Wir alle sind der Meinung, daß abgefallene Staaten nicht mehr in ihrer eigentlichen Beziehung zur Union stehen und daß es das ausschließliche Ziel der Regierung sein muß, sowohl in ziviler als auch in militärischer Hinsicht diese Beziehung wiederherzustellen. Ich glaube, dies ist nicht nur möglich, sondern läßt sich sogar leichter erreichen, wenn wir gar nicht in Betracht ziehen, daß diese Staaten zu irgendeinem Zeitpunkt nicht zur Union gehört haben. Sind sie wieder sicher zu Hause gelandet, so spielt es keine Rolle mehr, ob sie je weggewesen waren.
Letzte öffentliche Rede von Abraham Lincoln
von einem Balkon des Weißen Hauses, 11. April 1865
Zertretet die Verräter. Tretet die Verräter in den Staub.
Kongreßabgeordneter Thaddeus Stevens nach Lincolns Ermordung, 1865
Überall um ihn herum schossen Flammensäulen in den Himmel. Der Kampf hatte zuerst das trockene Unterholz, dann die Bäume in Brand gesetzt. Der Rauch trieb ihm die Tränen in die Augen, so daß er die feindlichen Schützen kaum sehen konnte.
Charles Main beugte sich tief über den Nacken von Sport, seinem Grauen, schwenkte seinen Strohhut und brüllte: »Hah! Hah!« Vor ihm galoppierten mit flatternden Mähnen zwanzig herrliche Kavalleriepferde, zuerst in die eine, dann in die andere Richtung, auf der Flucht vor der Hitze und dem roten Flammenwirbel.
»Wir müssen verhindern, daß sie wenden«, schrie Charles hinüber zu Ab Woolner, den er in dem dichten Rauch nicht sehen konnte. Gewehrschüsse bellten. Eine verschwommene Gestalt links von ihm kippte aus dem Sattel.
Konnten Sie es schaffen? Sie mußten es schaffen. Die Armee benötigte dringend diese gestohlenen Gäule.
Hinter einem umgestürzten Baumstamm sprang ein bulliger Sergeant im Blau der Union hoch. Er brachte sein Gewehr in Anschlag und jagte der Stute, die die Herde anführte, eine Kugel in den Kopf. Sie stieß eine Art Bellen aus und brach zusammen. Ein Brauner hinter ihr stolperte und ging ebenfalls zu Boden. Im Weitergaloppieren hörte Charles das Splittern von Knochen. Ein Grinsen legte sich über das rußige Gesicht des Sergeants. Er schoß dem Braunen ein Loch in den Kopf.
Die Hitze versengte Charles' Gesicht. Der Rauch blendete ihn. Ab und die anderen Männer des graugekleideten Stoßtrupps hatte er vollständig aus den Augen verloren. Nur die Notwendigkeit, die Tiere zu General Hampton zu bringen, trieb ihn weiter durch das Inferno, in dem sich Feuer und Sonnenlicht vermischten.
Seine Lungen schmerzten, schrien nach Luft. Er glaubte vor sich eine Lücke zu sehen, die das Ende des brennenden Waldes markierte. Er setzte die Sporen ein; Sport reagierte sofort. »Ab, geradeaus. Siehst du's?«
Keine Antwort, nur noch mehr Schüsse, noch mehr Schreie, noch mehr Geräusche von Pferden und Männern, die in die brennenden Blätter stürzten, die wie ein Teppich den Boden bedeckten. Charles drückte sich den Hut fest auf den Kopf, riß seinen 44er Armeecolt hoch und zog mit dem Daumen den Hammer zurück. Vor ihm versperrten drei Unionssoldaten mit erhobenen Bajonetten den Fluchtweg. Vor den heranstürmenden Pferden wichen sie zur Seite. Ein Soldat rammte einem Schecken sein Bajonett in den Bauch. Eine Blutfontäne überschüttete ihn. Mit einem schrillen, herzzerreißenden Wiehern ging der Schecke zu Boden.
Diese unglaubliche Brutalität Tieren gegenüber raubte Charles fast den Verstand. Er feuerte zweimal, aber Sport galoppierte über derart unebenes Gelände, daß er auf keinen Treffer hoffen durfte. Inmitten der rasenden Herde suchten sich die drei Unionssoldaten ihre Ziele. Eine Kugel traf Sport direkt zwischen den Augen; Blut spritzte über Charles' Gesicht. Er schrie wie ein Wahnsinniger auf, als die Vorderbeine des Grauen einknickten und er nach vorn stürzte.
Er landete hart und stemmte sich benommen auf Hände und Knie. Ein weiterer grinsender Unionssoldat stieß mit seinem Bajonett zu. Charles hatte den Eindruck von orangem Licht, so grell, daß man gar nicht hinschauen konnte, und einer derart intensiven Hitze, daß er zu spüren glaubte, wie sie seine Haut versengte. Der Unionssoldat rammte Charles das Bajonett in den Bauch und zog es nach oben, riß ihn vom Nabel bis zum Brustbein auf.
Ein zweiter Soldat drückte Charles einen Gewehrlauf gegen den Kopf. Charles hörte die Explosion, spürte die Wucht des Aufpralls - dann wurde der Wald dunkel.
»Mr. Charles ...«
»Geradeaus, Ab! Der einzige Weg, der rausführt!«
»Mr. Charles, Sir, wachen Sie auf!«
Er schlug die Augen auf, sah die Silhouette einer Frau vor dunkelrotem Licht. Er rang nach Luft, schlug um sich. Rotes Licht. Der Wald brannte.
Nein. Das Licht stammte von den roten Schalen der Gasglühkörper im Salon. Es gab kein Feuer, keine Hitze. Immer noch benommen sagte er: »Augusta?«
»Oh nein, Sir«, sagte sie traurig. »Ich bin's, Maureen. Sie haben so geschrien, daß ich dachte, Sie hätten irgendeinen Anfall.«
Charles richtete sich auf und schob sich das dunkle Haar aus der schweißbedeckten Stirn. Seine Haare waren schon eine ganze Weile nicht mehr geschnitten worden. Sie ringelten sich über den Kragen seines verwaschenen blauen Hemdes. Obwohl er erst neunundzwanzig war, hatte sein gutes Aussehen unter Entbehrungen und Verzweiflung gelitten.
Auf der anderen Seite des Salons der Suite im >Grand Prairie Hotel<, Chicago, sah er seinen Revolvergurt auf einem Sitzkissen liegen, in dem sein Colt steckte. Den Colt zierte eine Gravur mit einer Szene, in der Indianer gegen Armeedragoner kämpften. Über der Lehne des gleichen Stuhls hing sein Umhängemantel, zusammengesetzt aus Flicken von zimtfarbenen Südstaatenhosen, Pelzmänteln, Unionsüberziehern und gelben und scharlachroten Bettdecken. Stück für Stück hatte er ihn sich während des Krieges genäht, um sich warm zu halten.
»Ein schlechter Traum«, sagte er. »Habe ich Gus geweckt?«
»Nein, Sir. Ihr Sohn schläft tief und fest. Tut mir leid wegen Ihres Alptraums.«
»Ich hätte es gleich merken müssen. Ab Woolner kam darin vor. Und mein Pferd Sport. Sie sind beide tot.« Er rieb sich die Augen. »Bin schon wieder in Ordnung, Maureen. Danke.«
Zweifelnd sagte sie: »Jawohl, Sir«, und schlich auf Zehenspitzen hinaus.
In Ordnung, dachte er. Wie konnte er jemals wieder in Ordnung sein? Er hatte alles im Krieg verloren, denn er hatte Augu-sta Barclay verloren. Sie war bei der Geburt seines Sohnes gestorben, von dessen Existenz er erst nach ihrem Tod erfahren hatte.
Der Traum hielt ihn immer noch in seinem Bann. Er konnte den brennenden Wald sehen und riechen, so wie damals die Wildnis gebrannt hatte. Er konnte spüren, wie die Hitze sein Blut zum Kochen brachte. Es war ein typischer Traum. Er war ein ausgebrannter Mann, der im Wachzustand von zwei bohrenden Fragen gequält wurde: Wo konnte er für sich selbst Frieden finden? Wo war sein Platz in einem Land, das sich nicht mehr im Kriegszustand befand? Seine einzige Antwort auf beide Fragen lautete: nirgendwo.
Wieder strich er sich die Haare zurück und schwankte zu der Anrichte, um sich einen kräftigen Drink einzuschenken. Der Sonnenuntergang tauchte die Dächer der Randolph Street, die vom Eckfenster aus zu sehen waren, in ein rötliches Licht. Er leerte gerade, immer noch bemüht, seinen Alptraum abzuschütteln, seinen Drink, als Augustas Onkel, Brigadier Jack Duncan, durch das Foyer auf ihn zukam.
Seine ersten Worte waren: »Charlie, ich habe schlechte Nachrichten.«
Brevetbrigadier Duncan war ein untersetzter Mann mit grauen Kraushaaren und geröteten Wangen. In voller Montur machte er einen großartigen Eindruck: Frack, Degengürtel, Bandelier, Schärpe mit darübergefalteten Handschuhen, Chapeau mit schwarzseidener Kokarde. Sein tatsächlicher Rang auf seinem neuen Posten bei der Militärdivision von Mississippi mit Hauptquartier in Chicago war Captain. Die meisten Offizierspatente aus Kriegszeiten waren heruntergestuft worden, aber wie alle anderen auch hatte Duncan ein Recht darauf, mit seinem höheren Rang angesprochen zu werden. Er trug den einen Silberstern eines Brigadiers auf seinen Epauletten, klagte aber über die große Verwirrung, die in bezug auf Ränge, Titel, Insignien und Uniformen in der Nachkriegsarmee herrschte.
Charles wartete darauf, daß er weitersprach, und zündete sich inzwischen einen Zigarrenstummel an. Duncan legte seinen Hut beiseite und schenkte sich einen Drink ein. »Ich war den ganzen Nachmittag über bei der Division, Charlie. John Pope wird von Bill Sherman als Kommandant abgelöst.«
»Ist das die schlechte Nachricht?«
Duncan schüttelte den Kopf. »Wir haben immer noch eine Million Männer unter Waffen, aber nächstes Jahr um diese Zeit werden wir mit Glück gerade noch fünfundzwanzigtausend haben. Als Teil dieser Reduktion werden das Erste bis Sechste Freiwillige Infanterieregiment ausgemustert.«
»Die ganzen bekehrten Yankees?« Dabei handelte es sich um konföderierte Gefangene, die sich der Unionsarmee angeschlossen hatten, um dem Gefängnis zu entgehen.
»Bis zum letzten Mann. Sie haben übrigens ihre Aufgabe recht ordentlich erfüllt. Sie haben die Sioux davon abgehalten, die Siedler in Minnesota niederzumetzeln, sie haben vom Feind zerstörte Telegraphenleitungen wiederaufgebaut, Forts bemannt und den Postdienst aufrechterhalten und bewacht. Aber das ist nun alles vorbei.«
Charles ging hinüber zum Fenster. »Verdammt noch mal, Jack, ich habe den ganzen weiten Weg hierher gemacht, um mich einem dieser Regimenter anzuschließen.«
»Ich weiß. Aber die Türen sind nun verschlossen.«
Charles drehte sich um, und sein Gesicht war so verzweifelt und elend, daß Duncan tiefbewegt war. Dieser Mann aus South Carolina, der sich des Kindes seiner Nichte angenommen hatte, war ein guter Mann. Aber wie so viele andere auch hatte ihn das Ende des Krieges, der ihn vier Jahre lang völlig ausgefüllt hatte, schmerzlich aus der Bahn geworfen.
»Na gut«, sagte Charles. »Dann werde ich vermutlich Böden wischen müssen. Oder Löcher buddeln.«
»Es gäbe noch einen Weg, wenn dir das einen Versuch wert ist.« Charles wartete. »Die reguläre Kavallerie.«
»Teufel auch, das ist unmöglich. Die Amnestie schließt WestPoint-Absolventen aus, die die Seiten gewechselt haben.«
»Das läßt sich umgehen.« Bevor Charles eine Frage stellen konnte, fuhr er fort: »Es gibt einen Überschuß an Offizieren, aber es fehlt an qualifizierten Mannschaftsdienstgraden. Du bist ein guter Reiter und ein erstklassiger Soldat - solltest du ja wohl auch mit deiner West-Point-Ausbildung. Sie ziehen dich mit Sicherheit all den irischen Emigranten und einarmigen Wunderkindern und entsprungenen Sträflingen vor.«
Charles kaute nachdenklich auf seiner Zigarre herum. »Was ist mit meinem Jungen?«
»Nun, es bleibt bei dem Arrangement, auf das wir uns bereits geeinigt hatten. Maureen und ich behalten Gus, bis du mit der Ausbildung fertig bist und auf irgendeinen Posten versetzt wirst. Mit etwas Glück - wenn du beispielsweise in Fort Leaven-worth oder Fort Riley landest - kannst du die Frau eines Unteroffiziers als Kindermädchen anheuern. Wenn nicht, dann kann er beliebig lange bei uns bleiben. Ich liebe den Jungen. Ich würde jeden Mann erschießen, der ihn schief anschaut.«
»Ich auch.« Charles sinnierte weiter. »Mir bleibt kaum eine Wahl, was? Bei den Regulären anmustern oder nach Hause gehen, von Cousine Madelines Barmherzigkeit leben und mein restliches Leben lang Kriegsgeschichten erzählen.« Er kaute grimmig auf seiner Zigarre herum. Er warf Duncan einen rätselhaften Blick zu und erkundigte sich: »Bist du sicher, daß sie mich bei den Regulären nehmen?«
»Charlie, Hunderte von ehemaligen Reb... äh, Konföderierten treten in die Armee ein. Du mußt nur das tun, was sie auch tun.«
»Und was ist das?«
»Wenn du anmusterst, lüg auf Teufel komm raus.«
»Der Nächste«, sagte der Rekrutierungssergeant.
Charles ging zu dem fleckigen Tisch, unter dem ein stinkender Spucknapf stand. Nebenan schrie ein Mann auf, als der Barbier ihm einen Zahn ausriß.
Der Unteroffizier roch nach Gin, sah aus, als hätte er das Pensionsalter bereits um zwanzig Jahre überschritten, und erledigte alles im Zeitlupentempo. Charles hatte schon eine Stunde gewartet, während der Sergeant zwei glutäugige junge Männer abfertigte, von denen keiner englisch sprach. Der eine beantwortete sämtliche Fragen, indem er sich gegen die Brust schlug und ausrief: »Budapest, Budapest!« Der andere klopfte sich gegen die Brust und rief: »United States Merica.« Möge Gott der Armee gnädig sein.
Der Sergeant drückte an seiner geäderten Nase herum. »Bevor wir anfangen, tu mir einen Gefallen. Pack diese scheußliche Ansammlung von Lumpen, oder was immer es auch sein mag, und befördere sie nach draußen. Schaut gräßlich aus und riecht wie Schafscheiße.«
Vor Wut kochend faltete Charles seinen Umhängemantel zusammen und legte ihn ordentlich draußen vor der Tür auf den Boden. Zurück am Tisch sah er zu, wie der Sergeant seine Feder in die Tinte tauchte.
»Du weißt ja, die Verpflichtung geht auf fünf Jahre.«
Charles nickte.
»Infanterie oder Kavallerie?«
»Kavallerie.«
Das eine Wort verriet ihn. Feindselig sagte der Sergeant: »Süd-staatler?«
»South Carolina.«
Der Sergeant griff nach einem Papierstapel. »Name?«
Darüber hatte Charles lange nachgedacht. Er brauchte einen Namen, der dem seinen ähnelte, damit er ganz natürlich reagierte, wenn er angesprochen wurde. »Charles May.«
»May, May.« Der Sergeant blätterte die Papiere durch und legte sie schließlich beiseite. Auf Charles' fragenden Blick antwortete er: »Liste mit West-Point-Absolventen. Hat das Divisionshauptquartier ausgebrütet.« Er musterte Charles' schäbige Klamotten. »Mußt dir keine Sorgen machen, daß man dich irrtümlich für einen dieser Jungs hält, schätze ich. Also, irgendwelche militärischen Erfahrungen?«
»Berittene Legion Wade Hampton. Später ...«
»Wade Hampton genügt.« Der Sergeant schrieb es auf. »Höchster Dienstgrad?«
Er fühlte sich nicht wohl dabei, aber er befolgte Duncans Rat. »Corporal.«
»Kannst du das beweisen?«
»Ich kann gar nichts beweisen. Meine Papiere sind in Rich-mond verbrannt.«
Der Sergeant schnaufte. »Das ist verdammt bequem für euch Rebellen. Na ja, wir können nicht wählerisch sein. Seit Chiving-ton letztes Jahr mit Schwarzer Kessels Cheyenne abgerechnet hat, spielen die verfluchten Prärieindianer verrückt.«
Die >Abrechnung<, wie es der Sergeant formuliert hatte, entsprach nicht gerade den Fakten, die Charles kannte. In der Nähe von Denver war eine Gruppe von Auswanderern von Indianern niedergemetzelt worden. Ein ehemaliger Prediger, Colonel J.M. Chivington, hatte in Colorado eine Freiwilligentruppe zusammengestellt, die einen Gegenschlag gegen ein CheyenneDorf am Sand Creek führten, obwohl nicht der geringste Beweis existierte, daß der Häuptling des Dorfes, Schwarzer Kessel, oder seine Leute für den Überfall verantwortlich waren. Von den dreihundert Leuten, die Chivingtons Männer am Sand Creek töteten, waren zweihundertfünfundzwanzig Frauen und Kinder. Dieser Überfall hatte viele Menschen im Land empört, aber der Sergeant gehörte offenbar nicht zu ihnen.
Der Zahnarztpatient kreischte erneut auf. »Nein«, sinnierte der Sergeant, während seine Feder über das Papier kratzte, »wir können kein bißchen wählerisch sein. Wir müssen so ziemlich alles nehmen, was sich sehen läßt.« Ein Blick zu Charles. »Verräter eingeschlossen.«
Charles kämpfte seinen Zorn nieder. Wenn er weitermachte -und er mußte weitermachen; er war Soldat, etwas anderes hatte er nicht gelernt -, dann würde er wahrscheinlich das Thema Verräter in allen Variationen zu hören bekommen. Er gewöhnte sich besser gleich daran, sich das klaglos anzuhören.
»Kannst du lesen oder schreiben?«
»Beides.«
Der Rekrutierungssergeant brachte tatsächlich ein Lächeln zustande. »Das ist gut, obwohl es, verdammt noch mal, keine Rolle spielt. Die wesentlichen Merkmale hast du. Mindestens einen Arm, ein Bein, und du atmest noch. Unterschreib hier.«
Die Glocke der Lokomotive läutete. Maureen zögerte. »Sir -Brigadier - alle Fahrgäste einsteigen.«
Inmitten der über den Bahnsteig ziehenden Rauchschwaden umarmte Charles seinen zu einem Bündel verpackten Sohn. Der kleine Gus, mittlerweile sechs Monate alt, krümmte sich in einer Kolik. Maureen säugte das Baby immer noch, und zum erstenmal reagierte es schlecht darauf.
»Ich will nicht, daß er mich vergißt, Jack.«
»Deswegen habe ich ja die Daguerreotypie von dir machen lassen. Wenn er ein bißchen älter ist, zeige ich ihm das Bild und sage Papa dazu.«
Sanft legte Charles seinen Sohn zurück in die Arme der Haushälterin, die, wie er vermutete, auch die Ehefrau ohne Trauschein war. »Paßt gut auf den Kleinen auf.«
»Die Annahme, wir könnten das nicht tun, grenzt fast schon an Beleidigung«, sagte Maureen, das Kind wiegend.
Duncan umklammerte Charles' Hand. »Geh mit Gott und denk daran, halte deine Zunge und dein Temperament im Zaum. Vor dir liegen ein paar harte Monate.«
»Ich schaffs schon, Jack. Ich kann für jedermann den Soldaten spielen, sogar für die Yankees.«
Die Pfeife schrillte. Vom letzten Waggon aus gab der Schaffner das Signal und brüllte nach vorn zum Lokomotivführer: »Abfahrt! Abfahrt!« Charles sprang auf die Stufen des ZweiteKlasse-Waggons und wankte, als der Zug losschnaufte. Er war froh um den aufsteigenden Dampf, der verhinderte, daß sie seine Augen sehen konnten, als der Zug den Bahnhof verließ.
Charles hing in seinem Sitz. Wegen seines düsteren Aussehens hatte sich niemand neben ihn gesetzt; den abgetragenen Strohhut hatte er tief in die Stirn gezogen, sein Umhängemantel lag neben ihm. Auf seinen Knien ruhte ungelesen eine Ausgabe der National Police Gazette.
Dunkle Regenstreifen krochen diagonal über das Fenster. Sturm und Nacht verbargen alles, was dahinter lag. Er kaute an einem vertrockneten Brötchen, das er einem Händler im Gang abgekauft hatte, und spürte die alte hilflose Leere in sich aufsteigen.
Er blätterte die Seiten der New York Times durch, die ein Fahrgast zurückgelassen hatte, der an der letzten Station ausgestiegen war. Die Annoncen erregten seine Aufmerksamkeit: phantastische Angebote für Brillen, Korsetts, den Luxus auf Küstendampfschiffen. Eine Annonce offerierte ein Tonikum gegen das Leid. Er schob die Zeitung beiseite. Ein Jammer, daß es nicht so einfach war.
Unbewußt begann er eine kleine Melodie vor sich hin zu pfeifen, die ihm vor ein paar Wochen in den Sinn gekommen war und nicht mehr aus dem Kopf gehen wollte. Das Gepfeife machte eine kräftige Frau auf der anderen Seite des Ganges munter. Der Kopf ihrer plumpen Tochter ruhte in ihrem Schoß. Die Frau überwand ihre Hemmungen und sprach Charles an.
»Sir, das ist eine wunderbare Melodie. Ist es vielleicht zufällig eine von Miss Jenny Linds Nummern?«
Charles schob seinen Hut zurück. »Nein. Ist mir selber nur so in den Sinn gekommen.«
»Oh, ich dachte, es müsse von ihr stammen. Wir sammeln die Noten all ihrer berühmten Nummern. Ursula kann sie ganz herrlich spielen.«
»Das bezweifle ich nicht.« Trotz seiner guten Absichten klang es kurz und schroff.
»Sir, falls Sie mir die Bemerkung erlauben«, sie deutete auf die Gazette auf seinen Knien, »was Sie da lesen, ist keine christliche Literatur. Bitte, nehmen Sie das hier. Sie werden es erbaulicher finden.«
Sie reichte ihm ein kleines Pamphlet, das er noch von den Camps in Kriegszeiten kannte. Eine der kleinen religiösen Ermahnungen der amerikanischen Traktatgesellschaft.
»Danke«, sagte er und begann zu lesen:
Wahrlich, wahrlich, ich sage dir, hiernach steht dir der Himmel offen, und die Engel Gottes werden herniedersteigen ...
Verbittert blickte Charles wieder zum Fenster hinaus. Er sah keine Engel, keinen Himmel, nichts als die grenzenlose Finsternis der Prärie von Illinois und den Regen - wahrscheinlich Vorboten einer Zukunft, so düster wie die Vergangenheit. Duncan hatte zweifellos recht, daß harte Zeiten vor ihm lagen. Er sank noch tiefer in sich zusammen und sah zu, wie die Finsternis draußen vorüberflog.
Leise begann er die kleine Melodie zu summen, die wunderschöne Pastellbilder von Mont Royal heraufbeschwor - sauberer, herrlicher, größer, als es je gewesen war, bevor es niederbrannte. Die kleine Melodie erzählte ihm von dieser verlorenen Heimat, von seiner verlorenen Liebe und von allem, was er in den vier blutigen Purpurtraumjahren der Konföderation verloren hatte. Sie sang ihm von Gefühlen und einem Glück, von dem er mit Sicherheit wußte, daß er es nie wieder erleben würde.
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MADELINES JOURNAL
Juni 1865. Liebster Orry, ich beginne mit diesen Aufzeichnungen, weil ich mit Dir reden muß. Zu sagen, daß ich ohne Dich haltlos treibe, daß ich mit Schmerzen lebe, beschreibt auch nicht annähernd meinen Zustand. Ich werde mich bemühen, Selbstmitleid von diesen Seiten fernzuhalten, aber ich weiß, es wird mir nicht immer gelingen.
Ein winziger Teil von mir freut sich darüber, daß Du nicht hier bist und so den Niedergang unserer geliebten Heimat nicht mit ansehen mußt. Das ganze Ausmaß dieses Ruins wird erst allmählich sichtbar. South Carolina schickte ungefähr 70.000 Männer in diesen unseligen Krieg; mehr als ein Viertel davon wurden getötet, die höchste Verlustquote aller Staaten, wie es heißt.
Bis zu 200.000 befreite Neger schwärmen nun überall herum. Das ist die halbe Bevölkerung des Staates oder mehr. Auf der Flußstraße traf ich letzte Woche Maum Ruth, die früher dem verstorbenen Francis LaMotte gehörte. Sie hielt einen alten Mehlsack so sorgsam fest, daß ich mich erkundigte, was er enthielt. »Hab' die Freiheit hier drin, und werd' sie nicht mehr loslassen.« Voll Trauer und Zorn ging ich davon. Wie falsch war es doch von uns, daß wir unseren Schwarzen keine Bildung zukommen ließen. Sie sind hilflos dieser neuen Welt ausgeliefert, in die ein merkwürdiger Friede sie geschleudert hat.
>Unsere< Schwarzen - ich denke gerade über diese zufällige Wortwahl nach. Es klingt herablassend, und ich bin vergeßlich. Ich gehöre zu ihnen - in Carolina gilt man als Schwarzer, wenn man zu einem Achtel Negerblut in den Adern hat.
Was Deine Schwester Ashton so haßerfüllt in Richmond über mich erzählt hat, ist nun im ganzen Bezirk bekannt. In den letzten Wochen wurde das allerdings mit keinem Wort erwähnt, wofür ich Dir zu danken habe. Du erfreust Dich höchster Achtung, und man trauert aufrichtig um Dich .
Wir haben vier Reisfelder bepflanzt. Wir sollten eine ordentliche kleine Ernte zum Verkaufen haben, falls es einen Käufer gibt. Andy, Jane und ich arbeiten jeden Tag auf den Feldern.
Ein Pastor der Afrikanischen Methodistenkirche traute Andy und Jane letzten Monat. Sie haben einen neuen Nachnamen angenommen. Andy wollte Lincoln, aber Jane weigerte sich; den Namen haben sich schon zu viele ehemalige Sklaven ausgesucht. Statt dessen heißen sie jetzt Sherman, eine Wahl, mit der sie sich bei der weißen Bevölkerung nicht unbedingt beliebt machen werden! Aber sie sind freie Menschen. Es ist ihr gutes Recht, sich den Namen zuzulegen, der ihnen gefällt.
Das Pinienhaus, als Ersatz für das von Cuffey und Jones und ihrem Abschaum niedergebrannte Herrenhaus gebaut, hat einen neuen weißen Anstrich bekommen. Jane kommt jeden Abend zu mir hoch, während Andy unermüdlich an den Kalkmörtelwänden ihrer neuen Hütte arbeitet; wir unterhalten uns oder flicken die Lumpen, die als Ersatz für anständige Kleidung dienen - und manchmal tauchen wir sogar in unsere >Bibliothek<. Sie besteht aus einem >Godey's-Lady's-Buch< von 1863 und den letzten zehn Seiten eines Southern Literary Messenger.
Jane spricht oft von der Gründung einer Schule, sie wollte sogar das neue >Büro für befreite Sklaven< bitten, uns bei der Suche nach einem Lehrer behilflich zu sein. Ich habe diese Aufgabe übernommen - ich fühle mich dazu verpflichtet, trotz des Unwillens, den das sicherlich hervorrufen wird. In der Bitternis der Niederlage sind nur sehr wenige Weiße bereit, jenen zu helfen, die durch Lincolns Feder und Shermans Schwert befreit wurden.
Bevor wir jedoch an eine Schule denken können, müssen wir erst mal ans Überleben denken. Der Reis reicht für unseren Lebensunterhalt nicht aus. Ich weiß, daß der gute George Hazard uns unbegrenzten Kredit einräumen würde, aber ich halte es für Schwäche, ihn darum zu bitten. In dieser Hinsicht bin ich ganz bestimmt eine Südstaatlerin - voll von halsstarrigem Stolz.
Vielleicht können wir Holz von den Pinien- und Zypressenhainen verkaufen, die es auf Mont Royal im Überfluß gibt. Ich habe keine Ahnung, wie man eine Sägemühle betreibt, aber ich kann es lernen. Wir würden Geräte benötigen, was eine weitere Hypothek bedeutete. Die Banken in Charleston öffnen vielleicht bald schon wieder ihre Pforten - sowohl Gen. Williams als auch Leverett Daw-kins, unser alter nationalrepublikanischer Freund, haben während des Krieges in britischen Sterling spekuliert und die Gewinne in einer ausländischen Bank deponiert. Damit nun wollen sie das kommerzielle Blut wieder durch die Adern des flachen Landes pumpen. Wenn Leveretts Bank aufmacht, werde ich mich an ihn wenden.
Ich muß außerdem noch Arbeiter einstellen und frage mich, ob ich das kann. Die Sorge ist weitverbreitet, daß die Neger es vorziehen, ihre Freiheit zu genießen, anstatt für ihre alten Besitzer, wie gütig sie auch immer gewesen sein mochten, zu arbeiten. Ein quälendes Problem für den ganzen Süden.
Aber, mein liebster Orry, ich muß Dir noch von meinem unwahrscheinlichen Traum erzählen - den zu verwirklichen ich mir vor allem anderen versprochen habe. Er wurde vor wenigen Tagen geboren, aus meiner Liebe zu Dir heraus und meiner Sehnsucht und meinem immerwährenden Stolz, Deine Frau zu sein ...
In dieser Nacht verließ Madeline, unfähig zu schlafen, nach Mitternacht das weißgekalkte Haus, das mittlerweile einen kleinen Flügel mit zwei Schlafzimmern besaß. Auch jetzt, wo sie auf die Vierzig zuging, war Orry Mains Witwe immer noch so vollbusig und schmalhüftig wie zu der Zeit, als er sie auf der Flußstraße gerettet hatte, obwohl Alter und Mühsal ihr Gesicht zu zeichnen begannen.
Fast eine Stunde lang hatte sie geweint, hatte sich dessen geschämt, war aber machtlos dagegen gewesen. Nun eilte sie die weite Rasenfläche hinunter, über ihr ein Mond, der blendend weiß über den Bäumen am Ufer des Ashley River hing. An der Stelle, wo sich einst der Pier vorgeschoben hatte, schreckte sie einen weißen Reiher auf. Der Vogel stieg auf und strich an dem großen, vollen Mond vorbei.
Sie wandte sich um und blickte über den Rasen zurück zu dem Haus unter den mit Moos bewachsenen Eichen. Eine Vision stieg in ihr auf, eine Vision des herrlichen Hauses, in dem sie und Orry als Mann und Frau gelebt hatten. Sie sah die eleganten Säulen, die erleuchteten Fenster. Sie sah Kutschen vorfahren, lachende Herren und Damen aussteigen.
Ganz plötzlich war der Gedanke da. Er ließ ihr Herz so schnell schlagen, daß es fast schon schmerzte. Wo jetzt die armselige, weißgekalkte Hütte stand, würde sie ein neues Mont Royal aufbauen. Ein wunderbares, großartiges Haus, das für immer als Erinnerung an ihren Mann und dessen Güte dienen sollte, eine Erinnerung an alles, was an der Main-Familie und ihrer gemeinsamen Vergangenheit gut war.
In einem Sturzbach von Gedanken schoß es ihr durch den Kopf, daß das Haus nicht eine genaue Nachahmung des verbrannten Herrenhauses werden dürfte. Diese Art von Schönheit hatte - im Verborgenen - zuviel Böses repräsentiert. Obwohl die Mains gut zu ihren Sklaven gewesen waren, hatten sie sie doch zweifellos als Besitz gehalten und so ein System unterstützt, in dem Fesseln und Peitschen und Tod und Kastration für jene, die genügend Mut zur Flucht besaßen, an der Tagesordnung waren. Gegen Kriegsende hatte sich Orry von dem System so gut wie losgesagt; Cooper hatte es in jüngeren Jahren ganz offen verdammt. Auch deshalb mußte das neue Mont Royal wahrhaftig neu sein, denn eine neue Zeit war angebrochen. Ein neues Zeitalter.
Tränen stiegen ihr in die Augen. Madeline streckte ihre verschränkten Hände dem Mond entgegen. »Irgendwie werde ich es schaffen. Dir zu Ehren.«
Sie sah es deutlich vor sich, das neue Haus, wie Phönix aus der Asche auferstanden. Wie eine bäuerliche Priesterin hob sie Kopf und Hände irgendwelchen Gottheiten entgegen, die sie aus dem Sternengewölbe des nächtlichen Himmels über Carolina beobachten mochten. Sie sprach zu ihrem Mann dort zwischen den fernen Sternen:
»Ich schwöre beim Himmel, Orry. Ich werde es bauen - für dich!«
Überraschender Besuch heute. General Wade Hampton, auf dem Heimweg von Charleston. Es heißt, aufgrund seines Ranges und seiner Unbarmherzigkeit als Soldat werde es Jahre dauern, bis die Amnestie so umfassend sei, daß sie auch ihn einschließe.
Seine Kraft und seine heitere Gemütsart erstaunen mich. Er hat so viel verloren - sein Bruder Frank und sein Sohn Preston sind in der Schlacht gefallen, 3.000 Sklaven dahin und sowohl Millwood als auch Sand Hills vom Feind niedergebrannt. Er haust in einer Aufseherhütte in Sand Hills und kann der Anschuldigung nicht entgehen, daß er und nicht Sherman Columbia niedergebrannt habe, indem er Baumwollballen in Brand steckte, damit sie nicht den Yankee-Plünderern in die Hände fielen.
Doch er zeigt sich von all dem nicht deprimiert, sondern bringt statt dessen seine Besorgnis um andere zum Ausdruck ...
Wade Hampton saß vor dem Pinienhaus auf einem Baumklotz, der als Stuhl diente. Lees ältester Kavalleriekommandant, mittlerweile siebenundvierzig, bewegte sich mit einer gewissen Steifheit. Fünfmal war er auf dem Schlachtfeld verwundet worden. Nach seiner Heimkehr hatte er sich den gewaltigen Vollbart abrasiert und nur noch ein Büschel unter dem Mund stehen lassen, obwohl er nach wie vor den riesigen Schnurrbart und Backenbart trug. Unter einem alten Wollmantel steckte ein Revolver mit Elfenbeingriff in einem Pistolenhalfter.
»Kaffee mit Schuß, General«, sagte Madeline, als sie mit zwei dampfenden Blechtassen wieder in das gesprenkelte Sonnenlicht trat. »Zucker und etwas Kornwhisky - obwohl ich fürchte, der Kaffee ist nichts weiter als ein Gebräu aus gerösteten Eicheln.«
»Ich werde ihn trotzdem genießen.« Lächelnd nahm Hampton seine Tasse. Madeline setzte sich auf eine Kiste, neben einen Strauch gelben Jasmin, den sie so liebte.
»Ich bin gekommen, um mich nach Ihrem Befinden zu erkundigen«, sagte er zu ihr. »Mont Royal gehört nun Ihnen.«
»In gewissem Sinne ja. Ich besitze es nicht.«
Wade Hampton zog eine Augenbraue fragend in die Höhe, und sie erklärte ihm, daß Tillet Main die Plantage seinen Söhnen Orry und Cooper gemeinsam hinterlassen hatte, trotz seiner langjährigen Meinungsverschiedenheit mit Cooper, was die Sklaverei anbelangte. Am Ende hatten Blutsbande und Tradition in Tillet die Oberhand gewonnen über Zorn und Ideologie. Wie den meisten Männern seines Alters und seiner Zeit waren Tillet seine Söhne wichtig, weil er seinen Besitz schätzte und die geschäftlichen und finanziellen Fähigkeiten von Frauen gering achtete. Als er sein Testament schrieb, machte er sich lediglich die Mühe, jeder seiner beiden Töchter, Ashton und Brett, eine gewisse Geldsumme zukommen zu lassen, in der Annahme, daß sie von ihren Ehemännern versorgt würden. Das Testament besagte weiter, daß im Falle des Todes eines Sohnes dessen Besitzanteil direkt an den Bruder fiel.
»Deshalb ist jetzt Cooper der Alleineigentümer, aber er hat mir großzügig erlaubt, hierzubleiben, schon allein Orrys wegen. Ich leite die Plantage und habe Anspruch auf den Gewinn, solange er der Besitzer ist und ich die Hypothekarzinsen zahle. Ich bin natürlich auch für alle laufenden Ausgaben zuständig, aber das versteht sich wohl von selbst.«
»Und Sie sind durch dieses Arrangement abgesichert? Ich meine, ist es legal und bindend?«
»Absolut. Einige Wochen nach Orrys Tod legte Cooper diese Vereinbarung schriftlich fest. Das Dokument macht die Sache unwiderruflich.«
»Nun, da ich weiß, wie sehr die Leute aus Carolina Familienbanden und Familienbesitz achten, nehme ich an, daß Mont Royal den Mains stets erhalten bleiben wird.«
»Ja, davon bin ich überzeugt.« Das war ihr einziger, sicherer Halt. »Unglücklicherweise haben wir momentan weder irgendwelche Einnahmen, noch besteht Aussicht darauf. Auf Ihre Frage nach unserem Wohlergehen kann ich nur sagen, wir kommen schon irgendwie über die Runden.«
»Vermutlich darf keiner von uns zur Zeit mehr erwarten. Gegen Ende des Monats wird meine Tochter Sally Colonel Johnny Haskeil heiraten. Das ist wenigstens ein Lichtblick.« Er nippte an seiner Tasse. »Köstlich. Was haben Sie von Charles gehört?«
»Vor zwei Monaten bekam ich einen Brief. Er schrieb, er hoffe, wieder bei der Armee unterzukommen, draußen im Westen.«
»Soviel ich weiß, tun das sehr viele Konföderierte. Ich hoffe, sie behandeln ihn anständig. Er war einer meiner besten Scouts. Iron Scouts, so nannten wir sie. Er wurde dem Namen gerecht, obwohl ich gestehen muß, daß ich gegen Ende zu gelegentlich ein merkwürdiges Benehmen bei ihm feststellte.«
Madeline nickte. »Es fiel mir auf, als er in diesem Frühjahr heimkam. Der Krieg hat ihn verletzt. Er verliebte sich in eine Frau in Virginia, die dann bei der Geburt seines Sohnes starb. Er hat den Jungen nun bei sich.«
»Eine Familie ist Balsam gegen den Schmerz«, murmelte Hampton. Er nahm einen weiteren Schluck. »Und jetzt sagen Sie mir, wie es Ihnen wirklich geht.«
»Wie ich schon sagte, General, wir überleben. Niemand hat das Thema meiner Herkunft auf den Tisch gebracht, also bleibt mir wenigstens das erspart.«
Sie blickte ihn an, während sie sprach, wollte ihn auf die Probe stellen. Hamptons von der vielen frischen Luft gegerbtes Gesicht blieb unbewegt. »Natürlich habe ich davon gehört. Es spielt keine Rolle.«
»Ich danke Ihnen.«
»Madeline, ich habe nicht nur vorbeigeschaut, um mich nach Charles zu erkundigen, sondern ich wollte Ihnen auch ein Angebot machen. Wir alle befinden uns in einer schwierigen Situation, aber Sie müssen alleine damit fertig werden. Skrupellose Männer beider Rassen treiben sich auf den Straßen herum. Sollten Sie zu irgendeinem Zeitpunkt eine Zuflucht nötig haben oder falls Sie sich mal von dem zu hart gewordenen Überlebenskampf ausruhen wollen, dann kommen Sie nach Columbia. Mein und Marys Heim steht Ihnen immer offen.«
»Das ist sehr freundlich«, sagte sie. »Glauben Sie nicht, daß es mit dem Chaos in South Carolina bald ein Ende haben wird?«
»Nein, nicht so bald. Aber wir können es beschleunigen, wenn wir unerschütterlich für das eintreten, was richtig ist.«
Sie seufzte. »Und was ist das?«
Er blickte auf den glitzernden Fluß. »In Charleston haben mir einige Gentlemen das Kommando einer Expedition zur Gründung einer Kolonie in Brasilien angetragen. Eine Sklavenhalterkolonie. Ich lehnte ab. Ich antwortete ihnen, dies hier sei meine Heimat und ich dächte nicht länger in den Kategorien von Norden und Süden; für mich gibt es nur noch ein Amerika. Wir haben gekämpft, wir haben verloren, das Thema einer getrennten Nation auf diesem Kontinent ist erledigt. Nichtsdestoweniger sind wir in South Carolina mit einem umfassenden Negerproblem konfrontiert. Ihr Status hat sich geändert. Wie sollen wir uns verhalten? Nun, der Neger war uns als Sklave treu, also glaube ich, wir sollten ihn auch als freien Mann anständig behandeln. Ihm Gerechtigkeit vor unseren Gerichtshöfen zugestehen. Ihm das Wahlrecht geben, falls er dafür in Frage kommt, so wie dem weißen Manne auch. Wenn wir das tun, dann werden sich die herumstreunenden Horden auflösen, der Neger wird wieder South Carolina als seine Heimat und den weißen Mann als seinen Freund betrachten.«
»Glauben Sie das wirklich, General?«
Er runzelte leicht die Stirn, vielleicht aus Verärgerung. »Jawohl, das tue ich. Nur volle Gerechtigkeit und Mitgefühl können die Schuld dieses Staates mildern.«
»Ich muß sagen, Sie bringen den Schwarzen gegenüber mehr Großherzigkeit auf als die meisten anderen.«
»Nun, sie stellen für uns sowohl eine praktische als auch eine moralische Angelegenheit dar. Unsere Ländereien sind zerstört, unsere Häuser niedergebrannt, unser Geld und unsere Wertpapiere sind wertlos, und Soldaten haben vor unseren Türen Quartier bezogen. Sollen wir alles noch schlimmer machen, indem wir so tun, als wäre unsere Sache nicht verloren? Daß sie sich selbst jetzt noch irgendwie halten kann? Ich glaube, wir haben von Anfang an für eine verlorene Sache gekämpft. Ich hielt mich dem speziellen Konvent 1860 fern, weil ich die Sezession als unglaubliche Dummheit betrachtete. Sollen wir unsere Illusionen noch einmal durchleben? Sollen wir Repressionen geradezu provozieren, indem wir den ehrenhaften Bemühungen, die Union wiederherzustellen, Widerstand leisten?«
»Sehr viele Leute möchten Widerstand leisten«, sagte sie.
