Es ist bedauerlich, daß der Charakter des Indianers, wie ihn Cooper in seinen interessanten Romanen beschreibt, nicht sein wahrer Charakter ist. ... Der schönen Romantik beraubt, die wir ihm so lange zugestanden haben, von den einladenden Seiten des Romanciers auf die Örtlichkeiten übertragen, wo wir genötigt sind, uns mit ihm auseinanderzusetzen, in seinem heimischen Dorf, auf dem Kriegspfad und bei Überfällen auf unsere Grenzsiedlungen und Fahrtrouten, verliert der Indianer jeden Anspruch darauf, als edler roter Mann bezeichnet zu werden. Wir sehen ihn so, wie er ist und wie er immer gewesen ist... ein Wilder im wahrsten Sinne des Wortes.
General G.A. Custer My Life on the Plains 1872-1874
Ich wurde in der Prärie geboren, wo der Wind frei weht und wo nichts das Licht der Sonne bricht. Hier möchte ich sterben und nicht innerhalb von Wänden und Mauern.
Comanchen-Häuptling Zehn Bären Mediane Lodge Creek 1867
Silberne Gischt sprühte hoch, als sie in der blendenden Helle W des Morgens den Fluß durchquerten. Das mit Schlamm bedeckte Tal glänzte nach dem Regen. Indianer, die auf ihren Bohnen- und Kürbisfeldern arbeiteten, winkten mit ihren Hacken und schrien Begrüßungen. Stromaufwärts, halb im Dunst verschwommen, standen die soliden, mit Rasenstücken gedeckten Holzhütten; auf ihrem Weg zu dieser Furt waren die Händler an dieser Indianersiedlung vorbeigekommen.
»Kansa«, sagte Holzfuß, und deutete auf die Feldarbeiter. »Werden auch Kaw genannt.« Er führte seine Gefährten aus dem seichten Wasser in wogendes, fußhohes Bartgras. »Sie kommen fast mit jedermann aus. Schätze, das hat vor langer Zeit mal für alle Stämme gegolten. Selbst für die Cheyenne, als sie noch in Minnesota oder wo auch immer lebten. Jetzt trifft das nicht mehr zu. Die Gründe dafür wirst du bald sehen.«
Auf ihrem weiteren Weg nach Westen sahen sie die Gründe:
Westwärts ziehende Auswandererwagen, deren weiße Planen im Herbstwind flatterten.
Eine Kutsche der Butterfield-Overland-Express-Linie, die in einer Staubwolke auf der Smoky-Hill-Route dahindonnerte.
Ein Arbeitslager der Eisenbahn, mit aufgereihten Waggons auf Schienen, die mitten in einem Feld voller Disteln und Klee endeten.
»Das hier ist Stammesland, Charlie. Die Indianer sind daran gewöhnt, überall herumzustreifen, so wie diese Araber auf der anderen Seite der Welt. Solange man zurückdenken kann, haben sie von der Freigebigkeit des Landes gelebt. Vor allem von der Jagd und den Büffeln. Die Kansa zum Beispiel haben sich gewandelt, haben sich fest niedergelassen. Die Cheyenne nicht. Sie leben noch so wie früher. Also kann man ihnen nicht einfach ihr Land stehlen oder sie auf eine Farm abschieben und erwarten, daß sie einem dafür die Füße küssen. Deshalb töten einige von ihnen Menschen. Hast du nicht dasselbe getan, als die Jungs von der Union über dein Land marschierten?«
»Jawohl, Sir«, sagte Charles; er verstand durchaus, was der Händler meinte.
In Topeka kaufte Holzfuß eine Ladung Blechtöpfe. »Die mögen die Frauen lieber als grobe Lederbeutel oder zusammengenähte Büffelmägen. Da können sie Wasser kochen, ohne das Theater, heiße Steine reinwerfen zu müssen.«
Die neuen Güter erforderten, daß nun Fen einen Teil der Last schleppte. Der Collie zog die Stangenbahre, auf der ihre Zeltstangen und die Abdeckung lagen. Stundenlang trabte er so dahin; nur an seiner heraushängenden Zunge konnte man sehen, wie er sich anstrengte.
Von einem Kavallerietrupp erfuhren sie, daß die große Friedenskonferenz, von der Willa gesprochen hatte, unten am Little Arkansas begonnen hatte. Der Captain, der das Kommando führte, sagte: »Ihr Jungs könntet ausnahmsweise mal einen friedlichen Winter erleben.«
»Verdammter Narr«, sagte Holzfuß, nachdem der Trupp weitergeritten war. In der frostigen Herbstluft schwitzte sein gerötetes Gesicht überraschend stark. »Der Captain ist auch einer von denen, die keine Ahnung haben, wie die Stämme funktionieren. Er denkt, wenn ein Friedenshäuptling wie Schwarzer Kessel, mit dem wir verhandeln werden, sein Zeichen unter einen Vertrag setzt, dann legen alle anderen die Füße hoch und packen ihre Waffen weg. Verflucht wenige kapieren, daß kein Indianer für alle Indianer spricht. War noch nie so und wird nie so sein.«
»Ich glaube, du hast eine ganz schön hohe Meinung von den südlichen Cheyenne.«
»Das habe ich, Charlie. Sie sind die besten Reiter der Welt. Außerdem bin ich lange genug hier draußen, um sie auch von einer anderen Seite zu kennen, nicht bloß als einen Haufen kupferfarbiger Wilder. Wenn ein Mann aus der Hundegemeinschaft die Frau eines Farmers vergewaltigt, dann kommt mit einiger Wahrscheinlichkeit die Kavallerie an und erschießt irgendeinen friedlichen alten Häuptling, weil ihnen der Unterschied nicht klar ist. Ich hatte Glück; Papa hat mir beigebracht, jeden von ihnen als Einzelperson zu sehen. Es gibt Gute und Schlechte, wie bei allen anderen Menschen auch. Vor ein paar Jahren habe ich eine Indianerin so geliebt, daß ich sie zur Frau nehmen wollte. Sie starb, als sie einem kleinen Mädchen das Leben schenkte. Eine Woche später starb das Baby.«
Plötzlich hustete er; den Kopf vorgebeugt, die Kiefer zusammengebissen, so krallte er eine Hand in sein Hemd. Charles zü-gelte Satan, lehnte sich nach links und griff nach Holzfuß' Arm. »Was ist? Tut dir was weh?«
»Nichts .« Der alte Händler schnaufte tief durch. »Nicht der Rede wert.« Er keuchte mit tränenden Augen. »Mein Papa hatte ein schwaches Herz. Hat er mir vererbt. Mach dir deswegen keine Sorgen. Los, weiter geht's.«
Die niedrigen Hügel begannen auszulaufen, die Weiden und Pappeln wurden spärlicher. Sie ritten durch kurzes Büffelgras; das einzige Anzeichen von Leben waren die Erdhügel der schwarzschwänzigen Präriehunde. Das Herbstlicht überflutete alles, schuf eine neue Schönheit. Charles hätte nicht direkt sagen können, daß er glücklich war, doch mit jedem Tag dachte er etwas weniger an Augusta Barclay.
»Okay, Charlie«, sagte Holzfuß, als sie die Smoky Hills durchquert hatten. »Zeit für dich, in die Schule zu gehen.«
»Du weißt nie, wann du schnell sein mußt, Charlie. Boy und ich, wir haben so lange geübt, bis wir das Tipi in zehn Minuten auf und in der halben Zeit abbauen konnten. Schätze, mit deiner Hilfe schaffen wir das noch schneller. Hast du bemerkt, daß der runde Eingang immer nach Osten schaut? Auf die Weise entgeht man den meisten der großen Stürme und Regengüsse aus dem Westen, und du kriegst die Morgensonne ab. Außerdem lassen sich die Stämme so gern daran erinnern, daß es der Große Geist ist, der ihnen Licht und Nahrung schickt. Los, beeilen wir uns, Charlie. Wenn du dein Abendessen willst - in acht Minuten ist die Sonne weg.«
Der Schein des Feuers flackerte über die Rolle Messingdraht. Holzfuß' Haar, von Anfang an schon lang, war nun so gewachsen, daß man es flechten konnte. Er legte eine Windung Draht nach der anderen um den Zopf über seiner linken Schulter.
Charles kaute auf einem Stück Pemmikan herum, einem Brocken gepökeltes Büffelfleisch, nach Zugabe von Fett und Beeren gehärtet. »Wenn du dich damit nicht rumärgern willst, kannst du deine Haare mit meinem Messer schneiden.«
»Oh nein. Schneidest du einem Mann das Haar ab, dann nimmst du ihm sein Leben im Jenseits. Wenn ein Cheyenne je einen Haarschnitt verpaßt kriegt, dann verbrennt seine Frau die abgeschnittenen Haare, so daß niemand ein Unheil damit anrichten kann.«
Boy sprang aufgeregt in die Höhe. »Straße! Straße!«
Charles' Blick folgte dem ausgestreckten Finger des Jungen zu dem Schleier der Sterne, der sich am Himmel ausbreitete. »Das ist die Milchstraße, Boy.«
»Das ist die hängende Straße, Charlie«, sagte Holzfuß. »Der Trail, auf dem die Cheyenne in die geistige Welt reisen. Die Straße zum Ort der Toten.«
Der Händler streichelte seinen Neffen, um ihn zu beruhigen, öffnete dann seine mit Stachelschweinborsten und bemalten Mustern verzierte Büffelhauttasche. Er holte eine Rolle sauberer, weicher Tierhaut hervor, die er neben dem Feuer ausbreitete. Dann öffnete er kleine Töpfchen mit roter und schwarzer Farbe, die er mit Spucke anfeuchtete. Zu Charles' Überraschung förderte er einen kleinen Malerpinsel zutage. Mit schwarzen Strichen begann er die obere linke Ecke der Haut zu bemalen. Eine Linie von drei Pferden und Reitern, durch Striche gekennzeichnet. Er beendete das Werk mit einer kleineren, vierbeinigen Figur im Vordergrund.
»Was um alles in der Welt soll das sein?« fragte Charles.
»Der Beginn unserer Winterbilanz. Eine Art Bildgeschichte über einen Winter im Leben eines Mannes. Häuptlinge und Krieger machen das.« Er grinste. »Ich schätze, die Jackson Trading Company ist wichtig genug, um sich dieses Jahr so was auch leisten zu können.«
Sie sahen eine Büffelherde auf ihrer jahreszeitlich bedingten Wanderung nach Süden. An einem bis auf ein kleines Rinnsal ausgetrockneten Fluß warteten sie stundenlang, bis die Herde vorübergezogen war. Von Anfang bis Ende maß sie ungefähr sechs bis sieben Meilen, bei einer Breite von gut einer Meile. Holzfuß deutete auf die alten Leitbullen.
»Ein Name, den die Stämme für den Büffel haben, lautet Onkel. Da er ihnen so ziemlich alles bietet, was sie essen oder irgendwie verwenden können, meinen sie, daß er fast schon ein Verwandter ist.«
Unter einem häßlichen grauen, von silbernen Blitzen durchzuckten Himmel hielt Charles seinen Hut fest und betrachtete mit zusammengekniffenen Augen durch den wirbelnden Staub hindurch die acht jungen, mit Lanzen und Gewehren bewaffneten Indianer. Sie befanden sich in Rufweite, und Charles konnte sie deutlich brüllen hören: »Hundesöhne! Hundesöhne!«
Ein Krieger kniete auf dem Rücken seines Ponys, streckte ihnen sein Hinterteil entgegen und machte mit dem Daumen seiner rechten Hand die entsprechende Geste dazu. Holzfuß seufzte: »Wir bringen ihnen wirklich nur das Beste bei.«
Boy drängte sein Pferd dicht an das seines Onkels heran. Mit trockenem Mund schob Charles die Spencer auf sein rechtes Bein. Ein Blitz riß den Himmel von Osten nach Westen auf, gefolgt von fernem Donner. Hinter den Kriegern wogte eine Herde von mindestens fünfzig wilden Hengsten, Stuten und Fohlen. Die weißen Männer hatten angehalten, als sie die Indianer entdeckten, die ihre Herde über niedrige Hügel trieben.
»Das ist Geld auf Hufen, diese Pferde da«, sagte Holzfuß. »Der Reichtum des Stammes. Sie werden nicht riskieren, die Herde zu verlieren, indem sie uns angreifen. Sie attackieren meist nur dann, wenn sie in großer Überzahl sind oder man in der Falle sitzt oder sie provoziert. Sie sind nah genug, um zu sehen, daß wir die Dinger hier haben.«
Er schwenkte sein Gewehr ein paarmal über seinem Kopf. Die Krieger antworteten mit drohend geschüttelten Fäusten und weiteren Obszönitäten. Als der Wind stärker wurde und der Regen einsetzte, ritten sie mit ihrer Herde davon. Es dauerte zehn Minuten, bis Charles sich wieder beruhigt hatte. Im Krieg war er zwar auch nie frei von Furcht gewesen, aber hier draußen war sie deutlicher, existentieller. Vielleicht lag es an der endlosen Ausdehnung nach allen Seiten. All das leere, einsame, wunderschöne Land.
»Tauch weg, Charlie!« schrie Holzfuß. »Tauch weg und schieß!« Charles warf sich, die Füße in den Steigbügeln, nach links. Eine Sekunde lang war er, so zwischen Sattel und Gras hängend, während Satan weitergaloppierte, überzeugt davon, daß er sich jeden Moment das Genick brechen würde.
