefängnis«, er schwitzte, »schreckliche Dinge können da einem intelligenten, sensiblen Menschen zustoßen. Abstoßende Dinge, die man nicht mal mit physischer Stärke verhindern kann.«

Gettys beschloß, daß es an der Zeit war, Des aus seinem Elend zu erlösen. Er zog ein Päckchen aus seinem alten Mantel.

»Wenn ihr mit euerm Gestreite mal kurz aufhören könntet, dann hätte ich vielleicht die Antwort für uns. Mein Cousin Sit-well machte den weiten Weg nach Nashville wegen einer geheimen Konklave.« Er bemerkte Jollys Verwirrung und genoß es, mit überlegener Miene hinzufügen zu können: »Konvent, Cap-tain. Versammlung. Das hier hat er mitgebracht.«

Er hielt ein zerknittertes Plakat mit großer, kühner Überschrift hoch, Tennessee tiger. Der Tiger, eine Stahlgravur, duckte sich wild und grimmig vor Gittern und Stangen. »Lies das Gedicht«, sagte Gettys und deutete darauf.

Des las laut vor. »Nigger und Liga-Leute, aus dem Weg. Wir sind Geburten der Nacht...« Captain Jollys Interesse erwachte. Des sagte: »Du meinst, in Tennessee sind derartige Publikationen erlaubt?«

»Und ähnliche Sachen an vielen anderen Orten, hat mir Sit-well berichtet. Du hast doch keine Namen gesehen, oder? Lies weiter.«

». Geburten der Nacht und verschwinden bei Tag. Wir fressen nichts anderes als Menschenfleisch. Und Nigger lieben wir am meisten ... der Ku-Klux-Klan.«

Mit langsam dämmerndem Verständnis starrte Des die anderen an. Überlegen sagte Gettys zu Jolly: »Der Ku-Klux ist der Club, der die Nigger in Angst und Schrecken versetzt. Sitwell meint, inzwischen sei mehr daraus geworden. Eine Verteidigungsliga des weißen Mannes. Klaverns schießen überall im Süden aus dem Boden.«

»Was ist das?« fragte Jolly.

»Klaverns? Das bedeutet Klan-Höhlen, eine örtliche Niederlassung. Sie besitzen eine richtige Verfassung, genannt die Vorschrift, und eine ganze Menge toller Titel und Rituale. Und Ro-ben, Jolly. Roben, die das Gesicht eines Mannes verbergen.« Grinsend tippte er mit dem Plakat gegen den Ärmel des Captain. »Weißt du, wer durch den Süden zieht und bei der Gründung des Klaverns hilft? Der Führer des Klans. Der Allmächtige Hexenmeister. Dein alter Freund Forrest.«

»Bedford höchstpersönlich?« Jollys Stimme klang ergeben. Der Dienst in Forrests Kavallerie blieb der Höhepunkt seines Lebens; für einen Augenblick versank er in der Vergangenheit, erinnerte sich an ihre Schlachten. Durch schlimmste Gewitter und eisigen Hagel waren sie geritten, hatten stets dem Tod ins Auge geschaut und sich nie abgewandt, weil sie für die Sache der weißen Rasse im Sattel saßen.

Jolly vergaß seine Umgebung, sah den General auf seinem großartigen Kriegsroß, King Philip, vor sich. Und die Nigger. Die jammernden, schreckensstarren Nigger von Fort Pillow. Nach dem Fall von Fort Pillow hatte Jolly persönlich mit der Waffe in der Hand sechs Niggersoldaten in ein Zelt getrieben und dann seinem Sergeant befohlen, es in Brand zu stecken. Jetzt, in diesem Moment, konnte er die Nigger schreien hören. Die Erinnerung brachte ein Lächeln auf sein Gesicht.