»Wenn Gentlemen wie Mr. Stevens und Mr. Sumner mich zu gesellschaftlicher Gleichheit mit den Negern zwingen wollen, dann werde ich auch Widerstand leisten. Doch jenseits davon können wir den Wiederaufbau schaffen, wenn Washington vernünftig ist und wir vernünftig sind. Wenn unsere Leute sich an ihre alten Narrheiten klammern, dann lösen sie damit lediglich eine neue Form des Krieges aus.«
Wieder seufzte sie. »Ich hoffe, der gesunde Menschenverstand behält die Oberhand, obwohl ich mir dessen nicht sicher bin.«
Hampton erhob sich und nahm ihre Hand in seine Hände. »Vergessen Sie mein Angebot nicht. Eine Zuflucht, falls Sie je eine nötig haben sollten.«
Impulsiv küßte sie ihn auf die Wange. »Sie sind ein gütiger Mann, General. Gott segne Sie.«
Er bestieg seinen herrlichen Hengst und galoppierte davon; nach einer halben Meile, dort, wo der von Bäumen gesäumte Weg auf die Flußstraße traf, entschwand er ihren Blicken.
Gegen Sonnenuntergang schlenderte Madeline durch das brachliegende Reisfeld und dachte über Hamptons Worte nach. Für einen stolzen Mann, der eine schwere Niederlage erlitten hatte, blickte er bemerkenswert optimistisch in die Zukunft. Außerdem hatte er recht mit dem, was er über die Schuld von South Carolina gesagt hatte. Falls der Süden seine traditionellen Verhaltensweisen wieder aufleben ließ, dann würden die Radikalen Republikaner nur zu gern zurückschlagen.
Mit den Sandalen, die sie sich aus ein paar Fetzen Leder und einem Stück Schnur gebastelt hatte, stieß sie gegen etwas auf dem Boden. Mit beiden Händen grub sie im sandigen Boden und legte einen großen Felsbrocken frei. Sie und die Shermans hatten beim Anbau der vier bepflanzten Reisfelder eine ganze Menge dieser Brocken entdeckt und sich darüber gewundert. Hier im Flachland gab es kaum Felsen.
Sie wischte die Erde ab. Der Brocken war gelblich, mit bräunlichen Streifen, und sah recht porös aus. Mit einiger Mühe brach sie ihn in der Mitte durch. Da sie noch nie einen dieser seltsamen Felsbrocken aufgebrochen hatte, traf sie der Gestank völlig unvorbereitet. Sie begann zu würgen, warf die Stücke schnell weg und eilte zurück zum Pinienhaus; ihr Schatten flog tiefrot wie verschüttetes Blut vor ihr über den Boden.
Ich wünschte, ich könnte wie Gen. H. glauben, daß unsere Leute erkennen, wie wichtig und von welch weitreichender praktischer Bedeutung es ist, daß wir den befreiten Schwarzen fair gegenübertreten. Ich wünschte, ich könnte glauben, daß die Menschen von Carolina die Niederlage und deren Folgen mit kühlem Kopf betrachten. Ich kann es nicht. Eine düstere Stimmung hat mich wieder überkommen.
Sie überfiel mich, als ich einen dieser seltsamen Felsbrocken aufbrach, die Du mir vor dem Krieg gezeigt hast. Dieser Gestank! Selbst unser Land ist verrottet und verfault. Ich wertete das als ein Zeichen. Ich sah eine Zukunft voller Gift und Galle.
Verzeih mir, Orry; ich muß aufhören, solche Sachen zu schreiben.
Äm Tage von Hamptons Besuch auf Mont Royal huschte eine junge Frau im abendlichen Zwielicht von New York City um eine Ecke in die Chambers Street. Mit einer Hand hielt sie ihren Hut fest, mit der anderen mit Unterschriften bedeckte Papierbögen.
Diesiger Regen setzte ein. Hastig schob sie die Papiere unter ihren Arm. Vor ihr ragte die Markise von Wood's New Knickerbocker Theater, ihrem Ziel, auf. Das Theater war vorübergehend zwischen zwei Produktionen geschlossen; sie war bereits zu spät dran für eine Probe, die der Eigentümer auf halb acht angesetzt hatte.
Allerdings hatte ihre Verspätung einen guten Grund. Sie hatte stets einen Grund, der immer genauso wichtig war wie ihr Beruf. Ihr Vater hatte sie so erzogen. Mit fünfzehn Jahren hatte sie mit der aktiven Arbeit zur Abschaffung der Sklaverei begonnen; jetzt war sie neunzehn. Sie kämpfte für die Gleichberechtigung der Frau, für das Stimmrecht und für fairere Scheidungsgesetze, obwohl sie selbst nie verheiratet gewesen war. Die Sache, für die sie sich momentan gerade einsetzte und für die sie den ganzen Nachmittag bei der Theatergemeinde Unterschriften gesammelt hatte, war die der Indianer - genauer gesagt die der Cheyenne, aus deren Reihen die Opfer des Sand-Creek-Massa-kers vom letzten Jahr stammten. In der Petition, die an den Kongreß und die für Indianerfragen zuständige Abteilung im Innenministerium geschickt werden sollte, wurden Wiedergutmachungen für Sand Creek und eine Ächtung auf Dauer des >Chivington-Verfahrens< gefordert.
Sie bog nach links ab in die schwach erhellte Passage, die zur Bühnentür führte. Sie hatte erst anderthalb Wochen für Claudius Wood gearbeitet, aber bereits feststellen müssen, daß er ein erschreckendes Temperament besaß. Und er trank. Sie konnte es bei fast jeder Probe riechen.
Wood hatte sie am Arch Street Theater in Philadelphia in der Rolle der Rosalind gesehen und ihr eine Menge Geld geboten. Er mochte ungefähr fünfunddreißig sein; mit seinen vornehmen Manieren, seiner wunderbaren Stimme und seinem frechen, weltmännischen Benehmen hatte er sie bezaubert. Trotzdem bereute sie allmählich, daß sie Mrs. Drews Ensemble verlassen und bei Wood für eine volle Saison unterschrieben hatte.
Louisa Drew hatte sie gedrängt, das Engagement anzunehmen, und gemeint, es bedeute einen großen Schritt vorwärts für sie. »Du bist eine erwachsene und tüchtige junge Frau, Willa. Aber denk daran, daß New York voll von groben, brutalen Männern ist. Hast du irgendwelche Freunde dort? Jemand, an den du dich notfalls wenden könntest?«
Sie überlegte einen Moment. »Eddie Booth.«
»Du kennst Edwin Booth?«
»Oh ja. Er und mein Vater waren zusammen auf den Goldfeldern, als ich noch klein war und wir in St. Louis lebten. Ich habe Eddie im Laufe der Jahre öfter gesehen. Aber seit sein Bruder Johnny den Präsidenten getötet hat, lebt er sehr zurückgezogen. Ich würde ihn niemals mit irgendeiner trivialen Angelegenheit belästigen.«
»Das nicht, aber im Notfall ist er wenigstens da.« Mrs. Drew zögerte. »Sei vor Mr. Wood auf der Hut, Willa.«
Mehr wollte die ältere Frau nicht herausrücken. »Du wirst schon merken, was ich gemeint habe. Ich spreche ungern schlecht von jemandem aus unserer Branche. Aber einige Schauspielerinnen - die hübscheren - haben Schwierigkeiten mit Wood. Selbstverständlich sollst du dir deshalb nicht diese Chance entgehen lassen. Aber sei auf der Hut.«
Die junge Frau, die in solcher Eile durch die Passage lief, hieß Willa Parker. Sie war ein hochgewachsenes Mädchen mit langen Beinen, schlank genug für Hosenrollen, doch auch mit dem vollen, üppigen, für eine Julia geeigneten Busen. Sie hatte weit auseinanderstehende, ganz leicht geschlitzte Augen, die ihr ein exotisches Aussehen gaben, und derart hellblondes Haar, daß es im Scheinwerferlicht auf der Bühne silbern schimmerte. Mrs. Drew bezeichnete Willa liebevoll als Gamin. Ihr charmanter irischer Ehemann John nannte sie >meine schöne Fee<.
Ihre Haut war weich und glatt, ihr Mund großzügig; ihre Kinnlinie verlieh ihrem Gesicht einen Zug von Kraft und Stärke. Manchmal fühlte sie sich wie vierzig, weil sie gerade drei war, als ihre Mutter starb, und vierzehn, als ihr Vater zu Grabe getragen wurde. Mit sechs Jahren hatte sie das erstemal auf der Bühne gestanden. Sie war das einzige Kind einer Frau, an die sie sich nicht erinnern konnte; ihr Vater war ein freidenkender, hart arbeitender Mann, den sie mit völliger Hingabe geliebt hatte, bis ihn in der Sturmszene von >König Lear< eine Herzattacke dahingerafft hatte.
Peter Parker war einer jener Schauspieler gewesen, die voller Inbrunst und Begeisterung ihrem Beruf nachgingen, obwohl er schon als junger Mann erkannt hatte, daß sein Talent niemals ausreichen würde, um seinen Namen über dem Titel eines Stücks erscheinen zu lassen. In seiner Heimat England hatte er mit Kinderrollen begonnen und war dann in Erwachsenenrollen hineingewachsen. In seinen Zwanzigern hatte er zusammen mit dem leuchtenden Stern Kean gespielt, der ihn von der Klassik zu Keans persönlichem Naturalismus führte, bei dem der Schauspieler dazu ermutigt wurde, alles zu tun, was die Rolle verlangte, sogar schreien und auf dem Boden herumkriechen.
Nach seinem ersten Engagement mit Kean gab er für immer seinen Geburtsnamen auf; Pott - Topf. Zu viele Wortschöpfungen seiner Schauspielerkollegen, die er gar nicht lustig fand -Blumentopf, Nachttopf -, überzeugten ihn davon, daß Parker ein praktischerer Name mit einem günstigeren Wiedererkennungswert wäre. Willa kannte den richtigen Familiennamen, der sie erheiterte, obwohl sie sich selbst von Anfang an als eine Parker betrachtet hatte.
Parker hatte seiner Tochter zahlreiche technische Tricks unterschiedlicher Schauspielstile weitergegeben. Dies schloß die für Schauspieler typische Energie und Begeisterung ein, ein enzyklopädisches Wissen all des Aberglaubens, der am Theater üblich war, und den verhaltenen Optimismus, den man so dringend brauchte, um in dieser Branche zu überleben. Jetzt, da sie durch den Bühneneingang trat, stützte sich Willa auf diesen Optimismus und redete sich ein, daß ihr Brötchengeber nicht wütend sein würde.
Drinnen im Halbdunkel kämpfte sich der ältliche Hausmeister in seinen Regenmantel. »Er ist im Büro, Miss Parker. Und brüllt alle fünf Minuten nach Ihnen.«
»Danke, Joe.« Das war also die Sache mit dem Optimismus. Der Hausmeister klapperte mit seinen Schlüsseln, bereit, abzuschließen. Er ging heute zeitig nach Hause. Vielleicht hatte Wood ihm den Abend freigegeben.
Willa stürzte über die hintere Bühne, zwischen Stapeln unbe-malter Baumzweige hindurch, die für die nächste Produktion benötigt wurden. Der weite, leere Raum roch nach frischem Holz, altem Make-up und Staub. Aus einer halb geöffneten Tür über ihr fiel Licht. Willa hörte Woods tiefe Stimme:
»Ich gehe, und es ist vollbracht - die Glocke ruft mich. Hör nicht auf sie, Duncan; denn es ist eine Totenglocke - die dich in Himmel oder Hölle abberuft.« Dann wiederholte er: »... oder Hölle«, mit veränderter Modulation.
Willa stand bewegungslos vor dem Büro; ein Schauer lief ihr über den Rücken. Ihr Arbeitgeber probte den Monolog eines der Hauptdarsteller. An diesem Stück von Shakespeare klebte das Unglück, so glaubten die meisten Schauspieler, obwohl einige anmerkten, daß darin eine Menge Bühnenkämpfe vorkamen und die Ursachen für ein Loch im Kopf, einen bösen Sturz oder einen gebrochenen Arm oder ein gebrochenes Bein im Text und nicht in den Sternen begründet lagen. Doch der Aberglaube hielt sich hartnäckig. Wie viele andere Schauspieler und Schauspielerinnen lachte Willa darüber, während sie gleichzeitig Respekt davor hatte. Niemals wiederholte sie irgendwelche Zeilen hinter der Bühne oder in der Garderobe oder im Aufenthaltsraum. Sie sprach immer nur von dem schottischen Stück<;
sprach man den Titel im Theater aus, dann beschwor man das Unheil förmlich herauf.
Sie blickte hinter sich in die Dunkelheit. Wo waren die anderen Ensemblemitglieder, die für die Probe hiersein sollten? In der Stille hörte sie lediglich ein ganz leises Knirschen - vielleicht strich die Katze herum. Sie verspürte den Drang fortzulaufen.
»Wer ist da?«
Claudius Woods Schatten lief ihm zur Tür voraus. Er riß sie ganz auf, das Rechteck des Gaslichts vergrößerte sich und zeigte Willa mit der Petition in der Hand.
Woods Krawatte war gelockert, seine Weste aufgeknöpft, die Ärmel hochgerollt. Er funkelte sie an. »Der Termin war um halb. Sie sind vierzig Minuten zu spät dran.«
»Mr. Wood, entschuldigen Sie bitte. Ich habe mich verspätet.«
»Weshalb?« Er bemerkte die Papiere mit den Unterschriften. »Ein weiterer Ihrer radikalen Kreuzzüge?« Sie erschrak, als er ihr die Petition aus der Hand riß. »Oh, Jesus Christus. Die armen, elenden Indianer. Aber bitte nicht in der Zeit, für die ich bezahle. Kommen Sie, damit wir mit der Arbeit anfangen können.«
Irgendeine vage, undefinierbare Ahnung warnte sie - drängte sie, aus dem lautlosen Theater und vor diesem bulligen Mann zu flüchten, in dessen gutgeschnittenem Gesicht sich bereits ein Netz von Adern abzeichnete und dessen Nase mittlerweile eine klobige, schwammige Form angenommen hatte. Gleichzeitig aber wollte sie unbedingt die schwierige Rolle spielen, die er ihr angeboten hatte. Die Rolle verlangte nach einer älteren, erfahrenen Schauspielerin. Sollte sie die Rolle meistern, dann würde sie das in ihrer Karriere einen gehörigen Sprung nach vorn bringen.
Und trotzdem ...
»Kommt denn sonst niemand?«
»Heute abend nicht. Ich dachte, daß unsere gemeinsamen Szenen spezieller Aufmerksamkeit bedürften.«
»Könnten wir dann bitte auf der Bühne proben? Schließlich ist das das schottische Stück.«
Unter seinem bellenden Gelächter kam sie sich klein und albern vor.
»Sie glauben doch wohl nicht an diesen Unsinn, Willa. Sie sind doch so intelligent und vertreten so viele fortschrittliche Ideen.« Er blätterte die Papiere mit dem Fingernagel durch und gab sie ihr dann zurück. »Das Stück heißt >Macbeth<, und ich spreche den Text, wo immer es mir paßt. Und jetzt kommen Sie rein, damit wir anfangen können.«
Er drehte sich um und ging zurück ins Büro. Willa folgte ihm; ein Teil ihres Verstandes sagte ihr, daß er recht hatte, daß es kindisch von ihr war, sich wegen eines Aberglaubens Sorgen zu machen. Peter Parker allerdings hätte sich gesorgt.
Über ihr dröhnte und donnerte es - der Sturm wurde schlimmer. Das Schauspielerkind in Willa war überzeugt davon, daß sich böse Mächte über der Chambers Street zusammenrotteten. Ihre Hände wurden kalt, während sie ihrem Arbeitgeber folgte.
»Legen Sie Ihren Schal und Ihren Hut ab.« Wood schob Stühle beiseite, um auf dem schäbigen Tisch Platz zu schaffen. Das Büro war eine Deponie unterschiedlichster Möbel und unechter Grünpflanzen in Töpfen aller Größen. Plakate von New-Kni-ckerbocker-Produktionen bedeckten die Wände. Goldsmith, Moliere, Boucicault, Sophokles. Der Schreibtisch war mit Rechnungen, Manuskripten, Verträgen und Notizen übersät. Wood schob Macbeths emaillierten Dolch beiseite, ein metallenes Requisit mit stumpfer Spitze, und schenkte sich ein paar Fingerbreit Whisky aus einer Karaffe ein. Die grünen Glasschalen über den Gasbrennern schienen den Raum eher zu verdunkeln als zu erhellen.
Nervös legte Willa die Petition auf einen samtbezogenen Stuhl. Sie legte ihre Handschuhe darauf, dann Schal und Hut. Alles auf einen Haufen, für den Fall, daß sie die Sachen eilig an sich raffen mußte. Mit zwölf Jahren hatte sie schon recht erwachsen gewirkt, und die am Theater arbeitenden Männer hatten auf ihre erwachende Schönheit reagiert. Sie hatte gelernt, sie mit ein paar gutgelaunten Worten abzuwehren und, falls notwendig, sogar ein bißchen physische Kraft einzusetzen. Was das Weglaufen anbelangte, so war sie eine Expertin.
Wood schlenderte zur Tür und schloß sie. »Also dann, meine Liebe. Erster Akt, siebte Szene.«
»Aber das haben wir doch gestern schon geprobt.«
»Ich bin damit noch nicht zufrieden.« Er kam auf sie zu. »Macbeths Schloß.« Grinsend ließ er seine Handfläche über ihren Seidenärmel gleiten. »Fangen Sie in der Mitte von Lady Macbeths Monolog an, wo sie sagt: >Ich habe gestillt<.« Er genoß das letzte Wort. Das Gaslicht ließ seine feuchte Unterlippe aufleuchten. Willa bemühte sich, Furcht und traurige Verzweiflung niederzukämpfen. Es war nun offensichtlich, so offensichtlich, was er die ganze Zeit gewollt und weshalb er sie engagiert hatte, wo doch so viele ältere Schauspielerinnen verfügbar gewesen wären. Mrs. Drew hatte alles versucht, um es ihr zu erklären, ohne zu deutlich werden zu müssen. Sie fühlte sich nicht geschmeichelt, sie war lediglich aufgebracht. Falls das der Preis für ihr Debüt in New York war, dann würde sie ihn, verdammt noch mal, nicht bezahlen.
»Fangen Sie an«, wiederholte er mit rauher Stimme, die sie in Alarmbereitschaft versetzte. Wieder streichelte er ihren Arm. Sie versuchte zurückzuweichen. Er schob sich einfach vor und blies ihr seinen Bourbon-Atem ins Gesicht.
»Ich habe gestillt und weiß ...« Sie zögerte. »Welch zärtliches Gefühl ist es, das Baby zu lieben, das meine Milch trinkt.«
»Weißt du das jetzt?« Er beugte sich vor und küßte ihren Hals.
»Mr. Wood ...«
»Weiter.« Er packte sie bei den Schultern und schüttelte sie; das war der Moment, in dem sie das eiskalte Entsetzen überkam. In seinen schwarzen Augen entdeckte sie etwas, das über reinen Zorn hinausging. Sie erkannte die Bereitschaft zu verletzen.
»Ich würde - noch als es lächelnd ins Gesicht mir blickte, ihm entzogen meine Brüste aus dem zarten Gaumen .«
Woods Hand glitt von ihrem Arm zu ihrer Brust, umschloß sie. »Mir entziehst du sie nicht, was?«
Sie stampfte mit ihrem hohen Schnürstiefel auf. »Hören Sie, ich bin Schauspielerin. Behandeln Sie mich nicht wie ein Straßenmädchen.«
Er packte sie am Arm. »Ich zahle dein Gehalt. Du bist das, was ich dir befehle - einschließlich meine Hure.«
»Nein«, fauchte sie und riß sich los. Er holte aus und schlug ihr mit der Faust ins Gesicht. Der Schlag warf sie zu Boden.
»Du blondes Miststück. Du gibst mir, was ich will.« Mit der linken Hand krallte er sich in ihr Haar; sie schrie auf, als er ihren Kopf hochriß. Seine rechte Faust hämmerte auf ihre Schultern, wieder und wieder. »Überzeugt dich das?«
»Lassen Sie mich los. Sie sind betrunken - wahnsinnig ...«
»Halt's Maul!« Er schlug sie so hart, daß sie zurückflog und mit dem Kopf gegen den Schreibtisch knallte. »Zieh deine Röcke hoch!«
Lichter tanzten hinter ihren Augenlidern. Der Schmerz pochte. Sie griff nach oben, ihre Finger tasteten nach irgendeinem schweren Gegenstand auf der Schreibtischplatte. Er stand breitbeinig über ihr, knöpfte sich die Hose auf. »Zieh sie hoch, verdammt noch mal, oder ich schlag' dich, daß du nicht mehr laufen kannst.«
Vor Angst außer sich, fand sie etwas auf dem Schreibtisch -den Requisitendolch. Er griff nach ihrem Handgelenk, doch bevor er sie aufhalten konnte, stieß sie den Dolch nach unten. Obwohl die Spitze stumpf war, ging sie doch durch den Hosenstoff, weil sie mit aller Kraft zustieß. Sie spürte, wie der Dolch auf Fleisch traf und dann tiefer drang.
»Jesus«, sagte Wood und tastete mit beiden Händen nach der Requisitenwaffe, die tief in seinen linken Oberschenkel eingedrungen war. Er riß daran herum, machte sich die Finger blutig. »Jesus Christus, ich bringe dich um!«
Von Panik erfüllt stieß Willa mit beiden Händen nach ihm, so daß er zur Seite fiel. Er brüllte und fluchte, als er über eine falsche Palme stürzte. Sie kroch zu dem Stuhl, packte ihre Sachen und rannte aus dem Büro in die Dunkelheit. An der Tür kämpfte sie mit dem Riegel, riß ihn zurück und fiel halb hinaus in den Regen, ständig in der Erwartung, einen Verfolger dicht hinter sich zu hören.
Ich, ..., schwöre feierlich vor Gott dem Allmächtigen, daß ich stets treu die Verfassung der Vereinigten Staaten und die Union der miteinander verbundenen Staaten stützen, schützen und verteidigen will und daß ich, so gut ich kann, alle Gesetze und Proklamationen, die während der Rebellion in bezug auf die Emanzipation der Sklaven erlassen wurden, gewissenhaft unterstützen werde.
So wahr mir Gott helfe.
Der Eid, der von allen Konföderierten verlangt wurde, die die Amnestie des Präsidenten für sich in Anspruch nehmen wollten.
1865.
»Muß ich diesen Eid leisten?« erkundigte sich Cooper Main. Er war den weiten Weg bis nach Columbia geritten, um sich über diese Sache zu informieren; nun überkamen ihn plötzlich Zweifel.
»Wenn Sie die Amnestie in Anspruch nehmen wollen, ja«, sagte Anwalt Trezevant von der anderen Seite des wackligen Tisches, der als Schreibtisch diente. Sein richtiges Büro war beim großen Feuer am 17. Februar abgebrannt, und so hatte er ein Zimmer über Reverdy Birds Leichenhalle im Osten der Stadt gemietet, die von den Flammen verschont geblieben war. Mr. Bird hatte sein Wohnzimmer in einen Laden verwandelt, in dem verstümmelte Veteranen Korkfüße, Holzglieder und Glasaugen kaufen konnten. Das Stimmengewirr deutete auf gute Geschäfte an diesem Morgen hin.
Cooper starrte auf den handgeschriebenen Eid. Er war ein schlaksiger Mann, der mit fünfundvierzig schon eine Menge grauer Haare hatte. Der Mangel an Nahrungsmitteln hatte ihn hager werden lassen. Seine Arbeitstage, die bis zu sechzehn Stunden dauerten, hatten tiefe Schatten der Müdigkeit unter seine tiefliegenden braunen Augen gemalt. Er schuftete, um die Lagerhäuser, die Docks und die Handelsgeschäfte seiner Carolina Shipping Company in Charleston wiederaufzubauen.
»Hören Sie, ich verstehe ja Ihre Abneigung«, sagte Trezevant. »Aber wenn sich General Lee so weit erniedrigen und den Eid ablegen kann, wie er es letzte Woche in Richmond getan hat, dann können Sie das auch.«
»Eine Amnestie bedeutet, daß man Unrecht getan hat. Ich habe nichts Unrechtes getan.«
»Da bin ich Ihrer Meinung, Cooper. Unglücklicherweise ist die Bundesregierung anderer Meinung. Wenn Sie Ihr Geschäft wiederaufbauen wollen, dann müssen Sie sich von dem Ballast befreien, dem Marineministerium der Konföderierten gedient zu haben.« Cooper funkelte ihn an. Trezevant fuhr fort: »Ich bin persönlich nach Washington gefahren, und innerhalb gewisser Grenzen vertraue ich diesem Amnestievermittler, selbst wenn er Anwalt und obendrein noch Yankee ist.« Der bittere Humor fand keinen Widerhall. »Sein Name ist Jasper Dills. Er ist geldgierig, also wird Ihr Antrag vor vielen anderen auf dem Schreibtisch des für die Amnestie zuständigen Beamten und danach auf Mr. Johnsons Schreibtisch landen.«
»Für wieviel?«
»Zweihundert Dollar, US-Währung oder das Äquivalent in Sterling. Mein Honorar beträgt fünfzig Dollar.«
Cooper überlegte eine Weile.
»Also gut. Geben Sie mir die Papiere.«
Sie unterhielten sich eine weitere halbe Stunde. Trezevant hatte all den Washingtoner Klatsch parat. Er erzählte, Johnson plane die Ernennung eines provisorischen Gouverneurs für South Carolina. Der Gouverneur würde eine konstitutionelle Versammlung einberufen und die gesetzgebende Körperschaft wieder einsetzen, so wie sie sich vor dem Fall von Fort Sumter konstitutioniert hatte. Johnsons Wahl stellte keine Überraschung dar. Sie fiel auf Richter Benjamin Franklin Perry aus Greenville, vor dem Krieg ein erklärter Anhänger der Union. Genau wie Lee hatte Perry gegenüber seinem Staat seine Loyalität zum Ausdruck gebracht, trotz seines Abscheus vor der Sezession, indem er sagte: »Ihr werdet alle zum Teufel gehen - und ich gehe mit euch.«
»Zur Wiederzulassung muß die Legislative Mr. Johnsons Forderungen nachkommen«, sagte Trezevant. »Beispielsweise offiziell die Sklaverei zu ächten.« Ein listiger Ausdruck tauchte auf seinem Gesicht auf. »Gleichzeitig ist die Legislative vielleicht in der Lage, die Nigger so anzupassen, daß wir wieder Arbeitskräfte zur Verfügung haben anstatt streunendes Gesindel.«
»Was heißt anpassen?«
»Meine Güte - nennen wir es mal einen Verhaltenscode. Ich habe gehört, daß man in Mississippi auch daran denkt.«
»Wäre ein solcher Code auch für Weiße gültig?«
»Nur für befreite Sklaven.«
Cooper erkannte die Gefahr, die in einem solch provokativen Schritt lag, ohne sich an der ihm zugrunde liegenden Moral zu stören. Das Kriegsende hatte ihm, seiner Familie und seinem Staat ein reiches Maß an Demütigungen und den vollständigen Ruin gebracht. Er sorgte sich nicht mehr um den Zustand der dafür verantwortlichen Menschen - der Menschen, denen der Krieg die Freiheit gebracht hatte.
Gegen Mittag trabte Coopers lahmer alter Gaul in südöstlicher Richtung nach Hause. Der Weg führte direkt durch Columbia hindurch. Cooper konnte den Anblick kaum ertragen. Fast hundertzwanzig Blocks waren niedergebrannt. Der Geruch von verkohltem Holz hing immer noch schwer in der heißen Luft dieses Junitages.
Die ungepflasterten Straßen waren mit Abfall und zerbrochenen Möbeln bedeckt. Von einem Wagen, der zum Bureau of Freedmen, Refugees and Abandoned Lands gehörte, wurden Pakete mit Reis und Mehl an eine große Menschenmenge, hauptsächlich Neger, verteilt. Andere Schwarze drängten sich an den wenigen Stellen zusammen, wo der hölzerne Gehsteig noch in Ordnung war. Cooper bemerkte militärische Uniformen und einige Gentlemen in Zivil, aber die Abwesenheit gutgekleideter weißer Frauen stach deutlich ins Auge. Es war überall das gleiche. Diese Frauen blieben im Haus, weil sie Soldaten haßten und sich vor den befreiten Negern fürchteten. Coopers Frau Judith bildete hier die Ausnahme, was ihn ziemlich irritierte.
General Sherman hatte die Holzbrücke über den Congaree River zerstört. Nur die Pfeiler waren übriggeblieben und standen nun im Strom wie rauchgeschwärzte Grabsteine. Die langsame Fahrt der Fähre über den Fluß verschaffte Cooper einen langen Blick auf eines der wenigen Gebäude, die vom Feuer verschont geblieben waren, das unfertige Parlamentsgebäude nahe dem Ostufer. In einer Granitwand legten drei Kanonenkugeln der Union - wie Punkte auf einem Blatt Papier - Zeugnis ab von Shermans Zorn.
Dieser Anblick ließ den Ärger in Cooper hochsteigen, ebenso wie der niedergebrannte Bezirk, den er kurz nach Verlassen der Fähre erreichte. Er ritt am Rande einer Bahn verbrannter Erde entlang, eine Meile breit. Hier hatte zwischen brennenden Pinien Kilpatricks Kavallerie geplündert und schwarzes, von einsamen Kaminen markiertes Ödland zurückgelassen - Shermans Wächter, das war alles, was auf dem Weg dieses barbarischen Marsches von Heimen und Häusern übriggeblieben war.
Die Nacht verbrachte er in einem dreckigen Gasthaus außerhalb der Stadt. Im Schankraum ging er jedem Gespräch aus dem Wege, hörte aber angespannt den verarmten kleinen Gutsbesitzern zu, die um ihn herum tranken. Wenn man sie so hörte, hätte man meinen können, der Süden hätte gewonnen oder wäre zumindest in der Lage, weiter für seine Sache zu kämpfen.
Am nächsten Morgen ritt er weiter, obwohl Hitze und Dunst einen weiteren heißen Sommertag im Flachland versprachen. Er ritt über unbefestigte Straßen, die nicht repariert worden waren, nachdem die Versorgungskonvois der Union sie aufgerissen hatten. Ein Farmer brauchte einen guten neuen Wagen, um durch die tiefen Rinnen in dem sandigen Boden zu kommen und seine Ernte zum Markt zu bringen - falls er eine Ernte hatte. Wahrscheinlich konnte der Farmer weder einen neuen Wagen noch das Geld dafür auftreiben. Cooper kochte vor Wut.
Er hielt weiter auf Charleston und die Küste zu und überquerte einen Schienenstrang; sämtliche Schienen waren verschwunden, und von den Schwellen waren nur einige wenige übriggeblieben. Er begegnete keinen Weißen, sah jedoch zweimal Negerbanden, die durch die Felder zogen. Kurz hinter dem Dörfchen Chicora traf er auf seinem Weg zum Cooper River auf ein Dutzend schwarze Männer und Frauen, die am Wegesrand wilde Kräuter sammelten. Er griff in die Tasche seines alten Mantels und umklammerte die kleine Taschenpistole, die er extra für diese Reise gekauft hatte.
Die Schwarzen beobachteten, wie sich Cooper näherte. Eine der Frauen trug ein rotes Samtkleid und eine ovale Anstecknadel. Wahrscheinlich von einer weißen Herrin gestohlen, dachte Cooper. Die anderen waren mit Lumpen bekleidet. Cooper schwitzte und krallte sich an der verborgenen Pistole fest, aber sie ließen ihn durch.
Ein großer Mann mit einem roten, zu einer Mütze zusammengebundenen Halstuch trat hinter ihm auf die Straße. »Du bist hier nicht mehr der Boß, Captain.«
Cooper drehte sich um und funkelte ihn an. »Wer zum Teufel hat behauptet, ich sei's? Warum geht ihr nicht an die Arbeit und tut was Nützliches?«
»Müssen nicht arbeiten«, sagte die Frau im roten Samtkleid. »Kannst uns nicht zwingen und auspeitschen auch nicht. Nicht mehr. Wir sind frei.«
»Frei, euer Leben in Faulheit zu verschwenden. Frei, eure Freunde zu vergessen.«
»Freunde? Solche wie du, die uns eingesperrt hielten?« Der Mann mit dem Halstuch lachte hämisch. »Reite weiter, Cap-tain, bevor wir dich von dieser Schindmähre ziehen und dir die Prügel verpassen, die wir früher kriegten.«
Cooper knirschte mit den Zähnen. Er zog die kleine Pistole und zielte. Die Frau mit dem Samtkleid kreischte auf und tauchte in den Graben. Die anderen stoben auseinander, bis auf den Mann mit dem Halstuch, der auf Coopers Pferd zulief. Ganz plötzlich gewann Cooper seinen gesunden Menschenverstand zurück; er stieß dem Gaul die Stiefel in die Flanken und ritt los.
Fast zehn Minuten lang zitterte er. Trezevant hatte recht. Die Legislative mußte etwas tun, um die befreiten Neger in den Griff zu kriegen. Freiheit war zur Anarchie geworden. Und ohne Hände, die in der Hitze und Feuchtigkeit arbeiteten, würde der Krankheitszustand, in dem sich South Carolina befand, geradewegs zum Tod führen.
Später, als er sich wieder beruhigt hatte, begann er über die Arbeit nachzudenken, die bei der Reederei getan werden mußte. Zum Glück mußte er sich nicht auch noch um Mont Royal sorgen. Schicklichkeit und Anstand hatten ihn veranlaßt, mit Orrys Witwe ein Arrangement zu treffen; sie trug nun die ganze Verantwortung für die Plantage, deren Besitzer er war. In Madelines Adern floß Negerblut, und jeder wußte es, weil Ashton es in die ganze Welt hinausposaunt hatte, aber niemand kümmerte sich um ihre Herkunft. Und so würde es auch bleiben, solange sie sich wie eine anständige weiße Frau aufführte.
Melancholische Visionen seiner jüngeren Schwestern lenkten seine Gedanken von der Arbeit ab. Er sah Brett vor sich, verheiratet mit diesem Yankee Billy Hazard, die sich, wie sie in ihrem letzten Brief geschrieben hatte, auf dem Weg nach Kalifornien befand. Er sah Ashton, die sich auf eine groteske Verschwörung zum Sturz der Regierung Davis eingelassen hatte. Sie war im Westen untergetaucht; er hielt sie für tot. Sein Kummer hielt sich durchaus in Grenzen, und er empfand auch keine Schuldgefühle. Ashton war ein gemartertes Mädchen, mit all den persönlichen Schwierigkeiten, die Frauen von großer Schönheit und großem Ehrgeiz zu befallen scheinen. Ihre Moralvorstellungen waren schon immer verachtenswert gewesen.
Die Sonne versank hinter den Sandhügeln, und er schlängelte sich durch glitzernde Salzsümpfe, fast schon zu Hause. Wie sehr er doch South Carolina und vor allem das Tiefland liebte! Der tragische Tod seines Sohnes hatte ihn zu einem loyalen Anhänger gemacht, obwohl er seiner Meinung nach in allen Fragen gemäßigte Ansichten vertrat, mit einer Ausnahme: wenn es um die ererbte Überlegenheit der weißen Rasse ging und deren Fähigkeit zu regieren. In zehn Minuten würde Cooper einem Mann begegnen, dessen Südstaatenloyalität weit über alles hinausging, was er sich je vorgestellt hatte.
Sein Name war Desmond LaMotte. Er sah aus wie eine gewaltige Vogelscheuche, mit seltsam langen Beinen, die fast bis auf den Boden hingen, wenn er auf seinem Muli durch die Sümpfe nahe dem Cooper River ritt. Seine Arme waren genauso lang. Er hatte gekraustes, karottenfarbenes Haar mit einer verblüffenden weißen Strähne, die von der Stirn bis zum Hinterkopf lief. An dieser Strähne war der Krieg schuld. Er trug einen sauber gestutzten Knebelbart in der Farbe seines Haars.
Er entstammte der alten Hugenottenrasse, die sowohl in der Hauptstadt als auch in der Plantagenaristokratie eine dominierende Rolle spielte. Seine verstorbene Mutter war eine Huger gewesen, ein Hugenottenname, der >Judschi< ausgesprochen wurde. Die meisten der jungen Männer beider Familien waren dem Krieg zum Opfer gefallen.
Des war 1834 in Charleston geboren worden. Mit fünfzehn Jahren hatte er seine Erwachsenengröße von einem Meter neunzig erreicht. Bei gespreizten Fingern hatten seine Hände eine Spannweite von fünfundzwanzig Zentimetern. Seine Füße maßen vierunddreißig Zentimeter von der Ferse bis zur großen Zehe. Also wollte er selbstverständlich wie jeder trotzige junge Mann mit starkem Willen und solchen physischen Voraussetzungen Tanzlehrer werden.
Die Leute spotteten. Aber er war fest entschlossen und hatte Erfolg. Tanzlehrer war, vor allem im Süden, ein alter, ehrbarer Beruf. Bei den scheinheiligen Heuchlern in Neuengland zogen die Prediger stets gegen den gemischten Tanz zu Feld, ebenso wie gegen das Tanzen in Tavernen, den Maibaumtanz (der den Beigeschmack eines heidnischen Rituals besaß) oder überhaupt irgendeinen Tanz, bei dem es auch zu essen und zu trinken gab. Südstaatler hatten da modernere Ansichten aufgrund ihrer niveauvolleren Kultur, ihrer geistigen Verwandtschaft mit dem englischen Adel und ihres ökonomischen Systems; die Sklaverei gab ihnen genügend Muße, um tanzen zu lernen. Sowohl Washington als auch Jefferson - nach Des' Meinung großartige Männer, großartige Südstaatler - hatten viel für den Tanz getan.