Er brach es sich nicht. Seine Schenkel umklammerten den Pferdeleib, seine linke Hand schoß unter dem Hals des Schecken durch und hängte sich ein. So klebte er auf der linken Seite des Schecken, geschützt von dem Pferdeleib, und versuchte die unter ihm dahinfliegende Prärie zu vergessen.
»Schieß!« bellte sein Lehrmeister. Er zog sich weit genug nach oben, um einen Schuß über den Widerrist des rasenden Pferdes hinweg abzugeben. Holzfuß brüllte seine Anerkennung. »Noch mal!«
Nach fünf Schüssen gab sein Arm nach, und er stürzte; im letzten Augenblick vor dem Aufprall erinnerte er sich daran, sich zu entspannen. Nach dem Sturz blieb er keuchend, halb bewußtlos liegen.
Fen umkreiste ihn bellend. Boy hüpfte und klatschte ihm Beifall. Holzfuß zog ihn hoch, schlug ihm auf den Rücken, um ihm beim Atmen zu helfen. »Gut, Charlie. Besser als gut. Verdammt gut. Du besitzt ein angeborenes Talent für die Überlebenskünste, die man in den Prärien braucht. Eine echte Gabe, weiß Gott.«
»Du meinst, es ist wichtig zu wissen, wie man hinter einem Pferd hervor schießt?« fragte Charles einigermaßen skeptisch.
Holzfuß zuckte mit den Schultern. »Je mehr du kannst, desto besser sind deine Chancen, deinen Skalp zu retten, wenn ein paar wilde Cheyenne hinter uns her sind. Diesen kleinen Trick mit dem seitlichen Abkippen setzen sie gern ein. Bei ihnen ist das ein Spiel zu Pferd, mit gepolsterten Lanzen. Sie versuchen sich gegenseitig runterzustoßen. Irgendjemand muß rausgekriegt haben, daß es viel sicherer ist, auch so zu schießen. Wie fühlst du dich?«
Satan kam zurückgetrottet, senkte den Kopf und blies Luft durch die Nüstern. Charles lächelte, über und über mit Staub bedeckt. »An allen Ecken und Enden zerschlagen. Ansonsten geht's mir bestens.«
»Gut. Ich denke, wir sollten es noch einmal probieren. Ich meine, schließlich bist du runtergefallen.«
An diesem Abend fügte Holzfuß ihrer Winterbilanz eine weitere bildliche Darstellung hinzu. Die Strichfigur repräsentierte Charles, der schießend auf der Seite seines galoppierenden Pferdes hing. Stolz stieg in Charles auf, als der Händler ihm das fertige Bild zeigte. Zum erstenmal seit Wochen schlief er völlig traumlos.
Sie ritten weiter nach Süden, immer noch als Schüler und Lehrer.
»Das hier bedeutet Cheyenne.« Holzfuß fuhr mehrmals schnell mit seinem rechten Zeigefinger über den linken. »In Wirklichkeit heißt das gestreifter Pfeil, aber es bedeutet Cheyenne, weil sie gestreifte Truthahnfedern für ihre Pfeile benützten.«
Charles ahmte das Zeichen einige Male nach. Dann schloß Holzfuß seine Hand, lediglich der Zeigefinger und der kleine Finger waren ausgestreckt: »Pferd.«
Und die sich mit den Fingerspitzen berührenden Hände, ein umgekehrtes V: »Tipi.«
Je eine Faust an einer Schläfe, mit ausgestreckten Zeigefingern: »Das Zeichen kannst du erraten.«
»Büffel?«
»Gut, gut. Jetzt brauchst du nur noch tausend weitere Zeichen zu lernen, vielleicht ein paar mehr, vielleicht ein paar weniger.«
Der Unterricht deckte die verschiedensten Themenbereiche ab. Holzfuß trieb sein Pferd einen leichten Abhang hinab, immer hin und her, ein ständiges Z-Muster.
»Ist ein Indianer zu weit entfernt, um dein Gesicht oder deine Waffen erkennen zu können, dann bedeutet dies, du kommst in friedlicher Absicht.«
Und während sie eine weitere wilde Pferdeherde am Horizont nach Südosten ziehen sahen:
»Da draußen, Charlie, mußt du deine Begriffe und Vorstellungen umkehren. Die Regeln und Sitten des weißen Mannes gelten da nicht. Wenn du beispielsweise in Topeka ein Pferd stiehlst, dann hängen sie dich auf. Wenn du hier zehn oder zwanzig Stück von einer fremden Herde wegtreibst, dann ist das eine ungemein tapfere Tat. Wenn wir es lernen, mit den Indianern auf der Grundlage ihrer Denkweise zu verhandeln anstatt auf unserer, dann könnte es auf den Prärien echten Frieden geben.«
In dem stahlfarbenen Morgen neben einigen Spuren kniend:
»Was liest du daraus, Charlie?«
Er studierte die Abdrücke, eine Anzahl von fast identischen Markierungen, die sich überlappten und teilweise auslöschten. Er warf einen Blick auf Fen, der vom Ziehen der Stangenbahre keuchte, schaute dann hinaus aufs flache, leere Land. »Stangenbahren. Eine ganze Menge davon, nach diesen Spuren zu urteilen. Ein Dorf.«
»Das ist es, was du denken sollst. Aber schau die zwei Meilen zurück, wo diese Spuren angefangen haben. Du wirst keine Hundescheiße seh'n. Bloß Pferdeäpfel. Keine Hunde, kein Dorf. Ein paar Krieger haben das gemacht, mit steinbeschwerten, an ihre Hüfte gebundenen Stangen. Du zwinkerst ein paarmal mit den Augen, und schon haben sie dir ein Dorf vorgezaubert, groß genug, um dich abzuschrecken. Furcht ist eine mächtige Medizin. Sie kann dich dazu verführen, das zu sehen, was du erwartest, anstatt das, was ist. Schau.«
Er stellte sich in den Steigbügeln auf und deutete nach vorn. Auf einem Hügel im Südosten sah Charles vier Reiter, so weit entfernt, daß ihre Gestalten wie Miniaturen wirkten.
»Da hast du dein ganzes Dorf. Wenn du bloß auf die Spuren achtetest, würdest du einen weiten Bogen drum machen, nicht wahr?«
Charles kam sich albern vor und ließ es sich auch anmerken. Holzfuß schlug ihm auf die Schulter, um anzudeuten, daß das alles zu seinem Lernprozeß gehörte. Dann feuerte er einen Schuß in die Luft. Der dröhnende Knall rollte bis zu den fernen Reitern, die schnell aus ihrem Blickfeld trabten. Ebenso wie die anderen Lehrstunden brannte sich das wie ein weißglühendes Eisen in Charles' Kopf.
Furcht ist eine mächtige Medizin. Sie kann dich dazu verführen, das zu sehen, was du erwartest, anstatt das, was ist.
Als er an diesem Abend am Lagerfeuer den Vorfall mit roten und schwarzen Strichen ihrer Winterbilanz hinzufügte, sagte Holzfuß mit milder Stimme: »Du vergißt sie allmählich ein bißchen? Ich meine die, die du verloren hast?«
»Ein bißchen.« Jetzt dachte er gelegentlich auch an Willa. »Dafür bin ich dir dankbar.«
Holzfuß wedelte mit dem zierlichen Pinsel. »Gehört alles zum Job. Ich wußte, ich muß dich aus deinen trüben Stimmungen reißen, wenn ich einen echten Partner haben will. Hier draußen gibt's einfach zu viele interessante Sachen und viele Gefahren, als daß ein Mann in seinen Kummer versunken bleiben könnte. Man muß auf der Hut sein, um seinen Skalp zu behalten.«
»Das glaube ich dir«, sagte Charles. Er lehnte sich auf seine Ellbogen zurück und spürte, von Feuer und Freundschaft gewärmt, eine neue, wenn auch zerbrechliche Zufriedenheit. Er begann diesem Teil der Welt die gleiche Zuneigung entgegenzubringen, wie er sie damals für Texas empfunden hatte.
Ungefähr eine Stunde vor Anbruch der Morgendämmerung weckte ihn ein vertrauter Druck. Schon wieder mal zuviel von dem verdammten Kaffee getrunken.
So leise wie möglich rollte er sich aus seinem Büffelmantel. Das schwache Licht der glühenden Asche in der Mitte des Tipis ließ seine Atemwolken sichtbar werden. Er knüpfte die Riemen los und schlüpfte lautlos durch das runde Loch.
Er hörte die Pferde und Maultiere in ihrer Reihe unruhig stampfen und fragte sich, warum. Die kalte, sternenklare Nacht lag ruhig da. Eines war sicher, Fen würde sich niemals bemerkbar machen, wenn hier irgendein Raubtier herumschlich. Er war alles andere als ein Wachhund.
Charles ging einem kleinen Bach entlang, weg von dem schwachen Schein im Inneren des Tipis. Er machte seine Hose, dann seine Unterhose auf. Über das Wasser hinweg hörte er eine Stimme.
Er hörte auf zu pinkeln, zerrte seine Kleidung zurecht und griff automatisch nach seiner Hüfte.
Der Colt war nicht da. Beim Schlafen legte er ihn neben den Kopf. Sein Bowiemesser hatte er allerdings in der Gürtelscheide stecken.
Er kroch zurück und sah die Silhouetten, die sich vor dem Feuer gegen die Tipiplane abzeichneten. Zwei Leute saßen, eine dritte Person stand zwischen ihnen, in der Hand einen stumpfen Gegenstand.
Ein Revolver.
Charles fuhr sich mit der Zunge über die aufgesprungenen Lippen, blinzelte heftig, um den Schlaf zu vertreiben, und kroch auf das Tipi zu. Der Eindringling mußte sich, ohne ihn zu sehen, in das Zelt geschlichen haben, kurz nachdem er es verlassen hatte. Jetzt sprach er gerade mit Boy.
»Du, lieg still, du faßköpfiger Idiot. Wenn du dich rührst, blas' ich dem alten Narren hier die Hirnpfanne in alle Winde.« Der Schattenriß des Mannes rammte den Revolver zur Demonstration gegen Holzfuß' Kopf. »Du verfluchter alter Kauz, ich will ein paar von deinen Waren. Und das gesamte Geld, das du hast.«
»Bißchen früh in der Saison für Aasgeier, was?« bemerkte Holzfuß. Charles vermutete, daß er nicht ganz so ruhig war, wie er tat. »Ich dachte, Kerle wie du fressen den Winter durch Armeenahrung und verschwinden dann im Frühling.«
»Halt verdammt noch mal das Maul, außer du willst, daß ich diesen schieläugigen Kretin erschieße.«
Sehr ruhig sagte Holzfuß: »Nein, das will ich nicht.«
»Dann hol mir die Waren.«
»Die sind in den Reisetaschen. Draußen.«
Der Mann stieß Holzfuß die Revolvermündung zwischen die Schultern.
»Geh'n wir.«
Charles zog sein Bowiemesser aus der Scheide. Sein Herz raste, als er auf das Tipi zuging. Ein paar lange Schritte brachten ihn neben das runde Loch, nur wenige Sekunden, bevor Holzfuß herauskroch.
Der Händler spürte Charles' Gegenwart, drehte aber nicht den Kopf, um ihn nicht zu verraten. Der Mann mit dem Revolver folgte ihm. Im Sternenschein erkannte Charles ein bärtiges Gesicht, dann die Ärmel mit den gelben Corporal-Streifen. Ein Deserteur, ganz klar.
»Bleib stehen, alter Mann«, sagte der Deserteur und richtete sich auf. Er war untersetzt, einen Kopf kleiner als der gewiß nicht große Holzfuß. Gott allein mochte wissen, von welchem Fort er abgehauen war. Vielleicht von Larned oder von diesem neuen, Fort Dodge.
Charles verlagerte sein Gewicht, um zuschlagen zu können. Der Deserteur mußte irgendwas gehört oder gespürt haben. Er wirbelte herum, sah Charles, feuerte.
Die Kugel versengte fast Charles' Wange und durchschlug dann die Tipiplane. Charles rammte das Messer in die blaue Bluse des Deserteurs und riß es nach unten.
»Oh nein«, sagte der Soldat, sich auf die Zehenspitzen stellend. »Nein.« Eine Sekunde später stand er noch aufrecht, war aber bereits bewußtlos. Seine Knie gaben nach, und er klatschte wie ein Lumpenbündel auf den mondhellen Boden. Charles hielt ihn für tot. Die stechenden Ausscheidungen des Todes waren gleich darauf wahrnehmbar.
Charles wischte sein Messer im Gras ab. »Was machen wir mit ihm?«
Holzfuß keuchte, als wäre er eine lange Strecke gerannt. »Wir überlassen ihn ...«, keuchende Atemzüge, »... den Geiern. Er hat nichts Besseres verdient.«
Fen kam jaulend aus der Dunkelheit getrottet; er wußte, daß irgendwas nicht stimmte. Holzfuß tätschelte ihn. »Das war saubere Arbeit mit dem Messer, Charlie. Du lernst schnell.« Er packte den blauen Uniformkragen, hob den Kopf des Toten an. Das Mondlicht ließ die leblosen Augen wie Münzen aufleuchten. »Oder wußtest du schon, wie man solche Sachen erledigt?«
Mit einem Büschel Gras beendete Charles die Säuberung seines Messers. Er schob das Bowie zurück in die Scheide; mit der Handfläche schlug er leicht gegen den Griff, der mit einem deutlichen Klicken auf die Scheide traf. Das war Antwort genug.