Gettys senkte seine Stimme und sagte: »Cousin Sitwells Freunde im York County haben Forrest eingeladen, ihnen bei der Gründung einer Klavern behilflich zu sein. Ich würde meinen, wir könnten in Ashley so was auch gebrauchen.«

Des' Karottenhaar glühte im Schein der hinter ihm stehenden Kerosinlampe auf. »Kriegen wir Forrest her? Könnten wir ihm eine telegraphische Nachricht schicken?«

»Jawohl. Und ich bezahle das aus den Profiten des Ladens«, sagte Gettys begeistert. »Ist genügend da. Wohin schicken wir die Nachricht?«

»Mississippi«, sagte Jolly. »Sunflower Landing. Das ist die Plantage des Generals in Coahoma County. Unterzeichne die Nachricht mit meinem Namen, Gettys - nein. Unterzeichne mit Captain Jackson Jerome Jolly. Der General wird kommen, wenn einer seiner Offiziere ihn ruft, das verspreche ich.«

Zufrieden lehnte er sich zurück. »Die Sache kommt endlich in Bewegung, Jungs. Bald können wir die Jagd eröffnen auf hochnäsige Niggerfrauen.«

Habe mich entschlossen, mit der Nachricht von Mont Royals Schulden erst eine Woche vor Weihnachten herauszurücken. In Lambs, ein kurzes Stück weiter den Fluß hinunter, hat man gerade eben eine überraschende geologische Entdeckung gemacht. Der ganze Bezirk befindet sich in heller Aufregung. Muß herausfinden, warum.

38

Durch ein Gewitter keuchte der Nachtzug das Lehigh Valley hoch. In der Nähe von Bethlehem schlief Georges Anwalt, Jupiter Smith, ein; sein Klient saß da und starrte aus dem Fenster in die regnerische Finsternis.

Die Männer fuhren in einem Privatwaggon, der an das Zugende angehängt worden war. Nach Georges Wünschen gebaut, besaß der Wagen rote Plüschpolster, herrliche Holztäfelung und Glastrennwände. Vor Jahren hatte Stanley einen ähnlichen Wagen für die Hazards gekauft, der dann durch ein Eisenbahnunglück zerstört worden war. George hatte sich verächtlich über diese Verschwendung geäußert, bis er dann vor einem Jahr einen gewissen Sinn darin zu sehen begann. Pittsburgh entwickelte sich schnell zum Eisen- und Stahlzentrum des Staates. George wünschte, daß Hazard eine bedeutsame Rolle bei dieser Expansion spielte, und rechnete damit, diese Reise häufig unternehmen zu müssen. Er arbeitete hart und hatte deshalb seiner Meinung nach eine bequeme Fahrt verdient.

Der Zug hatte fast eine Stunde Verspätung. Gähnend lehnte George die Stirn gegen das Fenster und beobachtete die Regentropfen auf der anderen Seite. Wenn nur der Lokomotivführer etwas schneller fahren würde. Er war nun vier Nächte von zu Hause fort gewesen. Er kannte Männer, die ihre Frauen für Wochen verlassen und die Zeit genießen konnten. Er konnte das nicht. Er stellte sich Constance in ihrem warmen Bett in Belvedere vor. Bald würde er auch dort sein, er würde sich an sie schmiegen und sie im Schlaf festhalten.

Constance hörte ein merkwürdiges Geräusch.

Sie legte ihre Haarbürste beiseite, erhob sich und ging zu dem Fenster neben dem mit einem Baldachin versehenen Doppelbett. Sie wunderte sich über das Geräusch, denn beide Kinder waren in der Schule, und ansonsten befand sich bis auf die Dienstboten in einem entfernten Flügel niemand im Haus.

Stirnrunzelnd stieß sie das Fenster ein Stückchen auf. Blitze zuckten hinter den lorbeerbewachsenen Bergen auf. Die Hazard-Hochöfen färbten den dunstigen Nachthimmel rot. Regen fegte herein, näßte ihr Gesicht und ihr gepudertes Dekolleté. Sie hatte das chinesische Seidennachthemd gewählt, weil George heute heimkam. Er war spät dran.