In seinen jungen Jahren zeigte Des LaMotte eine für einen Jungen ungewöhnliche Beweglichkeit, ganz gleich, ob es nun beim Reiten oder beim Hufeisenwerfen mit Charlestons freien Negerkindern war, was angesichts seines schnellen Wachstums besonders erstaunte. Seine Eltern erkannten diese Fähigkeit, und da sie an den Segen von Tanzstunden für junge Gentlemen glaubten, bekam er mit elf Jahren seinen ersten Unterricht. Des vergaß niemals die strengen Worte seines Tanzlehrers. Er hatte sie in seinem Gedächtnis gespeichert und benützte sie später bei seinen eigenen Schülern:
»Die Tanzschule ist kein Ort des Amüsements, sondern ein Ort der Erziehung. Und am Ende dieser Erziehung steht nicht, daß aus Ihnen ausgebildete Tänzer werden, sondern Sie sollen gute Söhne und Töchter, gute Ehemänner und Ehefrauen, gute Bürger und gute Christen werden.«
In den fünf Jahren vor dem Krieg hatte Des, glücklich mit Miss Sally Sue Means aus Charleston verheiratet, eine Schule in der King Street eingerichtet; seine Geschäfte florierten bei den Plantagenbewohnern im Tiefland, durch das er dreimal jährlich - stets seinen Besuch im voraus in den Lokalzeitungen ankündigend - eine Rundreise startete. An Schülern fehlte es ihm nie. Er brachte den Jungs ein bißchen Fechten bei, aber meist unterrichtete er Tanz: die traditionellen Quadrillen und Yorks und Reels, wobei sich die Tänzer in einer Reihe aufstellten; so wurde ihre Moral nicht durch übertriebenen Körperkontakt gefährdet. Außerdem lehrte er die neueren, tollkühneren Importe aus Europa, den Walzer und die Polka, enge Tänze, bei denen sich die Tanzenden in gefährlicher Intimität ins Gesicht sahen. Ein Geistlicher der Episkopalkirche in Charleston hatte gegen den Greuel gewettert, >der es einem Mann, der weder der Verlobte noch der Ehemann war, erlaubte, seine Arme um eine Dame zu legen und leicht die Konturen ihrer Taille zu pressen<. Des lachte darüber. Er hielt alle Tänze für moralisch, weil er auch sich selbst und all seine Schüler für moralisch hielt. Die fünf Jahre, in denen er nach dem Standardbuch, Rambeaus >Tanzlehrer< -sein zerlesenes Exemplar befand sich in diesem Augenblick in seiner Satteltasche -, unterrichtet hatte, waren zauberhafte Jahre gewesen. Trotz der Verfechter der Sklavenbefreiung und der Kriegsdrohung veranstaltete er großartige Bälle und Plantagenfeste und beobachtete entzückt, wie attraktive weiße Männer und Frauen bei Kerzenschein von sieben Uhr abends bis drei oder vier Uhr morgens tanzten, ohne außer Atem zu kommen. Gekrönt wurde all das von der glorreichen Wintersaison in Charleston und dem großen Ball der prestigeträchtigen St.-Ceci-lia-Gesellschaft.
Des' Kenntnisse des Tanzes waren sehr umfassend. Er hatte den Plankentanz der Grenzpioniere gesehen, bei dem zwei Männer auf einem auf zwei Fässern ruhenden Brett tanzten, bis einer herunterfiel. Auf den Plantagen hatte er den Tanz der Sklaven beobachtet, der seine Wurzeln in Afrika hatte und aus komplizierten Schritten unter Einsatz von Fersen und Zehenspitzen bestand, wobei mit Tierknochen der Rhythmus geschlagen wurde. Im allgemeinen verboten die Plantagenbesitzer ihren Sklaven den Gebrauch von Trommeln, aus Furcht, es könnten damit geheime Botschaften über Rebellionen und Brandanschläge übermittelt werden.
Viele Stunden lang hatte er über einem Porträt von Thomas D. Rice geträumt, diesem großartigen weißen Tänzer, der zu Beginn des Jahrhunderts sein Publikum mit der Verkörperung des schwarzen Jim Crow zu Begeisterungsstürmen hingerissen hatte. Des kannte das ganze Universum des amerikanischen Tanzes, doch den Leuten, die ihn bezahlten, gestand er, daß er nur die Tänze wirklich liebte, die er selber lehrte.
Der erste Kanonenschuß bei Fort Sumter zerfetzte sein Universum. Er schloß sich sofort den Palmetto Rifles an, einer von seinem besten Freund, Captain Ferris Brixham, organisierten Einheit. Von den ursprünglich achtzig Männern waren im April dieses Jahres nur noch drei übriggeblieben, als General Joe Johnston mit der letzten Armee der Konföderierten bei Dur-ham Station, North Carolina, kapitulierte. In der Nacht vor der Kapitulation wurden Des und Ferris auf der Suche nach etwas Eßbarem von einem brutalen Yankee-Sergeant und vier seiner Männer erwischt und bewußtlos geschlagen. Des überlebte; Fer-ris starb in seinen Armen, eine Stunde nachdem Offiziere die Kapitulation verkündet hatten. Ferris hinterließ eine Frau und fünf kleine Kinder.
Verbittert schlug sich Des bis nach Charleston durch, wo ihm ein fünfundachtzigjähriger Onkel mitteilte, daß Sally Sue im Januar an Lungenentzündung und Unterernährung gestorben sei. Als wäre das noch nicht genug, waren die LaMottes während des Krieges von Mitgliedern einer anderen Familie im Ashley-Bezirk mit Schimpf und Schande bedeckt worden. Das war mehr, als Des ertragen konnte. Sein Verstand setzte aus. Es kam ein Monat, von dem er nicht mehr die geringste Erinnerung besaß. Verwandte kümmerten sich um ihn.
Jetzt ritt er auf seinem Maultier durch die Sümpfe, auf der Suche nach früheren Kunden oder Leuten, die sich Unterrichtsstunden für ihre Kinder leisten konnten. Er fand niemanden. Hinter ihm marschierte barfuß sein fünfzigjähriger Diener, ein arthritischer Schwarzer namens Juba; es war ein Sklavenname, der >Musiker< bedeutete. Des hatte gleich nach seiner Heimkehr Juba einen Vertrag über ein lebenslanges Dienstverhältnis unterschreiben lassen. Die neue Freiheit, die der legendäre >Linkum< ihnen beschert hatte, erschreckte Juba. Nur zu bereitwillig setzte er sein Zeichen unter das Papier, das er nicht lesen konnte.
Juba marschierte im Sonnenschein dahin, eine Hand auf dem Hinterteil des Mulis, auf dem ein Mann saß, der nur zwei Ziele kannte: seinen Beruf, den er liebte, wieder in einer Welt auszuüben, in der die Yankees die Ausübung dieses Berufes fast unmöglich gemacht hatten, und jene zur Rechenschaft zu ziehen, die zu seinem Unglück und dem seiner Familie und seiner Heimat beigetragen hatten.
Das war der Mann, der nun seiner Begegnung mit Cooper Main entgegenritt.
Eine ungefähr 75 Zentimeter breite Gelbkieferplanke lag über einer Stelle des Salzsumpfes, die ansonsten unpassierbar gewesen wäre. Cooper erreichte das eine Ende der Planke, kurz bevor der linkische Bursche mit seinem kummervoll dreinschauenden Neger am anderen Ende ankam.
Einige Meter von dem Übergang entfernt sonnte sich ein Alligator auf einem trockenen kleinen Hügel. In den Küstensümpfen kamen sie häufig vor. Bei diesem hier handelte es sich um ein ausgewachsenes Exemplar: zwölf Fuß lang, wahrscheinlich fünfhundert Pfund schwer. Aufgeschreckt von den Störenfrieden glitt er ins Wasser und tauchte unter. Nur seine Augen ragten aus dem Wasser und zeigten an, daß er langsam auf die Planke zuglitt. Wenn sie zu hungrig waren oder einen Menschen oder ein Tier als Bedrohung ansahen, konnten Alligatoren durchaus gefährlich werden.
Cooper bemerkte den Alligator. Schon als Kind hatte er diese Tiere oft genug zu Gesicht bekommen, aber ihr Anblick erschreckte ihn immer noch. Selbst jetzt quälten ihn gelegentlich Alpträume, in denen er ihre zahnstarrenden Kiefer vor sich sah. Er schauderte, als die Augen näherglitten. Plötzlich tauchten sie weg, und der Alligator schwamm davon.
Cooper kam der junge Mann mit dem Knebelbart irgendwie bekannt vor, aber er wußte nicht, wohin er ihn stecken sollte. Vom anderen Ende der Planke hörte er ihn sagen: »Machen Sie Platz!«
Gereizt entgegnete Cooper: »Ich sehe keinen Grund ...«
»Ich wiederhole, Sir, machen Sie Platz.«
»Nein, Sir. Sie sind impertinent und anmaßend. Außerdem kenne ich Sie nicht.«
»Aber ich kenne Sie, Sir.« Der Blick des jungen Mannes verriet unterdrückte Wut, doch seine Stimme behielt den freundlichen Konversationston. Der Widerspruch ließ Coopers Nerven zucken.
»Sie sind Mr. Cooper Main aus Charleston. Die Carolina Shipping Company. Mont-Royal-Plantage. Desmond LaMotte, Sir.«
»Ah ja. Der Tanzlehrer.« Nachdem das geklärt war, trieb Coo-per sein Pferd über die Planke.
Es war, als würde man ein Streichholz in trockenes Gras werfen. Des jagte sein Muli voran. Hufe klapperten über die Planke. Das Maultier erschreckte Coopers Pferd, das zur Seite trat und stürzte. Cooper drehte sich in der Luft, um nicht unter das Pferd zu kommen, und landete in den Untiefen neben seinem Pferd. Er kämpfte sich unverletzt, aber schlammbedeckt wieder hoch.
»Was zum Teufel ist mit Ihnen los, LaMotte?«
»Schande, Sir. Schande, das ist es, was los ist. Oder versteht Ihre Familie nicht mehr die Bedeutung von Ehre? Sie mag so wenig greifbar sein wie das Sonnenlicht, spielt aber nichtsdestoweniger eine bedeutende Rolle im Leben.«
Cooper, tropfend und trotz Hitze fröstelnd, fragte sich, ob er hier jemanden vor sich hatte, den der Krieg um den Verstand gebracht hatte. »Ich habe keine Ahnung, was um alles in der Welt Sie meinen.«
»Sir, ich beziehe mich auf die Tragödie, die Ihre Familie über Mitglieder meiner Familie gebracht hat.«
»Ich habe keinem einzigen LaMotte irgend etwas angetan.«
»Andere mit Ihrem Namen haben sündige Dinge getan. Sie alle haben die Ehre der LaMotte-Familie in den Schmutz gezogen, als sie zuließen, daß Colonel Main meinem Cousin Justin Hörner aufsetzte. Vor meiner Heimkehr meuchelte Ihr entlaufener Sklave Cuffey meinen Cousin Francis.«
»Aber ich sage Ihnen doch, ich hatte damit nichts zu tun.«
»Wir Überlebenden haben einen Familienrat abgehalten«, unterbrach ihn Des. »Ich bin froh, daß ich Sie getroffen habe, denn das erspart es mir, Sie in Charleston suchen zu müssen.«
»Wozu?«
»Um Ihnen mitzuteilen, daß die LaMottes übereingekommen sind, diese Ehrenschuld zu begleichen.«
»Sie reden Unsinn. Das Gesetz verbietet Duelle.«
»Ich spreche nicht von Duellen. Wir werden andere Mittel einsetzen - zu einem Zeitpunkt und an einem Ort unserer Wahl. Aber wir werden die Schuld begleichen.«
Cooper griff nach den Zügeln seines Pferdes. Von dem Tier und von Coopers Ellbogen tropfte das Wasser in das Schweigen hinein. Er hätte sich gern über diesen wirren jungen Mann lustig gemacht, aber das, was er in LaMottes Augen sah, hielt ihn davon ab.
»Wir rechnen mit Ihnen ab, Mr. Main, oder wir rechnen mit der Niggerwitwe Ihres Bruders ab oder mit Ihnen beiden. Verlassen Sie sich darauf.«
Mit diesen Worten ritt er weiter; die Maultierhufe knallten auf der Planke wie Pistolenschüsse. Nachdem er wieder festen Boden erreicht hatte, folgte ihm sein Diener mit gesenktem Kopf, ohne auch nur einen Blick auf Cooper zu werfen.
Cooper schauderte erneut und führte sein Pferd aus dem Wasser.
Spät abends erzählte er seiner Frau Judith in ihrem Haus in der Tradd Street von dem Vorfall. Judith lachte.
Das ärgerte ihn. »Er hat es ernst gemeint. Du hast ihn nicht gesehen; ich schon. Nicht jeder Mann, der in den Krieg zieht, kommt auch geistig gesund wieder zurück.« Er bemerkte weder ihren sorgenvollen Blick, noch erinnerte er sich an seine eigene Geistesverwirrung in den Wochen, nachdem sein Sohn ertrunken war.
»Ich werde Madeline schreiben und sie warnen«, sagte er.
Willa erwachte plötzlich. Sie hörte ein Geräusch und eine Stimme; beides konnte sie nicht identifizieren.
Die Erinnerung kam zurück. Claudius Wood - der >Mac-beth<-Dolch. Im strömenden Regen war sie durch die Chambers Street geflohen. Um ein Haar wäre sie von dem Pferd einer schnellen Droschke
WINTER GARDEN
Broadway, zwischen Bleeker und Amity Street heute abend, Beginn 7 Uhr 30 RICHELIEU DIE VERSCHWÖRUNG
DARSTELLER:
Edwin Booth, Charles Barron, J.H. Taylor, John Dyott, W.A. Donaldson, C. Kemble Mason, Miss Rose Eytange, Mrs. Marie Wilkins ...
überrannt worden, als sie an einer Kreuzung ausrutschte und stürzte. Erst nach vier Blöcken hatte sie es gewagt, sich umzudrehen und die von Laternen schwach erhellte Straße zurückzublicken.
Von Wood nichts zu sehen. Kein Anzeichen irgendeiner Verfolgung. Sie hatte sich umgewandt und war weitergerannt.
Das Geräusch stammte von einer Faust, die gegen ihre Tür hämmerte. Die unbekannte Stimme gehörte zu einem Mann.
»Miss Parker, die Hausbesitzerin sah sie heimkommen. Öffnen Sie die Tür, oder ich breche sie auf.«
»Eine gute Tür ruinieren? Das lasse ich nicht zu.«
Das war die Stimme der Harpyie, der die Pension gehörte. Als Willa aus dem Regen der Straße hereingestürzt gekommen war, hatte die Frau sie vom Speisezimmer aus erspäht, wo sie das Zepter über schlechtes Essen und die vier schäbigen Gentlemen schwang, die die anderen Zimmer bewohnten.
Willa war vor diesen feindseligen Augen die Treppe hoch in ihr Schlafzimmer geflohen, dessen winziger Alkoven mit ihren Büchern, Theateraufzeichnungen und zwei Kleiderkoffern vollgestopft war. In der Sicherheit des Zimmers hatte sie den Riegel vorgeschoben und sich zitternd auf das Bett fallen lassen. So war sie fast eine Stunde lang lauschend liegengeblieben. Zum Schluß hatte sie die Erschöpfung einschlafen lassen.
Jetzt hörte sie den Mann draußen im Gang zu der Vermieterin sagen: »Sie haben da gar nichts zu bestimmen. Das Mädchen soll wegen eines Angriffs auf ihren Arbeitgeber verhört werden.« Wieder hämmerte er gegen die Tür. »Miss Parker!«
Willa schlang die Arme um sich, wagte nicht zu atmen.
Der Mann brüllte: »Das ist eine Polizeiangelegenheit. Ich fordere Sie zum letztenmal auf, die Tür zu öffnen.«
Sie war bereits angekleidet. Ein schneller Blick in den Alkoven zum Abschied von ihren wenigen Habseligkeiten, dann packte sie ihren Schal und schob das Fenster hoch. Der Mann hörte es und rammte die Schulter gegen die Tür.
Nach Atem ringend und ihre Panik niederkämpfend, kletterte Willa über den Fenstersims, ließ sich nach unten gleiten und ließ los. Sie stürzte in die regnerische Finsternis. Ihr gequälter Aufschrei ging im Splittern der Tür unter.
»Oh Gott - mein Gott, noch nie in meinem Leben habe ich so was durchgemacht, Eddie.«
»Ruhig, ganz ruhig.« Er zog sie an seine Schultern. Sein Samtrock fühlte sich angenehm an. Während ihre Kleider trockneten, trug sie eine seiner Roben, goldfarben und recht bequem; er war ein verhältnismäßig kleiner Mann. Eine hellblonde Haarsträhne war ihr in die Stirn gefallen. Ihre nackten Beine ruhten auf einem Stuhl. Ihren linken Knöchel hatte er mit einer festen Bandage umwickelt. Sie hatte ihn sich beim Sprung in die Gasse verknackst und den ganzen Weg bis zu seinem Sandsteinhaus, 28 East Nineteenth Street, starke Schmerzen gehabt.
»Der Polizist hätte mich beinahe erwischt. Wood hat ihn geschickt, oder?«
»Zweifellos«, sagte Booth. Er war zweiunddreißig, schlank und gutaussehend, mit einer vollen Stimme, die Kritiker als wundersames Instrument bezeichneten. In seinen ausdrucksvollen Augen lag ein ständiger Schmerz verborgen.
Der Regen trommelte gegen die hohen Fenster. Es war halb zwei Uhr morgens. Willa schauderte in der Seidenrobe, als Booth fortfuhr: »Wood ist ein übler Geselle. Eine Schande für unseren Beruf. Er trinkt viel zuviel - darin bin ich Experte. Kombiniert mit seinem Jähzorn, hat das katastrophale Folgen. Letztes Jahr hätte er beinahe einen Beleuchter zum Krüppel geschlagen, der die Bühne nicht haargenau so erleuchtete, wie er es wünschte. Dann war da die Sache mit seiner verstorbenen Frau.«
»Ich wußte nicht, daß er mal verheiratet war.«
»Er redet nicht drüber, mit Grund. Bei der Überfahrt zu einem Engagement in London rutschte sie bei schlechtem Wetter aus, stürzte ins Meer und verschwand. Wood war der einzige Zeuge, obwohl ein Kabinensteward später aussagte, Helen Wood hätte am Morgen des Unglücks Schürfungen an Wange und Arm gehabt, die sie mit Puder zu kaschieren versuchte. Mit anderen Worten, er hat sie verprügelt.«
»Er kann so ein charmanter Mann sein.« Willas Worte gingen in einem Seufzer unter. »Wie dumm ich doch war, mich davon einwickeln zu lassen!«
»Ganz und gar nicht. Mit seinem Charme hält er viele Leute zum Narren.« Booth tätschelte ihre Schulter, erhob sich dann. Er trug schwarze Hosen und winzige Slipper; seine Füße waren kleiner als die ihren. »Du bist durchgefroren. Ich bringe dir einen Cognac. Ich habe eine Flasche da, auch wenn ich sie selbst nie anrühre.«
Er trank nie Alkohol, wie sie wußte. Als Booths Frau Mary 1863 im Sterben gelegen hatte, war er zu betrunken gewesen, um auf die Bitten von Freunden zu hören und zu ihr zu gehen. Dieser Teil seiner Vergangenheit belastete ihn fast ebenso stark wie der unselige Abend im Ford's Theater.
Willa starrte hinaus in den Regen, während Booth Cognac in einen Schwenker goß und ihn mit seinen Händen anwärmte. »Ich werde morgen losgehen und herauszufinden versuchen, was Wood nun unternimmt, nachdem du der Polizei entwischt bist.« Er reichte ihr den Schwenker. Der Cognac verbreitete eine wohlige Wärme in ihrem Innern und beruhigte ihren aufgewühlten Magen. »Inzwischen würde ich mich nicht darauf verlassen, daß er die Sache auf sich beruhen läßt. Neben seinen anderen wunderbaren Charaktereigenschaften ist er auch noch rachsüchtig. Unter den örtlichen Theatermanagern hat er viele Freunde. Zumindest wird er dafür sorgen, daß du in New York keine Arbeit bekommst.«
Willa wackelte mit ihren nackten Zehen. Ihr Knöchel schmerzte jetzt nicht mehr so stark. Im Kamin krachten die Scheite von Apfelbäumen und füllten den Raum mit einem süßen Aroma. Während sie ihren Cognac schlürfte, starrte Booth melancholisch auf ein gerahmtes Foto, das auf der Marmorplatte eines Tisches stand: drei Männer in römischen Togas waren darauf zu sehen. Es war eine Aufnahme aus der berühmten Vorstellung im November 1864, als er für einen Abend den Brutus und seine Brüder Johnny und June den Cassius und den Antonius gespielt hatten.
Sie stellte den Cognacschwenker beiseite. »Zur Arch Street kann ich nicht zurück, Eddie. Mrs. Drew hatte ihre Truppe zusammen. Sie sorgte gleich für Ersatz, nachdem ich ihr von meinen Plänen erzählt hatte.«
»Louisa hätte dich vor Wood warnen sollen.«
»Indirekt hat sie das auch getan. Ich habe nur nicht darauf geachtet. Ich habe eine Menge Fehler, und einer der schlimmsten ist wohl, daß ich von jedermann nur gut denke. Das ist eine gefährliche Unzulänglichkeit.«
»Nein, nein, das ist eine Tugend. Denk niemals anders!« Er tätschelte ihre Hand. »Angenommen, New York bleibt dir von nun an verschlossen, kannst du anderswo arbeiten?«
»Du meinst, ob ich fortlaufen kann, irgendwohin? Fortlaufen ist stets das Heilmittel, das mir als erstes einfällt. Und hinterher tut es mir immer leid. Ich hasse Feigheit.«
»Vorsicht hat nichts mit Feigheit zu tun. Ich sag's dir noch mal, das ist mehr als ein Streit im Schulhof. Denk einen Augenblick nach. Wohin kannst du gehen?«
Verloren schüttelte sie den Kopf. »Es gibt keinen einzigen -nun ja, doch. St. Louis. Ich habe ein Dauerangebot von einem alten Kollegen von Papa. Du kennst ihn. Du warst mit ihm und Papa auf Tournee in Kalifornien.«
»Sam Trump?« Endlich lächelte Booth. »Amerikas Schauspie-leras? Ich wußte nicht, daß Sam in St. Louis ist.«
»Er hat dort sein eigenes Theater, in Konkurrenz zu Dan De-Bar. Letzte Weihnachten schrieb er mir davon. Es klang so, als würde es für ihn nicht gut laufen.«
Booth ging zum Fenster. »Wahrscheinlich trinkt er. Das scheint der Fluch dieses Berufs zu sein.« Er wandte sich um. »St. Louis könnte allerdings eine ideale Zufluchtsstätte sein. Ziemlich weit weg, aber eine gute Stadt fürs Theater, seit Ludlow und Drake sich dort in den Zwanzigern niedergelassen hatten. Für Tourneen steht einem das ganze Mississippital offen, und kein Konkurrenztheater bis Salt Lake City. Ich habe gern in St. Louis gespielt. Mein Vater ebenso.«
Er starrte hinaus in die Dunkelheit und lächelte erneut.
»Wann immer er dort auftauchte, konnte er stets ein paar Cents sparen, weil er die Nebenrollen mit Schauspielern der Thespians, einer guten Amateurgruppe, besetzte. Unglücklicherweise gab er die Cents dann für eine weitere Flasche aus.« Er schüttelte die Erinnerung ab. »Aber was jetzt wichtiger ist, Sam Trump ist ein anständiger Mann. Er wäre jetzt ein erfolgreicher Schauspieler, wenn er sich nicht mit Leib und Seele der Körpertechnik von Forrest verschrieben hätte. Sam hat den heroischen Stil zur Religion erhoben. Er zerreißt ein großes Gefühl nicht nur, er zertrümmert es ein für allemal.«
Eine weitere nachdenkliche Pause, dann ein Nicken. »Ja, Sams Theater könnte gut laufen. Wer weiß? Vielleicht könntest du ihn zurechtbiegen?«
Erschöpft und unglücklich sagte Willa: »Muß ich mich jetzt auf der Stelle entscheiden?«
»Nein. Erst wenn wir herausgefunden haben, was Wood plant. Komm mit.« Er streckte seine Hand mit einer glatten, fließenden Bewegung aus, die allein schon eine Aufführung wert gewesen wäre. »Ich zeige dir dein Zimmer. Ein ausgiebiger Schlaf wird Wunder wirken.«
Auf dem Weg hinaus warf er wieder einen Blick auf Johnnys Bild. Armer Eddie, dachte sie, du versteckst dich immer noch vor der Welt, weil so viele nach Rache schreien, obwohl Johnny aufgespürt und vor fast zwei Monaten in der Nähe von Bowling Green in Virginia erschossen worden ist. Der Gedanke an die Last, die Booth zu tragen hatte, ließ sie ihr eigenes Unglück vergessen, und darüber schlief sie ein.
Als sie am nächsten Nachmittag gegen zwei erwachte, war ihr Freund verschwunden. Der Himmel draußen war immer noch stürmisch bewölkt. Eine leichte Mahlzeit aus Früchten, schottischen Brötchen und Marmelade war unten aufgebaut. Sie aß gerade mit sehr gutem Appetit, als sich der Hausschlüssel drehte und er hereinmarschiert kam; er sah sehr verwegen aus mit Schlapphut und Operncape und Ebenholzstock.
»Ich fürchte, ich habe schlechte Nachrichten. Wood hat einen Haftbefehl beantragt. Ich kaufe dir eine Fahrkarte und schieße dir ein bißchen Reisegeld vor. Du darfst deine Bank nicht besuchen. Oder deine Unterkunft.«
»Eddie, ich kann doch meine Sachen nicht zurücklassen. Meine Sammlung der Werke von Mr. Dickens. All die Rollen, die ich gespielt habe, seit ich das erste Mal auf der Bühne stand -jedes Stück ist von sämtlichen Schauspielern unterschrieben, die mitgewirkt haben.«
Booth warf seinen Hut beiseite. »Für dich mag das kostbar sein, aber das Gefängnis ist es nicht wert.«
»Oh Gott. Hat er wirklich ...?«
»Ja. Die Anklage lautet auf versuchten Mord.«
Einen Tag später führte er sie nach Anbruch der Dunkelheit aus dem Haus zu einer Mietdroschke, die schnell über Pflastersteine ratterte und dann durch Dreck und Schlamm zu einem Hudson-River-Pier. Er reichte ihr einen Koffer mit Kleidern, die er für sie gekauft hatte, gab ihr einen langen, liebevollen Kuß auf die Wange und murmelte, Gott möge sie beschützen. Sie ging an Bord der Fähre nach New Jersey; während der ganzen Überfahrt warf sie keinen Blick zurück. Würde sie sich nur einmal umdrehen, das wußte sie, dann würde sie in Tränen ausbrechen und mit dem nächsten Boot zurückfahren - geradewegs der Katastrophe entgegen.
Als sie den Zug in Chicago verließ, schickte sie Sam Trump ein Telegramm. Sie stieg in einem billigen Hotel ab und wartete auf seine Antwort, die am nächsten Morgen im Telegraphenamt eintraf; nur zu gern würde er für Unterkunft und Verpflegung sorgen und ihr einen Platz in seinem kleinen festen Ensemble geben. Für einen Mann, der dem Alkohol verfallen war, hörte er sich erstaunlich zuversichtlich an. Ihre Anspannung war so groß, daß sie das Offensichtliche übersah: Er war ein Schauspieler.
Wie Willas Vater war auch Mr. Samuel Horatio Trump in England geboren worden, in Stoke-Newington. Mit zehn Jahren war er in die Vereinigten Staaten gekommen, aber er hatte sich gewissenhaft seinen einheimischen Akzent bewahrt, in dem Glauben, daß er viel zu seinem beträchtlichen, durchaus verdienten Ruhm beitrug. Er hatte sich selbst zum Schauspieleras Amerikas ernannt, doch er war in der Branche auch unter dem Namen >Schluchzender Sam< bekannt, nicht nur, weil er auf ein Stichwort hin weinen konnte, sondern weil er das unvermeidlicherweise auch bis zum Exzeß tat.
Er war vierundsechzig und gab fünfzig zu. Ohne die Spezialstiefel, in die ein Schuster fast fünf Zentimeter hohe Einlagen eingearbeitet hatte, maß er gerade 165 Zentimeter. Er war ein rundlicher, onkelhafter Mann mit warmen, dunklen Augen und einem rollenden Gang, der sein Bäuchlein wackeln ließ. Seine Garderobe war umfangreich, aber seit zwanzig Jahren aus der Mode. Produzenten, die Plagiate von Dickens auf die Bühne brachten, wollten ihn stets in der Rolle des Micawber sehen. Trump selbst hielt sich mehr für einen Karl den Großen oder -was seine Glaubwürdigkeit beim Publikum wirklich strapazierte - einen Romeo.
Trump hatte in seinem Leben viele Frauen gekannt. In nüchternem oder sogar leicht angetrunkenem Zustand hatte er eine fröhliche, gewinnende Art. Jedem, der es hören wollte, gestand er, daß er oft an gebrochenem Herzen gelitten hatte, doch in Wahrheit hatte Trump von sich aus jede romantische Affäre beendet, in die er verstrickt gewesen war. Als junger Mann hatte er entschieden, daß die Verantwortung für eine Ehe ihn nur an einer Karriere hindern würde, die schließlich in internationaler Anerkennung gipfeln müßte. Bis jetzt war das allerdings noch nicht der Fall gewesen.
Zwar gaben auch Willa und viele andere aus der Branche sich dem Theateraberglauben hin, doch Trump hatte das zu einer hohen Kunstform entwickelt. Er weigerte sich, ein Seil um einen Stamm zu binden oder einen schielenden Schauspieler zu engagieren. Er trug niemals Gelb, probte nie an Sonntagen und befahl seinem Pförtner, streunende Hunde, die sich während einer Vorstellung der Bühnentür näherten, mit Steinen zu vertreiben. Stets ließ er den Vorhang wieder herunter, wenn er in den ersten fünf Reihen einen rothaarigen Zuschauer entdeckte. Er trug einen blauweißen, in Gold gefaßten Mondstein als Krawattennadel und eine Chrysantheme - niemals eine gelbe - im Revers. Er zog nicht einmal in Erwägung, das schottische Stück auf die Bühne zu bringen oder darin aufzutreten.
Nur den Aberglauben, daß man nicht über die Zukunft sprechen durfte, wenn man das Unheil nicht anziehen wollte, mißachtete er. Zu seinen Lieblingsworten gehörten >nächste Woche< und >morgen< und >die nächste Vorstellung<, unvermeidlich in Verbindung mit Worten wie >wichtiger Produzent im Publikum< oder telegraphische Nachricht< oder >möchte ein Engagement über ein volles Jahr<.
Sein Theater, Trumps St.-Louis-Schauspielhaus, war von einem anderen Manager in der Nordwestecke der Third und Olive Street gebaut worden; die letztere Straße nannte Trump die Rue des Granges. Er hielt es für vornehmer, die ursprünglichen französischen Namen zu benützen. Das Theater faßte dreihundert Personen auf einzelnen Sitzen anstatt den sonst üblichen Bänken.
Während der langen Fahrt nach St. Louis fand sich Willa mit dem ab, was im New Knickerbocker geschehen war. Vielleicht würde Wood in ein paar Jahren die Anklage fallen lassen, und sie konnte zurückkehren. Inzwischen würde sie sich, falls sein Arm doch über New York hinausreichte, als Mrs. Parker ausgeben. Sollte jemand nach einer alleinstehenden Frau suchen, so würde das verwirrend wirken und außerdem unerwünschte Männer abschrecken. Willa Potts wollte sie sich allerdings doch nicht nennen.
Sie war verhältnismäßig gut gelaunt, als die Fähre in St. Louis anlegte. Im Theater fand sie Sam Trump, der gerade einen Wald als Hintergrund aufmalte. Er weinte, während sie sich umarmten und dramatisch abküßten, dann machte er eine Flasche Champagner auf, die er sogleich alleine trank. Als die Flasche fast leer war, machte er ihr ein überraschendes Geständnis: »Der Optimismus in meiner telegraphischen Nachricht war vorgetäuscht, mein liebes Mädchen. Du hast dich entschlossen, in ein in Trümmern liegendes Haus einzuziehen.«
»St. Louis erscheint mir recht wohlhabend, Sam.«
»Ich spreche von meinem Theater, Kind, von meinem Theater. Unser Publikumsbesuch ist zufriedenstellend. Gelegentlich haben wir sogar ein ausverkauftes Haus. Ich begreife einfach nicht, wieso mir kein Schilling in der Kasse bleibt.«
Willa sah einen der Gründe dafür vor sich; er war aus grünem Glas und stand leer in einem Silbereimer.
Sam überraschte sie ein zweitesmal, als er leise und mit niedergeschlagenem Gesichtsausdruck sagte: »Dieses Geschäft braucht einen klareren Kopf, als ich ihn habe. Einen besseren Kopf als diesen grauen, geprügelten Schädel.« Allerdings war er nur um die Ohren herum grau; den Rest hatte er mit einem scheußlichen Schuhwichsenbraun eingefärbt.
Er ergriff ihre Hand. »Würdest du es eventuell in Betracht ziehen, neben deinen schauspielerischen Verpflichtungen das Theater zu managen? Du bist jung, aber du hast in dieser Branche schon sehr viele Erfahrungen gesammelt. Ich kann dir keinen Extralohn für diese Arbeit geben, aber als Kompensation verspreche ich dir, daß ich dich als Schauspielerin genauso groß herausstelle wie mich selbst.« Mit großer Feierlichkeit fügte er hinzu: »Wie einen Star.«
Sie lachte, wie sie es seit Tagen nicht mehr getan hatte. Diese Art von Arbeit hatte sie nie zuvor getan, aber soweit sie erkennen konnte, benötigte man dazu lediglich gesunden Menschenverstand, Fleiß und ein Auge dafür, was mit dem Geld geschah.
»Das ist ein verführerisches Angebot, Sam. Laß mich eine Nacht darüber schlafen.«
Am nächsten Morgen begab sie sich in das Büro des Theaters, einen Raum von der Größe und dem Charme eines Hühnerstalls. Über der Tür war das unvermeidliche Hufeisen angenagelt. Sam Trump saß da, den Kopf trostlos auf eine Hand gestützt, während er mit der anderen die schwarze Theaterkatze streichelte.
»Sam, ich nehme dein Angebot an unter einer Bedingung.«
Er überhörte das letzte Wort und rief: »Wunderbar!«
»Hör dir erst die Bedingung an. Meine erste Tat als Manager wird darin bestehen, dich auf ein festes Taschengeld zu setzen.
Das Theater wird für deinen Lebensunterhalt aufkommen, aber nicht für Whisky, Bier, Champagner oder Schnaps.«
Mit der Faust schlug er sich gegen die Brust. »Oh! Viel schärfer denn der Biß einer Schlange!«
»Sam, ich habe gerade eben dieses Theater übernommen. Willst du, daß ich kündige?«
»Nein, nein!«
»Dann bist du sofort auf Taschengeld gesetzt.«
»Werte Lady!« Sein Kinn sackte nach unten, verdeckte die Mondsteinkrawattennadel. »Ich höre und gehorche.«
MADELINES JOURNAL
Juli 1865. Die düstere Stimmung ist verflogen. Harte Arbeit ist ein gutes Mittel gegen Melancholie.
Der Staat bleibt in Aufruhr. Richter Perry ist nun provisorischer Gouverneur. Er hat sich verpflichtet, Johnsons Programm durchzuführen; zu diesem Zweck hat er für den 13. September eine konstituierende Versammlung einberufen.
Von Hilton Head aus kommandiert Gen. Gillmore die neun Militärbezirke. In jedem dieser Bezirke ist eine Unionsgarnison stationiert, die in erster Linie die Aufgabe hat, Gewalttätigkeiten zwischen den Rassen zu verhindern. Einige der Soldaten in unserem Bezirk sind Neger, und viele meiner Nachbarn meinen wütend, wir würden noch >zu Tode geniggert<. Ich glaube, das werden wir auch, bis wir unsere Differenzen gelöst haben und in Harmonie zusammenleben. Mein Herz, Orry, nicht meine Herkunft läßt mich glauben, daß der große Test für die Fähigkeit dieser Republik, das Versprechen auf Freiheit für alle Menschen einzulösen, die Rassenfrage ist.
Ein merkwürdiger Brief von Cooper. C. ist einem gewissen Desmond LaMotte begegnet, den ich nicht kenne. Dieser D.L., von Beruf Tanzlehrer, sagte, die LaMottes glaubten, ich hätte Justin betrogen, und wollen Rache. Wie kann nach so viel Blutvergießen und Entbehrungen nur jemand die Kraft für einen solchen Haß aufbringen? Ich würde es für lächerlich halten, wenn mich nicht Cooper gewarnt hätte, es ernst zu nehmen. Er hält diesen D.L. für einen Fanatiker und damit für eine Bedrohung. Vielleicht ist er einer jener tragischen jungen Männer, deren Nerven und Geist der Krieg zerstört hat. Ich werde bei Fremden Vorsicht walten lassen ...
Brutale Hitze. Aber wir haben unsere Reisernte eingebracht und dafür ein bißchen Geld bekommen. Bis jetzt wollen nur wenige Neger arbeiten. Viele sind damit beschäftigt, in der Umgebung auf verlassenen Plantagen ihre alten Quartiere, wo sie als Sklaven gelebt haben, niederzureißen, um neue Heime, wie klein und primitiv auch immer, als Embleme ihrer Freiheit zu errichten.
Andy und Jane bedrängen mich weiterhin wegen einer Schule für die befreiten Neger. Bald werden wir eine Entscheidung treffen. Risiken müssen gegeneinander abgewogen werden.
Gestern brauchte ich Lampenöl und ging zu dem alten Laden an der Summerton-Kreuzung. Ich nahm die Abkürzung durch die leuchtend hellen Sümpfe, deren verborgene Pfade Du mir gezeigt hast. An der Kreuzung bot sich mir ein trauriges Schauspiel. Der Gettys-Bros.-Laden ist offen, aber sicherlich nicht mehr lange - die Regale sind leer. Der Platz ist jetzt kaum mehr als ein Unterschlupf für die Angehörigen dieser großen Familie; einer davon, ein einfältiger alter Mann mit einem Schrotgewehr, bewachte den Besitz ...
Die Mittagssonne brannte auf die Summerton-Kreuzung. Drei gewaltige Eichen warfen ihren Schatten über den Laden mit seiner zerbrochenen Veranda. Ganz in der Nähe drängten sich dunkelgrüne Palmlilien mit speerspitzenscharfen Wedeln dicht über dem Boden. Madeline stand da und betrachtete den alten Mann mit dem Gewehr am Rande der Veranda. Er trug dreckige Hosen; seine Unterwäsche diente als Hemd.
»Gibt hier nichts für Sie oder sonst jemanden«, sagte er.
Schweiß färbte den Rücken von Madelines verwaschenem Kleid dunkel. Der Saum war feucht und schlammig von ihrem Marsch durch die Salzsümpfe. »Im Brunnen ist Wasser«, sagte sie. »Könnte ich einen Schluck haben, bevor ich mich auf den Rückweg mache?«
»Nein«, sagte das namenlose Mitglied des Gettys-Clans. »Holen Sie sich's aus den Brunnen, die Ihresgleichen gehören.« Er deutete auf die gelbbraune Straße, die sich in Richtung Mont Royal schlängelte.
»Vielen Dank für Ihre Freundlichkeit«, sagte sie, raffte ihren Rock hoch und trat in das blendend weiße Licht hinaus.
Nach einer halben Meile begegnete sie auf der Straße einem Trupp von sechs schwarzen Soldaten, geführt von einem weißen Lieutenant mit einem unschuldigen Milchgesicht. Die Männer rasteten in dem hitzegeschwängerten Schatten, die Kragen geöffnet, Gewehre und Feldflaschen abseits.
»Guten Tag, Ma'am«, sagte der junge Offizier und salutierte respektvoll.
»Guten Tag. Ein viel zu heißer Tag für unterwegs.«
»Ja, aber wir müssen trotzdem nach Charleston zurückmarschieren. Ich wünschte, ich könnte Ihnen Wasser anbieten, aber unsere Feldflaschen sind leer. Ich fragte diesen Kerl beim Laden, ob wir sie auffüllen dürfen, aber er ließ es nicht zu.«
»Ich fürchte, er ist kein sonderlich großzügiger Typ. Wenn Sie mir zu meiner Plantage folgen möchten - sie ist ungefähr zwei Meilen von hier entfernt und liegt direkt auf Ihrem Weg -, dann können Sie gern den Brunnen benützen.«
Es verfolgt mich also schon wieder. >Ihresgleichen<, hat der alte Mann gesagt. Cooper schrieb, auch der Tanzlehrer habe eine Anspielung auf meine Herkunft gemacht.