Im Tipi duckte sich Boy mit verschränkten Armen zusammen. Große Tränen rollten ihm übers Gesicht. Mittlerweile verstand Charles, wieso der Junge so reagierte. Es war nicht nur Furcht. Sein armer, unzulänglicher Verstand begriff manchmal, daß sein Onkel sich einer harten Aufgabe oder schlimmen Situation gegenübersah. Stets wollte er helfen, konnte aber an seine Hände oder Beine nicht die richtigen Befehle schicken.
Zweimal zuvor hatte Charles ihn in zorniger Frustration weinen sehen.
Holzfuß nahm Boy in die Arme. Er streichelte und tröstete ihn. Dann zerrte er an der Vorderseite seines eigenen Hemdes. Wieder fiel Charles das stark gerötete Gesicht des Händlers auf. Holzfuß bemerkte den prüfenden Blick.
»Ich hab? dir doch gesagt, es ist nichts«, murmelte er, fast genauso ärgerlich wie sein Neffe.
Charles verfolgte das Thema nicht weiter.
Anfang November begegnete die Jackson Trading Company einem halben Dutzend nach Norden ziehender Arapahoe. Alle hatten ihr Haar kräftig mit Fett eingeschmiert; der sichtbare Teil der Kopfhaut war rot bemalt.
Holzfuß unterhielt sich mit den Arapahoe in einer Mischung aus Zeichen, rudimentärem Englisch und deren eigener Sprache. Einige Male hörte Charles das Wort >Moketavato<, den Cheyenne-Namen für >Schwarzer Kessel<, den Friedenshäuptling, den Holzfuß bewunderte und respektierte.
Charles mußte nicht viel von Indianern verstehen, um die Feindseligkeit der Arapahoe zu spüren. Sie kam in jeder Silbe, in jeder scharfen Geste und jedem grimmigen Blick zum Ausdruck. Trotzdem hockten sie in einem Halbkreis da und unterhielten sich fast eine Stunde lang mit Holzfuß.
»Ich versteh's nicht«, sagte Charles, nachdem die Arapahoe davongeritten waren. »Denen war doch schon unser Anblick verhaßt.«
»Sicher.«
»Aber sie haben mit dir gesprochen.«
»Nun, wir haben nichts getan, was sie hätte aufbringen können, also waren sie verpflichtet, uns anständig zu behandeln.
Die meisten Indianer sind so. Allerdings nicht alle, also wiege dich nicht in Sicherheit.«
»Du hast mit ihnen über Schwarzer Kessel geredet.«
Holzfuß nickte. »Er und der Arapahoe-Friedenshäuptling Kleiner Rabe haben vor knapp zwei Wochen ihr Zeichen unter diesen Vertrag am Little Arkansas gesetzt. Der Vertrag steckt eine neue Reservation ab und gesteht jedem Cheyenne oder Ara-pahoe, der bereit ist, dort zu leben, eine Landparzelle zu. Wer bei Sand Creek einen Verwandten verloren hat, bekommt als Dreingabe hundertsechzig Acres. Die Regierung hat scharf auf jene Vorkommnisse reagiert; in diesem Winter schicken sie Bill Bent, einen guten Mann, in die Dörfer, der aufpassen soll, daß die Soldaten sich so was nicht noch mal leisten. Der Jammer dabei ist bloß, daß am Little Arkansas lediglich achtzig Cheyenne-Trupps waren; zweihundert weitere Stammesabteilungen streifen frei durch die Gegend, und denen gilt der Vertrag soviel wie einmal in den Wind gespuckt.«
Charles kratzte sich am Kinn; seine länger werdenden Bartstoppeln verwandelten sich allmählich in einen Bart. »Hast du herausgefunden, wo Schwarzer Kessel sein Lager aufgeschlagen hat?«
»Direkt vor uns am Cimarron. Genau dort wollte ich nach ihm suchen. Machen wir uns auf den Weg.«
Unter der Kante eines Steilhangs deutete Holzfuß auf die verstreuten Knochen. »Büffelsturz. Sie wenden die Herde und treiben sie über die Klippe. Dauert nicht lang, da türmen sich hier unten die Büffel mit gebrochenen Beinen, und die Krieger haben keine Mühe, sie zu töten.« Zwei Tage waren seit ihrem Zusammentreffen mit den Arapahoe vergangen. An den windstillen Nachmittagen schneite es leicht; die Flocken schmolzen auf dem abgestorbenen Gras. Charles genoß die Wärme seiner Zigarre und versuchte sich vorzustellen, wie sein Sohn auf den ersten Anblick von Schnee reagieren würde. Er wünschte sich sehr, sein Sohn könnte jetzt hiersein und das sehen ...
»Die Herde in den Abgrund treiben ist natürlich nicht so glorreich, wie den Büffel in normaler Jagd zu töten. Aber wenn der Winter vor der Tür steht und sie bis dahin nicht genügend Büffel erlegt haben, dann ist das die schnellste Methode, um ...« Er brach ab, wandte den Kopf. »Warte.«
Er rannte hoch zur Kante des Steilhangs. Dort kniete er nieder, die Handflächen gegen den Boden gepreßt.
»Was ist?« fragte Charles.
»Reiter. Kommen schnell näher. Verdammt. Zwei Dutzend oder mehr. Ich hab' so den Verdacht, wir haben unser ganzes Glück bei diesem räuberischen Aasgeier aufgebraucht, Charlie.«
Charles rannte auf Satan zu und riß die Spencer aus der Sattelhalterung. Holzfuß befahl ihm, das Gewehr wegzustecken.
»Warum?«
»Weil wir erst mal sehen müssen, wer sie sind. Wenn du si-chergeh'n willst, daß sie dich umbringen, dann brauchst du nur einen Indianer ohne vorangegangenes Palaver erschießen.«
Holzfuß marschierte oben den Rand des Steilhangs entlang, Daumen im Patronengürtel eingehakt; sein langsamer, schlendernder Gang war betont sorglos. In seinen Augen allerdings sah Charles andere Dinge. Er schob die Spencer zurück und schloß sich seinem Partner an. Holzfuß winkte Boy an seine Seite, als Reiter auf nacktem Pferderücken in weit auseinandergezogener Reihe auf sie zu galoppierten.
Die Indianer trugen Fransenhosen. Einige hatten sich scharlachrote Decken um die Hüften gebunden. Sechs von ihnen waren mit mächtigen Adlerfedern geschmückt. Mit einigem Kummer entdeckte Charles außerdem noch drei Kleidungsstücke der Armee; zwei davon waren kurze Arbeitsjacken mit den hellblauen Aufschlägen der Infanterie, das dritte Stück war ein altmodischer Schwalbenschwanzmantel, mit dem Rot der Artillerie besetzt. Die Brust des Mantelträgers schmückten Orden und Auszeichnungen.
Ein anderer Indianer, ein schlanker, dünner, deutlich dunklerer Mann Mitte Zwanzig, trug ein riesiges Silberkreuz an einer Kette um den Hals. Strähnen eines faserigen Materials hingen von seinen Ärmeln und seinem Hirschledermantel. Fast alle diese dekorativen Strähnen waren schwarz, auch wenn Charles dazwischen einige blonde und graue entdeckte. Er vermutete, daß das Kreuz ebenso wie die Armeekleidung gestohlen war.
»Oh Gott, Cheyenne«, murmelte Holzfuß. »Und obendrein noch Männer der Hundegemeinschaft. Sie tragen zwar nicht ihre Abzeichen, aber den vorn kenne ich. Schlimmer hätt's nicht kommen können.«
»Wer ist ...?«
Der Rest der Frage nach dem Anführer ging unter, als die Cheyenne ihre Pferde durchzügelten; die kleinen, runden Glöckchen, in die Mähnen ihrer Ponys geflochten, klingelten hell auf. Im Handel mit weißen Männern erworbene Glocken, was auch für die Karabiner galt, die sie auf die Jackson Trading Company richteten. Außer mit Gewehren waren die Indianer mit Pfeil und Bogen bewaffnet.
Fen zerrte knurrend an seinem Geschirr. Charles biß auf seiner Zigarre herum, die durch sein hastiges Paffen auf einen Stummel heruntergebrannt war. Boy versteckte sich hinter seinem Onkel.
Der dunkelste Indianer, der das Kreuz um den Hals hängen hatte, schlug mit der Hand durch die Luft und brüllte die Fremden in seiner eigenen Sprache an. Er hatte ein feingeschnittenes, schmales, wenn auch ungewöhnlich strenges Gesicht. Die rote Farbe, mit der er und die anderen sich Gesicht und Hände bemalt hatten, war auf seiner linken Wange mit besonderer Sorgfalt aufgetragen. Zwei breite Parallelstriche umrahmten eine langgezogene, weiße Narbe, die sich in einer weiten Kurve von der Augenbraue über den Kiefer und dann in einem kleinen Aufwärtsbogen zum linken Mundwinkel hinzog -ein Angelhaken.
Der Schnee fiel schneller. Die Cheyenne musterten Charles und seinen Partner, während ihr Anführer seine Tirade fortsetzte. Gelegentlich verstand Charles ein Wort oder ein Zeichen. Holzfuß' Unterricht machte sich bemerkbar. Aber er brauchte weder die Zeichen- noch die Cheyenne-Sprache zu beherrschen, um zu verstehen, daß fast alle Bemerkungen des Anführers zornig und bösartig waren.
Hartnäckig und ohne je die Stimme zu erheben, gab Holzfuß alle paar Sekunden eine Antwort. Der Anführer redete gleichzeitig weiter. Charles hörte, wie sein Partner erneut von Schwarzer Kessel sprach. Der junge Anführer schüttelte den Kopf. Er und seine Freunde lachten.
Holzfuß seufzte. Seine Schultern sackten herab. Er hielt die rechte Hand hoch, um eine kurze Atempause bittend. Breiter grinsend schrie der Anführer etwas, was Charles als Zustimmung wertete.
»Komm, Charlie.« Der Händler zog ihn in die Rinne. Karabinermündungen schwangen herum, folgten ihnen. Holzfuß sah so deprimiert aus, wie Charles ihn noch nie zuvor gesehen hatte.
»Nützt jetzt nicht mehr viel, aber ich habe mich geirrt. Wir hätten nicht zuerst reden sollen. Diese Jungs sind auf Blut aus.«
»Ich dachte, sie greifen nicht an, außer irgend jemand provoziert sie.«
»Davon geht man immer aus. Aber ich fürchte, wir haben mit dem Anführer dieser Bande Pech gehabt.« Er warf dem dunklen Indianer einen unfrohen Blick zu und fuhr fort: »Er ist ein Kriegshäuptling und noch dazu ein mächtig junger. Sein Name ist >Mann-bereit-für-den-Kampf<. Die Weißen nennen ihn Narbengesicht. Chivingtons Männer haben seine Mama bei Sand Creek getötet. Sie haben ihr die Haare abgeschnitten. Ich meine, sämtliche Haare.« Mit dem Rücken zu den Indianern griff er sich zwischen die Beine. »Dann haben sie das zusammen mit einer Menge anderer Skalps im Denver Theater aufgehängt, wo Chivington seine Trophäen zur Schau stellte. Weiß nicht, wie Narbengesicht davon erfahren hat - vielleicht aus dritter oder vierter Hand. Eine Anzahl zahmer alter Indianer treiben sich in Denver rum; sie leben vom Betteln oder Stehlen. Aber ich weiß mit Sicherheit, daß er von der Schande seiner Mama erfahren hat, und das wird er weder vergessen noch verzeihen. Schätze, ich würd's auch nicht. Daß wir seine Gründe verstehen, hilft uns allerdings nicht viel weiter.«
»Was ist mit dem Vertrag?«
»Glaubst du, er gibt da auch nur einen Deut drauf? Ich hab' dir doch gesagt, die Häuptlinge haben den Vertrag nur für achtzig Familien unterschrieben.«
»Er hat eine Menge geredet. Was will er?«
»Narbengesicht und seine Freunde wollen uns ins Dorf bringen. Dann werden sie entscheiden, was mit uns geschehen soll.«
»Geht das nicht in Ordnung? Schließlich ist das doch das Dorf von Schwarzer Kessel, oder?«
Holzfuß sagte düster: »Schon, aber er ist noch nicht von der Vertragsunterzeichnung zurück. Er ist überfällig. Bis er wieder da ist, reißt Narbengesicht das Maul auf. In gewisser Weise betrachtet er die Weißen so, wie die Weißen die Indianer betrachten. Kann Freund und Feind nicht voneinander unterscheiden, doch in seinem Fall will er das auch gar nicht.«
Charles' Inneres war kälter als der fallende Schnee. »Was machen wir? Schnappen wir uns unsere Kanonen?«
Holzfuß drehte sich leicht, damit er seinen Neffen sehen konnte. Boy hatte seine Arme um seinen Brustkorb geschlungen; seine Augen waren riesig. »Wenn wir das tun, dann ist gleich alles vorbei. Im Dorf mag es auch vorbei sein, aber ich denke, wir gehen lieber mit, bevor wir uns hier eingraben. Boy kann sich gegen einen solchen Haufen nicht verteidigen. Vielleicht haben ein paar von den Frauen Mitleid mit ihm und halten die Männer davon ab, ihn aufzuschlitzen.« Er seufzte. »Ist wirklich nicht fair, daß ich dich bitte, die Sache mit mir durchzustehen. Aber genau das tue ich.«
Charles nahm einen letzten Zug und schnippte dann seinen Zigarrenstummel zu den Büffelknochen. Die Zigarre hatte besser als sonst geschmeckt. Vielleicht lag es daran, daß es womöglich seine letzte Zigarre gewesen war.