Sie starrte in den Sturm hinaus, versuchte sich an das Geräusch zu erinnern. Es war schwierig. Sie nahm an, der Wind hatte irgend etwas gegen das Fenster geschleudert. Es befand sich zwar zweieinhalb Stockwerke über dem Rasen, aber es war ein heftiger Sturm.

Constance war müde, aber zufrieden. Sie hatte den Abend in der Küche verbracht und geholfen, Kuchen für die Feiertage zu backen. Überall in Belvedere hingen die angenehmen Düfte, die an Weihnachten erinnerten. Sie freute sich auf die Wärme und die Festlichkeit der Weihnachtstage - die Kinder waren von der Schule zurück, die Familie war vereint.

Ein ferner Pfiff übertönte den Regen. Sie lächelte. Das war sein Zug. Sie schloß das Fenster, ohne es zu verriegeln, wie es ihre Gewohnheit war. Sie setzte sich wieder und fuhr sich weitere zwanzigmal mit der Bürste durch ihr glänzendes rotes Haar; dann betrachtete sie sich in typisch weiblicher Manier im Spiegel.

Nicht unattraktiv für ihr Alter, dachte Constance. Aber eindeutig übergewichtig, mindestens dreißig Pfund. An den meisten Tagen aß sie nur sehr mäßig, beflügelt von dem Spiegelbild des vorangegangenen Abends. Und trotzdem nahm sie zu. Wer hätte gedacht, daß ein glückliches Leben derartige Kämpfe enthalten könnte?

Sie lächelte schläfrig und streckte sich. In einer halben Stunde sollte George ebenfalls im Bett sein. Beim Gedanken an ihn richtete sich ihre Aufmerksamkeit auf ein kleines Samtkästchen zwischen ihren Kosmetiksachen. Er war so ein lieber, großzügiger Mann. Auch ohne besonderen Anlaß machte er ihr gern Geschenke. In dem Samtkästchen lag sein letztes Geschenk - Ohrringe.

Sie nahm sie heraus und hielt sie neben ihre Ohrläppchen. Sie dachte daran, wie sehr sie ihren Mann liebte, wie schön ihr Leben nun nach vier Jahren Krieg und Trennung war.

Sie schaute in den Spiegel und merkte nicht, wie sich das Fenster langsam öffnete.

Der vollen Gewalt des Sturmes ausgesetzt, hing eine verkrümmte Gestalt am Dach über dem Fenster, als Constance es beunruhigt öffnete. Nachdem sie es wieder geschlossen hatte, blieb die Gestalt still wie ein Wasserspeier an einer Kathedrale hängen.

Unten, zwischen den verschwommenen Lichtern der Stadt am Fuße des Berges, pfiff ein in den Bahnhof einfahrender Zug. Der Mann auf dem Dach achtete nicht darauf, war völlig mit den kommenden Ereignissen beschäftigt. Heute abend sollte sein jahrelanges Warten belohnt werden, all die Monate des Herumziehens und Planens sollten ihren Höhepunkt finden. Tagelang hatte er sich in der Stadt herumgetrieben und Fragen gestellt, hatte dann wieder gewartet, bis die Natur ihm zur Tarnung dieses Gewitter geschickt hatte. Heute abend würden die Schuldigen dafür bezahlen, daß sie ihn gedemütigt und verletzt hatten.

Die Kletterei zu dem Dachfenster hoch über schlüpfrige Dachrinnen, Ornamente und Fenstersimse hatte eine halbe Stunde in Anspruch genommen. Die glitschige Nässe hatte alles noch schwieriger gemacht, ebenso wie seine Erinnerungen an den Sturz in den James River, die fürchterlichen Schmerzen, die seinen Körper durchbohrt hatten, als er von Felsen zu Felsen gestürzt war. Er war sehr stolz auf sich, daß er diese Erinnerungen überwunden und die Kletterei erfolgreich hinter sich gebracht hatte.