Gestern abend bin ich zu Fuß die Uferstraße zur Kirche von St. Joseph von Arimathea gegangen, wo wir zusammen gebetet haben. Das letzte Mal bin ich kurz nach dem Brand des Herrenhauses dort gewesen. Vater Lovewell begrüßte mich und lud mich ein, so lange in dem Familienkirchenstuhl zu meditieren, wie ich nur wollte.
Ich blieb eine Stunde lang sitzen und ließ mein Herz sprechen. So bald wie möglich muß ich in die Stadt reisen, um drei Dinge zu erledigen; eines dieser Dinge wird bestimmt solche Leute wie den Tanzlehrer und diesen alten Mr. Gettys provozieren. Von mir aus. Wenn man mich hängen will, ohne zu berücksichtigen, was ich tue, warum sollte ich zögern, etwas zu tun, wofür man wirklich gehängt werden kann? Orry, mein Liebster, die Gedanken an Dich und an meinen lieben Vater machen mir Mut. Beide habt Ihr Eurem Gewissen nie Fesseln anlegen lassen von der Furcht.
Äshton stieß einen langgezogenen, wimmernden Schrei aus. Der Kunde, der sich auf ihr krümmte, reagierte darauf mit einem einfältigen, verzückten Lächeln. Einen Stock tiefer hörte Ashtons Arbeitgeberin, Senora Vasquez-Reilly, den Aufschrei und prostete der Decke mit ihrem Glas Tequila zu.
Ashton haßte das, was sie tat. Das heißt, sie haßte den Geschlechtsakt, wenn sie ihn um des reinen Überlebens willen auf sich nehmen mußte. Es war unerträglich, in dieser dreckigen Grenzstadt - Santa Fe im Territorium New Mexico - festzuhängen. Es war unvorstellbar, daß ihr nichts weiter als die Hurerei geblieben war. Mit Stöhnen und Schreien brachte sie ihre Gefühle zum Ausdruck.
Der Gentleman in mittleren Jahren, ein Witwer, der Vieh züchtete, zog sich zurück, scheu ihrem Blick ausweichend. Bezahlt hatte er sie bereits; jetzt kleidete er sich schnell an, verbeugte sich und küßte ihre Hand. Sie lächelte und sagte in zögerndem Spanisch: »Kommen Sie bald wieder, Don Alfredo.«
»Nächste Woche, Senorita Brett. Sehr gern.«
Mein Gott, ich hasse Mexikaner, dachte sie, nachdem er das Zimmer verlassen hatte und sie die Münzen zählte. Drei der vier Münzen gingen an Senora Vasquez-Reilly, deren kräftiger Schwager dafür sorgte, daß die drei Mädchen der Senora nicht betrogen. Ashton hatte im Frühsommer, als ihre Ersparnisse aufgebraucht waren, für die Senora zu arbeiten begonnen. Sie hatte es für einen guten Witz gehalten, sich Senorita Brett zu nennen. Der Witz wäre noch besser gewesen, wenn ihre süße, prüde Schwester davon gewußt hätte.
Ashton Main - sie sah sich selbst nicht länger als Mrs. Hun-toon - hatte beschlossen, wegen des Schatzes in Santa Fe zu bleiben. Irgendwo in dem von Apachen verseuchten Ödland waren zwei Wagen verschwunden, und die Männer, die sie von Virginia City gebracht hatten, waren niedergemetzelt worden. Der eine, ihr Ehemann James Huntoon, war kein Verlust gewesen. Der zweite Mann, ihr Liebhaber Lamar Powell, hatte vorgehabt, eine zweite Konföderation im Südwesten zu gründen, mit Ashton als Gemahlin an seiner Seite. Zur Finanzierung dieses Vorhabens hatte er einen Wagen mit falschem Boden mit Gold im Wert von dreihunderttausend Dollar beladen; das Gold hatte er aus dem Erz der Nevada-Mine gewonnen, die ursprünglich seinem verstorbenen Bruder gehört hatte.
Das Massaker war von dem Fahrer eines Wagens gemeldet worden, der noch eine Handelsstation erreichte, kurz bevor er seinen Wunden erlag. Seinem schmerzgepeinigten, unzusammenhängenden Gestammel hatte man nicht entnehmen können, wo das Massaker stattgefunden hatte. Nur eine Person mochte jetzt über diese Information verfügen: der Führer Col-lins, den Powell in Virginia City angeheuert hatte. Gerüchte besagten, er habe überlebt, aber Gott allein mochte wissen, wo er sich befand.
Als sie von dem Massaker hörte, hatte Ashton einen reichen Gönner in Santa Fe aufzutreiben versucht. Die in Frage kommenden Kandidaten waren alles andere als zahlreich. Die meisten waren verheiratet; sie mochten zwar die Senora besuchen, zeigten deswegen aber noch lange kein Interesse, ihre Ehefrauen sitzenzulassen. Und die Idee, in Fort Marcy einen Mann aufzutreiben, war ein Witz. Die Offiziere und Männer der Garnison des heruntergekommenen Postens in der Nähe des alten Gouverneurspalastes bekamen nicht einmal genug Geld, um ihre eigenen Gelüste zu befriedigen, geschweige denn die einer Geliebten. Ihre Aussichten waren nicht besser als die eines Schweins, auf das ein Barbecue im Tiefland wartete. Natürlich hätte sie nicht für die Senora arbeiten müssen, wenn sie sich hilfesuchend an ihren frömmelnden Bruder Cooper gewandt hätte oder an die Schwester, deren Namen sie nur zu gern in den Schmutz zog; sogar an diese schlampige Achtelnegerin, die Orry geheiratet hatte, hätte sie sich wenden können. Aber der Teufel sollte sie holen, wenn sie vor denen zu Kreuze kroch und um mildtä-tige Unterstützung bat. Sie wollte erst dann mit ihnen in Verbindung treten, wenn sie die Voraussetzungen dazu diktieren konnte.
Ashton zog ihre Arbeitskleidung an - ein gelbes Seidenkleid mit weiten, spitzenbesetzten Schulterstreifen, das über einer Bluse mit Puffärmeln getragen werden sollte. Die Senora hatte ihr sowohl die Bluse als auch ein Korsett verweigert, damit die Wölbungen ihrer teilweise entblößten Brüste die Kundschaft in Versuchung führten. Das Kleid war zu der Zeit in Mode gewesen, als ihr Bruder Orry nach West Point gegangen war. Sie haßte es so sehr wie die spröde schwarze Mantilla, auf der die Senora bestand, und die Schuhe - Leder, scheußlich gelb gefärbt, spitzenbesetzt, mit dünnen, hohen Absätzen.
Sie zupfte die Mantilla vor dem kleinen Spiegelscherben zurecht und fuhr sich mit der Hand über die linke Wange. Gott sei Dank waren die drei parallelen Kratzer kaum zu sehen. Rosa, eines der anderen Mädchen, hatte sie im Streit um einen Kunden angegriffen. Ehe die Senora sie auseinanderreißen konnte, hatte Rosa Ashtons Gesicht übel zerkratzt. Ashton hatte stundenlang über die blutigen Spuren der Fingernägel geweint. Ihr Körper und ihr Gesicht bildeten ihr Hauptkapital, waren die Waffen, die sie einsetzte, um das zu bekommen, was sie wollte.
Noch Wochen nach dem Kampf hatte sie Salbe auf die langsam heilenden Wunden geschmiert und sieben- oder achtmal täglich ihr Gesicht im Spiegel betrachtet. Endlich war sie überzeugt davon, daß kein Dauerschaden zurückbleiben würde. Und Rosa würde ihr nicht noch einmal Schwierigkeiten bereiten. Ashton trug jetzt in ihrem rechten Schuh eine zugespitzte Feile.
Gelegentliche Gedanken an die Mine in Nevada verschärften nur ihre Gier. Gehörte die Mine nicht auch ihr? Sie war mit La-mar Powell praktisch verheiratet gewesen. Natürlich sah sie sich zwei gewaltigen Hindernissen gegenüber, wenn sie die Mine in ihren Besitz bringen wollte: Sie mußte die Behörden davon überzeugen, daß sie Mrs. Powell war; zuvor allerdings mußte sie nach Virginia City gelangen. Ashton hielt sich selbst für eine starke, einfallsreiche junge Frau, aber sie war schließlich nicht verrückt. Ganz allein viele Hunderte von Meilen durch gefährliche Wildnis? Das war kaum zu schaffen. Statt dessen konzentrierte sie sich auf einen greifbareren Traum: die Wagen.
Sie mußte sie nur finden! Sie war überzeugt davon, daß die Apachen das Gold nicht gestohlen hatten. Es war sehr geschickt versteckt gewesen. Außerdem waren sie unwissende Wilde, die keine Ahnung von dem Wert hatten. Mit dem Gold konnte sie sich viel mehr als nur materiellen Komfort leisten. Sie konnte sich eine Position und Macht kaufen. Die Macht, zurück nach South Carolina zu reisen, um auf eine Art und Weise, über die sie sich noch Gedanken machen mußte, ihre offene Rechnung mit den Familienangehörigen zu begleichen, die sie zurückgestoßen hatten. Der Wunsch, sie alle in den Ruin zu treiben, füllte sie ganz und gar aus.
Inzwischen hatte sie lediglich die Wahl zwischen Verhungern oder Huren. Also hurte sie. Und wartete. Und hoffte.
Die meisten Kunden der Senora liebten Ashtons weiße, englische Haut, ihr Südstaatengehabe und ihre Sprache, die sie der Wirkung halber noch übertrieb. Heute abend allerdings, als sie mit großer Geste zur Cantina hinabstieg, war ihr Auftritt pure Verschwendung. Bis auf drei kartenspielende ältere Vaqueros war niemand da.
Besonders nach Einbruch der Dunkelheit sah die Cantina ziemlich trostlos aus. Die Lampen tauchten alles in ein gelbliches Licht und enthüllten die Kugellöcher, Messerkerben, Whiskyflecke und all den Dreck auf Möbeln, Fußboden und an den Lehmwänden. Die Senora saß da und las in einer alten Zeitung von Mexico City. Ashton gab ihr die Münzen.
Die Senora schenkte ihr ein Lächeln, bei dem ihr vorderer Goldzahn aufblitzte. »Gracias, querida. Bist du hungrig?«
Ashton zog einen Schmollmund. »Hungrig auf ein bißchen Spaß an diesem fürchterlichen Ort. Ich würde gern etwas Musik hören.«
Die Oberlippe und der feine Schnurrbart der Senora senkten sich und verdeckten den Goldzahn. »Ein Jammer. Einen Maria-chi kann ich mir nicht leisten.«
Ihr Schwager Luis, ein dümmlicher Bulle von einem Mann, kam durch die Schwingtüren hereinmarschiert. Das einzige, was er bei der Senora umsonst bekam, war Rosa, die strähniges Haar hatte und seit ihrer Jugend von den Pocken gezeichnet war. Kurz nach Ashtons Arbeitsantritt hatte Luis sie zu betatschen versucht. Sie konnte seinen Geruch und sein schweinisches Benehmen nicht ertragen, und da sie bereits wußte, daß er bei der Senora kaum Ansehen genoß, hatte sie ihn geschlagen. Er wollte gerade zurückschlagen, als die Senora eintrat und ihn mit Schimpfworten überschüttete. Seitdem war Luis nicht mehr in Ashtons Nähe gekommen, ohne ihr seine mürrische Wut zu zeigen. Heute abend war es nicht anders. Er starrte sie an, während er Rosas Handgelenk packte. Er zerrte das Mädchen an der zu Büro und Lagerraum führenden Tür vorbei die Treppe hoch. Ashton rieb sich die linke Wange. Hoffentlich nimmt er sie so richtig wie ein Feldarbeiter her, dachte sie. Und hoffentlich verpaßt sie ihm eine Krankheit.
Der heiße Wind blies Staub unter der Schwingtür herein. Keine Kunden tauchten auf. Um halb elf sagte die Senora, Ashton könne zu Bett gehen. In der Finsternis ihres winzigen Zimmers lag sie da, lauschte den im Wind klappernden Fensterläden und dachte wieder daran, die Senora zu berauben. Gelegentlich gaben Kunden eine Menge Geld in der Cantina aus, und im Laufe von einer Woche sammelte sich einiges an. Allerdings fiel ihr nicht ein, wie sie den Raub durchführen sollte. Und dann war da noch ein großes Risiko. Luis hatte ein schnelles Pferd und einige üble Freunde. Wenn sie denen in die Hände fiel, dann brachten sie sie womöglich um oder - mindestens genauso schlimm - verstümmelten sie.
Zorn und Hoffnungslosigkeit hinderten sie am Schlaf. Schließlich zündete sie die Lampe wieder an und griff unter das Bett nach dem Lackkästchen. Auf dem Deckel stellten eingelegte Perlen eine Szene dar: ein japanisches Pärchen, in tiefes Nachdenken versunken, saß vollbekleidet beim Tee. Klappte man den Deckel hoch und hielt ihn gegen das Licht, so sah man das Pärchen mit hochgerafften Kimonos kopulieren. Das glückliche Gesicht der Frau zeigte ihre Reaktion auf den halb in ihr verborgenen, gewaltigen Penis des Gentleman.
Das Kästchen verbesserte stets Ashtons Laune. Es enthielt siebenundvierzig Knöpfe, die sie im Laufe der Jahre gesammelt hatte - West-Point-Uniformknöpfe, Hosentürchenknöpfe. Jeder Knopf repräsentierte einen Mann, den sie genossen oder zumindest benutzt hatte. Nur zwei ihrer Partner waren mit keinem Knopf in der Schachtel vertreten: der erste Junge, der sie genommen hatte, bevor sie mit ihrer Sammlung begann, und ihr schwächlicher Ehemann Huntoon. In Santa Fe wuchs die Sammlung sehr rasch.
Einige Minuten lang betrachtete sie einen Knopf nach dem anderen, versuchte sich das dazugehörige Gesicht vorzustellen. Schließlich stellte sie das Kästchen beiseite und musterte ihren schwitzenden Körper im Spiegel. Er war immer noch an den richtigen Stellen weich und sanft und dort fest, wo er es sein sollte, und die Fingernagelspuren in ihrem Gesicht waren kaum noch sichtbar. Während sie sich so betrachtete, fühlte sie neue Hoffnung in sich aufsteigen. Irgendwie würde sie mit Hilfe ihrer Schönheit diesem verfluchten Ort entrinnen.
Sie ging zu Bett und gab sich bald voller Genuß einem Traum hin, indem sie wiederholt Bretts Haut mit ihrer Feile piekte, bis das Blut hervorquoll.
Drei Abende später betrat ein derb gekleideter Weißer die Can-tina. Er hatte einen Schnurrbart mit langen Spitzen und trug einen Revolver an der Hüfte. Er kippte an der Bar zwei schnelle doppelte Whiskys und stelzte dann auf die beiden harten Stühle zu, wo Ashton und Rosa auf Kundschaft warteten. Das dritte Mädchen war oben an der Arbeit.
»Hallo, Miss Gelbschuh. Wie geht's dir denn so?«
»Mir geht's gut.«
»Wie heißt du?«
»Brett.«
Er grinste. »Höre ich da den Akzent einer gefallenen Blume des Südens?«
Sie legte den Kopf schief, flirtete mit den Augen. »Ich falle niemals, außer wenn ich zuvor bezahlt werde. Da du meinen Namen weißt, wie ist deiner?«
»Mein Vorname mag dir ein bißchen komisch vorkommen. Ich heiße Banquo, aus Mr. Shakespeares Tragödie >Macbeth<. Nachname Collins. Wenn ich mir noch ein paar Drinks gegönnt habe, komme ich vielleicht zu dir.«
Er stolzierte zur Bar zurück, während Ashton sich an ihrem Stuhl festklammerte, um nicht herunterzufallen.
Banquo Collins schlug mit der Faust auf den Tresen. »Ich zahle für alle. Ich kann das Zehnfache ausgeben, ohne mir groß Sorgen machen zu müssen.«
Die Senora pirschte sich an ihn heran. »Kühne Worte, mein Lieber.«
»Aber wahr, Mädel. Ich kenne die Mine, wo der Schatz versteckt ist.«
»Ah, ich wußte, daß es nur ein Scherz ist. Hier in der Gegend gibt's keine Minen.«
Collins stürzte ein Glas von dem Fusel hinunter. »Ich buddle in keiner Drecksmine herum; meine Mine sind Wagen.«
»Wagen? Das ergibt keinen Sinn.«
»Für mich schon.«
Er streckte die Arme aus und stampfte mit den Stiefeln auf dem Boden herum. »Warum gibt's hier keine Musik, nach der ein Mann tanzen kann?« Weil ihn alle beobachteten, entging ihnen der wilde Ausdruck auf Ashtons Gesicht. Das war der Mann - Powells Führer.
»Werde reich wie Midas«, erklärte er und kratzte sich zwischen den Beinen. Rosa begann sich heftig zur Schau zu stellen. Ashton holte die Feile aus ihrem Schuh und schob sie unter ihrem linken Arm durch. Rosa japste, als die Spitze sie traf.
»Der gehört mir«, flüsterte Ashton. »Wenn du ihn nimmst, steche ich dir morgen ein Auge aus.«
Rosa wurde weiß. »Nimm ihn. Nimm ihn.«
»Werd' massenhaft Musik haben, wenn ich die Welt seh'. Rom, die Japaner ...« Collins rülpste. »Aber nicht hier. Doch ein bißchen Vergnügen, schätz' ich, krieg' ich hier auch.«
Er schwankte auf die Mädchen zu. Ashton erhob sich. Wieder grinste er, packte ihre Hand und zog sie die Treppe hoch.
Nachdem sie die Tür verriegelt hatte, half sie ihm beim Ausziehen. Sie war so aufgeregt, daß sie an einem Knopf seines Ho-sentürchens zu heftig zerrte. Der Knopf riß ab und klapperte gegen die Wand. Er setzte sich aufs Bett, während sie ihm die Hosen hinunterzog. »War interessant, was du da unten erzählt hast«, sagte sie.
Er blinzelte, als hätte er sie nicht gehört. »Wo kommst du her, Gelbschuh? Du bist doch keine Mexe?«
»Ich bin ein Carolina-Girl. Das Unglück hat mich hierher verschlagen.« Nach einem tiefen Atemzug wagte sie den Sprung ins kalte Wasser. »Ein Unglück, über das wir wohl beide etwas wissen.«
Trotz seiner Trunkenheit und seiner angeregten Verfassung ließen ihn ihre Worte vorsichtig werden. »Quatschen wir, oder ficken wir?«
Sie beugte sich vor und bemühte sich kurz um ihn, um seine Irritation zu verscheuchen. »Ich wollte nur wegen dieser Wagen fragen ...« Seine Hand krallte sich in ihr Haar. »Collins, ich bin auf deiner Seite. Ich weiß, was in diesen Wagen war.«
»Wie das?« Wütend riß er an ihrem Haar. »Ich sagte, wie das?«
»Bitte. Nicht so fest! So ist es besser.« Erschrocken lehnte sie sich zurück. Angenommen, er fühlte sich wirklich bedroht? Angenommen, er beschloß, sie zu töten? Dann dachte sie: Wenn du hierbleibst, bist du ohnehin so gut wie tot.
Sie sagte vorsichtig: »Ich weiß es, weil ich zu dem Mann in Beziehung stand, dem die Wagen gehörten. Er war ein Südstaat-ler, nicht wahr?«
Sein Blick gab es zu, bevor er es mit Worten abstreiten konnte. Sie klatschte in die Hände. »Sicher war er das. Beide waren sie Südstaatler. Und du hast sie von Virginia City aus geführt.«
Sie zog die Schulterträger herunter und zeigte ihm ihre Brüste, jetzt schon gerötet und fest. Herr im Himmel, allein der Gedanke an das Gold versetzte sie in ungeheure Erregung.
»Weißt du, wo die Wagen sind, Collins?«
Er grinste bloß.
»Du weißt es. Und ich weiß, welche Ladung sie hatten. Mehr noch, ich weiß, woher das kam - und wie man an das Hundertfache, vielleicht an das Tausendfache davon herankommt.«
Sie entdeckte einen Schimmer von Interesse und nützte ihren Vorteil aus. »Ich rede von der Mine in Virginia City. Sie gehört mir. Mr. Powell, einer der getöteten Männer, war der Besitzer, und ich bin mit ihm verwandt.«
»Du meinst, du kannst beweisen, daß sie dir gehört?«
Ohne zu zögern oder ihren Gesichtsausdruck zu verändern, sagte sie: »Mit absoluter Sicherheit. Du kriegst die Hälfte von dem, was in den Wagen ist, dann hilfst du mir, nach Nevada zu kommen, und ich teile ein noch wesentlich größeres Vermögen mit dir.«
»Na klar doch - ein wesentlich größeres Vermögen. Und es gibt auch sieben Städte aus purem Gold, die hier in der Gegend nur darauf warten, gefunden zu werden - ganz egal, daß sie niemand entdeckt hat, seit die Spanier vor Hunderten von Jahren danach zu suchen begonnen haben.«
»Collins, mach dich nicht über mich lustig. Ich sage die Wahrheit. Wir müssen unsere Informationen zusammenlegen. Wenn wir das tun, dann werden wir so reich, daß dir schwindelt. Wir können die ganze Welt zusammen erleben. Wäre das nicht aufregend, Liebling?« Ihre Zunge lieferte eine feuchte Demonstration ihrer Erregung.
Sekunden vergingen ohne Reaktion. Ihre Furcht kehrte zurück. Plötzlich lachte er. »Bei Gott, du bist ein schlaues Mädel. Ebenso schlau wie heiß.«
»Sag, daß wir Partner sind, und ich zeige dir ein paar ganz spezielle Liebessachen. Das werde ich für niemanden sonst tun, egal, wieviel er zahlt.« Sie flüsterte wollüstige, obszöne Worte in sein Ohr.
Wieder lachte er. »In Ordnung, Partner.«
»Ich komme«, rief sie, ließ Kleid und Höschen fallen und warf sich auf ihn.
Sie hielt ihr Wort, doch nach zehn Minuten forderten Alter und die Drinks ihren Tribut von ihm, und er fing an zu schnarchen.
Ashton zog die Laken hoch, rieb sich ab und glitt mit pochendem Herzen neben ihn. Endlich war ihre Geduld belohnt worden. Schluß mit der Hurerei. Sie hatte den Mann, der das Gold hatte.
Die Phantasie malte Bilder von einem neuen Abendkleid. Der großartigsten Hotelsuite in New York City. Madeline, die sich krümmte, während Ashton ihr mit einem Fächer ins Gesicht schlug.
Köstliche Visionen. Bald schon würden sie Wahrheit werden. Sie schlief ein.
Sie erwachte, seinen Namen murmelnd. Keine Antwort.
Tageslicht filterte durch die Schlitze im Fensterladen. Sie tastete das Bett neben sich ab.
Leer. Kalt.
»Collins?«
Er hatte eine mit Bleistift geschriebene Notiz auf der alten Kommode zurückgelassen.
Liebe kleine Miss Gelbschuh
Polier Deine Geschichte von der V.-City->Mine< noch ein bißchen auf. Vielleicht schluckt sie jemand. Aber ich weiß ja bereits, was in den Wagen war, weil ich's habe; allerdings habe ich nicht die Absicht zu teilen. Trotzdem schönen Dank für die Sonderbehandlung.
Goodbye,
BC
Ashton kreischte. Sie kreischte, bis sie das ganze Haus aufgeweckt hatte - Rosa, die dritte Hure, die Senora, die hereingestürmt kam und sie anbrüllte. Ashton spuckte ihr ins Gesicht. Die Senora schlug sie. Ashton schluchzte und kreischte weiter.
Zwei Tage später fand sie den Knopf, der von Banquo Collins' Hose abgesprungen war. Nachdem sie ihn untersucht und erneut geheult hatte, legte sie ihn in ihre Schachtel.
Teuflische Hitze senkte sich über Santa Fe. Die Leute bewegten sich so wenig wie möglich. Jeden Abend saß sie auf ihrem harten Stuhl, ohne zu wissen, was sie tun, wie sie entrinnen sollte.
Sie lächelte nicht. Kein Kunde wollte sie. Senora Vasquez-Reil-ly begann zu klagen und drohte ihr mit Rausschmiß. Es kümmerte sie nicht.
MADELINES JOURNAL
Juli 1865. Gestern in der Stadt gewesen. Shermans haben darauf bestanden, daß mich Andy fährt, um mich zu beschützen. Komisch, so im Wagen zufahren, wie eine weiße Herrin mit ihrem Sklaven. Während der Fahrt war es leicht, sich kurz in die alte Zeit zurückversetzt zu fühlen.
In Charleston war das unmöglich. Von Coopers Firma in der Concord Street blickte man auf langgestreckte, leere Lagerhäuser, wo Truthahngeier nisteten. Er war nicht da, also hinterließ ich eine Nachricht, daß ich ihn später besuchen würde.
Nach dem großen Feuer von '61 ist kaum was wiederaufgebaut worden. Das verbrannte Gebiet sieht aus, als hätte General Sherman es besucht. Ratten und wilde Hunde treiben sich zwischen geschwärzten Kaminmauern und unkrautüberwucherten Fundamenten herum. Viele Häuser in der Nähe der Battery sind von Granaten beschädigt. Das Haus von Mr. Leverett Dawkins in East Bay ist jedoch verschont geblieben ...
Sollte es einen fetteren Mann als den alten Unionsanhänger Dawkins geben, so war Madeline ihm jedenfalls noch nicht begegnet. Dawkins war um die Fünfzig und steckte in makelloser, speziell für ihn geschneiderter Kleidung; er hatte Schenkel so dick wie Wassermelonen und einen Bauch wie eine mit Drillingen schwanger gehende Frau. An der Salonwand hinter ihm hing die unvermeidliche Ansammlung von Porträts seiner Vorfahren. Als Madeline eintrat, saß Dawkins bereits in seinem riesigen handgefertigten Stuhl und blickte über den Hafen auf die Ruinen von Fort Sumter. Er haßte es, wenn ihn jemand dabei beobachtete, wie er lief oder sich setzte.
Sie erkundigte sich nach den Hypotheken von Mont Royal. Es gab zwei, die sich auf sechshunderttausend Dollar beliefen und von Banken in Atlanta gehalten wurden. Dawkins erklärte, seine eigene Palmetto-Bank würde bald eröffnen und er würde seinen Vorstand bitten, die Hypotheken zu kaufen und zu konsolidieren. »Mont Royal ist eine gute Sicherheit. Ich möchte die Papiere gern in der Hand haben.«
Sie beschrieb ihm die Idee mit der Sägemühle. In dem Punkt war er weniger ermutigend.
»Für solche Pläne werden wir kaum Darlehen lockermachen können. Vielleicht kann der Vorstand ein paar tausend Dollar für einen Schuppen, einige Sägegruben und die Jahreslöhne für einen Negerarbeitstrupp auftreiben. Falls Sie Neger finden können.«
»Ich hatte daran gedacht, Dampfmaschinen zu installieren und ...«
»Ausgeschlossen, wenn sie das Geld für den Kauf borgen müssen. Es gibt so viele, die mit dem Wiederaufbau beginnen möchten und um Hilfe bitten. Dies ist ein verwundetes Land, Madeline. Schauen sie sich nur in der Stadt um.«
»Das habe ich getan. Nun, es ist sehr großzügig von Ihnen, Leverett, mir bei den Hypotheken zu helfen.«
»Bitte, betrachten Sie das nicht als Wohltätigkeit. Die Plantage ist wertvoll - eine der besten in diesem Bezirk. Der Eigentümer, Ihr Schwager, ist ein angesehenes Mitglied der Gesellschaft. Und Sie als Verwalterin sind ebenfalls jedes Risiko wert. Eine ungemein verantwortungsbewußte Bürgerin.«
Er meint, dachte sie traurig, ich sei keine Unruhestifterin. Für wie verantwortlich würde er sie wohl halten, wenn er von ihrem nächsten Besuch wüßte?
... Es wird also nicht so flott vorangehen, wie ich hoffte.
Begab mich dann zum Büro für befreite Negersklaven. Ein streitsüchtiger kleiner Mann mit hartem Akzent, der sich Brevet Colonel Orpha C. Munro nannte, aus >Vuh-mont<, empfing mich. Sein offizieller Titel lautet >Sub-Assistant Commissioner, Charleston Dis-trict<.
Ich trug meine Bitte vor. Er meinte, er sei überzeugt davon, das Büro könne einen Lehrer finden. Er wird mich benachrichtigen. Ich verließ das Büro mit dem Gefühl, ich hätte eine kriminelle Tat begangen.
Als ich merkte, wie spät es war, schickte ich Andy alleine los und ging zur Tradd Street, um Judith vor meinem Treffen mit Cooper zu besuchen. Judith überraschte mich mit der Mitteilung, Cooper sei nach dem Mittagessen zu Hause geblieben.
»Anstatt zurück in die Firma zu gehen, blieb ich hier, um an den Sachen hier zu arbeiten«, sagte Cooper. Im braunen Gras des von Mauern umgebenen Gartens lagen Bleistiftskizzen eines Piers für die Carolina Shipping Company. Vom Haus herüber drang eine zögernde Version von Mozarts 21. Klavierkonzert, auf einem völlig verstimmten Instrument gespielt.
Cooper wandte sich an seine Frau. »Könnten wir Tee oder einen halbwegs vernünftigen Ersatz dafür haben?« Judith lächelte und zog sich zurück. »Nun, Madeline, was steckt hinter diesem unerwarteten, erfreulichen Besuch?«
Sie setzte sich auf eine rostende, schwarz gestrichene Eisenbank. »Ich möchte auf Mont Royal eine Schule gründen.«
Cooper wollte sich gerade nach den Skizzen bücken; sein Kopf fuhr hoch, und er starrte sie an. Das dunkle Haar hing ihm in die blasse Stirn. Seine tiefliegenden Augen blickten vorsichtig. »Was für eine Art von Schule?«
»Eine Schule, in der all denen, die lernen wollen, Lesen und Rechnen beigebracht wird. Die befreiten Neger im Bezirk benötigen unbedingt eine Grundausbildung, wenn sie überleben wollen.«
»Nein.« Cooper knüllte sämtliche Skizzen zusammen und warf den Ball unter einen Azaleenbusch. Sein Gesicht hatte sich gerötet. »Nein. Das kann ich dir nicht erlauben.«
Genauso emotional sagte sie: »Ich frage dich nicht um Erlaubnis, ich erweise dir lediglich die Höflichkeit, dich über meine Absichten zu informieren.«
Ein flachbusiges junges Mädchen steckte ihren Kopf aus einem hohen Fenster im oberen Stock. »Papa, was schreist du denn so? Oh, Tante Madeline. Guten Tag.«
»Guten Tag, Marie-Louise.«
Coopers Tochter war dreizehn. Sie würde sich nie zu einer Schönheit entwickeln und schien sich dieses Mangels durchaus bewußt zu sein; sie bemühte sich sehr, das mit jungenhafter Energie und viel Lächeln wettzumachen. Die Leute mochten sie; Madeline bewunderte sie.
»Geh rein, und übe weiter«, schnappte Cooper.
Marie-Louise schluckte und zog sich zurück. Wieder ertönte der Mozart. Die richtigen und die falschen Töne hielten sich ungefähr die Waage.
»Madeline, darf ich dich daran erinnern, daß die Wogen der Emotionen gegen Nigger und gegen die Leute, die sie unterstützen, sehr hoch gehen. Es wäre närrisch, diese Emotionen noch stärker herauszufordern. Du kannst keine Schule eröffnen.«
»Cooper, ich sag' es noch einmal, das ist nicht deine Entscheidung.« Sie versuchte ihn sanft zu behandeln, aber die Botschaft war unvermeidlich hart. »Du hast mir schriftlich das Management der Plantage übertragen. Ich habe nicht die Absicht, zurückzustecken. Ich werde eine Schule gründen.«
Er schritt auf und ab, funkelte sie an. Dies war ein neuer, eindeutig unfreundlicher Cooper Main; diese Seite von ihm hatte sie noch nie zu sehen bekommen. Das Schweigen dehnte sich aus. Madeline versuchte die Sache zu überspielen. »Ich hatte gehofft, dich auf meiner Seite zu finden. Bildung für Schwarze verstößt schließlich nicht mehr gegen das Gesetz.«
»Aber es ist unpopulär.« Er zögerte, platzte dann heraus: »Wenn du die Leute reizt, werden sie sich keine Zurückhaltung mehr auferlegen.«
»Zurückhaltung in welcher Beziehung?«
»In bezug auf dich! Jeder schaut nach der anderen Seite, tut so, als wärst du nicht - na ja, du weißt schon. Wenn du mit einer Schule anfängst, werden sie nicht mehr so tolerant sein.«
Madelines Gesicht war weiß. Sie hatte damit gerechnet, daß irgend jemand ihr irgendwann ihre Abstammung vorhalten würde, aber sie hätte niemals erwartet, daß es ihr eigener Schwager sein könnte.
»Hier ist der Tee.«
Mit hüpfenden Locken trug Judith ein Tablett mit angeschlagenen Tassen und Untertassen die Treppen hinunter. Auf der letzten Stufe hielt sie inne, als sie den Sturm auf dem Gesicht ihres Mannes bemerkte.
»Ich fürchte, Madeline muß gehen«, sagte er. »Sie hat nur kurz hereingeschaut, um mir was über Mont Royal zu erzählen. Ich danke dir für deine Höflichkeit, Madeline. Zu deinem eigenen Besten, ändere deine Meinung. Guten Tag.«
Er wandte ihr den Rücken zu und begann unter der Azalee nach den zusammengeknüllten Zeichnungen zu suchen. Judith ließ diese Unhöflichkeit regungslos auf der untersten Stufe erstarren. Madeline verbarg, wie verletzt sie war, tätschelte Judiths Arm, eilte über die Eisenstufen nach oben und rannte aus dem Haus.
... Dabei bleibt's im Moment. Ich fürchte, ich habe ihn mir zum Feind gemacht. Wenn es so ist, geliebter Orry, dann habe ich wenigstens seine Freundschaft um einer Sache willen verloren, die es wert ist.
Eine Nachricht ist gekommen! Gerade zwei Wochen nach meinem Besuch bei Col. Munro. Die Gesellschaft zur Hilfe der befreiten Negersklaven der Methodist Episcopal Church, Cincinnati, wird eine Lehrerin schicken. Ihr Name ist Prudence Chaffee.
Cooper schweigt. Noch kein Anzeichen von Vergeltung.
In Jefferson Barracks, Missouri, bildete die U.S. Army Kavallerierekruten aus. Das Ausbildungslager lag am Westufer des Mississippi, einige Meilen südlich von St. Louis.
Als Charles dort eintraf, untersuchte ihn ein Vertragsarzt auf falsche Zähne, sichtbare Tumoren, Anzeichen von Geschlechtskrankheiten und Alkoholismus. Für gesund erklärt, kommandierte man ihn weiter, zusammen mit einem früheren Korsettverkäufer aus Hartford, der erklärte, er habe Sehnsucht nach dem großen Abenteuer, einem Rauhbein aus New York City, der kaum etwas sagte und wahrscheinlich vor einer ganzen Menge davonrannte, einem Zimmermann aus Indiana, der erklärte, er sei eines Morgens erwacht und habe festgestellt, daß er seine Frau hasse, einer Plaudertasche von einem Jungen, der sagte, er habe gelogen, was sein Alter anbelangte, und einem gutaussehenden Mann, der gar nichts sagte. Als die Rekruten bei einer heruntergekommenen Baracke ankamen, deutete ein weißhaariger Corporal auf den schweigsamen Mann.
»Französische Fremdenlegion. Kann kaum ein Wort Englisch. Jesus Maria, kriegen wir nicht wirklich alle? Und das für verdammte dreizehn Dollar im Monat.« Er musterte Charles. »Ich hab' deine Papiere geseh'n. Reb, nicht wahr?«
In dem Punkt war Charles empfindlich. Wegen seines Akzentes hatte er schon mehrere scharfe Blicke auf sich gezogen und einmal sogar >verdammter Verräter< hinter seinem Rücken munkeln hören. Er hätte gern gehässig reagiert, erinnerte sich jedoch an Jack Duncans Warnung und sagte bloß: »Ja.«
»Nun, das ist mir wurst. Mein Cousin Fielding war auch ein Rebell. Wenn du ein ebenso guter Soldat bist wie er, dann bringst du Uncle Sam mehr Nutzen als diese ganze verdammte Bande da. Viel Glück.« Er trat einen Schritt zurück und brüllte: »Los, Leute! Hier rein, und sucht euch eine Schlafstelle. Beeilt euch! Dies ist verdammt noch mal kein Hotel.«
Charles legte einen Eid auf die Verfassung ab. Es machte ihm keine Mühe, hatte er es doch bereits in West Point einmal getan. Und als der Krieg zu Ende war, hatte er beschlossen, seinen Sohn als Amerikaner zu erziehen, nicht als Südstaatler.
Das viele Blau befremdete ihn. Die hellblauen Hosen mit den gelben Streifen und die langweiligen grauen Hemden erinnerten ihn an die Second Cavalry. Ebenso die Baracken mit ihrer schlechten Luft, den rauchigen Lampen, den schmalen Fenstern und den Ratten, die man nachts lärmen hörte. Dasselbe mit der Verpflegung: Wie gut kannte er den Armeezwieback und die zähen Fleischbrocken zum Mittagessen, die am Abend in einer dicklichen Sauce ertränkt wurden. Das Fleisch schmeckte tatsächlich besser mit der Sauce, weil sie überdeckte, daß es bereits leicht verdorben war. Jefferson Barracks erwies sich nicht so sehr als Trainingslager denn als Rekrutierungsstelle. Die Rekruten wurden ausgesandt, sobald die für ein Regiment benötigte Anzahl von Reservisten beisammen war. So konnte die Ausbildung zwei Monate oder zwei Tage dauern. Das sprach nicht gerade für die Nachkriegsarmee, dachte Charles.
Bei den meisten Ausbildern handelte es sich um ältere Unteroffiziere, die die Zeit bis zu ihrer Pensionierung totschlugen. Charles gab sich viel Mühe, vor ihren Augen einen unerfahrenen und ungeschickten Eindruck zu machen. Während einer Reitstunde auf ungesatteltem Pferd fiel er absichtlich herunter.
Er mühte sich durch den Waffenunterricht, und bei Schießübungen traf er niemals den Bullen, sondern immer nur den Rand der Karte. Er kam damit durch, bis ein Ausbilder krank wurde und ein rüpelhafter Corporal namens Hans Hazen die Gruppe übernahm. Er war ein übler Bursche; einer der Männer erzählte, er sei als Sergeant dreimal degradiert worden.
Hazen nahm Charles nach dem Säbeldrill beiseite.
»Kavallerist May, ich hab' so das komische Gefühl, du bist gar kein Militia-Mann aus Carolina. Du versuchst einen ungeschickten Eindruck zu machen, aber ich hab' ein paar deiner Bewegungen geseh'n, als du dachtest, ich schaute woanders hin.« Sein Kinn stieß vor, und er brüllte: »Wo bist du ausgebildet worden? West Point?«
Charles blickte auf ihn herab. »Wade Hampton Legion, Sir.«
Hazen wedelte mit einem Finger. »Wenn ich dich beim Lügen erwische, dann geht's dir dreckig. Ich hasse Lügner fast so wie die Snobs aus West Point - oder euch Südstaatenjungs.«
»Jawohl, Sir«, sagte Charles laut. Er starrte Hazen weiter an. Hazen wandte zuerst den Blick ab, was ihn vor Zorn und Scham rot werden ließ.
»Ich will seh'n, aus was für 'nem Holz du geschnitzt bist. Hundert Runden im Reitring, auf die Schnelle. Jetzt sofort. Marsch!«
Corporal Hazen blieb ihm auf den Fersen, brüllte ihn an, kritisierte ihn, befragte ihn täglich nach seiner Vergangenheit und zwang ihn zu immer neuen Lügen. Trotz Hazen - auf merkwürdige Weise vielleicht gerade seinetwegen, denn Hazen erkannte einen erfahrenen Soldaten - war Charles froh, wieder in der Armee zu sein. Schon immer hatte er die verläßliche Routine von Trompetensignalen und Drill gemocht. Noch immer lief ihm eine Gänsehaut über den Rücken, wenn die Trompeten Boots and Saddles bliesen.