»Du weißt, daß ich bei dir bleibe.«
»In Ordnung. Danke.«
Der Händler ging, gefolgt von Charles, zu den Cheyenne zurück. Holzfuß teilte den Indianern mit schnellen Worten ihre Entscheidung mit, sie ohne Kampf zu begleiten. Die Krieger lächelten, und Narbengesicht jaulte wie ein Hund, was Fen veranlaßte, wie verrückt in seinem Geschirr herumzutanzen. Narbengesicht griff über seine Schulter in den Köcher und holte einen drei Fuß langen Stock hervor, eingewickelt in mit Stachelschweinborsten verziertes, rot gefärbtes Hirschleder. Aufgemalte Augen zierten das eine Ende, Adlerfedern das andere. Afterklauen irgendeines Tieres verwandelten den Stock in eine Rassel, die Narbengesicht schwang, als er von seinem Pony sprang.
Er sprang vor, die Rassel schüttelnd. Ehe Charles ausweichen konnte, hatte Narbengesicht ihm die Rassel gegen die Wange geschlagen. Charles fluchte und hob die Fäuste. Holzfuß hielt ihn zurück.
»Nicht, Charlie. Ich sagte, nicht. Er hat gerade einen Punkt für sich verbucht, etwas härter, als er beabsichtigte.«
Charles wußte, daß man Punkte sammeln konnte, indem man einen überwältigten Feind berührte. Das förderte die Reputation eines Indianers. Aber den Zusammenhang der Dinge zu begreifen half ihnen nun mal nicht weiter und trug auch nicht dazu bei, ihre Besorgnis zu verringern.
Der dunkeläugige Indianer warf den Kopf zurück und jaulte und bellte. Ein paar andere nahmen den Schrei auf, was Fen schier in den Wahnsinn trieb. Einer der Cheyenne zielte mit seinem Karabiner auf den Hund. Holzfuß packte Fen am Kragen und drückte ihn nieder.
Charles stand regungslos, gleichzeitig voller Angst und Wut. Boy drängte sich gegen ihn, versuchte seinen traurigen, verunstalteten Kopf in den Falten des Zigeunermantels zu verbergen. Drei Cheyenne stiegen ab und stürzten sich zwischen die Packtiere; mit ihren Messern rissen sie die Leinensäcke auf. Ein Indianer frohlockte beim Anblick von Stachelschweinborsten. Er schnitt die Halteschnüre durch und warf die Stacheln in die Luft.
Ein anderer stach in einen Beutel, aus dem sich ein diamantener Wasserfall aus Glasperlen ergoß. Der Indianer legte die Hände zusammen, fing sie auf, rannte dann zu seinen Freunden und gab jedem einige Perlen ab. Holzfuß hielt Fen zurück, biß die Zähne zusammen und sagte wieder und wieder: »Gottverflucht.«
Narbengesicht stolzierte zu dem Händler und knallte ihm die Rassel auf die Schulter; ein weiterer Punkt. Er bellte lauter denn je. Der Schnee sammelte sich auf Charles' Hutkrempe und schmolz auf seinen Augenbrauen, während ihn ein merkwürdiges Gefühl der Endgültigkeit überkam. Ähnliches hatte er zu Kriegszeiten am Vorabend einer Schlacht empfunden. Diese Vorahnung zog stets den Tod irgendeines Menschen nach sich.
»Schätze, es tut dir verdammt leid, daß du auf mich gehört hast«, murmelte Holzfuß.
»Wie meinst du das?«
»Nun, ich hab' immer gesagt, es gibt überall Ausnahmen, aber anscheinend habe ich die Lektion selber nicht richtig gelernt. Ich bin ein schöner Lehrer.«
Fröhlicher, als ihm zumute war, sagte Charles: »Jeder Lehrer kann mal einen Fehler machen.«
»Schon. Aber in dem Fall ist ein Fehler bereits ein Fehler zuviel. Tut mir leid, Charlie. Ich kann bloß hoffen, daß wir nicht in den ewigen Jagdgründen landen, noch bevor der Tag vorüber ist.«
HINRICHTUNG VON WIRZ
Die letzten Szenen im Leben des Gefängnisaufsehers von Andersonville.
Letzte Bemühung seines Anwalts, ein Gnadengesuch zu erwirken. Feste Haltung des Gefangenen bei Vollstreckung der
Todesstrafe.
Bis zum Schluß beteuert er seine Unschuld und sieht seinem Schicksal gefaßt entgegen. Aufsehenerregender Versuch, ihn zu vergiften, ans Licht gekommen. Seine Frau steckte ihm eine Strychninpille zu.
Zeitungsberichterstattung über den Tod des einzigen Amerikaners, der wegen Kriegsverbrechen hingerichtet wurde. November 1865
MADELINES JOURNAL
November 1865. Über Nacht hat der kühle Carolina-Winter den warmen, dunstigen Herbst verdrängt. Die Eichen reckten sich heute morgen aus dichtem, weißem Nebel; die Luft riecht nach den salzigen Fluten des Meeres. Diese Schönheit im Überfluß läßt mich Dich noch schrecklich vermissen. Wie sehr wünsche ich mir doch, die Realität wäre so friedvoll wie der Ausblick von meiner Türschwelle. Wir sind knapp an Bargeld. Wagenachse zerbrochen. Ehe Andy sie repariert hat, können wir kein Holz nach Walterboro oder Charleston bringen und somit auch nichts verdienen. Habe Dawkins geschrieben und ihn um ein paar Wochen Aufschub für die vierteljährlichen Zahlungen gebeten. Bis jetzt noch keine Antwort.
Auch von Brett aus Kalifornien noch nichts. Sie wird vor Weihnachten niederkommen. Ich bete, daß sie eine leichte Geburt hat.
In 30 Tagen oder weniger wird die Schule wieder aufgebaut sein. Prudence hält inzwischen auf dem Rasen vor dem Haus den Unterricht ab. Ein weiterer Rückschlag: Nach dem Feuer hat Burl Otis, Dorries Vater, ihr den Schulbesuch verboten. Er sympathisiert mit den unbekannten Brandstiftern oder hat Angst vor ihnen oder beides. Bin persönlich zu ihm gegangen, um mit ihm zu sprechen. Er verfluchte mich und nannte mich eine unruhestiftende Niggerin<.
In Gettys' Laden ist zweimal ein rothaariger Mann gesehen worden. Der Tanzlehrer aus Charleston, wie man mir sagte. Es heißt, er habe keine Schüler und lebe in kümmerlichen Verhältnissen, was seine Bitterkeit noch verstärkt. Aber wer lebt heutzutage schon anders in Carolina, von einigen Gaunern abgesehen?
... Gettys, der typische Dilettant, hält sich nun für einen Journalisten. Hier habe ich ein Exemplar seiner neuen, armselig gedruckten kleinen Zeitung namens >Der weiße Blitz<. Nur schnell einige der Schlagzeilen - die verlorene sache ist nicht verloren; kaukasi-
sche frau heiratet negerbarbier usw -, ehe ich sie verbrenne. Übles Zeug. Doppelt übel, weil Gettys die Demokraten zu repräsentieren behauptet. Wenn er es sich leisten kann, ein derartiges Schundblättchen zu drucken, dann muß sein Laden Wuchergewinne abwerfen. Ein zweiter Laden mit dem Namen Dixie hat an der Beau-fort-Charleston-Straße aufgemacht, und ich habe gehört, in Charleston solle ein dritter folgen. Gettys hat damit nichts zu tun. Kann mir nicht vorstellen, wer in South Carolina das Geld hat, um so was zu finanzieren
.Der Verbannte reiste von Pennsylvania nach Washington, schroff und zynisch und trotz seiner Mißgeschicke zu Kriegszeiten zuversichtlich wie eh und je.
Simon Cameron, der die auf ihn entfallenen Stimmen beim Republikanerkonvent 1860 gegen einen Kabinettsposten verschachert hatte, gehörte zu jenen ehrgeizigen, kaltherzigen Halunken, denen das Wort Niederlage fremd war. Als Kriegsminister hatte er mit seiner korrupten Praxis der Vergabe von Lieferungskontrakten einen Skandal verursacht. Lincoln hatte ihn sich vom Hals geschafft, indem er ihn als Botschafter an den russischen Hof versetzte, und das Repräsentantenhaus hatte ihn wegen seiner korrupten Praktiken gemaßregelt. Doch 1863 war er wieder zurück und versuchte in seinem Heimatstaat einen Senatssitz zu ergattern.
Nachdem dies fehlgeschlagen war, zog er sich nach Pennsylvania zurück und bemühte sich, seine Staatskontakte auszubauen. »Man wird mich nicht ewig von der nationalen Regierung fernhalten können«, schrieb er an seinen Schüler und Wahlkampfsponsor Stanley Hazard, als er seinen gegenwärtigen Besuch in Washington ankündigte.
Stanley lud den Boß in den Concourse Club ein, in den er erst vor kurzem aufgrund seiner Freundschaft zu Senator Ben Wade und einigen anderen hohen Republikanern aufgenommen worden war. In den verschwenderisch ausgestatteten Clubräumen im zweiten Stock ließen sich Lehrer und Schüler in die tiefen Sessel neben einer Marmorbüste von Sokrates sinken. Ältere Schwarze, die angewiesen waren, sich unterwürfig zu benehmen, bedienten die Mitglieder. Einer von ihnen nahm Stanleys Bestellung entgegen und schlich auf Zehenspitzen davon. Cameron verlangte ohne weitere Umschweife eine Spende.
Das hatte Stanley erwartet. Er reagierte darauf mit einer Zuwendung von weiteren zwanzigtausend Dollar. Da es ihm an Talent fehlte, mußte er sich Freundschaft und Karriere kaufen.
Obwohl es erst halb zwölf vormittags war, sah Stanley bereits aufgedunsen und benebelt aus. »Fühle mich ziemlich schwach«, erklärte er.
Cameron sagte nichts darauf. »Wie gefällt Ihnen Ihre Arbeit beim Büro für befreite Neger?«
»Entsetzlich. Oliver Howard kann nicht vergessen, daß er Soldat ist. Die einzigen Männer im Büro, die sein Ohr haben, sind ehemalige Generäle. Ich habe vor, Mr. Stanton mitzuteilen, daß ich versetzt werden möchte. Der Jammer ist nur, ich weiß nicht, wohin, falls er zustimmt.«
»Haben Sie eine politische Aufgabe in Erwägung gezogen?«
Stanleys Unterkiefer sackte herab.
»Ich meine es ernst. Sie wären ein großer Gewinn für das Haus.«
Ah, jetzt begriff er. Cameron spielte nicht auf seine Fähigkeiten an. Stanley wäre nur deswegen ein großer Gewinn, weil er großzügig spendete und die Anweisungen der Parteioberen nie in Frage stellte. Und Gehorsam war für ihn erste Pflicht, da er selbst keine einzige originelle Idee hervorbrachte, was den politischen Prozeß anbelangte. Trotzdem begeisterte ihn innerhalb dieser Einschränkungen Camerons Vorschlag.
Der schwarze Kellner brachte die Drinks. Stanleys Glas enthielt die doppelte Menge von Camerons Glas. Während sich Stanleys Phantasie noch auf einem Höhenflug befand, brachte ihn Cameron wieder rauh auf den Boden der Tatsachen zurück.
»Sie wissen, mein Junge, Sie hätten eine großartige Zukunft vor sich, wäre da nicht dieser eine riskante Punkt.«
»Damit müssen Sie George meinen.«
»Oh nein. Ihr Bruder ist harmlos. Idealisten sind immer harmlos, weil sie voller Skrupel stecken. In einer angespannten Situation behindern Skrupel einen Mann und machen seine Reaktionen absolut voraussagbar.« Camerons verschlagene Augen fixierten Stanley, während er murmelte: »Ich meinte Isabel.«
Stanley brauchte einige Momente, bis er das aufgenommen hatte. »Meine Frau ist ein ...?«
»Größeres Risiko. Tut mir leid, Stanley. Niemand bestreitet, daß Isabel eine clevere Frau ist. Aber sie geht den Leuten auf die Nerven. Sie beansprucht für sich zuviel Anerkennung für Ihren Erfolg - etwas, was die meisten Männer abstoßend finden.« Taktvoll übersah Cameron das sich rötende Gesicht seines Schülers; Stanley wußte, daß diese Beschuldigungen der Wahrheit entsprachen.