Einige Augenblicke wartete er noch, dann griff er vom Dach aus zum Fenster. Er quetschte seine schmierigen Finger in den schmalen Spalt zwischen Rahmen und oberem Fensterrand. Ein Windstoß riß ihm den gestohlenen Zylinder vom Kopf. Er schnappte danach, wobei sein rechter Fuß ausrutschte und über das Dach scharrte. Der Zylinder segelte davon. Er fluchte lautlos, mit zusammengebissenen Zähnen. Das Geräusch eines solchen Ausrutschers hatte vorhin Hazards Frau ans Fenster gebracht.

Verkrampft hing er da und wartete. Nichts geschah. Anscheinend hatte sie das zweite Scharren nicht gehört. Langsam kroch er neben dem Dachfenster herab und schob es mit großer Vorsicht auf.

Er spähte durch den schmalen Spalt und sah einen hübsch möblierten, von Gaslicht erhellten Raum vor sich. Hinter einem Baldachinbett saß eine Frau vor einem Frisiertisch und hielt sich Ohrringe an die Ohren.

Er stieß das Fenster ganz auf, streckte ein verkrüppeltes Bein über den Sims und sprang in das Zimmer.

Weichensteller mit Laternen koppelten den Privatwaggon ab. Über den verschwommenen Lichtern der Stadt sah George oben auf der terrassenförmigen Anhöhe die hell erleuchteten Fenster von Belvedere. Links von ihm schimmerte der Himmel rot; die Nachtschichten von Hazard liefen.

Während er sich bereit machte, den Wagen zu verlassen, genoß er einen der seltenen Momente der Ruhe. In Pittsburgh hatten er und Jupe Smith Verhandlungen über den Ankauf der McNeely-Gießerei geführt. McNeely, ein großer Eisenfabrikant in Pennsylvania, war im Spätsommer gestorben, und George hatte die Gießerei von den Erben zu kaufen versucht. Sie war für die Einführung des neuen Bessemer-Verfahrens ideal geeignet.

Die Reise war erfolgreich gewesen. Er hatte McNeely in der Tasche, und hier in Lehigh Station wurde bei Hazard Tag und Nacht gearbeitet; die Produktion umfaßte alles von Eisenbahnschienen über Schmiedeeisen bis zu den Eisenrahmen für Fen-way, eine aufstrebende Pianofabrik in Chicago. George hatte ein gutes Gefühl bei all dem, und nun sinnierte er über die momentane Stimmung im Norden. Der Norden erfreute sich eines Wachstums und eines Wohlstands, wie es sie bis jetzt noch nicht gegeben hatte. Aus der Asche war der industrielle Phönix triumphierend aufgestiegen.

Den Politikern hatten sie das nicht zu verdanken. George dankte Gott, daß er noch vor Kriegsende Washington verlassen hatte. Die jetzigen üblen Intrigen dort hätte er nicht ertragen können. Bei einigen Gesprächen, die er in Pittsburgh geführt hatte, war deutlich geworden, daß viele Bürger den politischen Krieg allmählich satt hatten. Sie hatten Johnsons Tiraden über Verfassungsprinzipien ebenso satt wie die Manöver der Radikalen, ihn unter Anklage zu stellen; leider hatten sie mittlerweile auch die Diskussionen über die Rechte der Neger satt.

Unglücklicherweise ließen sich die Radikalen von all dem genausowenig beirren wie von den Wahlniederlagen in etlichen Staaten. Stanleys Kumpel und Gönner, Wade, war bereits zum Senatspräsidenten ernannt worden. Wenn Johnson aus dem Amt entfernt werden konnte, dann bestanden gute Aussichten, daß der Kongreß ihn zum Präsidenten der Vereinigten Staaten machte.

Virgilias Freund Thad Stevens wollte Johnson aus dem Weg haben. Manche behaupteten, nichts anderes hielte den alten Radikalen noch am Leben. Stevens und seine Clique wollten Johnson wegen >monströser Machtanmaßung< vor Gericht sehen; daß ihr erster diesbezüglicher Versuch vom Kongreß abgeschmettert worden war, bedeutete noch lange nicht, daß sie aufgaben. Mein Gott, wie bösartig manche Männer unter dogmatischem Einfluß doch wurden.