Er hielt sich abseits und suchte auch keinen Partner. Die meisten Soldaten taten sich zusammen, um sich gegenseitig ihre Arbeitslast zu erleichtern und ihr Elend zu teilen, aber er vermied das. Auf diese Weise überlebte er drei Wochen, allerdings nicht ohne einige plötzliche Anfälle von Verzweiflung. Gedanken an die Vergangenheit überwältigten ihn, ein ausgebranntes Gefühl machte sich in ihm breit, und er schimpfte sich einen Narren, weil er das Armeeblau übergestreift hatte. In dieser Art von Stimmung verließ er an einem Samstagabend das Lager und ging über die Hauptzugangsstraße hinüber zu der namenlosen Stadt aus Zelten und Hütten.
Hier lebten viele Unteroffiziere zusammen mit ihren Frauen, die im Lager Wäsche wuschen, um den Sold aufzubessern. Hier verhökerten Zivilisten fragwürdigen Whisky in großen Zelten, fügsame Osage-Indianer verkauften Bohnen und Kohl von ihren nahegelegenen Farmen, und elegante Gentlemen veranstalteten nächtelange Poker- und Faropartien. Charles hatte sogar gesehen, wie einige dämliche Rekruten ganz ernsthaft auf Drei-Karten-Monte oder auf die unter drei Patronenhülsen versteckte Erbse gesetzt hatten.
Andere Zerstreuungen gab es in jedem Zelt, vor dem eine rote Laterne hing. Charles besuchte eines dieser Zelte und verbrachte eine halbe Stunde mit einer hausbackenen jungen Frau, die sich viel Mühe gab, ihm zu gefallen. Physisch befriedigt marschierte er hinaus, doch die Erinnerungen an Gus Barclay und das Gefühl, sie in den Schmutz gezogen zu haben, deprimierten ihn.
Zwei kleine Jungs rannten ihm nach, als er durch die Zeltstadt schlenderte. Sie verspotteten ihn mit einem kleinen Lied:
»Soldat, Soldat, willst du arbeiten?
Nein, lieber verkauf ich mein Hemd...«
Die Öffentlichkeit schätzte die Armee ganz gewiß hoch ein. Kaum war der Krieg zu Ende, da waren die Soldaten wieder zu unerwünschtem Abschaum geworden. Nichts hatte sich geändert.
Vier Wochen war er in Jefferson Barracks, als der Befehl kam: Er und sieben andere Rekruten hatten zwölf Stunden Zeit; dann mußten sie an Bord eines Dampfschiffs, das den Missouri River nach Fort Leavenworth, Kansas, hochfuhr, durch den ganzen Staat Missouri hindurch. Im Jahre 1827 von Colonel Henry Leavenworth gegründet, war das große Lager am rechten Ufer des Flusses nun der wichtigste Militärposten im Westen. Es diente als Hauptquartier für den Missouri-Bezirk und als Versorgungslager für alle Forts zwischen Kansas und der Kontinentalscheide. Man sagte ihnen, daß sie in Leavenworth eine Transportmöglichkeit finden würden, die sie zum Dienst bei der Sixth Cavalry an der texanischen Nordgrenze bringen würde. Die Aussicht freute Charles. Die natürliche Schönheit von Texas hatte ihm sehr gefallen, als er vor dem Krieg in Camp Cooper stationiert gewesen war.
Während ein Gewitter über den Baracken tobte, packte er seinen Reisesack und eine kleine, hölzerne Feldkiste, in die er seine Armeekleidung gab. Er zog seine blaue Bluse mit dem Rollkragen an und setzte sein Kepi mit den gekreuzten Kavalleristensäbeln auf. Das Unwetter verzog sich schnell, und er marschierte durch den leichten Regen zur Zeltstadt, eine fröhliche Marschversion der kleinen Melodie vor sich hin pfeifend, die ihn an zu Hause erinnerte.
Der Sturm hatte einige der kleineren Zelte umgestürzt und die Wege schlammig gemacht. Charles strebte auf das größte und hellste der Zelte zu, das Egyptian Palace, dessen Eigentümer aus Cairo, Illinois, stammte. Das Zelt war schäbig. Ein Stück Leinwand trennte eine Fläche für Offiziere ab; der Rest war für Mannschaftsdienstgrade und Zivilisten. Der Whisky war billig und kratzte, doch Charles empfand eine besondere Zufriedenheit, während er ihn trank.
Er hatte gerade seinen zweiten Drink bestellt, da kam ein Trio lärmender Unteroffiziere hereingeschwankt. Einer von ihnen war Corporal Hazen. Offensichtlich hatte er schon einige Zeit getrunken. Er entdeckte Charles am Ende der Bar und bemerkte, daß es hier stinke.
Charles starrte ihn an, bis er wegschaute und mit schriller Stimme eine Runde für seine Freunde orderte. Charles war dankbar, daß Hazen die Sache nicht auf die Spitze trieb. Er fühlte sich einfach zu gut.
Dieser Zustand dauerte genau zehn Minuten.
Ein kleiner, leichtgebauter Mann, auf dem Weg zum Offizierseingang, sah im Vorbeigehen ein bekanntes Gesicht unter den Soldaten drinnen. Er schaute weg, machte drei weitere Schritte, blieb dann mit geöffnetem Mund stehen. Er wandte sich um und spähte in das verqualmte Zelt. - Kein Irrtum möglich.
Sein Gesicht rötete sich, als er das Zelt betrat. Die Männer bemerkten seinen Gesichtsausdruck und verstummten.
In wiegendem, aggressivem Gang, der wahrscheinlich überspielen sollte, daß er nur 175 Zentimeter maß, stolzierte der Offizier auf das Ende der Bar zu. Seine Schultern waren straff zurückgezogen, wie bei jemandem, der großen Wert auf Armeeformalitäten legt. Alles an ihm strotzte nur so vor Wichtigtuerei: die gewachsten Spitzen seines Schnurrbarts, sein makellos gestutzter Kinnbart.
Der gelbe Besatz und die Hosenstreifen zeigten, daß er zur Kavallerie gehörte. Das silberverzierte Eichenblatt eines Lieutenants Colonel dekorierte seine Schulterstreifen. Er marschierte der Bar entlang; als er an einem bulligen, bärtigen Zivilisten in Wildledermantel mit einer Truthahnfeder im Haar vorbeikam, stieß er versehentlich gegen den Arm des Mannes und verschüttete dessen Whisky.
»He, du Arschloch«, sagte der Mann. Ein Hund zu seinen Füßen reagierte auf den Ton und knurrte den Offizier an, der ohne Entschuldigung weiterging, fest den Griff seines Zierdegens umklammernd.
»Cap'n Venable, Sir«, hörte Charles Hazen sagen, als der Offizier die drei Unteroffiziere erreichte. Das Silberblatt stammte also aus einer Ernennung aus Kriegszeiten.
»Hazen«, sagte der Mann und stürmte weiter. Charles beobachtete ihn, und sein Nacken begann zu jucken. Er erkannte den Offizier nicht, doch irgend etwas an dem Mann beunruhigte ihn.
Zwei Schritte vor Charles stoppte Venable. »Ich hab' Sie von der Straße aus geseh'n, Private. Wie heißen Sie?«
Charles versuchte den Akzent einzuordnen. Kein echter Südstaatenakzent, aber ähnlich. Stammte er aus einem der Grenzstaaten? Er sagte: »Charles May, Sir.«
»Das ist eine verdammte Lüge.« Der Offizier riß Charles das Whiskyglas aus der Hand und kippte ihm den Inhalt ins Gesicht.
Allgemeines Geschrei; dann genauso plötzlich allgemeines Schweigen. Whisky tropfte von Charles' Kinn auf den Tresen. Charles wollte den kleinen Gockel niederschlagen, hielt sich aber zurück, weil er nicht wußte, was hier vor sich ging. Er war überzeugt davon, daß es sich um einen Irrtum handelte.
»Captain«, begann er.
»Sie reden mich mit Colonel an. Und machen Sie sich nicht die Mühe, noch weiter zu lügen. Ihr Name ist nicht May. Sie heißen Charles Main. Sie gingen 1857 von West Point ab, zwei Jahre vor mir. Sie und dieser verfluchte Reb Fitz Lee waren so miteinander.« Der Offizier hielt zwei Finger hoch. Sofort verband sich mit dem bärtigen Gesicht eine Vergangenheit, an die sich Charles erinnerte. Er bluffte. »Sir, Sie irren sich.«
»Den Teufel tu' ich. Sie erinnern sich an mich, und ich erinnere mich an Sie. Henry Venable. Kentucky. Sie haben mich viermal wegen eines nicht aufgeräumten Zimmers zum Rapport gemeldet.«
Selbst Hazen in seinem Rausch kriegte das mit. Er wischte sich die Nase und rief seinen Freunden zu: »Hab' ich's euch nicht gesagt? Hab' ich's nicht gerochen?« Er trat einen Schritt von der Bar zurück, für den Fall, daß Charles zum Ausgang zu rennen versuchte.
Charles wußte nicht, wie er friedlich aus der Klemme herauskommen sollte. Weitere Erinnerungen kehrten zurück, einschließlich Venables Spitznamen >Handsome<, >der Gutaussehendes für gewöhnlich voller Sarkasmus ausgesprochen. Niemand mochte den kleinen Bastard. Er war zu korrekt, ein fanatischer Perfektionist.
»Sie mußten lügen, um wieder zur Kavallerie zu kommen«, sagte Venable. »West-Point-Absolventen sind von der Amnestie ausgeschlossen.«
»Colonel, ich muß von irgendwas leben. Ich kenne nur den Soldatenberuf. Ich stünde in Ihrer Schuld, wenn Sie übersehen könnten ...«
»Verrat übersehen? Ich will Ihnen mal was sagen. Es waren Männer von Ihrer Seite - John Hunt Morgans Männer -, die die Farm meiner Mutter überfielen, während ich in General Shermans Stab diente. Diese Männer trieben unser Vieh weg, brannten Haupthaus und Nebengebäude nieder, stachen meine Mutter mit Säbeln nieder und begingen«, er errötete und senkte die Stimme, »sexuelle Greueltaten an meiner zwölfjährigen Schwester. Gott weiß, wie viele Male. Dann töteten sie sie mit drei Kugeln.«
»Colonel, es tut mir leid, aber ich bin nicht für jeden konfö-derierten Partisanen verantwortlich, genausowenig wie Sie für Shermans Landstreicher verantwortlich sind. Das mit Ihrer Familie tut mir aufrichtig leid, aber .«
Venable knallte Charles die Hand auf die Schulter.
»Hören Sie auf, wie ein verdammter Papagei ständig >es tut mir leid< zu sagen. Daß es Ihnen leid tut, damit wird die Rechnung nicht beglichen.«
Charles wischte sich Whisky von der Wange. Im Zelt war es sehr still. »Stoßen Sie mich nicht noch mal.«
Venable überflog mit einem schnellen Blick die Menge, sah Hazen und dessen Freunde, die bereit waren, ihm zu helfen. Seine Finger krümmten sich, schlossen sich zu einer Faust. »Ich stoße Sie, wann immer es mir gefällt, Sie verfluchter Verräter.« Er schlug Charles in den Bauch.
Charles hatte mit dem Schlag nicht gerechnet. Er klappte nach vorn zusammen, umklammerte würgend seinen Bauch. Venable knallte ihm die Faust gegen den Kiefer, so daß er zur Seite taumelte. Hazen und die beiden anderen Unteroffiziere sprangen vor und packten den wankenden Charles.
Venable deutete auf den Zelteingang. Die Unteroffiziere zerrten Charles quer durch die Bar und warfen ihn nach draußen, wo er im Schlamm landete.
Mittlerweile hatte Venable seinen Zierdegen abgelegt. Er öffnete die polierten Knöpfe und zog seinen Mantel aus. Zu der Menge um ihn herum sagte er: »Bevor dieser verlogene Reb wegen schlechter Führung rausgeschmissen wird, kriegt er noch was von mir auf den Weg mit. Wer dabei helfen will, kann mitkommen.«
Die meisten Soldaten und Zivilisten grinsten und klatschten, nur der bullige Mann in dem Wildledermantel sagte: »Schaut mir ein bißchen unfair aus, Colonel.«
Venable drehte sich zu ihm. »Wenn Sie nicht mitmachen wollen, dann verhalten Sie sich ruhig. Sonst kriegen Sie noch dasselbe wie er.«
Der bullige Mann starrte ihn an und hielt seinen knurrenden Hund zurück, als Venable hinausmarschierte.
In dem leichten Regen mühte sich Charles, aus dem Schlamm hochzukommen. Hazen flitzte an Venable vorbei, riß Charles' Kopf an den Haaren hoch und schlug ihm mit der anderen Hand auf die Nase. Blut spritzte. Charles fiel auf den Rücken. Hazen trat ihn in den Bauch.
»Ich will ihn haben«, sagte Venable und stieß den Corporal beiseite. Er starrte auf Charles hinunter, der die Hände gegen die Magengegend preßte und sich hinzusetzen versuchte. Vena-bles Mund verzog sich bösartig, als er mit dem rechten Stiefel ausholte. Er trat Charles in die Rippen.
Charles schrie auf und fiel zur Seite. Venable trat ihn ins Kreuz. Erregt sagte er: »Ein paar von euch richten ihn auf.«
Hazen und einer seiner Kumpel packten Charles unter den Armen und zerrten. Charles' Kopf summte. Seine Rippen schmerzten. Für gewöhnlich konnte er recht gut auf sich aufpassen, aber der plötzliche Angriff hatte ihn überrascht.
Als er wieder auf den Füßen stand, riß er sich von den an ihm hängenden Unteroffizieren los. Er war ganz schmierig vom Schlamm, der sich mit dem aus seiner Nase rinnenden Blut vermischte. Er schwankte in den Kreis der regennassen, meist lachenden Gesichter; kaum jemand zeigte die gnadenlose Wildheit, die Venable zur Schau trug. Charles wußte, daß es mit seiner zweiten Chance in der Armee vorbei war. Er konnte jetzt nichts weiter tun, als noch ein bißchen auszuteilen. Wie ein Bulle senkte er den Kopf.
Er griff Venable an, der zurücksprang. Charles wirbelte herum und erwischte wie geplant den verblüfften Hazen. Mit zusammengebissenen Zähnen riß er Hazens Kopf mit beiden Händen nach unten, während er das Knie hochbrachte. Hazens Kiefer krachte wie ein explodierender Knallfrosch.
Kreischend taumelte der Corporal zur Seite. Einer der anderen Unteroffiziere warf sich von hinten auf ihn, knallte Charles die Handkante ins Genick. Charles schwankte. Venable schlug ihm zweimal gegen den Kopf und trat ihn zwischen die Beine. Charles flog in die Menge. Sie stießen ihn wieder lachend und grölend nach vorn.
»Wo bleibt der alte Kampfgeist, Reb?«
»Kein Rebellenschrei mehr übrig, Reb?«
»Reicht ihn im Kreis rum, Jungs. Wir holen schon noch einen Schrei aus ihm raus.«
Und so fingen sie an; einer hielt ihn, während der Mann rechts davon zuschlug. Dann wurde er an den nächsten Mann weitergereicht, und der Mann, der ihn festgehalten hatte, schlug jetzt zu. Als Charles zusammensackte, zerrten sie ihn wieder hoch. Sie wollten ihn gerade an den vierten Mann weitergeben, als jemand sagte: »Laßt ihn in Ruhe.«
Venable fing an zu fluchen. Etwas Hartes und Kaltes glitt über seine Kehle, und aus dem Nichts schoß eine Hand unter seinem linken Arm durch hoch zu seinem Genick. Er war gefangen zwischen einer schwieligen Hand, die sich gegen sein Genick preßte, und einer Hand, die ein gewaltiges Bowiemesser an seine Kehle hielt.
Es war der Mann in dem Wildledermantel. Er roch nach feuchtem Wildleder und Pferden. Ein Zivilist schnarrte: »Noch so ein verfluchter Südstaatler.«
»Nein. Ich kenne diesen Burschen nicht. Aber nicht mal einen vierbeinigen Köter würde man so behandeln. Laßt ihn fallen.«
Die Männer, die Charles festhielten, sahen Venable an. Mit dem Messer an seiner Kehle zwinkerte er ein paarmal rasch und flüsterte: »Macht, was er sagt.« Die Männer ließen Charles los. Mit dem Gesicht nach unten schlug er zu Boden; Schlamm spritzte auf. Der bärtige Mann ließ Venable mit einem verächtlichen Schubs los, der sofort wieder zu fluchen begann. Der Bärtige stoppte ihn, indem er die Spitze seines Bowie gegen Ve-nables Nasenspitze drückte.
»Jederzeit, kleiner Mann. Wann immer du willst, Mann gegen Mann, ohne eine Kompanie, die dir hilft.«
Venable drohte dem im Schlamm liegenden Charles mit dem Finger. »Dieser Hundesohn ist fertig in der U.S. Army. Erledigt!«
Der bärtige Mann drehte das Messer. Ein kleiner Tropfen Blut tauchte auf Venables Nase auf. »Verschwind, du Schleimer. Und zwar auf der Stelle.«
Venable zwinkerte und zwinkerte und brachte irgendwie ein hämisches Lächeln zustande. Er drehte sich um und hinkte zum Egyptian Palace zurück. »Folgt mir, Jungs. Die Runde geht auf mich.«
Sie ließen ihn hochleben und schleppten Hazen nach drinnen, ohne sich umzublicken.
Es regnete nun stärker. Der Mann im Wildledermantel schob sein Messer in die Scheide und sah zu, wie Charles sich hochkämpfte, es nicht schaffte und wieder mit dem Gesicht in den Schlamm fiel.
Der Mann, der so um die Fünfzig sein mochte, ging auf die dem Wind abgewandte Seite des Zeltes. Der Hund, der hinter ihm trottete, war ziemlich groß; sein Fell war grau und weiß mit schwarzen Markierungen. Sein linkes Auge war von einem schwarzen Kreis umgeben, wie die Augenklappe eines Piraten. Er schüttelte sich zweimal, versprühte Wasser. Dann jaulte er. Sein Herr sagte lediglich: »Halt die Klappe, Fen!«
Im Schatten des Zeltes stand ein großer, fetter fünfzehnjähriger Junge, blaß und bartlos. Er trug einen alten Wollmantel und kräftig geflickte Jeans. Seine klaren, dunklen Augen standen leicht schräg, über seinen Augenbrauen und Ohren wölbte sich sein Kopf viel größer hervor, rund und ganz oben fast flach.
Der Junge sah verängstigt aus. Der Mann legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Alles in Ordnung, Boy. Der Kampf ist vorbei. Du brauchst keine Angst zu haben.«
Der Junge umklammerte mit beiden Händen die rechte Hand des älteren Mannes, auf seinem Gesicht ein pathetischer Ausdruck von Dankbarkeit. Der Mann streckte die linke Hand aus und tätschelte den Jungen beruhigend. »Tut mir leid, daß ich meinem Durst nachgegeben und dich hier draußen habe warten lassen. Aber jetzt brauchst du keine Angst mehr zu haben.«
Der Junge beobachtete ihn, bemühte sich zu verstehen. Auf dem Weg stöhnte Charles auf und rammte seine Fäuste in den Schlamm. Er hob Kopf und Brust zwei Fuß vom Boden hoch und schaute trübe auf den Sprecher. Der Mann im Wildledermantel wußte, daß der Soldat ihn nicht sah.
»Hartnäckiger Bursche«, sagte er. »Ne Menge Mumm. Und in die Armee kann er jetzt auf keinen Fall mehr. Vielleicht haben wir unseren Mann gefunden. Wenn nicht, dann können wir uns wenigstens wie gute Christenmenschen benehmen und ihm in unserem Tipi Unterkunft geben.«
Er drückte die Hände des Jungen nach unten und griff sanft nach einer Hand. »Komm, Boy. Hilf mir, ihn aufzusammeln.« Hand in Hand gingen sie los.
MADELINES JOURNAL
Juli 1865. Drei weitere Neger eingestellt, macht insgesamt sechs. Die Palmetto Bank hat 900 Dollar für Holzoperationen genehmigt. Gestern haben wir begonnen, die erste Sägegrube auszuheben. Andy S. leitet die Arbeit bis Mittag, fällt mit zwei anderen Männern Bäume in dem großen Zypressenhain bis vier und bestellt dann sein eigenes Grundstück bis zum Einbruch der Dunkelheit. Jeder neue Arbeiter erhält fünf Acres, seinen Lohn und einen Anteil von dem, was wir an Ernte oder Holz verkaufen.
Cassandra, Nemos Frau, erwartete mehr als fünf Acres. Weinend zeigte sie mir ein Bündel Grenzpfähle, rot, weiß und blau bemalt. Die arme, arglose Frau hat ihren letzten Dollar dafür gegeben. Der weiße Händler, der ihr diesen bösen Streich gespielt hat, ist längst über alle Berge. Traurig und erstaunlich, wie die Not bei einigen das Beste zum Vorschein bringt, bei anderen das Schlimmste ...
»Bemalte Grenzpfähle?« Johnson tobte.
»Jawohl, Mr. President. Für zwei Dollar an Farbige in South Carolina verkauft.«
Andrew Johnson knallte den von einem Band zusammengehaltenen Bericht auf seinen Schreibtisch. »Mr. Hazard, das ist schändlich.«
Der siebzehnte Präsident der Vereinigten Staaten war ein dunkelhäutiger Mann von achtundvierzig. Er befand sich in cholerischer Stimmung. Sein Besucher, Stanley Hazard, hielt ihn für pöbelhaft. Was sonst konnte man von einem Hinterwäldlerschneider erwarten, der kaum hatte lesen oder schreiben können, bevor es ihm seine Frau beigebracht hatte? Johnson war nicht einmal Republikaner. 1864 hatte er sich als Kandidat der National Union Party auf Lincolns Seite geschlagen.
Er mochte ein pöbelhafter Demokrat sein, aber nichtsdestoweniger verlangte Andrew Johnson immer noch eine Erklärung. Seine schwarzen Augen glühten, als Stanley mit leicht zitternden Händen nach dem Bericht griff. Stanley war einer von Edwin Stantons Abteilungsleitern im Kriegsministerium. Unter anderem war er für das Büro für befreite Negersklaven zuständig, einen administrativen Zweig des Ministeriums.
»Jawohl, Sir, es ist schändlich«, sagte er. »Ich kann Ihnen versichern, daß das Büro damit nichts zu tun hatte. Weder Minister Stanton noch General Howard würden einen derart grausamen Scherz tolerieren.«
»Und was ist mit dem Gerücht, durch das der Schwindel ausgelöst wurde? Jeder freie Neger da unten kriegt zu Weihnachten ein Maultier und vierzig Acres? Vierzig Acres - abzustecken in patriotischen Farben. Wer hat diese Geschichte verbreitet?«
Schweiß zeigte sich auf Stanleys bleichem, dicklichem Gesicht. Warum war Howard, Chef des Büros, ausgerechnet jetzt fort, da er sich ins Präsidentenbüro zitieren lassen mußte? Warum konnte er nicht mit Nachdruck antworten oder sich wenigstens an einige von Howards religiösen Platitüden erinnern? Er sehnte sich nach einem Drink.
»Nun, Herr Abteilungsleiter?«
»Sir«, Stanleys Stimme zitterte, »General Saxon versicherte mir, daß Agenten des Büros in South Carolina nichts getan hätten, was diesem Gerücht eine Grundlage gegeben oder bei den Negern falsche Hoffnungen hätte erwecken können.«
»Woher stammt es dann?«
»Soweit wir wissen, Sir, von einer beiläufigen Bemerkung von ...« Er räusperte sich. Er haßte es, ein wichtiges Mitglied seiner eigenen Partei zu kritisieren, aber er mußte an seinen Job denken, sosehr er ihn auch verabscheute. »Eine Bemerkung des Kongreßabgeordneten Stevens.«
Damit hatte er einen Pluspunkt errungen. Johnson schnüffelte, als würde er verdorbenes Fleisch riechen. Stanley fuhr fort. »Er sagte etwas über Beschlagnahmung und Umverteilung von dreihundert Millionen Acres Rebellenland. Vielleicht ist dies Mr. Stevens' Wunsch, doch im Büro existieren weder so ein Programm noch Pläne dafür.«
»Und trotzdem breitete sich die Geschichte bis South Carolina aus, nicht wahr? Und ermöglichte es skrupellosen Gaunern, diese bemalten Grenzpfähle im großen Stil zu verkaufen, nicht wahr? Ich glaube nicht, daß Sie das ganze Ausmaß des Schadens erfassen, Hazard. Das Gerücht mit den vierzig Acres und dem Maultier ist nicht nur eine grausame Täuschung der Neger, sondern es bringt auch genau die Weißen gegen uns auf, die wir als Arbeitspartner zurückgewinnen wollen. Ich verabscheue die Klasse der Plantagenbesitzer genauso wie Sie ...« Mehr, dachte Stanley. Johnsons Haß auf Aristokraten war Legende. »Aber die Verfassung sagt mir, daß sie niemals die Union verlassen haben, weil die Verfassung allein den reinen Akt der Sezession unmöglich macht.«
Er lehnte sich vor, wie ein fanatischer Schullehrer. »Deshalb besteht mein Programm für den Süden lediglich aus drei simplen Punkten. Die geschlagenen Staaten müssen die Kriegsschuld der Konföderierten anerkennen. Sie müssen ihre Sezessionsabsichten verwerfen. Und sie müssen die Sklaverei ächten, indem sie den dreizehnten Zusatzartikel zur Verfassung ratifizieren. Mehr wird von ihnen nicht verlangt, weil die Bundesregierung, rein verfassungsmäßig, nicht mehr fordern kann. General Sherman hatte dies leider nicht begriffen, als er mit seinem Felderlaß Nr. 15, der jetzt wieder - Gott dem Allmächtigen sei Dank - aufgehoben ist, Küsten- und Flußgebiete illegal konfiszierte. Ihr Büro versteht das nicht. Ihr redet munter und fröhlich vom Wahlrecht, wo es doch Sache des individuellen Staates ist, zu bestimmen, wer sich als Wähler qualifiziert. Und niemand scheint zu begreifen, daß wir mit der Drohung, ihr Land wegzugeben, die Herzen genau jener Südstaatler noch weiter verhärten, die wir wieder in unserem Stall haben wollen. Wollen Sie mir die Schuld daran geben, daß ich beunruhigt bin? Ich unterschreibe täglich Hunderte von Begnadigungen, und dann erhalte ich diesen Report.«
»Mr. President, ich muß bei allem Respekt wiederholen, daß das Büro in keiner Weise verantwortlich ist für ...«
»Wer sonst hat das Versprechen mit diesen vierzig Acres in die Welt gesetzt? Da es keinen offensichtlichen Schuldigen gibt, mache ich das Büro verantwortlich. Teilen Sie das freundlicherweise Mr. Stanton und General Howard mit. Und jetzt werden Sie mich entschuldigen.«
Momentan war Stanley Hazards Leben das pure Elend. Um es erträglich zu machen, genehmigte er sich regelmäßig schon vor acht Uhr morgens den ersten Drink. In seinem Schreibtisch in dem alten Gebäude, in dem vorübergehend das Büro für befreite Negersklaven untergebracht war, hielt er zahlreiche Weine und Brandys unter Verschluß. Trank er während des Tages zuviel und verstand deshalb eine Frage nicht oder stolperte oder ließ etwas fallen, so murmelte er stets die gleiche Entschuldigung: Er fühlte sich schwach. Aber damit täuschte er nur wenige.
Stanley hatte genügend Gründe, sich elend zu fühlen. Vor Jahren hatte ihm sein jüngerer Bruder George jegliche Kontrolle über die Eisenwerke der Familie entzogen. In seinem tiefsten Inneren wußte Stanley, warum. Er war inkompetent.
Seine um zwei Jahre ältere Frau war eine ehrgeizige Harpyie. Sie hatte ihm Zwillingssöhne geboren, Laban und Levi, die so oft in der Klemme steckten, daß Stanley ein Sonderkonto eingerichtet hatte, um Richter und Gefängnisbeamte zu bestechen und schwangere Mädchen zu bezahlen. Die Zwillinge waren achtzehn, und Stanley schaufelte verzweifelt Bestechungsgeld -Isabel bezeichnete es als >philantropische Spenden< - nach Yale und nach Dartmouth, um die Zulassung der Jungs zu erreichen und sie so aus dem Haus zu kriegen. Er konnte sie nicht ertragen.
Paradoxerweise konnte er auch den gewaltigen Reichtum weder ertragen noch mit ihm umgehen, den er während des Krieges mit dem Schuhgeschäft angehäuft hatte. Die Fabrik oben in Lynn stand nun zum Verkauf. Isabel beharrte darauf, daß sie aus dem Geschäft ausstiegen, weil jetzt bald wieder der alte Konkurrenzkampf herrschte. Stanley wußte, daß er seinen Erfolg nicht verdient hatte.
Außerdem hatte ihn seine ehemalige Geliebte, eine Music-Hall-Künstlerin namens Jeannie Canary, verlassen, nachdem Isabel hinter die Beziehung gekommen war. Stanley war der Meinung, daß Jeannie ihn ohnehin verlassen hätte. Viele andere Verehrer hatten ebensoviel Geld wie er, und er war kein guter Liebhaber; Streß und Whisky machten es ihm unmöglich, oft genug einen hochzukriegen, um sie zu befriedigen. Das Gerücht ging um, Miss Canary sei die Geliebte eines republikanischen Politikers, dessen Name allerdings nicht erwähnt wurde.
Ein Leben voller Kampf und Leiden hatte Stanley nicht mehr eingebracht als eine Menge Geld und eine prätentiöse, in Pferde vernarrte Frau, der er jeden Abend in dem riesigen, wunderschönen, verlorenen Speisezimmer in ihrem Herrenhaus in der I Street gegenübersaß. Also trank er. Das ließ ihn über die Runden kommen, wenn er wach war. Und gnädigerweise schenkte es ihm auch den Schlaf.
»Johnson ist hinter dem Büro her, nicht wahr, Stanley?«
»Ja. Er würde es gern abwracken. Er glaubt, wir mischen uns in Staatsrechte ein, wenn wir radikale Zielvorstellungen vertreten.«
»Ich denke, das kommt nicht überraschend«, sinnierte Isabel. »Er ist Demokrat und trotz allem schließlich Südstaatler. Ich wundere mich über das Land im Süden. Weshalb sollte man darum kämpfen? Ist es so wertvoll?«
Stanley trank sein drittes Glas Champagner aus. »Im Augenblick nicht. Einige vom Schatzamt konfiszierte Ländereien können praktisch für nichts gekauft werden. Auf lange Sicht sind sie natürlich sehr wertvoll. Landbesitz ist immer wertvoll. Und die gesamte Südstaatenökonomie basiert auf dem Verkauf von Ernten. Sie besitzen keine Industrie, haben auch noch nie eine gehabt.«
Isabels Augen glänzten über den Kerzen. »Dann sollten wir uns vielleicht um Investitionen im Süden kümmern, als Ersatz für die Fabrik.«
Er lehnte sich zurück, wie immer von ihrer Verwegenheit verblüfft und der Art und Weise, wie ihr Geist seine Fänge in ein Opfer schlug, das er noch nicht einmal entdeckt hatte. »Willst du damit sagen, ich solle mich im Finanzministerium erkundigen?«
»Nein, Lieber. Das werde ich tun. Persönlich. Ich werde dich für eine Woche oder so verlassen - ich bin sicher, das stimmt dich ungemein traurig«, fügte sie boshaft hinzu. Bei sich nannte er sie eine Hexe, lächelte ein kränkliches Lächeln und schenkte sich ein weiteres Glas Champagner ein.
Der alte Mr. Marvin, unser langjähriger Freund in Green Pond, schaute vorbei, um sich zu verabschieden. Er ist verbittert, wütend -bankrott. Männer vom Schatzamt beschlagnahmten Sea-Island-Baumwolle im Wert von 15.000 Dollar, stempelten sie direkt vor seinen Entkörnungsmaschinen als >konföderierte< Ware und transportierten sie vor seinen Augen ab. Das passierte, weil er sich weigerte, das von dem Mann vom Schatzamt geforderte Bestechungsgeld zu zahlen. Der Yankee hätte M. die Baumwolle verkaufen lassen, aber er hätte die Hälfte des Profits an den Agenten abführen müssen.
Überall werden Land und Ernten von diesen zweibeinigen Geiern gestohlen. Marvins Nachbar verlor eine wunderbare Farm, Pride's Haven, als er 150 Dollar an ausstehenden Steuern nicht bezahlen konnte. Wir haben unseren Anteil an Sündern hier unten, aber im Norden residieren auch nicht nur Heilige und Engel...
Philo Trout, ein fröhlicher, muskulöser junger Mann, wartete in Charleston auf Isabels Dampfer. Aufgrund eines tropischen Sturms, der die Stadt mit sintflutartigem Regen überschüttete, mußten sie ihre Reise ins Landesinnere um vierundzwanzig Stunden verschieben.
Nachdem sie losgefahren waren, mühte sich Trouts Einspänner über die schlammigen Straßen, und Isabel betrachtete die überfluteten Felder zu beiden Seiten. Sie erkundigte sich nach dem stehenden Wasser. Trout sagte: »Sturmflut von den Flüssen, die den Gezeiten unterworfen sind. Das Salz wird diese Felder für einige Jahre vergiften.«
Damit war die Idee erledigt, deretwegen Isabel in den Süden gefahren war: Farmland in Carolina zu erwerben. Die regelmäßig wiederkehrenden Stürme bildeten für ihren Geschmack und für ihr Geld ein zu großes Risiko; allerdings erwähnte sie das Trout gegenüber nicht.
Auf der Uferstraße am Ashley entlang wies er auf verschiedene Plantagen hin, Mont Royal eingeschlossen. Isabel reagierte mit lautlosem Abscheu, gab aber mit keinem Hinweis zu erkennen, daß sie die Eigentümer kannte.
Einige Meilen weiter stoppte Trout den Einspänner an einer Kreuzung vor einem Laden. Auf einem schief hängenden Schild stand gettys bros. Über die Eingangstür hatte man ein Brett genagelt, auf das nur ein einziges Wort gemalt war:
GESCHLOSSEN.
Trout schob seinen Pflanzerstrohhut zurück und stemmte seinen Fuß gegen die Stützleiste. »Das hier wäre eine interessante Sache, obwohl es nicht das ist, was Sie wollten. Doch aus dem kleinen Laden hier könnte man eine Menge Geld holen, ohne daß man sich je über das Salz in den Flüssen Sorgen machen müßte.«
Isabel rümpfte die Nase. »Wie könnte ein solch armseliges Plätzchen profitabel sein?«
»Drei Möglichkeiten, Ma'am, immer vorausgesetzt, Sie haben das Kapital, um den Laden mit den nötigen Waren zu versehen. Ich meine, richtiges Geld, nicht konföderiertes Papier. Die örtlichen Pflanzer brauchen Güter, Werkzeuge, Rohstoffe, Saatgut. Zuerst einmal könnte der Laden zum Zeitpunkt des Verkaufs stark überhöhte Preise nehmen. Aber die Pflanzer und befreiten Neger haben kein echtes Geld. Also könnte der Laden jeden Verkauf als Darlehen betrachten - einen von Ihnen festgesetzten Preis plus Zinsen, deren Höhe Sie ebenfalls bestimmen. Fünfzig Prozent? Neunzig? Sie müssen darauf eingehen oder verhungern.«
Trotz der klebrigen Hitze in dem sumpfigen Land und den Insekten und dem Verwesungsgeruch entschied Isabel, daß sich die Reise gelohnt hatte.
»Sie erwähnten eine dritte Möglichkeit, Mr. Trout?«
»Das stimmt. Um die Darlehen durch Ware abzusichern, verlangen Sie einen festgesetzten Prozentsatz der nächsten Reisoder Baumwollernte.« Er grinste. »Ist das einfallsreich?«
»Mir wäre selbst nichts Besseres eingefallen.« Sie betupfte ihre feuchten Lippen. »Wer könnte einen solchen Laden führen?«
»Nun, Ma'am, wenn Sie den Laden kaufen, dann brauchen Sie zweifellos einen neuen Manager, da Ihr Mann mit dem Büro und all dem zu tun hat. Randall Gettys, der Kerl, der den Laden vor der Schließung leitete, ist ein ziemlicher Anhänger der Sezession. Ich kenne ihn. Bliebe er, dann würde er - nur mal angenommen, er zöge es auch nur in Erwägung, an Nig..., äh, an Farbige was zu verkaufen - ihnen aus purem Trotz das Achtoder Zehnfache von dem berechnen, was er Weißen berechnet.«
Isabel strahlte. »Na und, mein lieber Mr. Trout? Mein Mann und ich sind zwar Republikaner, aber die Vorurteile oder die Geschäftspolitik eines Ladenmanagers ist mir wirklich egal, wenn er damit Geld macht.«
»Oh, das könnte Randall Gettys, gar keine Frage. Er kennt jedermann hier in der Gegend. Hat mal früher eine kleine Zeitung für den Bezirk gedruckt. Möchte wieder damit anfangen.«
»Er mag den Negern das Zehnfache berechnen, solange es nur niemand in Washington mitbekommt und mein Mann und ich mit diesem Geschäft nicht in Verbindung gebracht werden. Das müßte man ihm natürlich nachdrücklich klarmachen.«
»Randall und seine Sippe sind so verzweifelt, die würden auch einen Vertrag unterschreiben, Eis in der Hölle zu verkaufen.«
Isabel konnte ihre Erregung kaum verbergen. Wie üblich suchte und fand sie die Goldader, während Stanley zurücklehnte.
»Das könnte alles arrangiert werden«, versicherte Trout. Er griff nach den Zügeln und wendete den Einspänner. »Bei der Notversteigerung nächsten Monat kann ich den Besitz für Sie erwerben.«
Das Pferd trabte zurück, auf Mont Royal zu. Isabel wischte sich über das schwitzende Gesicht.
»Über einen Punkt müssen wir noch sprechen, Ma'am.«
»Ihren Lohn für Ihre Dienste - und Ihr Schweigen?«
»Ja, Ma'am.« Trouts sonniges Gesicht strahlte. »Wissen Sie, ich habe im Telegraphenamt in Dayton, Ohio, gearbeitet, bevor mein Onkel mir diesen Job verschaffte. In sechs Monaten habe ich mehr verdient, als ich mein ganzes Leben lang im Norden oben hätte verdienen können.«
»Der Süden bietet allen große Möglichkeiten, nicht wahr?« sagte Isabel, charmant und selbstzufrieden lächelnd.
Gettys Bros. hat wieder eröffnet. Innen und außen ein neuer weißer Anstrich, frische Waren stapeln sich in Regalen und auf dem Fußboden. Der junge Randall G. thront als Manager inmitten dieses neuen Überflusses. Aufs Dach hat er ein farbenprächtiges Schild gesetzt. Es zeigt eine bunte Flagge - die Schlachtfahne der Konföderier-ten - und einen neuen Namen, the dixie store.
Er weigert sich, über den plötzlichen Wandel seines Schicksals zu sprechen, also haben wir jetzt ein Geheimnis hier. Ich kann es nicht lösen, will aber auch nicht viel Zeit darauf verschwenden. Du kennst meine Ansichten, was den fanatischen Mr. Gettys anbelangt.
Ein viel zu kurzer Besuch«, sagte George, seine Stimme über den allgemeinen Lärm erhebend, der durch die Gepäckverladung zwei Waggons entfernt verursacht wurde. Er umarmte Brett. Trotz ihres weitgebauschten Rocks war er sich ihres Bauches bewußt. »Paß auf den Kleinen auf - und schaut zu, daß ihr rechtzeitig in San Francisco ankommt.«
Dampf fauchte um sie herum. Bretts nach Lavendel duftende Wange fühlte sich feucht an, als sie sich gegen die seine preßte. »Keine Sorge. Er wird als Kalifornier geboren werden.«
»Bist du dir sicher, daß es ein Er wird?« fragte Constance.
»Absolut sicher«, erwiderte Billy. Er sah sehr adrett aus in dem neuen dunkelgrauen Mantel, während Hosen und Krawatte von hellerem Grau waren. Er und Constance umarmten sich, dann waren die Damen an der Reihe. George schüttelte seinem Bruder die Hand.
»Ich kann es nicht verbergen, Billy. Mir wäre wohler, du würdest in Pennsylvania bleiben.«
»Zu viele Erinnerungen auf dieser Seite des Mississippi. Ich habe West Point immer geliebt, aber genau wie du habe ich das Armeeleben satt.« George hörte die unausgesprochene Ergänzung: und, was für Armeen jetzt hinausgeschickt werden.
»Gott schütze dich und alle anderen, George«, sagte Billy.