»Es fehlt ihr an Taktgefühl«, fuhr Cameron fort. »Ein kluger Politiker versteckt seine Feindschaften und protzt nicht mit ihnen. Was am schlimmsten ist, Isabel besitzt in dieser Stadt keine Glaubwürdigkeit mehr. Niemand glaubt ihren Schmeicheleien, weil sie überhaupt kein Geheimnis aus ihrem Ehrgeiz nach gesellschaftlicher Bedeutung und Ansehen macht.«
Mit einem schnellen Rundblick überzeugte sich der Boß, daß keine Lauscher in der Nähe waren, dann senkte er die Stimme. »Aber falls Sie je - sagen wir: unabhängig? - werden sollten und das ohne einen Persönlichen Skandal abgeht, dann kann ich Ihnen fast die Nominierung für das Repräsentantenhaus garantieren. Nominierung ist gleichbedeutend mit Wahl, dafür sorgen wir schon.«
Verblüfft sagte Stanley: »Ich wäre begeistert davon. Ich würde hart dafür arbeiten, Simon. Aber ich bin seit Jahren mit Isabel verheiratet. Ich kenne sie. Sie ist eine sehr moralische Person. Sie würden nie erleben, daß sie in einen, äh, persönlichen Skandal verwickelt wäre.«
»Oh, das glaube ich Ihnen«, sagte Cameron aufrichtig. Er dachte an Isabels Gesicht; niemand würde sich dafür interessieren.
»Aber ein Skandal, mein Junge, ist nicht auf verbotene Romanzen beschränkt. Ich habe Gerüchte über Isabel und eine gewisse Fabrik in Lynn, Massachusetts, gehört.«
Der alte Pirat. Er wußte sehr wohl, daß Stanley gemeinsam mit seiner Frau Kriegsgewinne durch die Produktion minderwertiger Armeeschuhe erzielt hatte. Camerons Blick deutete an, daß die Wahrheit nicht unbedingt in Stein gemeißelt werden mußte.
Der Gedanke, Isabel die Verachtung und die Kränkungen zurückzuzahlen, mit denen sie ihn gewohnheitsmäßig überhäufte, war sowohl neu als auch verlockend. Auf ihren Befehl hin hatte Stanley seine Geliebte aufgegeben. Isabel hatte ihm zahllose Demütigungen angetan - und hier saß der Boß und versprach ihm auch noch eine Belohnung, wenn er sie sich vom Hals schaffte.
Er wollte nicht zu begierig erscheinen. Er übertrieb seinen Seufzer. »Boß, es tut mir leid, aber das, was Sie da angedeutet haben, wird wohl nie geschehen. Falls es sich zufällig doch ergeben sollte, werde ich Sie sofort benachrichtigen.«
»Ich hoffe es. Gute, loyale Parteimitglieder sind schwer zu finden. Frauen andererseits gibt es überall. Denken Sie darüber nach«, murmelte er und nippte an seinem Drink.
Nachdem Cameron gegangen war, konnte Stanley kaum seine Erregung verbergen. Der Boß hatte eine Tür geöffnet, und er wäre am liebsten mit einem Satz durchgesprungen. Wie ließ sich das am besten verwirklichen?
Er lehnte die Essenseinladung eines Clubkameraden ab und speiste allein, stopfte die Nahrung nur so in sich hinein und spülte sie mit großen Schlucken Champagner hinunter. Zusammen mit dem Dessert - ein ganzes Viertel Blaubeerkuchen mit Cremesauce - kam auch die Inspiration. Er hatte eine narrensichere Methode gefunden, hinter Isabels Rücken zuzuschlagen und ihren Niedergang einzuleiten.
Gleichzeitig würde ihn das aus einer Situation befreien, die zwar profitabel war, die ihn aber in steter Angst vor einer möglichen Bloßstellung hielt. Ein, vielleicht zwei Jahre konnte er weiterhin seine Gewinne einstreichen. Dann, zu einem Zeitpunkt seiner Wahl -
»Ausgezeichnet«, sagte er, womit weder der Champagner noch der Kuchen gemeint war.
Bevor er den Concourse Club verließ, setzte er den Plan in Gang. Dessen Schlichtheit verblüffte ihn, so wie ihn seine eigene Findigkeit erfreute. Vielleicht hatte er sich zu lange schon unter seinem Wert verkauft. Vielleicht war er gar nicht der Idiot, für den ihn George und Billy und Virgilia und Isabel hielten.
Dem ältlichen Weißen am Empfang des Clubs reichte er eine versiegelte Note. »Bitte, geben Sie das in sein Brieffach, damit er es erhält, wenn er das nächste Mal vorbeischaut.«
»Ist es eilig, Mr. Hazard?«
»Oh nein, ganz und gar nicht«, sagte Stanley und wedelte lässig mit seinem Stock.
Der Pförtner studierte die Schrift auf dem Briefumschlag, während Stanley pfeifend die Treppe hinabging. Mr. J. Dills, Esq. Er schob den Umschlag in das richtige Fach; in den letzten paar Jahren, so ging es ihm durch den Kopf, hatte er Mr. Stan-ley Hazard mitten am Tag niemals so gut gelaunt und so nüchtern gesehen.
Ein kurzer Brief von der Palmetto-Bank. Leverett D. schreibt, der Vorstand lasse nur dieses eine Mal eine verspätete Zahlung zu. Er redet mich mit >Mrs. Main< an und nicht wie früher mit meinem Vornamen. Ich bin mir sicher, daß da die Schulangelegenheit dahintersteckt. Wir befinden uns tatsächlich am Vorabend des Winters ...
Der Sergeant von Fort Marcy ging um Mitternacht.
Ashton berührte das zerwühlte Bett. Noch warm. Ihr Gesicht verzerrte sich erst vor Ekel, dann vor Kummer. Sie setzte sich hin, den Kopf zwischen den Händen, während Trostlosigkeit sie wie eine große Woge überspülte.
Sie ballte die Hände. Du bist eine rückgratlose Memme. Hör auf damit.
Sinnlos. Mit jedem Kunden heute nacht - einem Mexikaner, dem die Manieren von Don Alfredo fehlten; einem einfältigen Fuhrknecht aus St. Louis; einem Soldaten - war der Punkt näher gerückt, an dem sie am liebsten ihre Wut und ihre Frustration hinausgeschrien hätte. Jetzt war November, und sie war bereit, loszurennen, ohne sich um das Risiko zu kümmern, in der Wildnis zu verhungern oder vom Schwager der Senora eingefangen zu werden.
Sie weinte zehn Minuten. Dann, nachdem sie die Kerze ausgeblasen hatte, sprach sie zu Tillet Main; das hatte sie nicht mehr getan, seit sie vor langer Zeit zum letztenmal sein Grab besucht hatte.
»Ich wollte, daß du stolz auf mich bist, Papa. Es ist schwerer, wenn man eine Frau ist, aber mit Lamar Powell hätte ich es beinahe geschafft. Aber beinahe ist nicht gut genug, nicht wahr? Es tut mir leid, Papa. Es tut mir wirklich leid .«
Wieder flossen die Tränen. Wellen von Haß überschwemmten sie. Gegen sich selbst gerichtet, gegen diesen Ort, gegen alles und jedes.
Das war am Dienstag. Am Freitag kam ein Mann herein und engagierte sie für die ganze Nacht.
Ein alter, sehr alter Mann. Sie war ganz unten angekommen.
»Schließ das verdammte Fenster, Mädchen. Ein altes Wrack wie ich holt sich zu dieser Jahreszeit schnell was weg.«
Er stellte seinen zerbeulten Koffer mit Messingbeschlägen ab. »Ich hoffe bloß, du bist heißblütig. Ich möchte mich richtig rankuscheln und gemütlich eine Nacht durchschlafen.«
Oh Gott, was für ein widerlicher Typ, dachte Ashton. Mindestens sechzig. Ausdruckslose blaue Augen, graue Haare, die ihm kreuz und quer über Nacken und Ohren hingen, Gewicht höchstens hundertzwanzig Pfund. Wenigstens machte er einen sauberen Eindruck - ihr einziger Trost.
Der alte Mann legte seinen schäbigen Mantel ab, zerrte seine Hosenträger nach unten, zog Hosen und Schuhe aus. Er öffnete seinen Musterkoffer, wobei ein Haufen bedruckter Blätter zum Vorschein kam; auf jedem Blatt war eine fette Frau zu sehen, die an einem Flügel saß. Er wühlte zwischen Handzetteln und schmutzigen Wäschestücken herum, bis er eine Whiskyflasche gefunden hatte.
»Gegen mein verfluchtes Rheuma.« Als er sich auf das Bett setzte, knackten seine Kniegelenke wie Knallfrösche. »Ich bin zu alt für dieses Rumgereise quer durch die Hölle.« Er nahm einen Schluck Whisky.
Ashton setzte ihr schönstes professionelles Lächeln auf und sagte: »Wie heißt du, Liebling?«
»Willard P. Fenway. Sag Will zu mir.«
Sie zeigte ihre Grübchen. »Das ist süß. Bist du richtig heiß, Will?«
»Nein. Und mit dem Liebling ist es auch nicht weit her. Ich habe dich für ein vernünftiges Gespräch engagiert, ein paar Streicheleinheiten und einen ordentlichen, langen Schlaf.« Er spähte an der erhobenen Flasche vorbei. »Obwohl du ein umwerfender Anblick bist. Das gelbe Kleid, das du trägst, ist auch toll.«
»Will, soll das wirklich heißen, du willst nicht ...?«
»Ficken? Nein. Brauchst nicht rot zu werden, das ist ein gutes, aufrechtes Wort. Die Leute, die sich über unflätige Sprache aufregen, tun für gewöhnlich noch viel schlimmere Dinge, bloß heimlich.« Er streckte sich aus und nahm einen weiteren Schluck. »Wie heißt du?«
Aus einem ihr selbst unerklärlichen Grund konnte sie ihn nicht anlügen. »Ashton. Ashton Main.«
»Du kommst aus dem Süden, was?«
»Ja, aber wag bloß nicht zu fragen, wie ich an einem solchen Ort landen konnte. Das höre ich zwanzigmal die Woche.«
»Du kriegst soviel Nummern zusammen? Verdammt. Wunderbar, so jung zu sein. Bei mir ist das schon so lange her, daß ich fast die Einzelheiten vergessen hätte.«
Ashton lachte ehrlich erheitert auf. Sie fand den alten Kauz sympathisch. Vielleicht hatte sie deswegen nicht gelogen. Sie setzte sich neben ihn und sagte: »Ich erzähl' dir nur das. Ich bin hier in Santa Fe unerwartet Witwe geworden. Ich konnte nur in diesem Höllenloch hier Arbeit finden.«
»Aber du willst nicht ewig bleiben, he?«
»Nein, Sir.« Sie musterte den Koffer. »Bist du so eine Art Verkäufer?«
»Hausierer ist das richtige Wort. Ich verhungere langsam dabei. Auf den gravierten Karten in meiner Tasche steht: Willard P. Fenway, Repräsentant der Westterritorien, Hochstein-Pianowerke, Chicago.«
»Oh, das erklärt das Bild mit der dicken Lady. Sie verkaufen ein wunderbares Instrument. Ich sah Hochstein-Pianos in den besten Häusern von South Carolina. Ich bin dort aufgewachsen. Sag mal, hast du was dagegen, wenn ich mich fürs Bett fertigmache?« Er drängte sie, sich zu beeilen. »Möchtest du mich im Nachthemd oder nackt haben?«
»Letzteres, wenn es dich nicht stört. Hält einen Mann wärmer.«
Ashton zog sich weiter aus; ganz unerwartet machte ihr der Abend plötzlich Spaß. Fenway wedelte mit der leeren Flasche. »Muß eine deiner Bemerkungen korrigieren. Ich verkaufe keine Hochsteins, ich versuche, welche zu verkaufen. Auf diesem Trip bin ich erst einen >Artiste< losgeworden - so heißt das große Modell, das auf dem Verkaufsblättchen abgebildet ist. Hat ein Viehzüchter in El Paso gekauft, ein dämlicher Klotz. Seine Frau kann keine Noten lesen, sondern wollte bloß was zum Angeben haben. Wahrscheinlich ist dies das einzige Instrument, das ich in Monaten verkaufe. Der Boß hat mir ein Territorium aufgehalst, das aus der ganzen verdammten Nation westlich des Mississippi besteht, was bedeutet, daß sich meine potentielle Kundschaft aus Falschspielern, pleite gegangenen Minern, betrunkenen Soldaten, Indianern, armen Schollenbrechern, Greasern, Huren - nichts gegen dich - und ab und zu mal einer schwachsinnigen Ranchersfrau zusammensetzt. Sag mal, könntest du dich ein bißchen beeilen, dich hinlegen und mich wärmen?«
Sie blies das Licht aus, schlüpfte unter die Decke und schmiegte sich in die Beugung seines Armes. Er mochte alt und knochig sein, aber sein Fleisch war noch fest, und seine Hand auf ihrer Schulter wirkte kräftig. Das Reisen hatte ihn gehärtet, vermutete sie. Seine Haut roch angenehm nach einem Pflanzenöl.
»Hier könntest du sicher ein Piano verkaufen. Vielleicht keinen Flügel, aber ein Spinett. Unsere Kunden schreien ständig nach Musik.«
»Dafür würde ich keins von Hochstein kriegen.«
»Warum nicht?«
»Der alte Hochstein ist ein Bibelleser. Fromm wie die Sünde in der Öffentlichkeit, vor allem in Gesellschaft des alten Maultiers, das er geheiratet hat. Glaub mir, wenn man mich lassen würde, ich könnte der Hälfte aller Freudenhäuser in Illinois ein Hochstein-Piano aufschwatzen und mich zur Ruhe setzen.«
»Der Markt ist so groß?«
»Indiana und Iowa noch dazu, dann könnte ich wie ein verdammter Herzog leben. Hochstein will sich aber nicht mit dem Bordellmarkt einlassen. Die Konkurrenz ebenfalls nicht - ahhh! Wohin gehst du?«
»Wir brauchen Licht. Wir müssen uns unterhalten.«
Ein Streichholz kratzte, ein Flämmchen erhellte den Raum. Sie packte die blaue Seidenrobe, ein Geschenk der Senora.