»Endlich«, stöhnte Jupe Smith und griff nach Reisetasche und Schirm. Es waren nur ein paar Meter vom Bahnsteig zu der wartenden Lehigh-Station-Droschke.

»Tut mir leid, daß wir uns verspätet haben, Bud«, sagte George und schüttelte beim Einsteigen Wasser von seinem Hut. »Ein umgestürzter Baum hat die Schienen für eine Stunde blockiert. Danke fürs Warten.«

»Gern geschehen«, sagte Bud durch den Dachschlitz. »Übrigens, Mr. Hazard, in den letzten Tagen hat sich ein Mann in der Stadt nach Ihnen erkundigt.«

George rückte zur Seite, um dem grummelnden Anwalt Platz zu machen. »Wer?«

»Hat seinen Namen nicht gesagt. Ziemlich komischer Vogel. Schaut aus, als wäre er im Krieg verkrüppelt worden. Leon vom Station House Hotel hat ihm gesagt, Sie seien für eine Weile weg. Ich schätze, er ist bloß irgendein Kerl, der Ihnen was verkaufen will.«

»Davon gibt's weiß Gott genug.«

»Wenn dieses faszinierende Gespräch vorbei ist«, sagte Jupe, »würde ich gern zu Bett gehen. Ich bin ein alter Mann.«

»Da bist du nicht der einzige.« Georges Knochen schmerzten. War bei ihm eine Grippe im Anzug? Er gab Bud ein Zeichen, und die Droschke schwankte durch die fast leeren Straßen.

Eben noch war der Spiegel leer gewesen, dann füllte sein Bild ihn aus. Sie stieß sich vom Frisiertisch ab. Sie war so entsetzt, daß sie gar nicht bemerkte, wie ihr der Ohrring aus der linken Hand fiel. Die andere goldgefaßte Perlenträne baumelte an ihrem rechten Ohrläppchen.

Er sprang auf sie zu, preßte ihr die linke Hand auf den Mund und stieß ihr sein rechtes Knie in den Rücken. »Sei still. Ein Wort, und ich bringe dich um.« Er bohrte sein Knie tiefer in ihren Rücken, um seine Worte zu unterstreichen. Es tat weh.

Panik legte ihren Verstand lahm. Ihr Blick irrte über das Bild im Spiegel, während sie sich bemühte, etwas Sinn in das Ganze zu bringen. Wer war dieser stoppelbärtige, fettbäuchige Unhold in der regennassen Kleidung? Seine Augen waren dunkel und verstört. Die Nägel seiner Hand auf ihrem Mund waren schwarz; er roch nach Dreck und Schweiß.

»Weißt nicht, wer ich bin, was? Ich bin ein alter Freund.« Er kicherte. Speichel tropfte von seiner Unterlippe und hinterließ einen dunklen Fleck auf ihrem Nachthemd. »Ein alter, alter Freund deines Mannes. Er und dieser kleine Speichellecker, sein Kumpel Main, die nannten mich unten in Mexiko Metzger. Metzger Bent.«

Unter seiner Hand schrie Constance auf - oder versuchte es zumindest. Sie kannte den Namen. George hielt Elkanah Bent für tot. Doch hier stand er und schob kichernd seine rechte Hand in seinen schmutzigen Mantel, an dem sämtliche Knöpfe fehlten. Er zog etwas ans Licht.

»Metzger bringen Kühe um. Du bist besser sehr vorsichtig.«

Er klappte das Rasiermesser auf. Es funkelte im Gaslicht. Constance glaubte, ohnmächtig zu werden. Nein, das durfte sie nicht. Ihr Geist schrie: George! Kinder!

Nein. Sie waren nicht hier. Sie konnten ihr nicht helfen.

Qualvoll, aufreizend langsam ließ Bent das Rasiermesser an ihren Augen vorbei zu ihrer Kehle gleiten. Plötzlich riß er das Messer nach oben.