»Und dich und Brett und euern zu erwartenden Sohn. Da Constance das religiöseste Familienmitglied ist, werde ich sie bitten, um ruhige See zu beten, während ihr Südamerika und das Kap umsegelt.«
»Dort unten ist es Winter, aber wir werden's schon schaffen.«
Besser als ich es schaffe, dachte George mit tiefer Melancholie. Sie hielt ihn gepackt seit seiner Konfrontation mit Stevens in Washington und machte ihn in geradezu unvernünftigem Ausmaß nachdenklich und lethargisch.
Constance sagte: »Wenn euer Schiff länger als für ein paar Stunden im Hafen von Los Angeles festmacht, dann besucht bitte die Anwaltskanzlei meines Vaters und richtet ihm ganz liebe Grüße von mir aus.«
»Machen wir auf jeden Fall«, nickte Billy.
Der Schaffner rief: »Alles einsteigen.« Aus einigen Schritten Entfernung winkte Patricia den Abreisenden zu. Williams Blick war auf ein attraktives Mädchen gerichtet, das auf den letzten Wagen zueilte. Durch ihr Lächeln hindurch zischte Patricia: »Wink, du unhöfliches Biest!« William streckte ihr die Zunge heraus und winkte.
Der Lehigh-Valley-Lokalzug setzte sich in Bewegung. George rannte neben Billy und Bretts Waggon den Bahnsteig entlang und rief: »Drängt Madeline, ein weiteres Darlehen anzunehmen, falls sie es nötig hat.«
»Werden wir«, rief Brett zurück.
»Billy, schick eine Nachricht, wenn ihr euch niedergelassen habt.«
»Versprochen«, schrie sein Bruder. Die Dampfpfeife schrillte. »Du gibst mir Bescheid, falls das Kriegsministerium Charles aufspürt.«
Georges Antwort war ein nachdrückliches Nicken. Der Zug rollte davon. Bis jetzt hatte das Ministerium zwei Briefe von Billy unbeantwortet gelassen, in denen er sich nach dem Aufenthaltsort seines besten Freundes erkundigte, der angeblich in der Kavallerie irgendwo im Westen diente.
George rannte schneller, wedelte mit seinem glänzenden Hut und brüllte andere Sachen, die niemand verstand. Constance rief ihn zurück. Der Zug verließ den Bahnsteig und wurde schneller, folgte dem Fluß und dem alten Kanalbett. Billy und Brett verschwanden.
Wie George sie um ihre Jugend, ihre Unabhängigkeit beneidete. Doch er bewunderte auch ihren Mut, in einen Staat aufzubrechen, von dem sie lediglich in einem unzuverlässigen Führer gelesen hatten. Amerikanern ging es allerdings prächtig in Kalifornien. Vier Geschäftsleute sprengten und gruben sich durch die Sierras, um das Teilstück einer transkontinentalen Eisenbahnlinie zu bauen; in wenigen Jahren würde die Pazifikküste mit dem Rest des Landes verbunden sein. Billy war entschlossen, eine Baufirma zu gründen, und selbst Georges Versprechen einer sicheren und lukrativen Zukunft bei Hazards konnte ihn nicht davon abbringen.
»Verdammt«, sagte George und blieb am Ende des Bahnsteigs stehen. Er wischte sich die Augen, bevor er zu seiner Familie zurückkehrte. Er wußte, was sein Bruder mit den Erinnerungen auf der Ostseite des Mississippi meinte. In einer Nacht, als alle schon zu Bett gegangen waren, hatten sie stundenlang darüber gesprochen. Der Krieg hatte sie beide berührt - hatte sie verändert, vielleicht sogar beschädigt, auf eine Art und Weise, die fundamental und in einigen Fällen jenseits jeglichen Verstehens war.
In tiefes Nachdenken versunken, ging George zu seiner Familie zurück. Constance sah, in welcher Verfassung er sich befand. Sie nahm seinen Arm, als sie zu dem lackierten Zweispänner zurückgingen, dessen Dach gegen die Augusthitze aufgeklappt war. Der Kutscher hielt den Hazards die Tür auf, nahm dann seinen Sitz ein und ließ die Peitsche über den Köpfen der beiden stattlichen Braunen knallen.
Meine Stadt, dachte George, als der Zweispänner auf die Hügelstraße zurollte. Er besaß einen Hauptanteil an der Bank von Lehigh Station, das Station-House-Hotel zu seiner Linken und ungefähr ein Drittel des Grundbesitzes innerhalb der Stadtgrenzen. Das meiste lag im Handelsbezirk entlang des Flusses, doch gehörten ihm auch vierzehn große Ziegelhäuser an den höhergelegenen Terrassenstraßen. Vorarbeiter von Hazards und einige reichere Kaufleute hatten sie gemietet.
Als die Kutsche weiterrollte, suchte George die Straßen nach den drei Kriegsopfern der Stadt ab. Er entdeckte den blinden Jungen, der auf dem überfüllten Gehsteig in der Nähe von Pinckney Herberts Laden bettelte. Den Jungen mit dem Holzbein sah er nicht, doch einen Block weiter erspähte er Tom Hassler.
»Stopp, Jerome. Nur für einen Moment.«
Er sprang von der Kutsche. Patricia und William seufzten vor Ungeduld. Georges kurze Beine trugen ihn zu dem Jungen, dem er einen Job bei Hazards gegeben hatte, doch Tom war nicht in der Lage, die einfachsten Aufgaben auszuführen, und so schlurfte er jeden Tag durch Lehigh Station und klapperte mit einer Blechbüchse, in die seine Mutter Steinchen gegeben hatte, damit es sich so anhörte, als hätten andere bereits gespendet. George stopfte einen Zehn-Dollar-Schein in die Büchse. Der Anblick von Toms schlaffem Mund und den toten braunen Augen deprimierte ihn stets. Ebenso wie die beiden anderen verstümmelten Veteranen der Stadt war Tom Hassler noch keine zwanzig.
»Wie geht's dir heute, Tom?«
Der leere Blick des Jungen wanderte von dem dunstigen Fluß zu den lorbeerbedeckten Hängen auf der anderen Seite. »Fein, Sir. Warte auf Befehle von General Meade. Noch vor Anbruch der Dunkelheit werden die Rebs da drüben auf Seminary Ridge angreifen.«
»Das ist richtig, Tom. Du wirst's schon schaffen.«
Er wandte sich ab. Wie beschämend, dieser Drang zu weinen, der ihn in letzter Zeit so oft überfiel. Er kletterte in den Zweispänner und knallte die Tür zu; dem Blick seiner Frau wich er aus. Wie beschämend! Was geht mit mir vor?
Was mit ihm geschah, das begriff er manchmal, war genau das, was mit seinem Bruder und Tausenden von anderen Männern geschehen war; mächtige, unvertraute Emotionen im Kielwasser der Kapitulation. Alpträume. Gedanken an Freundschaften, geformt in der seltsam schwindelerregenden Atmosphäre des allgegenwärtigen Todes. Erinnerungen an gute Männer, dahingemetzelt in sinnlosen Scharmützeln, und an Narren und bleiche, zitternde Feiglinge, die durch Zufall oder durch vorgetäuschte Krankheit am Abend vor der Schlacht überlebten .
Was George und was Amerika zugestoßen war, das war ein vierjähriger Kampf, wie ihn die Welt nie zuvor erlebt hatte. Nicht nur hatte Cousin den Cousin, Bruder den Bruder getötet - das war nicht neu -, sondern die mechanisierten Waffen, die Eisenbahn, der Telegraph hatten der Kunst des Dahinschlach-tens eine neue Effektivität verliehen. Auf Wiesen und Auen und in malerischen Schluchten hatten Unschuldige den ersten modernen Krieg ausgefochten.
Es war ein Krieg, der sich nun hartnäckig weigerte, George aus seinen Fängen zu entlassen. Constance sah das in den schmerzerfüllten, verlorenen Augen ihres Mannes, als der Zweispänner die Serpentinenstraße hoch auf Belvedere zufuhr, ihr Herrenhaus oben auf dem Hügel. Sie wollte ihn berühren, aber sie spürte, daß sein Schmerz jenseits ihrer Reichweite lag - vielleicht jenseits jeglicher Berührung.
George verbrachte den Nachmittag in den Hazard-Werken. Die Firma hatte sich von der Kriegsproduktion fast vollkommen umgestellt auf die Fabrikation von Schmiedeeisen für architektonische Verzierungen, Gußeisenteile für andere Produkte und -vielleicht das wichtigste von allem - Eisenbahnschienen. Fast alle Eisenbahnlinien des Südens waren zerstört. Und im Westen hatten zwei Linien einen weiteren gewaltigen Markt geschaffen. Die Union Pacific entlang der Platte-Route und die Union Paci-fic, Eastern Division, Kansas - zwischen denen es trotz der ähnlichen Namen keine Verbindung gab -, lieferten sich ein Wettrennen auf den hundertsten Meridian zu. Derjenige, dessen Schienen den Meridian zuerst erreichte, gewann damit das Recht auf den Ausbau des restlichen Weges und die Verbindung mit der Central Pacific, die von Osten her auf Kalifornien zu baute.
George kam erst nach Hause, als die Familie bereits zu Abend gegessen hatte und nun um ihren neuen Schatz herumsaß, ein großes Piano, das Henry Steinweg und Söhne aus New York als Geschenk geschickt hatten. Hazards lieferte einen Großteil der Eisenbleche für die Pianos der Firma, die Steinways genannt wurden, da Steinweg den Namen für wohlklingender, kommerzieller und amerikanischer hielt. Steinweg hatte einen langen Weg hinter sich. Er kam von den blutigen Schlachtfeldern von Waterloo, wo er gegen Napoleon gekämpft hatte. George mochte ihn.
Er begrüßte die Familie. In der Küche fand er einige kalte Scheiben Fleisch; mehr brauchte er nicht zum Abendessen. Er setzte sich auf die Veranda, stellte einen Fuß aufs Geländer und schrieb Kommentare zu dem Bauplan eines Architekten für eine neue Gießerei, die er in Pittsburgh bauen wollte. Die Stadt, an zwei Flüssen gelegen, die in den Ohio mündeten, würde mit Sicherheit innerhalb der nächsten zehn Jahre zum Eisen- und Stahlzentrum der Nation werden. George wollte da schon im Anfangsstadium dabeisein.
George arbeitete, bis das Augustlicht verblaßte. Nebenan sah er die Laterne der Haushälterin durch die lakenverhängten Räume von Stanleys und Isabels Haus schweben. Die Besitzer waren selten anwesend. George vermißte sie nicht.
Er stellte einige mathematische Berechnungen an, bei denen es um ein Stück Land ging, das er für die neue Fabrik in Erwägung zog. Viermal erhielt er ein falsches Ergebnis und warf schließlich die Papiere beiseite. Die vage, verschwommene, aber doch umfassende Melancholie überfiel ihn erneut. Er kam sich alt und verbraucht vor, als er ins Haus schlenderte.
In der leeren Bibliothek blieb er stehen. Hinter ihm öffnete sich eine Tür. »Ich glaubte dich hier gehört zu haben.« Als Constance seine Wange küßte, roch er die angenehme Süße von Schokolade. Sie hatte ihr rotes Haar hochgesteckt, ihr rundliches Gesicht leuchtete frisch gewaschen.
Sie musterte ihn. »Was ist los, Liebster?«
»Ich weiß nicht. Ich fühle mich so verdammt elend, ohne daß ich dir den Grund dafür sagen könnte.«
»Einige Gründe kann ich vermuten. Dein Bruder ist auf dem Weg nach der anderen Seite des Kontinents, und du fühlst dich wahrscheinlich wie diese beiden Männer, von denen du mir erzählt hast. Die Männer im Willard-Hotel, die sich eingestanden, daß sie die Aufregung des Krieges vermissen.«
»Ich würde mich schämen, einzugestehen, daß ich es vermisse, menschliche Wesen zu töten.«
»Nicht das Töten. Ein erhöhtes Lebensgefühl, als würde man am Rande eines Abgrunds wandeln. Man braucht sich nicht zu schämen, das zuzugeben, wenn es der Wahrheit entspricht. Das Gefühl wird vorübergehen.«
Er nickte, ohne es zu glauben. Dieses an Verzweiflung grenzende Gefühl schien übermächtig.
»In ein paar Wochen wird es hier noch leerer werden«, sagte er. »William fängt in Yale an, und Patricia geht wieder zurück nach Bethlehem ins Internat.«
Mit ihrem kühlen Handrücken strich sie ihm über das bärtige Gesicht. »Eltern sind immer traurig, wenn ihr Nachwuchs das erste Mal ausfliegt.« Sie nahm seinen Arm. »Komm, machen wir einen kleinen Spaziergang. Das wird dir guttun.«
Im heißen Abendwind stiegen sie den Hügel hinter Belvedere hoch. Links unter ihnen warfen die Hochöfen und Hallen und Lagerhäuser der Hazard-Werke ihren roten Glanz gen Himmel.
Unerwartet führte sie ihr Weg an einen Ort, den Constance gern vermieden hätte, weil er ein Symbol für Enttäuschung und Verzweiflung war. Sie befanden sich an dem großen Krater, den ein Meteorit im Frühjahr 1861 geschlagen hatte, genau zu Kriegsbeginn.
George beugte sich über den Kraterrand und spähte hinunter. »Kein Grasblatt, noch nicht mal Unkraut. Ob die Erde vergiftet ist?« Er blickte den hügelauf führenden Pfad hoch. »Ich nehme an, hier ist Virgilia in der Nacht, in der sie das gesamte Silber aus dem Haus stahl, entlanggegangen.«
»George, es hilft nichts, sich bloß an die schlimmen Dinge zu erinnern.«
»Was gibt's denn sonst noch, verdammt noch mal? Orry ist tot. Tom Hassler marschiert durch die Straßen mit einem Verstand, der nie mehr in Ordnung kommen wird. Wir haben nicht hart genug gegen den Kriegsausbruch gekämpft, und nun haben wir die ganze verfluchte Sauerei geerbt. Es heißt, daß die Sache des Südens verloren ist. Nun, das trifft auch auf Amerika zu. Und auf unsere Familie. Und auf mich.«
Der Schlot schoß Funkenschauer in den Nachthimmel. Constance hielt ihn fest umarmt. »Oh, ich wünschte, ich könnte diese Gefühle vertreiben. Ich wünschte, du wärst nicht so schrecklich verletzt.«
»Es tut mir leid. Ich schäme mich selbst dieser Gefühle. Es ist nicht sehr männlich.« Eine unterdrückte Verwünschung murmelnd, vergrub er sein Gesicht in der warmen Beugung ihres Halses. Sie hörte ihn sagen: »Irgendwie kann ich nichts dagegen tun.«
Lautlos betete sie zu dem Gott, an den sie so innig glaubte. Sie bat Ihn, die Bürde ihres Mannes zu erleichtern und die düsteren Schatten von seinem Geist zu nehmen. Sie flehte Ihn an, George keine neue Last, wie klein auch immer, aufzuladen. Sie fürchtete um George.
Schweigend hielten sie sich umarmt; so standen sie eine lange Zeit auf dem verlassenen Hügel neben dem Krater.
MADELINES JOURNAL
August 1865. Sie ist da! Miss Prudence Chajfee aus Ohio.
Sie ist dreiundzwanzig, sehr robust, stammt aus einer Farmerfamilie und bezeichnet sich ohne Selbstmitleid als schlichte, unscheinbare Person. Es stimmt. Ihr Gesicht ist rund, sie ist kräftig und untersetzt. Doch jedes Wort von ihr, jeder Ausdruck ist von einem wunderbaren Glühen durchdrungen. Das hat nichts mit unmöglicher Perfektion zu tun, sondern mit Hingabe - das innere Glühen jener seltenen Menschen, nach deren Dasein die Welt etwas besser geworden ist.
Ihr Vater muß ein besonderer Mann gewesen sein, der sich nicht der weitverbreiteten Meinung unterwarf, daß Bildung für junge Mädchen Verschwendung ist - sogar gefährlich, da höhere Mathematik für das weibliche Gehirn zu belastend ist und die allgemeinen Wissenschaften zu grob und anstößig sind. Zusätzlich besitzt sie Gottvertrauen und eine gute Ausbildung, die sie im Western College für Frauen erhalten hat.
Sie kam mit einem Koffer voller Kleider, ihrer Bibel und einem halben Dutzend von McGuffeys Ausgewählten Werken< hier an. Bei einer armseligen Reismahlzeit versuchte ich ihr gleich am ersten Abend ganz offen darzulegen, welchen Hindernissen wir uns gegenübersehen, was vor allem die Nachbarn anbelangt.
Dazu sagte sie: »Mrs. Main, ich habe um eine solche Situation gebetet. Kein Rückschlag kann mich entmutigen. Ich gehöre zu den wenigen Glücklichen, die Paulus im Römerbrief beschreibt: Jene, die gegen alle Hoffnung hofften.< Ich bin hier, um zu unterrichten, und ich werde unterrichten.«
Orry, ich glaube, ich habe eine Vertraute gefunden - und eine Freundin.
... Prudence setzt mich weiterhin in Erstaunen. Habe sie heute morgen mit zum Schulhaus genommen, das bereits auf halbem Weg zu den verlassenen Sklavenquartieren im Bau ist. Lincoln - der Neger, den wir zuletzt eingestellt haben - deckt das Dach von Hand mit Zypressenlatten. Prudence meinte, das sei ihre Schule, also sollte sie auch ihren Anteil dazu beitragen. Worauf sie ihre Röcke schürzte, sie zusammenknotete und die Leiter hochkletterte. Lincoln schaute verblüfft und verlegen drein, überwand das aber schnell, als sie Nägel einzuschlagen begann, als hätte sie nie etwas anderes gemacht. Später fragte ich sie danach.
»Papa hat es mir beigebracht. Er meinte, ich müsse darauf vorbereitet sein, unter allen Umständen für mich selbst sorgen zu können. Ich glaube, er dachte - obwohl er es nie laut aussprach -, kein Mann würde je ein häßliches Entlein, noch dazu Anhängerin der Sklavenbefreiung, heiraten wollen. Vielleicht werde ich eines Tages heiraten, ich sagte ja, ich habe noch Hoffnung. Aber ob es nun so kommt oder nicht, es ist jedenfalls immer gut, wenn man was vom Zimmermannshandwerk versteht. Irgendwas Nützliches zu lernen ist gut. Deshalb unterrichte ich.«
... Heute morgen im Dixie Store gewesen, den ich seit der Wiedereröffnung nicht mehr gesehen hatte. Hinter dem Tresen begrüßte mich der rundliche Mr. Randall Gettys höchstpersönlich.
Beweise für seine literarischen Ambitionen standen deutlich sichtbar in einer alten Holzkiste am Fußboden. Gebrauchte Bücher von Poe, Coleridge, die Romane von Gilmore Simms, alles wahrscheinlich von einem verarmten Landbesitzer billig erworben. Allerdings kann ich mir nicht vorstellen, wer sie - auch wenn sie pro Exemplar nur fünf Cent kosten - kaufen soll.
Beweise für Mr. Gettys' politische Ansichten waren noch augenfälliger auf dem Tresen aufgebaut - ein ordentlicher Stapel von Exemplaren von >Das Land, das wir lieben<, eine von mehreren Publikationen, die dem traurigen Glauben anhängen, die Sache des Südens sei noch nicht verloren ...
Gettys legte eine übertriebene Höflichkeit an den Tag, drängte sich unangenehm dicht an Madeline. Seine runden, drahtgefaßten Brillengläser funkelten. Ein gewaltiges weißes Taschentuch bauschte sich aus der Brusttasche seines schmierigen Kittels. Selbst frisch rasiert verlieh ihm sein dunkler Bart ein verschwommen schmutziges Aussehen.
Madeline bemerkte die Fülle der Waren in den Regalen. »Ich wußte gar nicht, daß Sie so gut versorgt sind. Und daß Sie das Kapital für diese Warenmengen haben.«
»Ein Verwandter in Greenville hat das Geld zur Verfügung gestellt«, sagte Gettys glatt. Sie sah, daß er ihre Brüste musterte, während er sich das Kinn mit dem Taschentuch abwischte. »Es ist mir ein ungemeines Vergnügen, Sie begrüßen zu dürfen, Mrs. Main. Was haben Sie heute morgen für Wünsche?«
»Bis jetzt noch keine. Ich möchte gern Ihre Preise wissen.« Sie deutete auf ein Faß. »Dieses Saatgut zum Beispiel.«
»Einen Dollar pro Scheffel. Und ein Viertel der produzierten Ernte oder den Gegenwert in bar. Für Farbige der doppelte Preis.«
»Randall, ich bin froh, daß der Laden wieder aufgemacht hat, aber ich glaube nicht, daß wir diese Art von Preistreiberei im Bezirk ertragen können.«
Sie sagte es ohne jede Erbitterung, doch es brachte ihn sofort in Rage. Er legte seine schleimige Höflichkeit ab. »Was wir nicht ertragen können, ist diese verfluchte Schule. Eine Schule für Nigger!«
»Und für jeden Weißen, der sich weiterbilden will.«
Gettys ignorierte die Bemerkung. »Es ist eine Schande. Außerdem ist es Verschwendung. Ein Nigger kann nichts lernen. Sein Gehirn ist zu klein. Er taugt nur dazu, unser Holz zu sägen, unser Wasser zu schöpfen, genau wie die Schrift es sagt. Wenn ein Nigger auch nur einen Funken Intelligenz besitzt, dann entzündet Bildung lediglich seine Urinstinkte und ruft Haß auf die ihm Übergeordneten hervor.«
»Lieber Gott, Randall, ersparen Sie mir diese alte Litanei.«
»Nein, Ma'am«, rief er. »Das werde ich nicht. Wir haben den Krieg verloren, aber nicht den Verstand. Die weißen Bürger dieses Bezirks werden nicht zulassen, daß sie afrikanisiert werden.«
Müde drehte sie sich um und ging zur Tür.
»Sie hören besser auf meine Worte«, brüllte er. »Sie haben eine faire Warnung gekriegt.«
Sie hatte ihm den Rücken zugewandt, und so konnte er ihr Gesicht nicht sehen. Unglücklich dachte sie an Coopers Brief über Desmond LaMotte. Wie viele würden sich gegen sie wenden?
Samstag. Der Schuppen für die Sägemühle fertig, an der Uferbank, so daß die Stämme verschifft werden können, falls dieser Dienst je wieder aufgenommen wird. Mit beträchtlichem Stolz habe ich zugesehen, wie unsere beiden Mulis den ersten Zypressenstamm anschleppten. Lincoln auf ebener Erde, Fred unten in der Grube, so wurde der Stamm mit der zweihändigen Säge gespalten. Die Methode ist antiquiert, die Arbeit kann einem das Kreuz brechen, doch bevor wir Dampfkraft haben, gibt es keine andere Möglichkeit. Es ist ein Anfang.
Prudence möchte morgen die Kirche besuchen. Wir werden sie mitnehmen .
Heute morgen in der Kirche St. Joseph von Arimathea gewesen. Ich wünschte, wir wären nicht gegangen ...
Als Madeline den Wagen anhielt und die Pferde festband, bemerkte sie, wie zwei Männer der Kirchengemeinde ihre Zigarren fortwarfen und in die kleine, gekalkte Kirche huschten, in der schon Generationen von Episkopalfamilien aus dem Bezirk gebetet hatten.
Madeline und Prudence trugen ihre besten Hüte. Sie näherten sich der Doppeltür. Die Musik der winzigen Kirchenorgel verstummte quietschend, als Vater Lovewell, ein recht onkelhafter Priester, in den Eingang trat. Hinter ihm drehten sich die Mitglieder der Kirchengemeinde auf den sonnenhellen Bänken um und starrten die beiden Frauen an. Madeline entdeckte viele Leute, die sie kannte. Sie sahen nicht freundlich aus.
»Mrs. Main ...« Die rosigen Wangen des Priesters glänzten vor Schweiß, der mehr und mehr seine Brille beschlagen ließ. Er senkte seine Stimme. »Das ist höchst bedauerlich. Ich bin aufgefordert worden, Sie darauf aufmerksam zu machen, daß, äh, Farbige hier nicht beten dürfen.«
»Farbige?« wiederholte sie, als hätte er sie geschlagen.
»Richtig. Wir haben keine getrennten Balkons, und ich kann Sie nicht länger in die Familienloge lassen.« Sie sah, daß ihre Sitze, die zweiten von vorn links, leer waren. Ihre Selbstbeherrschung geriet ins Wanken.
»Ist das Ihr Ernst, Vater?«
»Ja. Ich wünschte, es wäre nicht so, aber ...«
»Dann sind Sie ein bösartiger Mann und haben nicht das Recht zu behaupten, Sie würden das Christentum praktizieren.«
Er brachte sein Gesicht dicht an das ihre und zischte: »Ich habe christliches Mitgefühl für meine eigene Rasse. Ich habe kein Mitgefühl für eine Bastardrasse, die Unruhe stiftet, Brandstiftungen plant, Haß sät und die teuflische Doktrin des schwarzen Republikanismus anbetet.«
Prudence schaute verblüfft und ärgerlich drein. Madeline brachte ein strahlendes Lächeln zustande. »Möge Gott Sie auf der Stelle erschlagen, Vater. Bevor ich mich wie irgend ... irgend ein Leprakranker verkrieche und verstecke, sehe ich Sie in der Hölle.«
»Hölle?« Das schwitzende, selbstzufriedene Gesicht zog sich zurück. Weiche, weiße Hände griffen nach der Tür. »Das bezweifle ich.«
»Oh doch. Sie haben sich gerade eben Ihren Platz reserviert.«
Die Kirchengemeinde brach in ärgerliches Gemurmel aus. Die Tür knallte zu.
»Komm«, sagte Madeline und trat mit dem Fuß ihren Rock beiseite, als sie herumwirbelte und auf den Wagen zumarschierte. Verwirrt eilte Prudence hinter ihr her.
»Was bedeutet das alles? Warum hat er dich als Farbige bezeichnet?«
Madeline seufzte. »Ich hätte es dir bei deiner Ankunft sagen sollen. Ich erzähle es dir auf der Heimfahrt. Wenn du willst, kannst du wieder abreisen. Und ich fürchte, was Vater Lovewell da gemeint hat, war eine Kriegserklärung. Gegen Mont Royal, gegen die Schule, gegen mich.«
... Prudence weiß alles. Sie bleibt. Ich bete zu Gott, daß sie ihren Entschluß nicht bereuen muß oder deswegen zu Schaden kommt.
Charles schlug die Augen auf, stützte sich auf beide Hände, stemmte sich hoch. Ein unsichtbarer Hammer knallte gegen seine Stirn und warf ihn zurück. »Allmächtiger.«
Er versuchte es noch einmal. Diesmal hatte er trotz seiner Schmerzen Erfolg.
Er starrte über das kleine Feuer hinweg, das in einer flachen Mulde im Boden flackerte. Hinter dem Feuer bog ein bärtiger Mann mit einem wettergegerbten, dunkelbraunen Gesicht einen flexiblen Stock hin und her, bemüht, ihn zu zerbrechen. Der Mann trug einen mit derart vielen Perlen behängten Wildleder-mantel, daß man hätte meinen können, er gehöre zu einer Gruppe Medizinmänner, die überall ihre Shows veranstalteten. Neben ihm lag ein gefleckter Hund und nagte an einem Knochen. Ein Junge mit geschlitzten Augen und einem deformierten Kopf saß mit untergeschlagenen Beinen hinter dem Mann.
Charles stieg ein übler Duft in die Nase. »Was zum Teufel stinkt hier so?«
»Haufen Kräuter, mit einer Paste aus Büffelhirn zerquetscht«, sagte der Mann. »Ich hab's auf die Stellen gerieben, wo sie dich am schlimmsten erwischt haben.«
Charles begann seine Umgebung wahrzunehmen. Er befand sich in einem Tipi aus Häuten, die über ein Dutzend AchtzehnFuß-Pfosten gespannt waren und so einen Kegel bildeten, mit einem Loch für den Rauchabzug oben an der Spitze. Er hörte, wie der Regen gegen die Häute klatschte.
»Richtig, das ist unser Tipi«, sagte der Bärtige. »In der Sprache der Dakota-Sioux bedeutet Tipi >Platz-wo-ein-Mann-lebt<.« Er zerbrach den Stock und reichte eine Hälfte über das Feuer. »Jer-ky. Wird dir guttun.«
Charles biß ein Stück von dem geräucherten Büffelfleisch ab. »Danke. Hab' früher schon so was gegessen.«
»Oh«, sagte der Mann erfreut. »Du bist also nicht das erste Mal im Westen.«
»Vor dem Krieg diente ich bei Bob Lees Second Cavalry in Texas.«
Der Fremde grinste und entblößte fleckige Zähne. »Wird immer besser.« Charles veränderte seine Position; wieder schlug der Hammer zu. »Hör zu, an deiner Stelle würde ich keine schnellen Bewegungen machen. Du hast mehr blaue Flecken als ein schlechtes Stück Fleisch. Während du ohnmächtig warst, habe ich mich ein bißchen umgehört. Der kleine Gockel, der dich zusammengeschlagen hat, hat dich beschuldigt, du habest dich davongemacht.«
»Desertion?«
»Yep. Gehst besser nicht zum Posten zurück.«
Das Schwindelgefühl niederkämpfend, richtete sich Charles auf. »Ich habe noch Sachen dort.« Der Fremde machte eine Handbewegung. Hinter sich entdeckte Charles seine Reisetasche.
»Bin reingegangen und hab's mitgenommen. Niemand hat ein Wort gesagt, bis auf den Jungen auf Wache, und der hat für 'nen Dollar in die andere Richtung geschaut. Wie heißt du?«
»Charles Main.«
Der Mann streckte seine Hand über das Feuer. »Freut mich, dich kennenzulernen. Ich bin Adolphus O. Jackson. Holzfuß für meine Freunde.«
Er schob seine Lederhose am rechten Bein hoch und klopfte gegen seinen Stiefel, was einen harten, hölzernen Laut ergab. »Solide Eiche. Folge von einem kleinen Zusammenstoß mit ein paar Utes, als ich vierzehn war. Mein Papa lebte da noch. Wir stellten Biberfallen auf in den östlichen Ausläufern der Rocky Mountains. Eines Tages war ich allein draußen und kam versehentlich in die Falle eines anderen Trappers. In dem Moment tauchten zufällig drei schlechtgelaunte Utes auf. Es hieß, entweder umgebracht zu werden oder aus dieser Falle rauszukommen. Ich nahm mein Messer und schaffte es, rauszukommen. Na ja, zumindest teilweise. Dann wurde ich ohnmächtig. Glücklicherweise kam Papa vorbei. Er verjagte die Utes, holte mich raus und nahm mir den Fuß ab. Er rettete mich vor dem Verbluten.« Er sagte das so, als würde er über das Büffelfleisch sprechen, an dem er kaute.
Charles wartete, bis seine Benommenheit verflog. »Ich bin Ihnen dankbar, Mr. Jackson. Ich war in der Kavallerie, bis dieser kleine Hundesohn mich entdeckte.«
»Nicht zu verkennen, daß er immer noch gegen euch Südstaatenjungs kämpft. Kannst übrigens ruhig du zu mir sagen.«
»Ich bin dir dankbar, daß du mich aufgenommen und zusammengeflickt hast. Ich werd' mich dann wieder auf die Socken machen und mir was suchen.«
»Bleib hier«, unterbrach ihn Jackson. »Bist noch nicht in der richtigen Verfassung.« Er puhlte in seinen Zähnen. »Außerdem hab' ich dich nicht nur aus dem Dreck gezogen, weil der Kampf einseitig war, mit dir auf der falschen Seite. Ich hab' dir einen Vorschlag zu machen.«
»Was für einen?«
»Geschäftlich.« Jackson entdeckte ein Stückchen Büffelfleisch im Gewirr seines weißbraunen Bartes. Er schnippte es weg und sagte: »Das hier ist die Jackson Trading Company. Mich kennst du bereits. Der feine Junge hinter mir ist mein Neffe Herschel. Ich sage Boy zu ihm. Ist einfacher. Als sein Papa in Louisville an Lungenentzündung starb, hatte er niemanden mehr, der sich um ihn kümmerte. Er gibt sich viel Mühe, aber er braucht jemanden, der für ihn sorgt.«
Holzfuß betrachtete den Jungen voller Zuneigung und Trauer. Dieser eine Blick war es, der Charles den Mann sympathisch machte. Jackson erinnerte ihn an Orry; auch dieser hatte einen Verwandten zu sich genommen und ihm Liebe und seinem Leben einen Sinn gegeben und so die Bitterkeit und Düsternis verjagt.
»Und das hier«, Jackson deutete auf den an seinem Knochen nagenden Hund, »ist Fenimore Cooper, kurz Fen genannt. Schaut nicht nach viel aus, das tun die Grenzland-Collies nie.
Aber du wärst überrascht, wieviel Gewicht er auf einer indianischen Schleifbahre ziehen kann.«
Jackson aß sein Büffelfleisch auf. »Verstehst du, wir gehen auf regelmäßige Trips zu den Tsis-tsis-tas.« Er betonte die zweite Silbe.
»Was zum Teufel ist das?«
»Kommt drauf an, wen du fragst. Einige sagen, es bedeute >unser Volk< oder >das Volk< oder >das Volk, das hierher gehört<, um es grob zu übersetzen. Die Sioux-Übersetzung ist Sha-hi-e-la, was soviel wie >rote Sprache< bedeutet. Fremde Sprache. Mit anderen Worten, Leute, die die Sioux nicht verstehen können.«
Jackson beobachtete seinen Gast mit einem fröhlich überlegenen Lächeln. Als er seinen Spaß gehabt hatte, fuhr er fort: »Wir handeln mit den südlichen Cheyenne. Wenn du ihren Namen so ausdrückst, dann versteht es jeder.« Er führte eine Reihe schneller, geschmeidiger Gesten vor, rotierende Faust, ausgestreckte oder gekrümmte Finger.
»Kenne ich«, sagte Charles. »Das ist Zeichensprache. Die Co-manchen in Texas benutzen sie.«
»Jawohl, Sir, die Lingua franca der Stämme. Gerade eben habe ich gesagt: Wir handeln mit Cheyenne im Indianerterritorium. Wir bringen Waren hin und nehmen Indianerpferde mit. Ist ein gutes Geschäft, allerdings nicht so gut, wie es sein könnte. Ich handle nicht mit Waffen oder schlechtem Schnaps.«
Mittlerweile hatte sich Charles einige Gedanken über das Angebot gemacht.
»Ein gutes Geschäft mag es vielleicht sein, aber auch ziemlich gefährlich.«
»Nur gelegentlich. Da draußen gibt's zwei- bis dreihunderttausend Rote, aber weniger als ein Drittel davon sind auf dem Kriegspfad, und das auch nicht immer. Man kann ganz gut mit ihnen zurechtkommen, wenn sie wissen, daß man keine Angst hat.«
Er zupfte die Truthahnfeder aus seinem Haar und fuhr mit seinem Zeigefinger über das breite, eingeschnittene V. »Sie kennen die Bedeutung einer Feder, die auf die Art eingekerbt ist. Es heißt, ich bin mal einem schlechten Indianer begegnet und habe ihm den Skalp genommen, damit er kein Leben nach dem Tod mehr hat, und dann hab' ich ihm die Kehle durchgeschnitten.«
»Das besagt die Feder?«
Jackson nickte.
»Hast du's getan?«
Jacksons sanfte Augen wichen seinem Blick nicht aus. »Zweimal.«
Charles schauderte. Vorsichtig legte Boy seinem Onkel eine Hand auf die Schulter; sein Gesicht verriet Stolz. Fen leckte träge seine Vorderpfoten. Der Regen klatschte auf das Tipi. »Du hast was von einem Vorschlag gesagt.«
»Ich brauche einen Partner, der mir den Rücken freihält. Ich kann ihm alles über das Land beibringen, aber ich muß ihm vertrauen, und er muß ordentlich schießen können.«
»Ich bin ein ganz guter Schütze. Ich habe ein paar Jahre bei General Wade Hamptons Scouts geübt.«
Holzfuß reagierte darauf mit begeistertem Nicken. »Südstaatenkavallerie. Das ist eine erstklassige Empfehlung.«
»Brauchst du einen Mann mehr, oder ersetzt du einen?«
Wieder fuhr sich der Händler mit der Zunge über die Zähne. »Schätze, hat keinen Zweck zu lügen, falls wir zusammen reiten sollten. Beim letzten Trip hab' ich meinen Partner Dean verloren. Hat seine Finger nicht von einer Frau lassen können. Ihr Mann und einige seiner Freunde vom Roten Schild haben Hackfleisch aus Dean gemacht.«
Das Büffelfleisch schien sich in Charles' Magen zusammenzuklumpen. »Was bedeutet Roter Schild?«
»Gemeinschaft der Cheyenne-Krieger. Gibt mehrere davon. Die Schilde, die Bogensehnen, die Hundemänner - Hundesoldaten, wie sie manchmal genannt werden. Zu ihnen gehören ungefähr die Hälfte der Krieger des Stammes. Wenn ein junger Mann fünfzehn oder sechzehn Winter zählt, dann schließt er sich einer Gemeinschaft an, was so ziemlich die wichtigste Sache in seinem ganzen Leben ist. Mit diesen Gemeinschaften -das fing vor langer Zeit an. Die Legende erzählt, daß ein junger Cheyenne-Krieger namens Sweet Medicine, >süße Medizin<, nach Norden zum Heiligen Berg gewandert sei, der womöglich in den Black Hills liegt - niemand ist sich da wirklich sicher. Es heißt, Sweet Medicine traf den Großen Geist oben auf dem Berg, und sie palaverten eine Weile. Der Geist befahl Sweet Me-dicine, zurückzugehen und die Gemeinschaften zum Schutz des Stammes zu gründen. Dann gab ihm der Geist all die Namen für die Gemeinschaften, die speziellen Gesänge für jede Gruppe, wie sie sich zu kleiden haben - den ganzen Kram. Die Gemeinschaften werden immer noch so geführt, wie Sweet Medicine es ihnen gesagt hat. Sie geben den Ton an, und das vergißt man besser nicht. Selbst die vierundvierzig Häuptlinge im Stammesrat furzen nicht in den Wind, ohne daß die Männer der Gemeinschaften ihr Okay dazu geben.«
»Was genau tun diese Männer, außer den Stamm herumzukommandieren?«
»Ihre wichtigste Aufgabe ist es, zur Zeit der Büffeljagd im Camp für Ordnung zu sorgen. Sie halten die jungen Burschen in Reih und Glied, damit keiner plötzlich aufspringt und eine erstklassige Herde verscheucht.«
»Und ich wäre der Ersatz für einen Mann, der von diesen Leuten zerstückelt worden ist?«
»Jawohl, Sir. Ich will gar nicht so tun, als wäre da überhaupt kein Risiko dabei. Aber man kriegt auch seinen Lohn dafür. Der Anblick des saubersten, schönsten Landes, das Gott je erschaffen hat - und einige der schönsten Mädchen. Mit den meisten Cheyenne komme ich gut zurecht. Sie mögen den alten Holzfuß.«
Mit einem zärtlichen Gurgeln kniete Boy neben seinem Onkel nieder und streichelte dessen Bart. Jackson nahm Boys Hand zwischen seine Hände und hielt sie fest. Der Junge sah zufrieden und glücklich aus.
»Um mal die Karten auf den Tisch zu legen«, sagte der Händler. »Im ersten Jahr geb' ich dir zwanzig Prozent von dem, was wir für die Pferde kriegen, die wir zurückbringen. Wenn du deinen Mann stehst, kriegst du pro Jahr zehn Prozent mehr, bis du bei der Hälfte bist. Bis dahin gehören alle Waren mir, und alles geht auf mein Risiko. Oh«, er grinste, »ich meine natürlich mit Ausnahme des Risikos für deinen Skalp und dein Leben. Was sagst du dazu?«
Charles saß still da, unfähig, jetzt schon etwas dazu zu sagen. Der Vorschlag des Händlers brachte große, umfassende Veränderungen mit sich. Die Gegenwart von Boy ließ ihn an seinen Sohn denken. Schloß er sich Jackson an, dann würde er den kleinen Gus manchmal monatelang nicht sehen. Das gefiel ihm ganz und gar nicht. Andererseits brauchte er Arbeit; er mußte Geld verdienen. Und vor dem Krieg, während seiner Dienstzeit in Texas, hatte er geschworen, daß er zurückkehren und sich dort niederlassen würde. Er hatte sich in die Schönheit des Westens verliebt.