Fenway beschwerte sich, daß ihm kalt sei. Mit besänftigenden Lauten stopfte ihm Ashton die abgeschabte Decke unter das Kinn und setzte sich wieder. »Willard!«
»Will, verdammt noch mal. Ich hasse Willard.«
»Entschuldige, Will. Du hast gerade einen wunderbaren Einfall gehabt und weißt es nicht. Würdest du nicht gern diesem alten Mr. Hochstein einen Tritt ins verlängerte Rückgrat geben? Und dabei noch eine Menge Geld rausschlagen?«
»Darauf kannst du wetten. Ich bin jetzt seit zweiundzwanzig Jahren sein Sklave. Aber .«
»Würdest du dafür ein kleines Risiko eingehen?«
Er dachte darüber nach. »Ich denke schon. Kommt drauf an, wie groß das Risiko und wie groß der Lohn dafür ist.«
»Nun, du hast eben gesagt, du könntest wie ein Herzog leben, wenn du in drei Staaten Pianos an Freudenhäuser verkaufen würdest. Und wenn du sie nun im ganzen Westen verkaufen würdest?«
Fenway konnte nur noch krächzen. »Mein Gott, Mädel. Du sprichst von El Dorado.«
Sie klatschte in die Hände. »Dachte ich mir. Will, wir werden Partner.«
»Partner? Ich bin noch keine zehn Minuten hier.«
»Oh, doch, das bist du, und wir sind Partner«, sagte sie, sehr nachdrücklich mit dem Kopf nickend. »Wir steigen ins Pianogeschäft ein. Du weißt doch, wie Pianos hergestellt werden?«
»Sicher. Für die Arbeit, die ich nicht selbst machen kann, könnte ich mir Leute suchen. Aber wo sollten zwei Pianobauer die vierzig- oder fünfzigtausend Dollar auftreiben, die man für den Anfang braucht? Sag mir das mal.«
»Wir werden es in Virginia City auftreiben. Sobald du mir geholfen hast, von diesem verdammten Ort fortzukommen.«
Ashton beugte sich vor; ihre Brüste preßten sich gegen den Seidenstoff. Zum erstenmal roch sie Fenways Atem. Nicht der übliche Gullygeruch der meisten Kunden. Er hatte eine Gewürznelke gekaut. Der Duft der Gewürznelke vermischte sich angenehm mit dem Pflanzenöl. Der alte Bursche wurde ihr immer sympathischer.
»Verstehst du, Will, mein verstorbener Mann hatte Besitz in Virginia City. Eine Mine. Sie gehört mir. Wir müssen nur hinkommen.«
»Was denn, ah ja, nichts dabei«, sagte er. »Ist ja nur ein kleiner Sprung rüber nach Virginia City. Kann ich eigentlich meinen Ohren noch trauen?«
»Aber sicher kannst du das. Oh, warte. Bist du irgendwie gebunden?«
»Du meinst Frauen? Nichts dergleichen. Ich hab' drei Stück aufgearbeitet oder sie mich, da bin ich mir nicht sicher.« Er grinste. Unten zerbrach jemand ein Möbelstück. Dann hörte Ashton den Übeltäter schreien - Luis. Fenway entging der bösartige Blick, der kurz in ihren Augen aufblitzte. »Du erzählst mir die Wahrheit? Dein Mann besaß eine Mine in Nevada?«
»Die Mexikanische Mine.«
»Ich bin dort gewesen. Ich kenne diese Mine. Eine verdammt große Mine.«
»Ich will dich nicht anlügen, Will. Ich habe keine Urkunde, mit der ich meinen Besitzanspruch nachweisen könnte. Auf der Heiratsurkunde steht zwar, daß ich Mrs. Lamar Powell bin, aber die ist in Richmond zurückgeblieben.«
»Wenn wir Frisco erreichen - ich kenne dort einen Burschen, der uns eine neue Urkunde drucken kann.« Ashton genoß es, wie seine Augen glänzten. Er begann die große Chance zu erfassen. »Aber das reicht vielleicht noch nicht.«
Sie legte eine Hand auf ihre schwellende Brust. »Oh, ich habe gewisse Möglichkeiten, jemanden zu überzeugen, der ein bißchen kleinlich ist.«
Fenway, der langsam rot anlief, war außer sich. »Sprich weiter, sprich weiter. Du magst verrückt sein, aber mir gefällt das.«
»Der schwerste Teil - und das ist jetzt ernst gemeint, Will, kein Witz, der schwerste Teil wird sein, hier wegzukommen, raus aus Santa Fe. Die Senora, die Frau, der du das Geld gegeben hast, ist ein gemeines Stück. Und Luis, ihr Schwager, ist noch schlimmer. Hast du ein Pferd?«
»Nein. Ich fahre mit den Überlandkutschen.«
»Könntest du drüben in Fort Marcy vielleicht zwei Pferde kaufen?«
»Ja. Ich glaube, soviel habe ich noch.«
»Besitzt du eine Waffe?«
Sein Gesicht verlor schnell an Farbe. »Du meinst, bei der Sache kann auch geschossen werden?«
»Ich weiß es nicht. Möglich. Wir brauchen Nerven, wir brauchen Pferde, und wir brauchen eine geladene Waffe, bloß für den Notfall.«
»Nun.« Eine geäderte Hand deutete auf den Musterkoffer. »Wühl mal unter diesen Verkaufsblättchen. Dort liegt ein alter Allen-Revolver, gute fünfundzwanzig Jahre alt, aber bei Reisenden sehr beliebt.« Er räusperte sich. »Ich fürchte, meiner ist nur zum Vorzeigen. Keine Munition.«
»Dann wirst du welche kaufen müssen.«
Während er darüber nachdachte, brach unten der Streit wieder aus. Ein krachendes Geräusch deutete an, daß hier einer einen Stuhl über den Schädel bekommen hatte. Ashtons Mund verzog sich häßlich, als sie Luis bellen hörte: »Vete, hijo de la chingada. Gonsalvo, y donde esta el cuchillo? Te voy a cortar los hue-vos.«
Ein jaulender Schrei und hämmernde Schritte signalisierten den Rückzug des potentiellen Opfers. Fenways Augen quollen hervor.
»War das der Schwager?«
»Kümmere dich nicht drum. Wir werden mit ihm fertig -wenn wir eine geladene Waffe haben.«
»Aber ich bin ein friedlicher Mann. Ich kann mit einer geladenen Waffe gar nicht umgehen.«
Ashtons süßes Lächeln lenkte ihn von ihrem tückischen Blick ab. »Ich schon.« Sie streichelte seine mit weißen Bartstoppeln bedeckte Wange. »Ich schätze, die Entscheidung liegt bei dir, mein Lieber. Möchtest du dich lieber sicher, aber arm durch den Westen schleppen, immer weiter und weiter, oder ein kleines Risiko eingehen und anschließend in Reichtum leben?«
Fenway nagte an seiner Unterlippe. In der Cantina unten erzählte Luis mit polternder, grollender Stimme noch einmal von seinem Triumph über den geflüchteten Mann. Fenway starrte Ashton an und dachte: Das ist vielleicht eine Frau. Eine bemerkenswerte Frau.
Er gab sich keinen Illusionen bezüglich des Mädchens hin, das ihn hier so umschmeichelte. Auch verbarg sie nicht, was sie war. Sie schrieb es groß und deutlich auf ihr Schild, und wem das nicht paßte, der konnte sie gern haben. Er fand immer mehr Gefallen an dieser Wölfin im Schafspelz.
Sie gab ihm einen Kuß auf die Lippen. Ihr feuchter Mund war dem seinen ganz nahe, ihr warmer, erregter Atem strich über sein Gesicht, sie berührte ihn mit ihrer Zungenspitze, während einer ihrer Finger mit seinem Ohr spielte. »Komm. Will, sag's mir. Armut oder Pianos?«
Sein Herz hämmerte beim Gedanken an all die Reichtümer -und beim Gedanken daran, das Leben zu verlieren.
»Zum Teufel damit. Versuchen wir's mit Pianos. Partner.«
Zwei Abende später, während ein verfrühter Wintersturm über Santa Fe fegte, kehrte Will Fenway mit seinem Musterkoffer zurück, gerade so wie beim ersten Mal, als sie ihren Plan gefaßt hatten. Wilde Blicke um sich werfend, schloß er die Tür und lehnte sich dagegen, während der Regen gegen die Fensterläden klatschte. Ashton riß ihm den Koffer aus der Hand und machte ihn auf dem Bett auf. »Hast du für die ganze Nacht gezahlt?«
»Nein. Konnte ich mir nicht mehr leisten.«
»Will«, fing sie an zu jammern, gereizt und nervös.
»Hör zu, ich halte das allmählich für eine verdammt blödsinnige Idee. Ich habe jeden Cent für Munition und für diese beiden Klepper ausgegeben, und jetzt spielen die Senora und ihr übel aussehender Verwandter unten Karten. Wegen des Regens ist sonst niemand da. Sie werden jeden Laut hören.«
»Wir warten solange.«
Ashton holte den mehrläufigen Allen-Revolver aus dem ansonsten leeren Koffer. Sie drehte die Läufe, um zu sehen, ob sie alle geladen waren, dann legte sie ihre wenigen Kleidungsstücke in den Koffer. Sie besaß keinen Regenumhang und würde durch und durch naß werden; das ließ sich nicht ändern.
Sie spürte einen dumpfen Druck in ihrer Brust, doch gleichzeitig war sie kühl und gefaßt. Sie legte das orientalische Kästchen in den Koffer. »Wie lange haben wir?«
»Ich konnte nur für eine Stunde zahlen.«
»Das muß reichen. Wir gehen die Hintertreppe hinunter durch den Lagerraum. Hast du ...?«
»Ja. Ich habe alles«, sagte er bissig. »Die Pferde sind in dem kleinen Schuppen hinten. Aber .«
»Nichts aber.« Ashton streichelte seine Stirn. Die Haut fühlte sich nicht mehr kühl an, sondern feucht und klamm. »Setz dich, Will. Wir warten, bis es ein bißchen lauter geworden ist. Luis fängt zu lärmen an, wenn er getrunken hat. Das klappt schon, hab nur Vertrauen zu mir.«
Aus einer Tasche seines alten Mantels holte Fenway eine silberne Uhr und ließ sie aufschnappen. Er legte sie aufs Bett. Beide starrten sie auf die schwarzen Zeiger. Zehn nach neun. Der große Zeiger sprang weiter. Wieder eine Minute vergangen.
Ashton stand hinter ihm und massierte geschickt seinen verkrampften Nacken und seine Schultern. »Mach dir keine Sorgen. Wir kriegen das problemlos hin. Zwei so clevere Partner, wie wir es sind, kann niemand aufhalten.«
Vielleicht mit Ausnahme von Luis, der sich gerade so lautstark einen weiteren Drink einschenkte, daß Ashton und Fen-way die Flasche gegen das Glas schlagen hörten.
Die Zeit verrann; plötzlich schien ihnen das Glück auf geradezu wunderbare Weise hold zu sein. Mit lauter Baritonstimme begann Luis zu singen. Senora Vasquez-Reilly sagte: »No mefasti-dies«, aber er gröhlte einfach weiter. Fünf Minuten später -neun Minuten vor zehn, die Stunde, zu der die Senora die Treppe hochsteigen und Will herausholen würde - übertönte schweres Donnergrollen die immer heftiger werdenden Regenschauer.
»Wir schaffen es, Will. Wir müssen los - jetzt.« Ashton band ihre Spitzenmantilla unter dem Kinn fest, ein hauchdünnes Tuch, aber besser als nichts. Sie drückte ihm den Koffer in die Hand, griff nach dem geladenen Allen-Revolver und öffnete die Tür. Sie suchte den nur von einem Kerzenstummel in einem Halter schwach erhellten Flur ab, der direkt bis zu der dunklen Hintertreppe führte. Nichts. Ashtons Atem ging schwer, als sie sich vorwärts schob. Sie flüsterte, den Mund an seinem Ohr: »Tritt vorsichtig auf. Einige Bretter quietschen, wenn du fest drauftrittst.«
Mit fast übertriebener Vorsicht schlichen sie auf Zehenspitzen den Gang entlang, vorbei an der ersten geschlossenen Tür. Ash-ton hörte das Mädchen drinnen schnarchen. Sie kamen an der zweiten, links liegenden Tür vorbei; von Rosa war kein Laut zu hören.
Auf der Treppe wagte Ashton etwas schneller zu gehen. Alles ging glatt, bis Fenway mit seinem ganzen Gewicht auf die erste Stufe trat, die ein Geräusch von sich gab wie eine Katze, der man auf den Schwanz getreten ist.
Der Regen hatte nachgelassen. Das Geräusch hallte nach. Ihr Glück ließ sie nun im Stich.
Rosas Tür ging auf. Nackt trat sie auf den Gang hinaus, in der Hand ein Glas. Wegen des Lärms blickte sie sofort nach links - und sah sie.