Ein weiterer unterdrückter Schrei. Erst dann merkte Constance, daß er das Rasiermesser im letzten Moment gedreht hatte. Es war die stumpfe Seite, die sich gegen ihren Hals preßte.

»Jetzt werde ich dir ein paar Fragen stellen, du blöde Kuh. Wenn du schreist, bist du erledigt. Kapierst du, daß du still sein sollst? Wenn ja, dann zwinkere mit den Augen.«

Ihre Augen starrten sie riesengroß aus dem Spiegel an. Sie zwinkerte gleich viermal. Das Gaslicht blitzte auf dem Rasiermesser auf, als er es langsam wegnahm, gefolgt von seiner stinkenden Hand.

Constance wäre beinahe zusammengebrochen. »Bitte, oh Gott, bitte, tun Sie mir nichts.«

»Sag mir, was ich wissen will, und ich werde dir nichts tun.« Er trat zurück, machte jetzt einen fast freundlichen Eindruck. »Ich versprech's.«

Sie schämte sich ihrer Furcht, konnte sie aber nicht überwinden. »Kann ich - kann ich Ihnen trauen?«

Er kicherte. »Was bleibt dir anderes übrig? Aber doch, ja, du kannst. Ich will nur einige Informationen. Über die Leute, die mich ruiniert haben. Über ihre Familien. Fangen wir mit dem Busenfreund deines Mannes an, Orry Main. Ist er wirklich bei Petersburg gestorben?«

»Ja.« Constance hielt ihre Hände zwischen den Knien; ihre Nägel gruben sich in ihre Handflächen. »Ja, er ist tot.«

»Er hat eine Frau.«

Durfte sie Madeline oder irgendeine andere Person in Gefahr bringen? Sie starrte ihn mit offenem Mund an. Bent riß an ihrem Haar. »Wir haben eine Abmachung. Keine Antworten«, er fuchtelte mit dem Rasiermesser dicht vor ihren Augen herum, »und alles ist vorbei.«

»Schon gut, schon gut.«

Er zog das Rasiermesser zurück. »Gefällt mir schon besser. Ich möchte einer unschuldigen Frau wirklich nichts antun müssen. Erzähl mir von Mains Witwe. Wo ist sie?«

»Plantage Mont Royal. In der Nähe von Charleston.«

Er grunzte. »Und dein eigener Mann?«

In diesem Moment auf dem Weg nach Belvedere, dachte Constance. Sie mußte Bent in ein Gespräch verwickeln, ihn aufhal-ten, bis George kam. Der Zug war da; es konnte nicht mehr lange dauern. Oh Gott, und wenn er den Zug verpaßt hatte? Lieber Gott, wenn er ...?

»Meine Geduld ist nicht unerschöpflich.« Die linke Schulter des Mannes hing tiefer als seine rechte, was ihn irgendwie verletzlich wirken ließ. Merkwürdig, daß sie im Gegensatz dazu nie eine schreckenerregendere Gestalt gesehen hatte.

»George«, sie fuhr sich mit der Zunge über die trockenen Lippen, »George ist geschäftlich in Pittsburgh.«

»Du hast Kinder.«

Neues, kaltes Entsetzen. Daran hatte sie nicht gedacht.

»Kinder«, schnarrte er.

»In der Schule. Beide.«

»Ich glaube, dein Mann hat einen Bruder.«

Welchen meinte er? Sie nannte besser den Namen des am weitesten Entfernten. »In Kalifornien. Mit seiner Frau und seinem Sohn.«

Es funktionierte. Der Mann reagierte enttäuscht. Nach weiteren Einzelheiten erkundigte er sich nicht. »Und da gab es noch einen Verwandten von Orry Main. Ein Soldat, dem ich in Texas begegnet bin. Sein Name war Charles. Wo steckt er?«