»Nun?«
»Ich würde gern darüber schlafen.« Er lächelte. »Ich weiß wirklich nicht, ob ich mich daran gewöhnen kann, einen Mann Holzfuß zu nennen.«
»Das ist mir verdammt egal, solange du nur ordentlich schießt.«
Kurz darauf rollte sich Charles in einem warmen Büffelfellmantel neben dem ersterbenden Feuer zusammen. Er rutschte hin und her, bis er die Lage gefunden hatte, in der seine Wunden am wenigsten schmerzten, und schlief ein.
Anstatt von endlosen Prärieebenen oder wilden Indianern träumte er von Augusta Barclay. In den grauen, konturlosen Landschaften des Schlafes legte er seine Hände auf ihren nackten Körper. Dann drängten sich andere Frauen vor, nahmen ihren Platz ein. Er erwachte, steif und zerschlagen, voller Reue und mit dem ausgebrannten Gefühl der Heimatlosigkeit, schmerzlich verstärkt durch den Abbruch seiner Armeelaufbahn.
Er hatte immer noch seine Zweifel, was Jacksons Angebot betraf. Es war besser als irgendein langweiliger, monotoner Job, aber es war schlicht und einfach auch gefährlich.
In Gedanken daran drehte er sich um. Seine Rippen schmerzten, und er stöhnte auf. Dieser Laut zog einen anderen nach sich; Fen wachte auf, trabte quer durch das Tipi und stellte sich neben seinen Kopf. Charles blieb regungslos liegen. Würde der Hund ihn beißen?
Fen senkte den Kopf. Seine rauhe, warme Zunge leckte dreimal über Charles' zerschlagenes Gesicht.
Große Entscheidungen hängen oft von so kleinen Beweisen der Zuneigung ab.
»Gut, verdammt gut«, rief Holzfuß, als Charles ihm am Morgen zusagte. Der Händler wühlte in einem Haufen Decken und mit Segeltuch umhüllten Packen, bis er zwei geschmeidige Gegenstände fand, die er seinem neuen Partner in die Hände drückte.
»Was ist das?«
»Mokassins aus Büffelleder. Von der Winterjagd. Da haben die Büffel das dickste Fell. Man wendet's nach innen, siehst du? Die werden dich warm halten, dort, wo wir hingeh'n.«
Das Tipi füllte sich mit den üppigen Düften von kochendem Kaffee und brutzelndem Pökelfleisch. Mit einem fast irren Ausdruck der Konzentration auf seinem Gesicht hockte Boy vor dem Feuer und hielt mit der behandschuhten Rechten die Bratpfanne über das Feuer.
»Ich werde ein Pferd brauchen«, sagte Charles.
»Ich hab' ein Ersatzpferd, das ich aus dem Indianerterritorium mitgebracht habe. Ein starrköpfiger Sohn des Satans, den niemand kaufen würde. Wenn du ihn reiten kannst, kannst du ihn haben.«
»Muß ich mich erst qualifizieren, um dein Partner zu werden?«
Der Händler schaute ihn mit zusammengekniffenen Augen an. »Darauf läuft's hinaus.«
»Ich bin immer noch ziemlich zerschlagen. Einen wilden Gaul zu reiten wird's nicht besser machen.«
Achselzuckend stimmte Holzfuß zu. »Schätze, wir können ein paar Tage warten.«
Charles rieb seine schmerzenden Rippen und dachte darüber nach. »Nein. Bringen wir's hinter uns.«
Dichter Nebel verbarg das Gelände um Holzfuß' Tipi herum, das er westlich der Zeltstadt nahe Jefferson Barracks errichtet hatte. Der Händler führte Charles zu dem Pferd, das in einiger Entfernung von den anderen Sattelpferden und Packmulis angebunden war. Das kleine, geschmeidige Pferd war schwarzweiß gescheckt, mit einer breiten Gesichtsblesse.
»Ich glaub', er ist ein Killer«, sagte Holzfuß und griff nach dem tiefhängenden Ast, an dem der Strick vom Zaumzeug festgebunden war. »Sollte ihn wohl besser erschießen.«
»Paß auf«, schrie Charles und stieß Jackson beiseite, als das Pferd sich aufbäumte. Die Vorderhufe wirbelten an der Stelle durch den Nebel, an der der Händler eben noch gestanden hatte.
»Verstehst du?« sagte er und rappelte sich wieder hoch. »Ich hab' ihn eingebrochen, aber niemand kann ihn reiten. Zweimal war ich schon dicht dran, ihm eine Kugel in den Kopf zu jagen.«
Charles fühlte sich unbehaglich, angespannt. Er dachte an seinen letzten Ritt auf Sport in Virginia. Sport hatte Charles mit einer Feindeskugel im Leib in höchstem Tempo und mit größter Aufopferung in Sicherheit gebracht, während sein Blut in den Schnee spritzte. Sport war ein Pferd gewesen, das niemand gewollt hatte.
»Versuche nicht, ihn vor meinen Augen umzubringen«, sagte er. »Ich hab' im Krieg ein Kavalleriepferd verloren, einen feinen Grauen. Ich kann nicht zusehen, wie jemand ein Pferd verletzt.«
Trotzdem verstand er die Befürchtungen des Händlers. Der Schecke hatte Mord in den Augen. Doch Charles sah auch einige Tugenden. Leichtigkeit und Behendigkeit - er schätzte das Pferd auf ungefähr tausend Pfund -, einen feinen Nacken und die kleinen Hufe und den kleinen Kopf, typisch für ein Südstaatenpferd.
»Indianerpferd, sagtest du?«
»Yep. Die Armee macht sie kaputt. Stopft sie mit Korn voll, so daß sie vergessen, sich von Gras zu ernähren. Macht sie schwach und langsam. Wird dem hier nicht passieren. Der lebt nicht so lang.«
»Warten wir's ab. Wo sind Sattel und Decke?«
Dichter Nebel wogte um sie herum. Holzfuß band den Strick wieder an den Baum. In lauschender Haltung näherte sich Charles dem Schecken. »Ist ja gut«, sagte er, ihm die Decke überwerfend. »Ist ja gut.«
Der Schecke hob den rechten Vorderhuf. Charles' Bauchdecke spannte sich. Der Huf senkte sich wieder, und der Schecke schnaufte aus. Charles sattelte ihn vorsichtig, Holzfuß einen überraschten Blick zuwerfend, als das Gewicht des Sattels keine Gegenwehr auslöste. Er verstand das nicht. Vielleicht steckte in diesem wunderschönen Kopf irgendein unauslotbarer Schuß Wahnsinn.
Er rollte die Steigbügel aus und stieg langsam auf, sowohl aus Schmerz als auch aus Vorsicht. Der Schecke stand still, drehte nur den Kopf, um den Reiter ins Blickfeld zu kriegen. Aus der Ferne riefen vom Armeeposten Signalhörner zum Morgenappell.
Ruhig sagte Charles: »Bind ihn los.«
Holzfuß duckte sich und knüpfte den Strick hastig los. Charles nahm das Seil, wickelte es um eine Hand, zog einmal leicht.
Während Charles urplötzlich gen Himmel schoß, sein linkes Bein verkrümmt aus dem Steigbügel gerissen wurde, dachte er, Jackson würde ihn töten müssen. Er zog dem Schecken eins über die Kruppe, als er runterkam, dann flog er in den Dreck; das Pferd wieherte und schlug aus. Nach dem Aufprall fühlte er sich, als wären überall in seinem Körper Fackeln angezündet worden. Ein Huf riß seine Stirn auf, bevor er zur Seite rollte und seinen Armeecolt zog. Wahnsinnige Schmerzen durchzuckten ihn, während er kniend mit beiden Händen den Revolver in Anschlag brachte und darauf wartete, daß das Pferd erneut auf ihn losging.
Der Schecke schnaubte, stampfte, blieb aber stehen. Boy umklammerte von hinten die Taille seines Onkels, spähte zu dem Pferd und dem Mann mit dem Revolver hinüber.
»Besser, du schießt, Main.«
»Nein, erst wenn - Moment mal. Ist mir zuvor nicht aufgefallen. Siehst du den blutigen Schaum an seinem Maul?«
Grämlich verneinte Jackson das. Charles wußte, daß Männer in Jacksons Alter häufig Probleme mit den Augen hatten. Er steckte den Colt weg und näherte sich vorsichtig dem Pferd.
»Laß mich mal sehen«, sagte er mit besänftigender Stimme. »Bleib schön still, und laß mich sehen.« Sein Herz hämmerte; in den Augen des Schecken lag wieder dieser mörderische Ausdruck.
Aber er ließ es zu, daß Charles sanft seine Kiefer auseinanderzog und das blutige Stück entblößte. Vor lauter Erleichterung brach Charles in Gelächter aus. »Komm her, und schau dir das an. Aber nicht so hastig.« Holzfuß schob sich hinter ihn. »Da hast du deinen Killer. Ein vereiterter Backenzahn. Läßt man die Zügel in Ruhe, dann ist mit ihm alles in Ordnung. Zieht man dran, spielt er verrückt.«
»Ist mir entgangen«, sagte Holzfuß. »Ist mir, verdammt noch mal, vollkommen entgangen.«
»Kann leicht passieren.« Charles zuckte mit den Schultern; er wollte dem älteren Mann nicht sagen, daß er sich eine Brille kaufen sollte. »Sobald wir einen Pferdedoktor finden, der den Zahn hinkriegt, ist mit ihm wieder alles in Ordnung.«
»Du behältst ihn also?«
»So war's abgemacht, oder? Möchtest du ihn streicheln, Boy? Kannst du ruhig.«
Holzfuß' Neffe drängelte vor; eine freudige Beschwingtheit zeigte sich auf seinem weißen Gesicht. Er berührte den Schecken und lächelte. Der Händler seufzte, die Anspannung löste sich.
»Dann mußt du ihm einen Namen geben, Charlie.«
Charles stellte sich neben Boy, tätschelte das Pferd und dachte kurz nach. »Hmm. Der Name sollte so sein, daß die Leute Respekt vor ihm haben und ihn nicht zum Narren halten. Sie brauchen ja nicht zu wissen, daß er ganz sanft ist.« Wieder tätschelte er das Pferd. »Du hast gesagt, der Teufel hätte ihn gezeugt. Ich werde ihn nach seinem Papa nennen. Satan.«
»Verdammt gut«, brüllte der Händler und hüpfte mit erstaunlicher Beweglichkeit in einer Art Tanz von seinem guten Fuß auf seinen künstlichen Fuß. »Verdammt gut, oh, verdammt gut. Der Trupp hier ist wieder im Geschäft.«
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Nachdem Charles das Angebot von Holzfuß Jackson angenommen hatte, brachte der Händler den Schecken am nächsten Tag zum Veterinär. Er ließ Boy beim Pferdedoktor zurück und machte sich zusammen mit Charles auf in die Stadt. Um Soldaten aus Jefferson Barracks, die Charles vielleicht erkannt hätten, aus dem Wege zu gehen, schlugen sie einen Bogen und ritten von Westen her in die Stadt. Der Collie rannte nebenher.
Zu Zeiten der ersten kreolischen Siedler war der Ort ein reines Pelzhandelszentrum gewesen, doch die Zeiten hatten sich geändert. Auf der von Platanen und Linden gesäumten Straße kamen sie an Farmwagen vorbei, auf denen sich Äpfel oder Kornsäcke türmten. Sie ritten um zwei Farmer herum, die eine Schweineherde trieben, die laut quiekend mit ihrem charakteristischen Gestank die Luft verpesteten.
Kurz darauf tauchten Dächer vor ihnen auf, über denen eine graue Wolke hing. »Atme nicht zu tief durch in St. Lou«, riet Holzfuß. »Sie bauen mehr Gießereien und Gerbereien und Mühlen, als ich im Auge behalten kann. Ich glaube, Amerikanern ist es egal, ob sie am Fabrikrauch ersticken, solange sie nur reich dabei werden.«
Der Tag war hell und strahlend. Charles fühlte sich gut. Die Auswirkungen der Prügel ließen nach, und der Flickenmantel hielt ihn warm. Sein erster Eindruck von Holzfuß war richtig gewesen; der Händler war ein sympathischer Mann, dem man vertrauen konnte. Vielleicht würde sich seine Stimmung in den nächsten Wochen heben, vielleicht mußte er erst einmal ins Indianerterritorium reiten.
Sie ritten in das geschäftige Herz der Stadt, vorbei an alten kreolischen Steinhäusern, Grenzlandhütten aus handgeschlagenen Stämmen und neueren Häusern aus Schnittholz mit quergeteilten Türen, erbaut von den Angehörigen einer großen deutschen Kolonie. Ungefähr hundertfünfzigtausend Menschen lebten in St. Louis, sagte Holzfuß.
Als sie die Third Street erreichten, konnten sie bereits das Geschrei, den Lärm des Wagenverkehrs und der Schauermänner von dem anderthalb Meilen langen Uferdamm vor ihnen hören. Die Pfeife eines Flußbootes schrillte, als Holzfuß Charles ein Banknotenbündel in die Hand drückte.
»Ich kümmere mich um unseren Warenvorrat, während du dir Winterkleidung kaufst. Und ein Messer. Außerdem ein Gewehr, das dir paßt, und massenhaft Munition. Knausere nicht. Da draußen, wo wir hingehen, gibt's keinen Laden, und du wärst verdammt unglücklich, wenn du ein Dutzend verrückte Cheyenne am Hals und keine Patronen mehr in der Tasche hättest, bloß weil du ein paar Pennies sparen wolltest. Oh«, er grinste, »kauf dir ein paar von den Zigarren, die du so magst. Ein bißchen Vergnügen braucht der Mensch in der Wildnis. Die Winternächte sind verflucht lang.«
Er winkte, bog vor einem Ochsenkarren an der Ecke links ab und war verschwunden.
Zehn Minuten später kam Charles mit drei Holzkistchen unter dem Arm aus einem Tabakladen in der Olive Street. Er schob sie in eine alte Satteltasche, die Holzfuß ihm gegeben hatte.
Eine Zigarre ließ er draußen, um sie gleich zu rauchen. Als er sie anzündete, bemerkte er einen Armeeoffizier auf dem gegenüberliegenden Gehsteig. Er kannte den Namen des Offiziers nicht, erinnerte sich aber von Jefferson Barracks her an das Gesicht. Er blieb regungslos stehen. Das Streichholz brannte nieder, versengte seine Finger.
Der Offizier bog um die Ecke, ohne ihn zu sehen.
Charles atmete tief aus, schnippte das abgebrannte Streichholz weg und rieb sich die schmerzenden Finger am Bein. Mit dem zweiten Streichholz zündete er seine Zigarre an, als ein Wagen vor einem großen, zweistöckigen Gebäude an der Ecke hielt. Im zweiten Stock war eine Tafel so angebracht, daß man sie von beiden Straßen aus lesen konnte; in roten Lettern stand da
TRUMPS ST.-LOUIS-THEATER.
Der Wagen war mit rohen Brettern beladen. Der Kutscher, ein Spitzbauch, der die vordere Krempe seines schwarzen Hutes hochgesteckt hatte, band die Zügel an einen Pfosten und zog dem alten Karrengaul eins über, als er abstieg - eine unnötige Gemeinheit, die Charles die Stirn runzeln ließ. Der Kutscher schaute mürrisch drein, aber das war keine Entschuldigung.
Der Mann trat durch eine mit >Bühne< gekennzeichnete Tür. Er brüllte irgendwas, kam dann wieder heraus und begann die Bretter vom Wagen zu zerren. Er sah aus, als haßte er seine Arbeit und die ganze Welt.
Eine schwarze Katze streunte aus dem Theater und näherte sich dem Karrengaul. Das Pferd wieherte und wich seitlich aus. Die Katze machte einen krummen Buckel und fauchte. Das Pferd bäumte sich auf, wieherte wild und galoppierte auf die Straße, wo es beinahe einen Zusammenstoß mit einem grünweißen Hotelomnibus verursacht hätte, der Passagiere und Gepäck vom Uferdamm transportierte. Einer der Fahrgäste lehnte sich hinaus, um den Gaul mit einem Schlag zu verscheuchen. Wieder stieg das Pferd hoch.
Als der Omnibus weiterratterte, ließ der Kutscher drei Bretter auf den Gehsteig fallen und schlug mit seinem schwarzen Hut auf das Hinterteil des Pferdes ein. »Du gottverdammter elender Klepper.« Wieder schlug er zu und wieder und wieder.
Während er zusah, veränderte sich Charles' Gesichtsausdruck. Das Pferd schnappte nach seinem Peiniger. Der Kutscher griff unter den Sitz, holte eine Peitsche hervor und schlug wild auf den alten Gaul ein.
Um den Kopf seines Pferdes herum rannte Charles auf die Straße, konnte gerade noch einem Reiter ausweichen. Der Kutscher peitschte weiter. »Ich werd' dir's zeigen, mich beißen zu wollen, du verfluchter Klepper.«
Ein Gentleman in Begleitung einer Lady verbat sich diese Ausdrucksweise. Der Kutscher wirbelte herum und bedrohte ihn mit der blutigen Peitsche. Der Mann zog die Frau schnell davon.
Das schwächliche Aufbäumen des alten Gauls amüsierte den Kutscher. Wieder schlug er das Tier.
»Noch einen Schlag, und ich jage dir eine Kugel zwischen die Augen.«
Der Kutscher schaute auf und sah Charles vor sich auf dem Gehsteig, mit ausgestreckten Händen den Armeecolt umklammernd. Charles Wangen waren tiefrot. Der Anblick der Peitschenstriemen versetzte ihn in Wut. Sein Herz hämmerte, das Blut rauschte ihm in den Ohren. Er spannte den Schlagbolzen.
»Herrgott noch mal, das ist mein Pferd«, protestierte der Kutscher.
»Das ist bloß ein Tier. Laß deine schlechte Laune an einem menschlichen Wesen aus.«
Vom Theatereingang links von Charles sagte eine Frauenstimme: »Was geht hier vor?« Charles machte den Fehler, einen Blick in ihre Richtung zu werfen, und der Kutscher zog ihm die Peitsche über die Schulter.
Charles taumelte zurück. Der Kutscher schlug ihm den Colt aus der Hand. Irgendwas explodierte in Charles' Kopf.
Er entriß dem Kutscher die erhobene Peitsche und schleuderte sie beiseite. Dann sprang er den Mann an und riß ihn herunter auf den hölzernen Gehsteig. Sein rechter Arm schoß vor und zurück. Jemand aus der sich ansammelnden Menschenmenge packte ihn bei den Schultern. »Schluß! Aufhören!«
Charles hämmerte weiter.
»Aufhören! Sie bringen ihn ja um.«
Zwei Mann schafften es, ihn wegzuzerren. Der rote Nebel in seinem Kopf lichtete sich, und er sah das zerschlagene, blutige Gesicht des auf dem Rücken liegenden Kutschers. Einer aus der Menge sagte zu dem Kutscher: »Du lädst besser ab und verschwindest hier.«
Charles warf dem Kutscher ein blaues Halstuch aus seiner Gesäßtasche zu. Der Mann stieß es beiseite und belegte Charles mit einem Schimpfnamen. Charles massierte seine schmerzende rechte Hand, während der Kutscher auf die Beine taumelte und die restlichen Bretter vom Wagen zu zerren begann.
»Ganz schöne Bestrafung wegen eines bißchen Prügel fürs Pferd«, sagte einer der Zuschauer zu Charles.
»Der Mann hat mich angegriffen.« Er starrte ihn an, bis der Zuschauer etwas murmelte und sich abwandte.
Die Frau sagte zu jemandem im Inneren des Theaters: »Arthur, hilf bitte beim Abladen des Holzes.« Charles wandte sich ihr zu; ihr Anblick traf ihn vollkommen unerwartet: eine Frau von vielleicht zwanzig Jahren, so hübsch wie ein Bild, schlank, aber doch wohlgeformt, mit blauen Augen und so hellblondem Haar, daß es schon silbern glänzte. Sie trug ein schlichtes, gelbes, teilweise staubiges Kleid. In ihren Armen hielt sie die schwarze Katze.
»Diese streunende Katze hat das Pferd erschreckt. So fing das an.« Charles fielen seine Manieren ein, und er zog seinen alten Strohhut.
»Prosperity ist keine Streunerin. Sie gehört zum Theater.« Die junge Frau deutete auf die Tafel auf dem Gebäude. »Ich bin Mrs. Parker.«
»Charles Main, Ma'am. Glauben Sie mir, ich gehe nicht immer gleich so in die Luft, nur wenn jemand ein Pferd mißhandelt.«
Ein breitschultriger Neger half dem Kutscher, die Bretter hineinzutragen. Es war schwer zu sagen, was den Kutscher verdrossener stimmte: die Prügel oder daß er mit einem Neger zusammenarbeiten mußte.
Mrs. Parker sagte: »Nun, wenn das ein Fehler ist, dann wenigstens für einen guten Zweck.«
Charles reagierte auf die Bemerkung mit einem Nicken und setzte seinen Hut auf, bereit zum Gehen. Die junge Frau fügte hinzu: »In unserem Aufenthaltsraum gibt's Wasser, wenn Sie sich die Hände waschen möchten.«
Er sah, daß seine Hände blutverschmiert waren, als er sich nach seinem Revolver bückte. Irgend etwas in ihm weigerte sich, von einer Frau auch nur eine beiläufige Gefälligkeit anzunehmen, aber trotzdem sagte er: »Gut. Danke.«
Sie betraten die düstere Fläche hinter der Bühne. Mit seltsamen Schritten näherte sich ein gewichtiger Mann von der Bühne, die im strahlenden Glanz der Kalklichter lag. Er ging vornübergebeugt; auf seinen Rücken hatte er ein großes Kissen wie einen Buckel gebunden. Die Zunge hing ihm aus dem Mundwinkel. Seine baumelnden Hände schwangen wie ein Pendel hin und her. Auf einmal richtete er sich auf.
»Willa, wie soll ich mich auf den Winter meiner Unzufriedenheit konzentrieren, wenn hundert Müßiggänger vor meiner Tür einen Aufstand machen?«
»Es war kein Aufstand, Sam, nur eine kleine Diskussion. Mr. Main, mein Partner, Mr. Samuel Trump.« Sie deutete auf das Kissen. »Wir proben >Richard der Dritte<.« Charles dachte, das sei Shakespeare, wollte aber nicht durch eine Frage seine Unwissenheit verraten.
Trump sagte: »Habe ich die Ehre, einen Thespisjünger, einen Kollegen, begrüßen zu dürfen, Sir?«
»Nein, Sir, ich fürchte nicht. Ich bin Händler.« Es überraschte ihn ein bißchen, das zum erstenmal auszusprechen.
»Handeln Sie mit den Indianern?« fragte die junge Frau. Er bejahte. »Sie klingen wie ein Südstaatler«, fuhr sie fort. »Haben Sie in der Armee gedient?«
»Das hab' ich. Ich ritt vier Jahre lang bei General Wade Hamptons Kavallerie.«
»Ein Glück, daß Sie ohne Schramme davongekommen sind«, erklärte Trump. Charles hielt es für überflüssig, einer derart albernen Feststellung zu widersprechen.
Mrs. Parker erzählte Trump, was draußen geschehen war, wobei sie Charles schmeichelte und seinen brutalen Zornesausbruch verharmloste. »Ich habe Mr. Main gesagt, er könne sich im Aufenthaltsraum säubern.«
»Selbstverständlich«, sagte Trump. »Falls Sie eine Aufführung unserer neuesten Produktion sehen möchten, Sir, empfehle ich Ihnen frühzeitige Platzreservation. Ich rechne mit einem ausverkauften Theater, vielleicht bekommen wir sogar ein Angebot, mit dieser Produktion nach New York zu gehen.«
Willa schenkte ihm ein klägliches Lächeln. »Sam, du weißt, das bedeutet Pech.«
Trump beachtete sie nicht. »Adieu, meine lieben Freunde. Meine Kunst ruft mich.« Mit baumelnden Händen schob er sich wieder seitwärts auf die Bühne und bellte: »Das grimm'ge Gesicht des Krieges hat seine Falten geglättet ...«
»Hier entlang«, sagte Willa zu Charles.
Sie schloß die Tür des großen, unaufgeräumten Aufenthaltsraumes, um Prosperity für eine Weile einzusperren. Auf einem kleinen Sofa, an dem ein Bein fehlte, schnarchte ein Gentleman vor sich hin; die handgeschriebene Rolle bedeckte sein Gesicht.
Prosperity sprang auf seinen Bauch und begann sich zu putzen. Der Schauspieler rührte sich nicht.
Willa zeigte Charles ein Waschbecken mit sauberem Wasser, das auf einem Tisch zwischen Make-up-Töpfen, Bürsten und Puderdosen stand. Sie reichte ihm ein sauberes Handtuch.
»Danke.« Er war sich seiner eigenen Unbeholfenheit nur zu bewußt. Seit Gus Barclays Tod hatte er die Gesellschaft von Frauen gemieden. Sein Besuch bei der Zeltstadthure war fast ohne Konversation abgelaufen.
Mit dem feuchten Handtuch säuberte er seine Hände vom Blut. Willa verschränkte ihre Arme und musterte ihn. »Wie nennen Sie dieses Kleidungsstück, das Sie da tragen? Ein Cape? Einen Poncho?«
»Das ist mein Zigeunermantel. Ich hab' ihn stückweise zusammengenäht, zu der Zeit, als die Uniformen zerfetzt waren und Richmond keine neuen mehr schicken konnte.«
»Ich weiß wenig vom Krieg, nur das, was ich gelesen habe. Ich war erst fünfzehn, als der Krieg begann.«
So jung. Er ließ das Handtuch neben dem Becken fallen; das Wasser hatte sich rötlich gefärbt. »Bevor Sie fragen, sage ich es Ihnen. Ich hab' nicht für die Sklaverei gekämpft, und die Sezession war mir auch verdammt egal. Ich verließ die U.S. Army. um für meinen Staat und das Heim meiner Familie zu kämpfen.«
»Ja, Mr. Main, aber der Krieg ist vorbei. Es gibt keinen Grund, so angriffslustig zu reagieren.«
Er entschuldigte sich; er hatte selbst nicht bemerkt, daß er zornig klang. Es lag eine gewisse Ironie darin. Zu wie vielen Männern hatte er gesagt, daß der Krieg vorüber sei?
»Es war eine schlimme Zeit, Mrs. Parker. Läßt sich schwer vergessen.«
»Vielleicht hilft Ihnen etwas Erfreuliches dabei. Sie haben vorhin da draußen eine menschliche Tat vollbracht. Sie haben eine Belohnung verdient. Ich würde Sie gern zum Abendessen einladen, wenn ich darf.«
Der Kiefer klappte ihm herunter. Sie lachte. »Ich habe Sie schockiert. Das war nicht meine Absicht. Sie müssen das Theater verstehen, Mr. Main. Es ist ein einsames Geschäft. Und deshalb klammern sich die Theaterleute aneinander. Da gibt es sehr wenig konventionelle Formalität. Wenn sich eine Schauspielerin nach einem freundschaftlichen Gespräch sehnt, dann ist es nicht schändlich, wenn sie einen Kollegen darum bittet. Ich vermute, von außen sieht es nicht so unschuldig aus. Kein Wunder, daß Prediger uns für ein loses, gefährliches Volk halten. Ich versichere Ihnen«, sie sagte es leichthin, aber doch gezielt, »ich bin weder das eine noch das andere.«
»Nun, ich könnte es mir auch nicht vorstellen, da Sie ja verheiratet sind.«
»Ah - Mrs. Parker. Das ist lediglich Bequemlichkeit. Das hält einige der Männer, die sich am Bühneneingang drängen, auf Distanz. Ich bin nicht verheiratet. Ich suche mir nur meine Freunde lieber selber aus.« Ihr Lächeln war warm und herzlich. »Ich wiederhole mein Angebot. Möchten Sie mir beim Abendessen Gesellschaft leisten? Sagen wir morgen abend? Heute abend proben wir.«
Beinahe hätte er nein gesagt. Doch irgend etwas veranlaßte ihn, das Gegenteil zu sagen. »Es wäre mir ein Vergnügen.«
»Und kein Streit darüber, daß eine schlichte Frau die Rechnung zahlt?«
Er lächelte. »Kein Streit.«
»Sieben Uhr dann? Das New Planter's House in der Fourth Street?«
»Gut. Ich werde versuchen, mich anständig herzurichten.«
»Sie sehen großartig aus. Das Bild eines galanten Kavalleristen.« Sie schockte ihn mit ihrer lockeren Offenheit. »Bis morgen.«
»Jawohl. Ma'am.«
»Oh nein, bitte. Belassen wir es bei Willa und Charles.« Er nickte und marschierte hinaus.
Während er von Laden zu Laden ging und die Sachen kaufte, die er benötigte, versuchte er sich darüber klarzuwerden, weshalb er sich auf diese Einladung zum Abendessen eingelassen hatte. War es schlicht der Hunger auf die Gesellschaft einer Frau? Oder die Art und Weise, wie sie sich ihm genähert hatte, mit unerwarteter Offenheit und in Umkehrung der üblichen Rollenverteilung? Er wußte es nicht. Er wußte lediglich, daß ihn die junge Schauspielerin faszinierte, und das beunruhigte ihn in zweierlei Hinsicht. Er fühlte sich wegen Gus Barclay schuldig, und er war sich der potentiellen Schmerzen nur zu sehr bewußt, die sogar in einer Freundschaft lagen.
»Sie hat dich gefragt?« rief Holzfuß, als Charles ihm davon erzählte.
»Ja. Sie ist nicht, nun, konventionell. Sie ist Schauspielerin.«
»Oh, jetzt kapiere ich. Dann nütz die Sache aus, Charlie. Es heißt, Schauspielerinnen seien immer gut für einen schnellen Sprung in die Laken.«
»Die nicht«, sagte er. Das gehörte zu den wenigen Sachen, die er über Willa Parker mit einiger Gewißheit sagen konnte.
Wenn dieser blaue Cut bloß alt war, dann war der Atlantik nichts weiter als ein Teich. Der Cut aus zweiter Hand hatte Charles vier Dollar gekostet. »Das ist eindeutig ein Darlehen«, hatte Holzfuß gesagt. »Ich bin durchaus für Romanzen, aber ich finanziere sie nicht.« Der Trödler gab noch eine gebrauchte Krawatte dazu; Charles borgte sich einen weiteren Dollar von seinem neuen Partner und kaufte etwas Macassaröl. So herausgeputzt mit den langen, angeklebten Haaren kam er sich albern und geckenhaft vor.
Diese Meinung schienen auch zwei Neger in grüner Samtlivree zu teilen, die die Gäste am Eingang des eleganten New Plan-ter's House empfingen, dem zweiten Hotel in St. Louis, das diesen Namen trug. Charles übergab einem Stallknecht sein Pferd und stolzierte zwischen den beiden Türstehern hindurch. Sein scharfer Blick und seine düstere Erscheinung ließen ihnen jede Bemerkung über sein Aussehen in der Kehle steckenbleiben.
Willa erhob sich von einem der Plüschsitze in der weiträumigen Lobby. Ihr schnelles Lächeln dämpfte seine Nervosität ein bißchen. »Meine Güte«, sagte sie. »Für einen Indianeragenten schauen Sie aber wirklich elegant aus.«
»Besonderer Anlaß. Kommt bei mir ja nicht oft vor. Aber ich würde eher sagen, wenn hier jemand elegant ist, dann Sie.«
»Besten Dank, Sir.« Sie nahm seinen Arm und führte ihn zum Speisesaal. Durch irgendeinen weiblichen Zauber, den er nicht begriff, funkelte sie förmlich vor jugendlicher Schönheit, auch wenn sie fast vollkommen schwarz gekleidet war: ihr Reifrock, ihr Seidenumhang, ihr kleiner Hut mit einer einzigen schwarzen Feder. Weiße Spitze bauschte sich um ihre Kehle und säumte ihre Ärmel - gerade soviel, um einen aufregenden Kontrast zu schaffen.
Ein hochnäsiger Oberkellner wollte sie hinter einen Topffarn neben den Kücheneingang setzen. »Nein, danke«, sagte Willa liebenswürdig. »Ich bin Mrs. Parker von Trumps Theater. Ich schicke einen Großteil unseres Publikums zu Ihnen, damit sie Ihre Küche genießen können. Ich habe nicht die Absicht, den schlechtesten Tisch zu nehmen. Den in der Mitte, bitte.«
Es war ein Tisch für vier Personen, doch der Mann war von ihrem Charme entwaffnet. Er dankte ihr überschwenglich.
Die Verbindung von sanftem Gaslicht und den Kerzen auf den Tischen schuf trotz des vollbesetzten Saales eine intime Atmosphäre. Mehrere Gentlemen unterbrachen ihr Gespräch und warfen Willa bewundernde Blicke zu. Ihr schwarzes Kleid und ihre lebhaften blauen Augen wirkten bezaubernd, als sie Charles gegenübersaß. Die Servietten in den Weinkelchen auf dem rosa Tischtuch zwischen ihnen ähnelten rosafarbenen Blumen.
»Ich passe nicht hierher«, fing er an.
»Unsinn. Sie sind der bestaussehende Bursche weit und breit. Also bitte, angeln Sie nicht weiter nach Komplimenten.«
Er wollte protestieren, als er merkte, daß sie ihn nur neckte. Der Kellner brachte die in Leder gebundenen Speisekarten. Charles erbleichte, als er die Weinkarte aufschlug.
»Alles französisch. Zumindest halte ich es für französisch.«
»Stimmt. Soll ich für uns bestellen?«
»Wär' wohl besser. Servieren sie hier Hafergrütze oder Maisfladen?« Sie kicherte, was er auch beabsichtigt hatte. Allmählich begann er den Abend zu genießen. Sie sagte: »Ich bezweifle es. Die Kalbsmedaillons sind immer gut. Und zuvor Escargots, denke ich.« Charles studierte sein Besteck, um seine Unwissenheit über die Natur von Escargots zu verbergen.
»Mögen Sie Rotwein?« erkundigte sie sich. »Sie haben hier einen Bordeaux aus dem kleinen Dorf Pomerol, der ist ganz vernünftig.«
»Fein.« Der Kellner zog sich zurück. »Sie verstehen eine Menge von Speisen und Wein.«
»Schauspieler verbringen viel Zeit in Hotels. Ich wäre hilflos, wenn ich etwas anpflanzen oder einen Fisch fangen müßte.« Bei ihrem Lächeln fühlte er sich wunderbar entspannt. Er warnte sich selbst, auf der Hut zu sein; die Erinnerung an Gus war noch zu frisch.
»Sie sind also bereit, ins Indianerterritorium aufzubrechen. Vielleicht wird es dieses Jahr da draußen friedlich zugehen.« Er zog eine Zigarre halb aus seiner Tasche, schob sie dann wieder zurück. »Nein, rauchen Sie ruhig. Ich habe nichts gegen Zigarren.«
Er zündete die Zigarre an und sagte: »Sie halten sich über die Indianer auf dem laufenden?«
Er hatte es scherzhaft gemeint, doch ihre Antwort, »Oh, ja«, war durchaus ernsthaft. »In New York gehörte ich zu einer Gruppe namens Indian Friendship Society. Wir schickten Memoranden an den Kongreß, in denen wir die Regierung aufforderten, das Massaker von Sand Creek zu verurteilen. Sind Sie damit vertraut?« Er bejahte. »Nun, die Alleinschuld daran trägt der weiße Mann. Wir stehlen den Indianern das Land und schlachten sie dann ab, wenn sie sich dagegen wehren oder widersprechen. Die Beziehung des weißen Mannes zu den einheimischen Stämmen ist eine schändliche Geschichte des Betrugs, der Ungerechtigkeit, der gebrochenen Versprechen und mißachteten Verträge und unaussprechlicher Grausamkeiten.«
Charles bestaunte ehrfürchtig ihre Kreuzfahrerleidenschaft. »Mein Partner wäre Ihrer Meinung«, sagte er. »Er mag die Cheyenne im Süden. Jedenfalls die meisten.«
»Und Sie?«
»Ich habe nur einige Erfahrungen mit ein paar Comanchen, drunten in Texas - und die waren jedenfalls alle scharf darauf, mich zu erschießen.«
»Ich weiß, es ist unmöglich, die Expansion Richtung Westen aufzuhalten. Aber das darf nicht um den Preis der Auslöschung der Urbevölkerung geschehen. Gott sei Dank gibt es einige Anzeichen für einen Frieden. Dieser blutdürstige General Dodge wollte tausend Männer loslassen, die jeden Indianer entlang des Santa-Fe-Trails töten sollten, aber er wurde aufgehalten. Und gestern las ich in der Missouri Gazette, daß Colonel Jesse Leaven-worth, der Indianeragent, einen Waffenstillstand mit einigen der Indianer ausgehandelt hat, die zum Verwaltungsbereich seiner Upper Arkansas Agency gehören. Ist Ihnen klar, was das bedeutet?«
Sie beugte sich mit lebhaft geröteten Wangen vor. »Es bedeutet, daß William Bent und Kit Carson und Senator Doolittle von Wisconsin eine echte Chance haben, bald schon eine Friedenskonferenz einzuberufen. Vielleicht bringen wir einmal einen Vertrag zustande, den beide Seiten einhalten werden.«
Der Kellner brachte kleine Silbergabeln und merkwürdige, muschelartige Dinger, die in einem Halbkreis auf dem Teller angeordnet waren. Verblüfft hob Charles die kleine Gabel.
»Escargots«, sagte sie. »Schnecken.«
Er hustete und tastete nach seiner Zigarre in dem Kristallaschenbecher. Einige tiefe Züge ließen ihn seine erste Begegnung mit Schnecken in dieser Form überstehen.
Nachdem der Kellner den vollen, schweren Pomerol eingeschenkt und Charles ein Glas getrunken hatte, floß die Unter-haltung lockerer dahin. Er erzählte Willa einiges von seinen Kriegserlebnissen und von seinem besten Freund Billy Hazard, den er aus dem Libby-Gefängnis gerettet hatte. Er beschrieb den Offizier namens Bent, der einen unerklärlichen Groll gegen seine und Billys Familie hegte. »Der Krieg hat ihn verschlungen. Ein weiteres Opfer vermutlich. Ich kann nicht behaupten, daß es mir leid tut.«
Sie tranken noch etwas Wein, dann wurde das Kalb serviert, appetitlich garniert mit leuchtend gelben Kürbiswürfeln und großen Erbsenschoten. Mit offensichtlicher Emotion sprach er von anderen Dingen, von seiner bleibenden Liebe für Mont Royal - niedergebrannt, aber wieder im Aufbau begriffen - und der Zuneigung, die er seinem Cousin Orry entgegenbrachte, der ihn vor der Selbstzerstörung bewahrt hatte.
Plötzlich sagte er: »Und was ist mit Ihnen? Ist dies Ihr Zuhause?«
Sie konzentrierte sich darauf, mit der Gabel ein Stück Kalbfleisch zum Mund zu führen; sie hielt die Gabel in der linken Hand, was Charles bis jetzt nur bei Leuten von höchster Kultiviertheit gesehen hatte. »Nein. Ich kam auf eine Anfrage von Sam Trump her, der mich gebeten hatte, sein Theater auf eine profitable Basis zu stellen. Er ist ein alter Freund meines Vaters. Der übrigens nicht Parker hieß, sondern Potts.« Sie verzog das Gesicht, und er lachte.
Sie unterhielten sich weiter. Charles vergaß, wie bizarr sein angeklatschtes Haar aussehen mußte oder wie unbehaglich er sich in dem ausgefransten Cut fühlte. Der Wein glitt leicht die Kehle hinunter, dämpfte das Kerzenlicht und untermalte ihre Schönheit. Ein Geigenspieler und ein Cellist, feierliche bärtige Typen mit weißen Krawatten und Schwalbenschwänzen, begannen in einer Ecke pseudoklassische Stücke zu spielen.