Ihr Aufschrei war möglicherweise noch in Fort Marcy zu hören. »Senora! Senora! La puta Brett, se huye!«
»Das wär's«, rief Ashton und packte Fenway am Rockaufschlag. »Jetzt renn, mein Lieber.«
Immer zwei Stufen auf einmal nehmend, eilte sie hinunter; bei einem Sturz hätte sie sich sicher das Genick gebrochen.
Jetzt, wo sie entdeckt waren, half ihnen das Schicksal wie zum Hohn, ohne zu stolpern bis in den Lagerraum zu kommen. Rosa kreischte jedoch weiter, und jetzt trieb auch die Stimme der Senora Luis zur Eile an, gerade als sich Ashton durch den Irrgarten aus alten, zerbrochenen Kisten wühlte.
Die Tür der Cantina ging auf. Ein bernsteinfarbenes Lichtrechteck erfaßte die Flüchtlinge nahe der Hintertür.
Luis stürmte auf sie zu. Ashton drückte ab. Durch den Rauch hindurch sah sie Luis zur Seite kippen. Dann entdeckte sie, wie sich die Senora in der Cantina das Blut von der Wange wischte. Blut, erzeugt durch herumfliegende Splitter; Ashtons Kugel hatte den Türrahmen getroffen, und Luis war lediglich weggetaucht, um sein Fell in Sicherheit zu bringen.
»Komm, Will«, schrie Ashton, riß die Hintertür weit auf und sprang hinaus in Regen und Schlamm.
Fenway folgte keuchend. Er stieß sie nach links, knallte ihr dabei den Musterkoffer heftig gegen das Knie. Sie taumelte, wäre beinahe gefallen. Fenway kriegte ihren Ellbogen zu fassen und führte sie. »Nicht mehr weit. Der kleine Schuppen. Da sind wir schon.«
Sie roch und hörte die unruhigen Tiere. Luis erschien an der Hintertür, eine Flut von Obszönitäten ausstoßend. Er sprang ins Freie, wollte ihnen nachrennen, als er mit dem rechten Fuß im Schlamm ausrutschte und der Länge nach hinfiel. Seinem Aufschrei nach hielt Ashton es durchaus für möglich, daß er sich irgendwas gebrochen hatte.
Er wälzte sich auf die Seite, griff mit der linken Hand nach den Flüchtlingen. Der schwache Schein eines Blitzes zeigte sein schlammverschmiertes Gesicht. Von der Tür aus kreischte die Senora: »Levàntate, Luis, Maldita seas. Levàntatey siguelos.«
»No puedo, puta, me pasa algo a la pierna.«
»Steig um Himmels willen auf«, jammerte Fenway. Er saß bereits im Sattel, den Griff des Koffers umklammernd. Für Ashton schienen die paar Sekunden eine Ewigkeit zu dauern, während sie auf das Bild vor sich starrte: die Senora, die Luis aufforderte, aufzustehen, Luis, dessen ausgestreckte Hand nach ihnen tastete, während sein schmerzverzerrtes Gesicht zum Ausdruck brachte, daß er nicht aufstehen konnte.
In der Ewigkeit dieses Augenblicks zuckten all die kleinen und großen Schmähungen, Beleidigungen und Unfreundlichkeiten durch Ashtons Kopf. Die Senora und Luis hatten ihr beide gleich viel angetan, aber Luis war näher. Sie trat zwei Schritte auf ihn zu, zielte mit starrem Arm mit dem Revolver und jagte ihm eine Kugel in den Kopf.
Sie ritten klappernd über die leere, vom Regen glänzende Hauptplaza. Asthons Pferd war an der Spitze. Sie hatte ihren Rock zwischen die Schenkel hochgezogen und ritt tief geduckt im Herrensitz, ständig nach Hindernissen Ausschau haltend.
Hinter ihr schrie Fenway: »Warum hast du den Mann erschossen? Es gab keinen Grund, ihn zu erschießen. Er lag schon am Boden.«
»Luis hat mich mißhandelt, ich habe ihn gehaßt«, schrie sie über die Schulter zurück. Vor ihr traten ihr zwei Soldaten aus dem Fort in den Weg; ihre Gummiponchos glänzten im Schein der zuckenden Blitze. Einer zog den anderen gerade noch im letzten Moment zurück; beide fielen hin.
Auf Fenways regennassem Gesicht zeigte sich tiefer Abscheu, während er dahingaloppierte. Er wußte, daß das kleine Flittchen aus Carolina ein Herz aus Stein besaß, aber nie hätte er gedacht, daß sie so weit gehen und einen hilflosen Mann niederschießen würde. Mit was für einer Kreatur hatte er sich da eingelassen? Vor Aufregung war ihm fast übel; jetzt fühlte er sich nicht mehr befreit, sondern hatte statt dessen das unbehagliche Gefühl, in der Falle zu sitzen.
Ashton, von Kindheit an an Pferde gewöhnt, bot ihr ganzes reiterliches Können auf; tief über den Nacken des Kleppers gebeugt, ließ sie sich nur vom gelegentlichen Schein eines Blitzes leiten. Sie ritt, als wäre der Teufel hinter ihr her und nichts vor ihr könnte sie aufhalten; ihr Partner fühlte sich mitgeschleift, gefangen, im Sog ihrer unglaublichen Willensstärke.
Er hörte sie rufen: »Wir schaffen es, Honey. Wir lassen diese mexikanischen Hunde hinter uns. Reit nur zu!«
Vielleicht konnte er wirklich alle möglichen Verfolger abschütteln, dachte er, während sein Gaul über die glitschige Straße schlitterte, doch er bezweifelte, ob er je sie abschütteln könnte. Es war zu spät; sie hatte ihn am Haken.
Und sie hatte einen Mord begangen.
Mit seiner Hilfe.
Der Deputy Marshall des Territoriums und der Kommandant von Fort Marcy befragten Senora Vasquez-Reilly, die ihnen sagte:
»Natürlich kann ich Ihnen sagen, wer meinen lieben, unschuldigen Schwager ermordet hat. Ich kann sie bis ins letzte Detail beschreiben. Ich habe immer meine Zweifel gehabt, ob sie mir ihren richtigen Namen gesagt hat. Es liegt also an Ihnen, ob Sie sie je erwischen.«
Im Spital in Richmond machte ein junger Doktor die Runde durch die Stationen, geführt von der Oberin, Mrs. Pember. Der Doktor war neu hier, hatte sich freiwillig gemeldet wie die anderen auch, die sich um diese traurigen Überreste menschlichen Abfalls kümmerten.
Gelegentlich warf ihm einer der Patienten einen leeren Blick zu, aber die meisten beachteten ihn nicht. Einer duckte sich neben seinem Feldbett zusammen und betastete mit den Fingerspitzen eine unsichtbare Wand. Ein anderer führte ein lebhaftes, jedoch lautloses Gespräch mit unsichtbaren Zuhörern. Ein dritter saß mit verschränkten, untergeschobenen Armen da, wie in einer Zwangsjacke, und weinte ohne einen Laut.
Der Doktor diktierte der Oberin Anmerkungen, während er von Feldbett zu Feldbett schritt. In der Nähe des Feldbetts ganz hinten saß ein Mann zusammengesunken auf einer Packkiste am offenen Fenster. Selbst zu dieser späten Jahreszeit stieg noch Rauch aus den niedergebrannten Stadtbezirken auf und verschleierte die ohnehin kümmerliche Herbstsonne.
Der Mann auf der Kiste starrte aus dem Fenster nach Südosten in Richtung des jüdischen Friedhofs, der vom Shockoe-Friedhof getrennt war. Seine Abscheu war unübersehbar. Mit gesenkter Stimme sagte Mrs. Pember: »Wurde vor einigen Wochen bewußtlos vor dem Rathaus gefunden.«
Der Doktor, blaß und von der Last seiner Besuchsrunden bereits erschöpft, musterte den Mann mit einer Mischung aus Ekel und Sorge. Früher einmal mußte der Patient eine gewisse physische Präsenz gehabt haben; groß genug war er. Nun sah er verfallen, geschrumpft aus. Hautstreifen deuteten auf eine frühere Fettsucht hin. Nahrungsmangel hatte bis auf einen beachtlichen Bauch alles Fett weggeschmolzen.
Die linke Schulter des Patienten hing tiefer als seine rechte. Er war barfuß; unter einer schmierigen, alten, dem Spital gespendeten Samtrobe trug er das grobe Nachthemd des Krankenhauses. Auf seinem Kopf saß ein zerbeulter Zylinderhut. Er funkelte Mrs. Pember und den Doktor an.
Immer noch flüsternd sagte die Oberin: »Er behauptet, ständige Schmerzen zu haben.«
»Er sieht danach aus. Irgendeine Krankengeschichte?«
»Nur das, was er uns freiwillig erzählt. Manchmal redet er davon, daß er von einer hohen Klippe in den James River stürzt. Dann wieder sagt er, sein Pferd hätte ihn bei Five Forks abgeworfen, nachdem die Yankees die Linien von General Eppa Hunton durchbrochen hatten. Er sagte, er habe zu den Verstärkungen gehört, die General Longstreet im Eiltempo von Richmond herangeführt hatte, allerdings zu spät zur Rettung von...«
»Ich weiß alles über den Fall von Richmond«, unterbrach sie der Arzt gereizt. »Besitzt er irgendwelche Papiere?«
»Sir, wie viele Männer haben schon Papiere, nachdem die Regierung alles verbrannte und sich absetzte?«
Der Doktor gab ihr achselzuckend recht. Er näherte sich dem Patienten. »Nun, Sir, wie geht's uns denn heute?«
»Captain. Es muß Captain heißen.«
»Captain wer?«
Eine lange Pause. »Ich kann mich nicht erinnern.«
Mrs. Pember trat vor. »Letzte Woche gab er als Namen Erasmus Bellingham an. Vorgestern nannte er sich Ezra Dayton.«
Der Patient starrte sie mit seinen seltsam gelbbraunen Augen an, in denen eine Spur von Tücke lag. Der Doktor sagte: »Bitte erzählen Sie uns, wie Sie sich heute morgen fühlen, Sir.«
»Kann's nicht erwarten, hier rauszukommen.«
»Alles zu seiner Zeit. Aber solange Sie hier drin sind, erweisen Sie Mrs. Pember wenigstens die Höflichkeit, Ihren speckigen Hut abzunehmen.« Er griff nach dem Zylinder. Die Oberin stieß einen Warnschrei aus, als der Patient aufsprang und mit wütender Gewalt die Packkiste nach dem Doktor schleuderte.
Die Kiste segelte über den Kopf des Doktors und knallte in den Gang. Der Patient stürmte vor. Der Arzt sprang zurück, brüllte nach den Pflegern. Zwei kräftige Landburschen in fleckigen Kitteln kamen den Gang entlang gerannt, warfen sich auf den Mann und drückten ihn auf sein Feldbett nieder. Obwohl Jugend und Kraft zu ihren Gunsten sprachen, wurden sie von den wirbelnden Fäusten des Patienten übel zugerichtet. Einen Pfleger traf er so hart, daß er aus dem Ohr blutete.
Schließlich überwältigten sie ihn und banden seine Hand-und Fußgelenke mit einem Seil an den eisernen Bettrahmen.
Mit bebenden Nerven beobachtete der Doktor sie vom Gang aus. »Dieser Mann ist ein Wahnsinniger.«
»Alle anderen Ärzte sind Ihrer Meinung, Sir. Er ist eindeutig der schlimmste Fall im Spital.«
»Gewalttätig.« Der Doktor schauderte. »Der Zustand dieses Mannes wird sich niemals bessern.«
»Es ist ein Jammer, was der Krieg diesen Männern angetan hat.«
Er sagte, noch zornig über den Angriff: »Diese Stationen sind zu überfüllt, als daß noch Raum für Mitleid wäre, Mrs. Pember. Wenn er sich beruhigt hat, geben Sie ihm zwangsweise Laudanum und ein starkes Abführmittel. Morgen setzen Sie ihn auf die Straße. Wir brauchen den Platz für jemanden, dem wir helfen können.«
Am 3. April waren die höchsten Regierungsbeamten der Konföderation geflohen; das Feuer, gelegt am Abend des 3. Aprils, war vom Capitol Square bis zum Fluß gefegt und hatte dabei das kommerzielle Herz Richmonds niedergewalzt, Banken, Geschäfte, Lagerhäuser, Druckereien, ungefähr tausend Gebäude, verteilt auf zwanzig Blöcke. Selbst der ausgedehnte Komplex der Gallego-Getreidemühlen war verschwunden, ebenso wie die Eisenbahnbrücke über den James.
Kaum einer von denen, die in den folgenden Monaten durch das verbrannte Gebiet marschierten, vergaß diesen Anblick. Es war, als würde man die Oberfläche einer Welt irgendwo im Universum durchstreifen, einer Welt, die sowohl fremd als auch quälend vertraut war. Ihre Hügel bestanden aus Bergen von Ziegeln und Kalkstein. Schwarzverkohlte Balken bildeten die Knochen fremdartiger, mächtiger Bestien. Gebäuderuinen ragten empor wie die Grabmarkierungen einer fremden Rasse.
Zwei Nächte nach dem Vorfall im Spital stolperte der Patient durch die gewaltigen Gallego-Ruinen, zwischen Mühle und Ka-nawha-Kanal. Man hatte ihm die schäbigsten Klamotten gegeben und ihn dann auf die Straße gesetzt. Hätte er sich nicht auf wichtigere Beute konzentrieren müssen, er hätte es ihnen schon heimgezahlt.