»Soviel ich weiß, wieder in der Armee, drüben in Kansas.« Sie war so verängstigt, so verzweifelt bemüht, ihm gefällig zu sein und ihr Leben zu retten, daß sie jegliche Vorsicht vergaß. »Er ist nach dem Krieg dort hingezogen, mit seinem kleinen Sohn.«

Plötzlich lächelte der Mann. »Oh, er hat auch ein Kind. In welcher Truppe dient Charles?«

»In der US-Kavallerie. Ich weiß nicht genau, wo.«

»Kansas wird schon reichen. So viele Kinder. An Kinder hatte ich gar nicht gedacht. Sehr interessant.«

Constance stand wieder im Begriff, in unkontrolliertes Zittern auszubrechen. Dann trat zu ihrer Verblüffung der dreckige, regendurchnäßte Mann zurück. »Danke. Ich glaube, du hast mir alles erzählt, was ich wissen muß. Du warst mir eine große Hilfe.«

Der Hysterie nahe, sackte sie in sich zusammen. »Ich danke Ihnen. Oh Gott, ich danke Ihnen.«

»Du kannst ruhig aufstehen, wenn du magst.«

»Danke, ich danke Ihnen vielmals.« Sie stemmte sich mit beiden Handflächen von ihrem Sitz hoch und schwankte auf die Füße; Tränen der Erleichterung, daß er ihr Leben schonen würde, strömten aus ihren Augen. Er lächelte und trat einen Schritt auf sie zu.

»Vorsichtig. Du schwankst ja.« Seine freie Hand griff nach ihrem Ellbogen. Fauliger Atem drang aus seinem Mund. Von einem Moment zum anderen verzerrte ein breites Lächeln sein Gesicht, seine Augen wurden groß und glänzend.

»Hündin.« Ein kühler, silberner, federleichter Schnitt durchtrennte ihr die Kehle.

Er stand über sie gebeugt, beobachtete das strömende Blut und umklammerte die riesige Erektion zwischen seinen Beinen. Er warf das Rasiermesser zu Boden, entdeckte dann den tränenförmigen Ohrring, den sie hatte fallen lassen, hob ihn auf, tauchte ihn in ihr Blut und lächelte über das Rot in dem Gold. In weniger als einer Minute beendete er sein Werk und verließ das Zimmer auf dem gleichen Weg, auf dem er gekommen war.

George sperrte die Haustür auf. Die Droschke ratterte den Hügel hinab.

Summend stieg er, immer zwei Stufen auf einmal nehmend, die große Treppe hinauf. Die freudige Erwartung ließ ihn lauter summen, als er durch den oberen Flur eilte. Der Regen hämmerte schwer gegen das Haus. Er öffnete die Schlafzimmertür, sagte im Eintreten: »Constance, ich ...«

Der unglaubliche Anblick brachte ihn zum Schweigen. Er ließ seine Reisetasche fallen und rannte auf sie zu. Er griff nach ihr, um sie aufzuheben, überzeugt davon, daß sie lediglich bewußtlos war. Die Bedeutung des Blutes, das den Teppich durchtränkt hatte, die Bedeutung der großen Halswunde drang nicht bis in sein Bewußtsein.

Er sah das offene Mansardenfenster, durch das der Regen hereintropfte und den Teppich durchweichte. Er sah einen der tränenförmigen Ohrringe, die er ihr geschenkt hatte, aber nicht den anderen.

Der Spiegel lenkte seine Aufmerksamkeit auf sich. Er ging auf ihn zu; der Gestank des nassen Wollteppichs würgte ihn tief im Hals. Vier Buchstaben waren mit Blut auf den Spiegel geschrieben.

BENT

Er blickte vom Spiegel zum offenen Fenster und dann zu seiner regungslosen Frau. Der unterste Teil des T im Spiegel wuchs, schwoll an, Blut sammelte sich zu einem dicken Tropfen, der schließlich platzte. Das Blut sickerte tiefer, zog das T immer mehr in die Länge.

»Ich dachte, er sei tot«, sagte George; er merkte nicht, daß er schrie.

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