»Wie kamen Sie als Händler nach St. Louis, Charles?«
»Eigentlich ...« Konnte er es wagen, ihr zu vertrauen? Er schaute in ihre blauen Augen. Ja. »Ich war nie zuvor draußen. Ich bin ein West-Point-Absolvent, verstehen Sie. Nach dem Krieg ging ich wieder zur Armee, aber jemand in Jefferson Barracks erkannte mich - ein Mann, der zur gleichen Zeit wie ich die Akademie besuchte. Sie gaben mir einen Tritt, im wahrsten Sinne des Wortes. Nun, irgendwie mußte ich Geld verdienen, um meinen Sohn .«
Sie ließ ihren Löffel fallen. Er klapperte gegen den Rand ihres Tellers mit Blaubeeren in Sahne und fiel zu Boden. Charles sah, daß sie verärgert war. »Oh nein, warten Sie.« Ohne nachzudenken, schoß seine Hand über den Tisch und griff nach der ihren. »Ich habe Ihnen nichts vorgemacht. Ich habe tatsächlich einen Sohn, acht Monate alt. Seine Mutter starb bei seiner Geburt in Virginia.«
»Oh. Das tut mir aufrichtig leid.« Sie entspannte sich und griff nach dem neuen Löffel, den der Kellner lautlos neben ihren Goldrandteller gelegt hatte. Den Blick auf das Dessert gerichtet, murmelte sie: »Es scheint so, als hätten wir beide eine Vergangenheit, die etwas aus dem Rahmen fällt.«
Er wunderte sich über den schmerzlichen Unterton in ihren Worten. Ein Mann gab den Musikern ein Trinkgeld, und sie spielten Lorena.
Charles und Willa sahen sich an und ließen die lieblich traurige Musik sprechen.
Die Nacht roch nach Holzrauch. Willa schlug einen Spaziergang auf dem Uferdamm vor, und sie schlenderten Arm in Arm dahin. Diesmal war sie nicht so vorsichtig; die seidene Wölbung ihres Busens drückte leicht gegen seinen Arm. Er spürte seine starke körperliche Reaktion.
Sie gingen nach rechts, zwischen den Piers und den steinernen Lagerhäusern und den Handelsgebäuden hindurch. Ein gelblicher Mond tarnte den Schmutz und milderte die scharfen Silhouetten der großen Kisten und Fässer, die auf ihre Verschiffung warteten. Ein Wachmann, der auf einer Tonne saß, nahm seine Maispfeife aus dem Mund. »Abend.« Seine linke Hand ruhte weiterhin auf seiner Schrotflinte.
»Es war ein herrlicher Abend«, sagte Willa seufzend. »Da Sie bereits wissen, daß ich sehr direkt bin, kann ich Ihnen genausogut sagen, daß ich ihn gern wiederholen würde.«
Jetzt, dachte Charles. Schluß damit. Belaß es dabei. Aber er hatte zuviel von dem üppigen Pomerol getrunken.
»Ich auch.«
»Gut. Wie lange muß ich warten?«
»Bis zum Frühjahr, schätze ich. Dann kommt Jackson mit den Pferden zurück, die er während des Winters gesammelt hat.«
»In Ordnung.« Die schwarze Feder auf ihrem Hut wippte, als sie nickte. »Ab 1. April nächsten Jahres liegt für Sie am Schalter eine Eintrittskarte bereit. Für jede Vorstellung ist ein Logensitz für Sie reserviert. Wenn ich Sie im Publikum sehe, weiß ich, die Zeit für das nächste Abendessen ist gekommen.«
»Abgemacht. Sie sind sehr zuversichtlich, daß das Theater gedeihen wird.«
»Ich werde dafür sorgen.« Es war keine Angeberei, sondern sie brachte lediglich ihre Überzeugung zum Ausdruck. »Wie so viele andere Schauspieler auch ist Sam ein liebenswerter, charmanter Mann, eitel und alles, was dazugehört. Aber er hat eine Schwäche für Alkohol. Wenn ich ihn trocken halten kann und wir drei oder vier neue Stücke in unser Repertoire aufnehmen, vielleicht eine Komödie von Moliere und noch eines dieser Melodramen, die Sam unter dem Namen Samuels schreibt - sie sind fürchterlich, wirklich, aber das Publikum liebt sie, weil er genau weiß, wie er aufwühlende Texte für sich selbst zu schreiben hat -, wenn wir all das bis zu Ihrer Rückkehr zustande bringen, dann schaffen wir es. Dann muß man dran denken, Weitere Schauspieler für eine Tourneetruppe zu engagieren.«
»Für Ihre jungen Jahre sind Sie sehr entschlossen.«
Sie beobachtete den Fluß. Ein großer, weißer Schaufelraddampfer stampfte den Missouri flußauf; ein Perlenband bernsteinfarbener Lichter kennzeichnete das Kabinendeck.
»Ist das nicht ein schöner Anblick, Charles?«
»Ja, aber diese Kabinenlichter lösen ein einsames Gefühl in mir aus.«
»Ich weiß. Ich habe so empfunden, seit ich klein war und mit meinem Vater durch fremde Städte reiste, immer von dem Wunsch beseelt, eine der Lampen wäre entzündet worden, um uns willkommen zu heißen - es ist spät«, sagte sie abrupt. »Wir sollten zurückgehen. Ich kontrolliere immer noch, ob Sam im Bett liegt, und zwar nüchtern. Wir proben morgen früh >Stra-ßen der Schande<.«
In entspanntem Schweigen gingen sie zurück, durch die nächtlichen Geräusche von St. Louis: ein Mann und eine Frau, die sich stritten; ein Banjo spielte Old Folks at Home; Straßenköter kläfften und bellten sich wegen ein paar Abfällen an. »Das ist eine hübsche Melodie«, sagte sie, als sie sich dem Theater näherten. »Wie heißt sie?«
»Was meinen Sie?«
»Die Melodie, die Sie eben gesummt haben.« Sie wiederholte einige Noten.
»Ich habe gar nicht gemerkt - das ist bloß eine kleine Melodie, die ich erfunden hab', weil sie mich an zu Hause erinnert.«
»Das ist etwas, was ich nie hatte, ein echtes Zuhause.« Sie hielt vor der Bühnentür und holte den Schlüssel aus ihrem Seidentäschchen. »Sam schläft im Büro, und ich habe mein Lager oben im Dachgeschoß aufgeschlagen. Spart die Kosten für Unterkunft, obwohl ich hoffe, in ein besseres Quartier umziehen zu können, wenn wir eine gute Saison schaffen.« Sie hob den Kopf, wartete. Charles beugte sich herab und gab ihr einen brüderlichen Kuß, wobei er kaum ihren Mundwinkel mit seinen Lippen berührte. Ihre linke Hand schoß hoch und preßte ganz kurz seinen Nacken.
»Passen Sie draußen im Westen auf sich auf. Ich möchte Sie im Frühjahr wiedersehen.«
»Willa ...« Er kämpfte mit sich, aber es mußte gesagt werden. »Sie sind offen und direkt. Ich will es auch sein. Ich lebe ein Einsiedlerleben, vor allem jetzt, wo die Mutter meines Sohnes nicht mehr ist. Ich will keine - Bindungen.«
Ausdruckslos fragte sie: »Schließt das auch Freundschaften ein?«
Das kam überraschend; er konnte nur wiederholen: »Bindungen.«
»Warum möchten Sie keine Bindungen?«
»Menschen werden dadurch verletzt. Einer Person stößt etwas zu, und die andere Person muß eine schlimme Zeit durchmachen. Ich wollte damit nicht andeuten, daß Sie und ich - das heißt .« Er räusperte sich. »Ich mag Sie, Willa. Dabei sollten wir es belassen.«
»Ich habe nichts dagegen einzuwenden, Charles. Gute Nacht.«
Sie schloß die Tür auf und verschwand. Er blieb draußen stehen, starrte das vom Mondschein überspülte Gebäude an und gratulierte sich selbst, daß er im richtigen Augenblick den Mund aufgemacht hatte.
Aber wenn er die Sache so gut hinbekommen hatte, warum erfüllte es ihn dann mit Freude, sogar mit überraschender Sehnsucht, wenn er an ihr Gesicht dachte, an den Druck ihrer Brust gegen seinen Arm, an die Dinge, die sie gesagt hatte?
Etwas in ihm war in Bewegung geraten, etwas Gefährliches.
Du wirst viel Zeit haben, darüber wegzukommen, sagte er sich, als er sich umdrehte und auf den Hotelstall zumarschierte.
In Trumps Theater lehnte sich Willa gegen die Eingangstür. »Nun«, sagte sie, »es war ja nur ein kleiner Hoffnungsschimmer.«
Schon vor langer Zeit hatte sie erfahren, daß in dieser Welt Hoffnungen leicht und oft zerstört wurden. Sie richtete sich auf, wischte sich flüchtig über die Augen und ging dann auf den Lichtspalt zu, der sich unter der Bürotür zeigte. Sams Schnarchen riß sie aus dem Zauber der Nacht und weg von dem großen Südstaatler und den närrischen Phantasien des Abends.
MADELINES JOURNAL
September 1865. Cooper ist begnadigt.
Das habe ich von Judith. Sie fuhr mit Marie-Louise von Charleston her, um sich nach unserem Wohlergehen zu erkundigen. Ich zeigte ihnen das fast vollendete Schulhaus und stellte ihnen Prudence vor, von der siebegeistert waren. Wegen der Schule will Cooper nicht mehr herkommen. Judith sagt, er beharre darauf, daß die einzig akzeptable Gesellschaftsordnung nur darin bestehen kann, die Farbigen für immer den Weißen unterzuordnen. Er gesteht ihnen Freiheit, aber nicht Gleichheit zu. Eine Ansicht, die Judith traurig stimmt.
Judith ließ - sich unserer wachsenden Isolation wohl bewußt - einige Zeitungen aus Charleston da. Der dreizehnte Zusatz zur Verfassung ist ratifiziert und ein Minderheitsantrag von dem provisorischen Gouverneur Perry abgelehnt worden, den Sklavenbesitzern Wiedergutmachung zukommen zu lassen und den Negern nur handwerkliche Arbeiten zu genehmigen. Perry: »Nein, es ist vorbei -für immer vorbei - und darf nie wieder zum Leben erweckt werden.«
Zwei von Johnsons Bedingungen sind also erfüllt. Die dritte, Anerkennung der Kriegsschuld, noch nicht. Perry: »Es wäre ein Tadel South Carolinas, daß ihre Verfassung weniger republikanisch ist als die irgendeines anderen Staates.«
Delegierte sprachen die Empfehlung aus, James Orr zum Gouverneur zu wählen. Ein gemäßigter Mann, Gegner der Hitzköpfe und einst Sprecher des Repräsentantenhauses in Washington: ich erinnere mich, daß du ihn respektiert hast. Als Mitglied des konföderierten Senats plädierte er für Friedensverhandlungen und sagte eine sichere militärische Niederlage voraus. Niemand wollte auf ihn hören.
Bei einem Gesuch um Nachsicht gegenüber Mr. Davis prallten die Meinungen hart aufeinander. Der Delegierte Pickens drückte es sehr deutlich aus: »Es steht uns nicht an, zu prahlen und zu schwadronieren - zu drohen und uns aufzublasen. Unser Staat und die Meinung der Welt verpflichten uns, Carolinas Wunden zu verbinden und das Öl des Friedens darauf zu gießen.«
Einige pfiffen ihn aus. Sollen wir denn ewig Gefangene der alten Traditionen, der alten Leidenschaften, der alten Fehler bleiben?
In der Dämmerung bei der Einfahrt zu unserer Straße ein merkwürdiges Päckchen gefunden. Keine Ahnung, wie es dorthin gekommen ist ...
Das Maultier erkannte den zusammengesunkenen Schwarzen und stupste ihn an. Juba schleppte seinen müden, arthritischen Körper über die Veranda des Dixie Store. Schmerzerfüllt umklammerte er den Türrahmen. Die beiden weißen Männer nahmen seine Gegenwart fast eine Minute lang nicht zur Kenntnis.
Schließlich fragte LaMotte: »Hast du es dort gelassen, so wie ich es dir gesagt habe?« Seine Größe ließ den bebrillten Ladenbesitzer Gettys wie einen kleinen Jungen erscheinen.
»Yessir, Mist' Desmond. Niemand mich geseh'n, auch nicht.«
»Wart draußen«, sagte Des.
»Ich hab' gedacht, Sir - hab' nichts gegessen seit dem Morgen.«
»In ein paar Stunden sind wir wieder in Charleston. Du kannst dort essen.«
Juba wußte, daß es keinen Sinn hatte zu widersprechen. Er schob sich hinaus in die Dämmerung, mit einem elenden Gefühl im Herzen.
Des sagte: »Als ich hier darauf wartete, daß mein Nigger den Auftrag ausführt, hätte ich nie erwartet, jemanden wie Ihnen zu begegnen, Gettys.«
»Es sieht so aus, als würden wir die gleichen Überzeugungen teilen, Mr. LaMotte.«
»Was Sie über Mont Royal sagten, verblüfft mich. Ich hätte nie gedacht, daß diese schwarze Hexe so unverfroren sein könnte. Man muß sie aufhalten. Wenn Sie davon genauso felsenfest überzeugt sind, dann sollten wir uns zusammentun.«
»Jawohl, Sir, ich bin felsenfest davon überzeugt.«
Draußen in der Dunkelheit lehnte Juba seinen schmerzenden Leib gegen eine Eiche. Sein Kopf war voll von traurigen Gedanken über die Herzlosigkeit, zu der manche Menschen fähig waren.
Madeline hielt das mysteriöse Päckchen auf Armeslänge von sich, um die groben Buchstaben auf dem Packpapier besser lesen zu können. Die Brille, die sie dringend nötig gehabt hätte, konnte sie sich nicht leisten.
madeline main. Sie sah es ganz deutlich. Aus ihrem Schaukelstuhl auf der anderen Seite der Lampe sagte Prudence: »Was um alles in der Welt könnte das sein?«
»Schauen wir nach.«
Sie öffnete das flache, viereckige Päckchen. Eine alte, vergilbte Daguerreotypie kam zum Vorschein, ungefähr fünfundzwanzig Zentimeter hoch. Das Bild zeigte eine der häßlichsten schwarzen Frauen, die sie je gesehen hatte, eine Frau mit langem Unterkiefer und hervorstehenden Schneidezähnen. Die Frau lächelte zwar, aber es war ein eigenartiges, bösartiges Lächeln. Die gesamte Kleidung der Frau - Rüschenkleid, Spitzenhandschuhe, Federhut - war weiß, ebenso wie der geöffnete Sonnenschirm, den sie über die Schulter hielt.
Madeline schüttelte den Kopf. »Das muß irgendeine Anspielung auf meine Herkunft sein, aber ich kenne diese Frau nicht.«
Sie legte die Daguerreotypie auf ein kleines Bord. Beide Frauen studierten das Bild. Je länger sie schauten, desto unheimlicher wurde das lächelnde Gesicht. In dieser Nacht sah Madeline es in ihren Träumen deutlich vor sich.
Am nächsten Tag kam Lincoln wegen eines Problems in der Sägegrube ins Haus. Er begann gerade zu sprechen, da bemerkte er die Daguerreotypie und verstummte. Madeline hielt den Atem an.
»Lincoln, kennst du diese Frau?«
»Nein - ich - ja.« Er wich ihrem Blick aus. »Hab' mal für sie gearbeitet, zwei Wochen lang. Konnte ihre Gemeinheiten nicht aushalten, hab' meine Sachen gepackt und bin fortgerannt.« Er schüttelte den Kopf. »Wie kommt das fürchterliche Ding in das Haus?«
»Jemand hat es gestern abend auf den Weg gelegt. Weißt du, warum?«
Wieder wich er ihrem Blick aus.
»Lincoln, du bist mein Freund. Du mußt es mir sagen. Wer ist diese Frau?«
»Nennt sich Neil Whitebird. Bitte, Miss Madeline ...«
»Sprich weiter.«
»Nun, wo ich gearbeitet hab', bei ihr, war ein Ort, wo viel weiße Gentlemen kamen und gingen zu allen Stunden.«
Er hatte nicht das Herz, noch mehr zu sagen. Madeline legte eine Hand an die Lippen, ärgerlich, besorgt, auch verängstigt. Wer immer auch ihre anonymen Peiniger waren, sie wußten nicht nur, daß zu einem Achtel Negerblut in ihren Adern floß, sondern auch, daß ihre Mutter eine Prostituierte gewesen war.
Es hat keine weiteren >Geschenke< oder anderen Vorfälle gegeben. Prudence drängt mich, das Bild zu verbrennen. Ich beharre darauf, daß wir es behalten, eine ständige Erinnerung, daß wir auf der Hut sein müssen ...
... Eine volle Woche verstrich - alles ruhig. Gouverneur Orr hat die Legislative einberufen, und es gibt lebhafte Debatten über eine Reihe neuer Gesetze zugunsten der befreiten Schwarzen sowie zur Verbesserung der allgemeinen wirtschaftlichen Lage. Von den bis jetzt vorgeschlagenen Gesetzen halte ich nicht allzuviel. Das ist nichts weiter als das alte System, verkleidet in neuem Gewand. Wenn sich jene, die Feldarbeiter benötigen, durchsetzen und diese Vorschriften Gesetz werden, dann werden wir sicherlich den Zorn der Nordstaaten ernten.
... Ein freudiger Tag. Zumindest begann er so. Prudence hat ihre ersten Schüler, den zwölfjährigen Pride und den vierzehnjährigen Grant, die Söhne unseres befreiten Negersklaven Sim und dessen Frau Lydie. Als die Jungs noch Francis LaMotte gehörten, hatten sie affektierte klassische Namen - Jason, Ulysses. Letzterer drehte den Spieß um und nannte sich nach einem weniger populären Ulysses!
Noch herzbewegender, wir haben eine weiße Schülerin. Dorrie Otis ist fünfzehn. Auf Drängen ihrer Mutter kam sie voller Scheu zu uns, zeigte sich aber sehr schnell begierig, die Bedeutung dieser merkwürdigen gedruckten Zeichen in Büchern zu verstehen. Ihr Vater ist ein armer Farmer, der nie im Besitz von Sklaven war, aber mit dem System sympathisierte. Ich bin sehr froh, daß seine Frau die Schlacht gewonnen hat, das Mädchen zur Schule zu schicken.
Ein einziger Tag der Freude - mehr gestand man uns nicht zu ...
»Wach auf, Madeline!« Prudence schüttelte sie erneut. Madeline hörte einen Mann brüllen. »Nemo ist draußen. Es brennt.«
»Oh mein Gott.«
Madeline erhob sich hastig aus dem Schaukelstuhl, rieb sich die Augen. Mit ungeschickten Fingern schloß sie die vier obersten Knöpfe ihres beschmutzten Kleides. Sie hatte sie wegen der feuchten Hitze geöffnet und war dann im Schaukelstuhl eingeschlafen.
Sie rannte zur offenen Tür. Draußen im Lampenschein tauchte Nemo mit tränenverschmiertem Gesicht auf. Sie sah den erhellten Himmel. »Ist es die Schule?« Er nickte nur; sprechen konnte er nicht.
Barfuß rannte sie aus dem Haus die sandige Straße entlang zu den alten Sklavenquartieren. Prudence hielt mit ihr Schritt; die Feuchtigkeit klebte das Baumwollnachthemd an ihren üppigen Busen und die breiten Hüften. Der helle Schein drang durch die Bäume und beleuchtete ihren Weg.
Gerade als sie das Schulhaus erreichten, stürzte die letzte Wand in einem Funkenregen nach innen. Die Hitze sprang sie an wie ein wildes Tier.
Prudence schien das nicht zu bemerken. »All meine Bücher sind da drinnen. Und meine Bibel«, schrie sie.
»Du kannst da nicht rein«, sagte Madeline und zerrte sie zurück.
Prudence wehrte sich einen Augenblick, bevor sie aufgab. In ihren Augen lagen Schmerz und Ungläubigkeit, als sie in die Flammen starrte.
Hinter den beiden Frauen versammelten sich einige Schwarze: Andy und Nemo und Sim mit ihren Frauen. Pride und Grant schauten verwirrt und verloren drein.
»Hat jemand hier irgendeinen Fremden gesehen?« fragte Madeline. Niemand hatte etwas bemerkt. Sim erklärte, daß ihn der Schein des Feuers geweckt habe; er hatte einen leichten Schlaf.
Madeline marschierte auf und ab vor Zorn. Sie schleuderte eine feuchte Haarsträhne aus der Stirn. »Randall Gettys hat mich vor der Eröffnung der Schule gewarnt. Vermutlich hat er die Hand hier im Spiel. Allerdings würde er nicht selbst ein Feuer legen, denke ich. Ich halte ihn für einen absoluten Feigling. Er brauchte Komplizen.«
Sie behielt die Bäume in der unmittelbaren Umgebung im Auge, besorgt, daß sich das Feuer noch weiter ausbreiten könnte, was allerdings nicht geschah. Die Flammen konnten die abgeholzte Fläche um das Gebäude nicht überspringen und fielen in sich zusammen, strahlten aber weiter eine intensive Hitze aus.
»Das Schlimmste ist, nicht zu wissen, wer die Feinde sind. Nun, da läßt sich jetzt auch nichts dran ändern. Würde jemand von euch hoch zum Haus gehen und mir das Bild dieser schwarzen Frau bringen?«
Lincoln trat vor. »Ich gehe.«
Er eilte davon. Madeline ging weiter auf und ab. Sie konnte ihre nervöse Erregung kaum unter Kontrolle halten. Prudence redete sanft auf die Schwarzen ein, schüttelte den Kopf und zuckte mit den Schultern, weil sie deren Fragen nicht beantworten konnte.
Lincoln kam mit der Daguerreotypie von Neil Whitebird zurück. Madeline nahm sie und näherte sich vorsichtig den glühenden Überresten. »Das Feuer war das Werk derart schändlicher Männer, daß sie ihre Taten nur im Schutz der Dunkelheit ausführen können. Ich bin mir sicher, die gleichen Männer haben mir das geschickt.« Sie streckte den Arm aus, zeigte ihnen das Gesicht der Prostituierten. »Das ist eine schwarze Frau von üblem Charakter. Die Männer, die diese Schule niedergebrannt haben, sagen, schwarz sei gleichbedeutend mit böse, böse gleichbedeutend mit schwarz. Gott möge sie verfluchen. Wißt ihr, warum sie mir gerade dieses Bild geschickt haben? Meine Mutter war eine Terzeronin.« Verblüfftes Schweigen. »Mehr noch, während einer gewissen Zeit in ihrem Leben verkaufte sie sich an Männer. Doch mein Vater betete sie an. Heiratete sie. Ich halte sie in Ehren. Ich bin stolz darauf, daß ihr Blut in meinen Adern fließt. Euer Blut. Sie wollen, daß wir das für einen Makel halten, ihrem Blut unterlegen. Wir sollen uns in einer Ecke zusammenducken und sie segnen, wenn sie uns ein paar Abfälle zuwerfen, wir sollen dankbar sein, wenn sie uns auspeitschen. Nun, ich sage, zur Hölle mit ihnen. Und das halte ich von ihnen und ihren Taktiken und ihren Drohungen.«
Sie riß die Daguerreotypie mitten durch und schleuderte die Stücke in die Glut. Sie rauchten, krümmten sich, brannten und waren verschwunden.
Madelines Gesicht glühte rot im Feuerschein. Vor Hitze und Zorn lief ihr der Schweiß übers Gesicht. »Falls ihr euch darüber wundern solltet, jawohl, das alles regt mich schrecklich auf, aber ändern tut sich dadurch nichts. Wenn die Asche kalt ist, räumen wir sie weg und beginnen mit dem Bau eines neuen Schulhauses.«
Eines der >Negergesetze<, das die neue Legislative albernerweise in Kraft gesetzt hat, definiert eine farbige Person als einen Menschen, der mehr als ein Achtel Negerblut hat. Also bin ich ausgenommen. Liebster, ich glaube jedoch, daß das keine Auswirkungen auf meine Gegner haben wird.
Ich bin überzeugt davon, daß Mr. Gettys zu ihnen gehört. Könnte der Tanzlehrer ebenfalls einer von ihnen sein? Ich weiß es nicht, und es kümmert mich auch nicht sonderlich. Sie haben uns den Krieg erklärt, mehr brauchen wir nicht zu wissen.
Ich muß Dir sagen, Liebster, daß ich schreckliche Angst habe. Ich bin nicht besonders mutig. Doch ich wurde so erzogen, daß ich zwischen richtig und falsch unterscheide und für das Recht eintrete.
Die Schule ist richtig. Der Traum von einem neuen Mont Royal ist richtig. Ich werde mich nicht unterwerfen. Sie werden mich töten müssen, wenn sie meine Pläne vereiteln wollen.
EINIGE VORSCHRIFTEN AUS SOUTH CAROLINAS >VERHALTENSKODEX FÜR SCHWARZE<
1865
Einem Neger ist es gestattet, Grund und Boden zu erwerben und zu behalten.
Einem Neger ist es gestattet, vor den Gerichten Gerechtigkeit zu suchen, zu klagen und verklagt zu werden und als Zeuge in all den Fällen aufzutreten, in die nur Neger verwickelt sind.
Einem Neger ist es gestattet zu heiraten; der Staat wird diese Ehe und die Legitimität der Kinder aus dieser Ehe anerkennen.
Einem Neger ist es nicht gestattet, eine Person anderer Rasse zu heiraten.
Einem Neger ist es nicht gestattet, ohne spezielle Lizenz, die 10 bis 100 Dollar im Jahr kostet, einer anderen Tätigkeit als Farmer oder Diener nachzugehen.
Ein Neger darf per Autorität eines Gerichtsoffiziellen ausgepeitscht und zurückgebracht werden, wenn er einem Herrn fortläuft, bei dem er sich als Diener verdingt hat; ist er noch keine 18 Jahre, so ist er nur mäßig auszupeitschen.
Ein Neger darf sich keiner Milizeinheit anschließen oder eine Waffe besitzen, mit Ausnahme einer Vogelflinte.
Ein Neger wird zur Feldarbeit abgestellt, wenn er von einem Gerichtsoffiziellen der Landstreicherei für schuldig befunden worden ist.
Ein Neger wird des Staates verwiesen oder zu harter Fron verurteilt für alle Verbrechen, die nicht die Todesstrafe nach sich ziehen.
Ein Neger wird zum Tode verurteilt, wenn er zur Rebellion aufruft, in ein Haus einbricht, eine weiße Frau körperlich belästigt oder ein Pferd, ein Maultier oder einen Ballen Baumwolle stiehlt.
Lieber Jack, schrieb Charles, ich gehe mit einer Handelsgesellschaft für 6 Monate im Jahr in den Westen. Mein Partner sagt, Du kannst jederzeit in Ft. Riley, Kansas, eine Nachricht hinterlassen. Ich melde mich bei Dir, sobald ich zurück bin. Ich hoffe, mein Sohn bleibt gesund und wird sich an mich erinnern und macht Dir und Maureen nicht zuviel Arger. Gib ihm einen Extrakuß von seinem >Pa<.
Ich muß das tun, weil ich nicht mehr in der Armee bin. Ich hatte in Jefferson Barracks einigen Arger...
Ein Spalt strahlend hellen Lichts lag zwischen dem Land und den dichten, grauen Wolken, die im Westen schwer nach unten drückten. Dem Kalender nach war es noch Sommer, September, doch die regenfrische Vegetation und die kühle Luft ließen einen an den Herbst denken.
Die gesamte Jackson Trading Company kam aus dem Wald geritten, vornweg ein Dutzend schwer mit Waren beladene Mulis. Leinenpacken bargen Säckchen mit Glasperlen in unterschiedlichen Größen; Holzfuß Jackson bevorzugte Rauten- und Triangelformen, so wie jene, die am Brustbesatz seines Mantels glitzerten und blitzten.
Der Händler hatte Charles erklärt, daß Cheyenne-Frauen Perlen wünschten, um damit die Gewänder zu verzieren, die sie fertigten. Die Weißen hatten Glasperlen in den Westen eingeführt, und die Vorliebe dafür war bereits weitverbreitet. Eine ältere, traditionellere Zierde stellten die Stachelschweinborsten dar, die es am Mississippi im Überfluß, auf den trockenen Hochebenen, wohin sie gingen, aber höchst selten gab.
Auch einige relativ sperrige Gegenstände brachte Jackson mit. Eiserne Hacken, die länger hielten als das mit Riemen an einem Stock befestigte Schulterblatt eines Büffels. Haltbarkeit war ebenfalls ein Vorteil eines anderen Artikels, den er in größeren Mengen mitführte - ein kleines eisernes Rechteck, bei dem eine lange Seite mit einer Feile zugeschliffen worden war. Das Werkzeug ersetzte ein ähnliches Gerät aus Knochen, mit dem die Haare von der Büffelhaut geschabt wurden, die dann in Kleidungsstücke und Tipiabdeckungen genäht wurden.
Der Händler meinte, es gäbe noch viele andere Dinge, die er verkaufen könnte, aber er zog es vor, sich auf einige wenige Gegenstände zu beschränken, deren Beliebtheit stetig gewachsen war. All diese Güter waren für Frauen bestimmt, wurden aber von Männern mit der am weitesten verbreiteten indianischen Währung bezahlt - mit Pferden.
Charles nahm das alles in sich auf, zusammen mit Holzfuß' Erklärung für seinen Erfolg.
»Es gibt Händler im Fort, die verkaufen die gleichen Sachen wie ich, aber die Cheyenne würden nicht mal in ihre Nähe gehen. Und umgekehrt. Ich bringe seit fast zwanzig Jahren Waren in die Dörfer.«
»Regeln die Indianeragenten nicht den Handel?«
Holzfuß spuckte einen Klumpen Kautabak aus und brachte auf diese Weise seine Ansicht über das Indianerbüro des Innenministeriums zum Ausdruck. »Das würden sie sicher gern, weil die meisten von ihnen nichts weiter als geldgierige Taugenichtse sind, die am liebsten den ganzen Handel an sich reißen würden. Ich hab' ein wachsames Auge auf sie. Wenn sie mich nicht finden, können sie mich nicht aufhalten. Die Cheyenne werden mich nicht verraten, aus dem gleichen Grund, aus dem ich noch meine Haare hab'. Ich bin ihr Freund.«
»Der sich aber ins Gegenteil verwandeln kann, wenn man ihn betrügt, ja?« Charles deutete auf die eingekerbte Feder.
»Nun, ja, das auch.«
Zigarrenrauch kringelte sich an der Krempe von Charles' brandneuem, flachem Filzhut vorbei. Er saß bequem auf Satan; auf die Schenkelinnenseiten seiner Jeans hatte er Streifen abgeschabter Büffelhaut genäht. Der Schecke war wieder in guter Verfassung, doch Charles achtete trotzdem auf leichte Zügelführung; wenn immer möglich leitete er ihn durch Druck von Hand und Knie. Satan reagierte schnell; er war intelligent. Charles hatte keine schlechte Wahl getroffen.
In der Sattelscheide steckte ein glänzend neues Spencer-Repetiergewehr, das sieben Patronen aus einem Magazin verfeuerte. Sein Zigeunermantel verbarg ein Bowiemesser von einem Fuß Länge und ein scharfes Beil mit Pawnee-Verzierungen, Federn und Perlenschnüren am Schaft. Er war besser ausgerüstet als die US-Kavallerie, die sich mit Kriegsrestbeständen zufriedengeben mußte.
Die herbstliche Landschaft, die kühlen Temperaturen und die sinkende Nacht ließen ihn melancholisch werden. Holzfuß versuchte das mit lebhafter Unterhaltung zu verscheuchen.
»Wie geht's der kleinen Schauspielerin? Verschmachtet sie vor Sehnsucht?«
»Das bezweifle ich.«
»Hast du vor, sie wiederzusehen?«
»Vielleicht im Frühjahr.«
»Charlie, du hast so einen komischen Ausdruck in den Augen. Hab' ich früher schon bei Männern gesehen. Hast du eine andere Frau verloren?«
»Ja. In Virginia. Ich spreche nicht gern darüber.«
»Dann tun wir's auch nicht. Trotzdem ganz nett, daß du als Trost die kleine Schauspielerin hast.«
»Sie ist nichts weiter als eine Bekannte. Außerdem kann eine Frau nicht durch eine andere ersetzt werden. Können wir das Thema fallenlassen?«
»Sicher. Du wirst das sowieso bald vergessen. Wo wir hingehen, gibt's massenhaft andere Sachen, die deine Aufmerksamkeit in Anspruch nehmen werden.« Sein Tonfall drückte aus, daß er damit nicht Amüsements, sondern Gefahren meinte.
Charles wünschte sich, er könnte Gus Barclay wenigstens für kurze Zeit vergessen, aber er war dazu einfach nicht in der Lage. In seinem Herzen hegte er den Wunsch, daß sein Gewissen ihn etwas intensiver an Willa Parker denken lassen möge. Ihre bezaubernde Mischung aus Jugend und Weitläufigkeit, Idealismus und fröhlicher Toleranz fesselte seine Phantasie. Vermutlich konnte es nicht schaden, wenn er bei seiner Rückkehr die angebotene Eintrittskarte akzeptierte.
Falls er zurückkehrte.
Holzfuß schien zuversichtlich, doch vor ihnen lag ein weites, leeres Land. Und es gab keinen Zweifel, daß die Stämme aufgebracht waren über die Präsenz der Armee und den ständigen Zustrom der Einwanderer nach Westen.
Fenimore Cooper wedelte mit dem Schwanz und rannte vor den Reitern hin und her; einmal schoß er nach links, dann nach rechts, aber stets kehrte er fröhlich bellend wieder zurück. Charles fragte sich, ob der Hund sich darüber freute, daß er jetzt noch keine Stangenbahre ziehen mußte.
Boy entdeckte in einem Gebüsch einen blauen Häher und klatschte vor Vergnügen in die Hände. Charles paffte seine Zigarre und tätschelte Satan. Die Jackson Trading Company wurde in der gewaltigen Waldlandschaft kleiner und kleiner und verlor sich schließlich in der Dunkelheit.
Ein Gewitter grollte über Richmond. Regen stürzte aus den —Dachrinnen des Spitals und klatschte gegen die Grabsteine des unmittelbar südlich davon gelegenen Shockoe-Friedhofs. Das Toben des Unwetters hielt die Patienten in dieser düsteren Septembernacht wach.
Ein Patient lag auf der Seite, die Knie an die Brust gezogen, von den Armen fest umklammert. Sein Feldbett stand ganz hinten in der Reihe, so daß er sein Gesicht der blanken Wand zuwenden und seine Gedanken verbergen konnte.
In dem dunklen Raum mit der hohen Decke drehten und wendeten sich die Männer und stöhnten vor sich hin. Die Lampe einer Oberin schwebte wie ein Leuchtkäfer dahin. Ein junger Mann mit einem vollständig weißen Bart richtete sich plötzlich auf. »Unionskavallerie. Sheridans Kavallerie auf der linken Flanke!«
Die Oberin eilte an sein Bett. Ihre Stimme besänftigte ihn. brachte ihn zum Schweigen. Dann schwebte ihre Lampe wieder davon.
Im Krieg war das Spital ein Krankenhaus der Konföderierten gewesen. Gegen Ende zu war es vorübergehend zum Hauptquartier für das Virginia Military Institute geworden, das durch Phil Sheridans Kavallerie vom Shenandoah vertrieben worden war. Nach der Kapitulation waren verschiedene Flügel wieder zur Aufnahme geistig gestörter Veteranen geöffnet worden, jener menschlichen Wracks, die von der Flut des Krieges an den Strand gespült und dort vergessen worden waren. Momentan beherbergte das Spital ungefähr fünfzig solcher Männer. Hunderte, vielleicht Tausende von ihnen drängten sich in den verwüsteten Städten des Südens und trieben sich ohne jede Hilfe auf den zerstörten Straßen herum.
Der Patient auf dem letzten Feldbett krümmte und wand sich. Ein vertrauter, stechender Schmerz bohrte sich tiefer und tiefer in seine Stirn. Er litt an diesem Schmerz und einem zerbrochenen, fast deformierten Körper, seit seinem fast tödlichen Sturz in ...
In ...
Gott, sie hatten auch seinen Geist zerstört. Er brauchte zehn Minuten, bloß um diesen Gedanken zu Ende zu denken.
In den James River.
Ja. Der James. Er und einige Mitverschwörer hatten geplant, die Konföderation von diesem unfähigen Jefferson Davis zu befreien. Sie waren entdeckt worden von einem Armeeoffizier namens .
Namens...
Ganz gleich, wie sehr er sich mühte, es wollte nicht zurückkommen, obwohl er wußte, daß es für ihn gute Gründe gab, diesen Mann zu hassen. In dem anschließenden Kampf nach der Aufdeckung der Verschwörung hatte der Mann ihn aus einem Fenster über dem Fluß gestoßen.
Lebhaft erinnerte er sich an den Schock des Sturzes. Nie hatte er solche Schmerzen erdulden müssen. Felsen hämmerten gegen seinen Kopf, sein Hinterteil und seine Beine, als er nach unten stürzte und schließlich auf die Wasseroberfläche aufschlug.
Er hatte einen wiederkehrenden Alptraum von dem, was dann geschah. Er versank, kämpfte gegen die Strömung an, um wieder an die Oberfläche zu gelangen, und schaffte es nicht. Im Traum ertrank er. Die Realität war anders. Irgendwie hatte er sich durch eigene Bemühung oder durch Zufall auf eine Uferbank flußabwärts geschleppt, eine Menge Wasser erbrochen und das Bewußtsein verloren.
Seit dieser Nacht war er ein anderer Mensch geworden. Der Schmerz war nun sein ständiger Begleiter. Seltsame Lichter füllten häufig seinen Kopf. Jetzt, inmitten des Unwetters, sah er sie wieder, gelbe und grüne Nadelblitze, die zu scharlachroten, blendend weißen Sternen erblühten. Als wäre das noch nicht genug des Leidens, ließ ihn auch noch ständig sein Gedächtnis im Stich.
Irgendwie hatte er Richmond erreicht und die große Feuersbrunst überlebt, die in der Nacht, als die konföderierte Regierung stürzte, einen Großteil der Stadt zerstörte. Er hatte sich durchgeschlagen, indem er nachts durch die Straßen schlich und Leute überfiel. Sein letzter Überfall hatte ihm zwei Dollar und den hübschen, wenn auch altmodischen Zylinderhut eingebracht, der jetzt auf dem Regalbrett über seinem Feldbett lag. Längere Zeitspannen mußte er ohne Nahrung auskommen -zwei, drei Tage hintereinander. Dann klaffte eine Lücke in seiner Erinnerung, und danach war er in dem Spital aufgewacht. Sie sagten ihm, er sei auf der Straße zusammengebrochen.
Warum konnte er sich zu gewissen Zeiten an manche Dinge erinnern und an andere nicht? Dann wieder tauchten klar und deutlich neue Erinnerungen auf, während die alten stunden-, manchmal tagelang für ihn nicht mehr greifbar waren. Das alles war ein Teil dessen, was ihm angetan worden war von ...
Von ...
Es wollte ihm nicht einfallen.
Es regnete heftiger, ein Geräusch wie ferner Trommelwirbel. Seine Hand kroch unter die Matratze wie eine blinde, weiße Spinne, auf der Suche nach etwas, woran er sich erinnerte. Er fühlte es, zerrte es hervor, preßte es fest gegen sein schmutziges Nachthemd. Ein zerfleddertes Magazin, das man ihm während einer seiner helleren Perioden gegeben hatte. Harper's New Monthly vom Juli dieses Jahres.
Er erinnerte sich an einzelne Absätze, Schilderungen der großen Parade der Armeen von Grant und Sherman in Washington, die zwei Tage andauerte im ...
Im ...
Mai, das war's.
Im Dunkeln ballte er seine Hand zur Faust. Ich hätte auch marschieren sollen. Man hat mich daran gehindert. Man hat mich daran gehindert, die Rolle zu spielen, für die ich geboren war.
Er konnte es deutlich vor sich sehen. Er ritt einen wunderbaren Hengst, nahm den Jubel der Menge durch eine leichte Verbeugung entgegen, salutierte mit seinem Säbel vor Präsident Lincoln, ritt dann weiter auf seinem tänzelnden Hengst, während die schwitzende, ehrfurchtergriffene Menge skandierte: »Bon-aparte. Bon-aparte.« Er war der amerikanische Bonaparte.
Nein, er hätte es werden sollen. Sie hatten ihn daran gehindert, diese Männer namens ...
Namens...
Sinnlos.
Aber eines Tages würde er sich an sie erinnern. Eines Tages. Und wenn es soweit war, dann mochte Gott ihnen gnädig sein, ihnen und all denen, die zu ihnen gehörten.
Den größten Teil der Nacht lauschte er dem Trommeln des Regens. Gegen vier Uhr schlief er ein. Um sechs erwachte er, immer noch das zerfetzte Harper's-Magazin umklammernd. Obwohl er schmerzfrei war, fühlte er sich elend und unglücklich. An den Grund dafür konnte er sich nicht erinnern.
Er konnte sich nicht einmal an seinen eigenen Namen erinnern.