An diesem Abend sah er viele Dinge mit großer Deutlichkeit. Er erinnerte sich in allen Einzelheiten an seine Phantasievorstellung, bei der Großen Parade mitzumarschieren. Außerdem erinnerte er sich an die Namen jener, die ihn daran gehindert hatten, den ihm gebührenden Platz in der Militärgeschichte seines Landes einzunehmen.
Orry Main. George Hazard.
Oh Gott, was hatten ihm diese beiden angetan. Seit ihrer gemeinsamen Kadettenzeit in West Point hatten Hazard und Main regelmäßig konspiriert, um seine Pläne zu vereiteln. Jahr um Jahr war der eine oder der andere aufgetaucht, um ihn an seiner Karriere zu hindern. Sie waren geradezu schwindelerregend oft dafür verantwortlich gewesen, daß man ihn mit Schimpf und Schande bedeckt hatte:
Schädigung seiner Reputation im Mexikanischen Krieg. Anklage wegen Feigheit bei Shiloh Church. Strafversetzung nach New Orleans und Desertion nach Washington. Fehlschlag bei Lafayette Bakers Geheimpolizei und schließlich Desertion in den Süden, dessen Menschen und Prinzipien er stets verachtet hatte.
Und schuld an all dem waren Main und Hazard. Deren bösartige Charaktere. Ihre geheimen Verleumdungskampagnen hatten ihn ruiniert.
Bevor er im Spital wieder zu sich gekommen war, hatte er irgendwann - an den genauen Zeitpunkt konnte er sich nicht mehr erinnern - in Richmond Nachforschungen über Main angestellt. Ein Veteran hatte ihm sagen können, daß Colonel Orry Main bei Petersburg den Tod gefunden hatte. Sein anderer Feind, Hazard, war höchstwahrscheinlich noch am Leben. Und was genauso wichtig war, jeder der Männer besaß natürlich eine Familie. Er erinnerte sich, daß er sich vor dem Krieg an einem der Mains in Texas zu rächen versucht hatte. Charles - so hatte er geheißen. Sicherlich gab es noch viele andere Verwandte.
Er bemühte sich, jetzt nicht an all das zu denken und sich auf die Gallego-Ruinen zu konzentrieren. Nach einer Suche von einer Stunde hatte er, wie er glaubte, die richtige Stelle gefunden. Er kniete nieder und wühlte sich durch den Schutt, das Geräusch schnell fließenden Wassers im Ohr. Es strömte über ein gewaltiges Mühlrad, das sich nicht mehr drehte. Wie die meisten Dinge im Süden, so war auch das Mühlrad zerbrochen.
Beim Graben verletzte er sich die Finger an den scharfen Ziegelbrocken. Bald schon waren seine Finger mit Staub und Blut bedeckt. Doch er fand, was er vergraben hatte. Sein Gedächtnis hatte ihn nicht vollkommen im Stich gelassen.
Er ging, das zusammengerollte Ölgemälde umklammernd, zu einer Stelle, die in helles Mondlicht getaucht war, und wischte dort den Staub von seinem Schatz. Während er das Bild säuberte, stieß der Schmerz wie eine spitze Ahle durch seine Stirn und begann sich tiefer und tiefer zu wühlen. Winzige, nadelscharfe Blitze zuckten auf.
Er erinnerte sich an seinen Namen.
Er sagte ihn laut. In einem offenen Rechteck aufragender Mauern saßen einige schwarze Siedler am Lagerfeuer; der Lärm erregte ihre Aufmerksamkeit. Einer kam herübergeschlurft. Nach einem Blick auf das Gesicht des Mannes im Mondlicht zog er sich schnell wieder zurück.
Voller Inbrunst wiederholte der Mann den Namen.
»Elkanah Bent.«
Entlang der gespenstischen Wände trieb dünner, bitterer Rauch, der ihn zu würgen begann. Er hustete, während er die Erinnerung an das Gesicht auf dem Gemälde heraufzubeschwören versuchte . versuchte .
Ja. Eine Terzeronenhure.
Woher hatte er ihr Porträt?
Ja. Ein Bordell in New Orleans.
Das lieferte ihm den Hinweis auf eine noch bedeutsamere Erinnerung - seinen Lebenszweck. Vor Wochen hatte er sich dieser Sache verschrieben und sie dann während der schlimmen Zeit im Spital vergessen.
Sein Lebenszweck war der Krieg.
Der andere Krieg zur Befreiung des hinterhältigen Niggers, der damit auf die Ebene des überlegenen weißen Mannes gehoben werden sollte, war vorüber und verloren. Sein Krieg war noch nicht vorbei. Bis jetzt hatte er seine Kräfte, seinen strategischen Scharfsinn, seine überlegene Intelligenz noch gar nicht eingesetzt, um den Krieg zu eröffnen gegen die Familien der ...
Der ...
Main.
Hazard.
Sie zu bekriegen, sie leiden zu lassen, indem er die tötete, die sie liebten - alte, junge -, einen nach dem anderen. Eine süße, langsame Vernichtungskampagne, ausgeführt von dem amerikanischen Bonaparte.
»Bonaparte«, kreischte er dem Mond entgegen. »Bonapartes Meisterwerk!«
Die Siedler verließen ihr Feuer und zogen sich in die Finsternis zurück.
Er drückte sich den Zylinder fest auf den Kopf und straffte seine hängenden Schultern, so gut es ging. Der Frack, den sie ihm gegeben hatten, sah im Mondschein alt und schmierig aus. Er machte eine exakte militärische Kehrtwendung und marschierte los, wie ein Mann, der nie auch nur einen Moment krank gewesen war.
Die Jackson Trading Company ritt, umzingelt von Narbengesicht und dessen Kriegern, auf das Dorf von Schwarzer Kessel zu. Die Indianer hatten den Weißen die Waffen abgenommen. Charles hatte sich anfangs geweigert, dann aber nachgegeben, als Holzfuß darauf beharrte, daß es nur zu ihrem Besten wäre. »Liefere ihnen keinen Vorwand, uns zu töten, Charlie.«
Es wurde allmählich dunkel. Mit schneidender Schärfe trieb der Wind den Schnee in Charles' Gesicht. Plötzlich wurde ihm klar, was es mit dem strähnigen Saum an Narbengesichts Mantel auf sich hatte.
»Ich hätte es gleich erkennen müssen. In Texas hab' ich Skalpe gesehen. Das sind Haare«, sagte er zu Holzfuß.
»Richtig. Ein Mann der Hundegemeinschaft darf diese Art von Zierde tragen, wenn er sich oft genug ausgezeichnet und genügend Feinde getötet hat.«
»Einige Haare sind blond. Es gibt keine blonden Indianer.«
»Ich sagte dir doch schon, Charlie, diesmal haben wir uns eine Menge Kummer aufgeladen.«
Die Aufmerksamkeit des Händlers pendelte zwischen Charles und Fen. Der Collie zerrte an seiner Stangenbahre und bellte und bellte. Zwei Krieger ritten vor, hoben ihre Lanzen zum Wurf.
»Tut das nicht«, brüllte Holzfuß mit rotem Gesicht. Die Krieger lachten und drehten ab, zufrieden mit der Reaktion.
Die Cheyenne spielten weiter mit ihren Gefangenen: Sie ritten dicht heran, berührten sie mit Händen und Stöcken. Narbengesicht galoppierte neben ein Packmuli und riß mit seiner Lanze einen weiteren Leinensack auf. In einer Kaskade stürzten Glasperlen auf den schneebedeckten Boden.
Charles hob die Hand. Holzfuß hielt ihn zurück.
»Unsere Haare sind mehr wert als die Waren. Wir müssen uns damit abfinden, bis wir eine Möglichkeit entdeckt haben, uns herauszuwinden.«
Zuerst trafen sie auf acht Jungen in Fellen, die mit stumpfen Pfeilen nach Wild pirschten. Hinter dem nächsten Hügelkamm entdeckten sie die Pferdeherde, ungefähr hundert Ponys, von weiteren Jungen bewacht. Der Wind trug den Geruch von Holzrauch heran.
Holzfuß sagte ruhig: »Ganz gleich, was sie tun, werde nicht wütend. Behalt die Nerven, und wenn ich dir plötzlich einen Hinweis gebe, befolg ihn sofort.« Charles nickte, obwohl ihm die Bedeutung der Worte des Händlers nicht ganz klar war.
Ihr Auftauchen im Dorf verursachte einen Aufruhr. Alte Männer, Mütter mit Babys auf dem Rücken, Mädchen, Kinder, Hunde strömten aus den Tipis und drängten sich schnatternd um sie, in nicht gerade feindlicher Manier, dachte Charles. Feindselig war nur Narbengesicht. Er sprang vom Pferd und bedeutete ihnen, das gleiche zu tun.
Charles stieg ab. Er bemerkte am Boden festgepflockte Büffelhäute, während andere über senkrechte Rahmen gespannt waren, doch ansonsten war die Freiluftarbeit im Dorf wegen des schlechten Wetters eingestellt worden.
Während er sich umschaute, begegnete er dem Blick eines Mädchens mit großen, ungemein neugierigen Augen. Sie hatte gleichmäßige, sogar zarte Gesichtszüge und glänzend schwarzes Haar. Sie schenkte ihm ein schnelles Lächeln, um zu zeigen, daß er im Dorf nicht nur Feinde hatte.
Narbengesichts Krieger drängten sich um sie. Mit wirbelnden Zeichen und Geschrei ging Holzfuß zur Offensive über. »Moke-tavato! Ich will mit ihm sprechen.«
»Ich sagte dir, Schwarzer Kessel ist nicht hier«, erklärte Narbengesicht. »Es sind keine Friedenshäuptlinge da, die euch helfen könnten; nur Kriegshäuptlinge.« Er wendete sich an seine Männer. »Nehmt ihre Güter.«
Der Indianer in der Kavalleriearbeitsjacke begann Charles' Satteltaschen aufzufetzen. Charles stürzte sich auf ihn. Holzfuß schrie eine Warnung, und jemand hinter ihm schlug ihm einen Gewehrkolben über den Schädel. Ein zweiter Schlag zwang ihn in die Knie. Die Menge brüllte. Fen knurrte. Narbengesicht versetzte dem Collie einen Tritt, der ihn aufjaulen ließ.
Die Krieger der Hundegemeinschaft drängten sich um die Packtiere und rissen die Säcke auf, in denen sich die Eisenschaber, die Hacken und die Blechtöpfe befanden. Die Menge schob sich näher heran. Um sie auf seine Seite zu ziehen, befahl Narbengesicht seinen Männern, die Handelswaren zu verteilen.
Frauen und Kinder drängten vor und verlangten schreiend nach diesem oder jenem Gegenstand. Das junge Mädchen gehörte zu den wenigen, die sich zurückhielten, wie Charles im Aufstehen bemerkte. Auf einigen Gesichtern zeigte sich Abscheu über diese Gier, doch die meisten Dorfbewohner achteten nicht darauf. Holzfuß schaute sich mit einem merkwürdigen Ausdruck um, so, als hätte er nie zuvor Tipis oder Cheyenne gesehen.
Plötzlich verkündete Narbengesicht: »Diese Weißen sind Teufel, die uns übelwollen. Ihre Waren und ihr Leben gehören uns.« Seine Männer gaben grunzende, zustimmende Laute von sich.
Jetzt legte Holzfuß seine Gedankenverlorenheit ab. »Narbengesicht, das ist einfach nicht recht. Das ist nicht die Art des Volkes.«
Narbengesicht straffte die Schultern. »Es ist meine Art.«
»Nichtsnutziger kleiner Scheißkerl«, sagte Holzfuß, laut genug, daß man es hören konnte. Narbengesicht verstand die Worte. Er machte eine Geste.
»Tötet sie.«
Charles' Magen schien eine halbe Meile durchzusacken. Holzfuß warf ihm einen scharfen Blick zu, packte Boys Hand und stürzte nach vorn. Die plötzliche Bewegung überraschte alle; der Händler und Boy konnten sich zwischen zwei Kriegern durchwühlen. »Renn, Charlie. Hier entlang.«
Charles rannte.
Ein Beil mit Eisenklinge zischte an seinem Ohr vorbei. Frauen und alte Männer kreischten auf. Charles stürzte zwischen zwei verschreckten Großvätern hindurch, weg von der Menge. Er verstand Holzfuß' plötzlichen Anfall von Feigheit nicht. Wozu sollte diese Flucht gut sein? Man würde sie sowieso gleich wieder schnappen.
Holzfuß streckte einen Arm aus und deutete auf ein reichverziertes Zelt, ein Stück weiter unten auf der linken Seite. Ein kräftiger Indianer mit dunklem, zerfurchtem Gesicht stand mit verschränkten Armen vor dem Zelt; der Schnee schmolz auf seinem grauen Haar. Holzfuß tauchte, Boy hinter sich her zerrend, an ihm vorbei in das Tipi.
Charles rannte weiter. Er spürte, daß ihm Narbengesichts Männer dicht auf den Fersen waren. So ein Blödsinn, dachte er. Gleich saßen sie in einem Tipi in der Falle. Holzfuß mußte den Verstand verloren haben.
Er raste auf den alten Cheyenne zu, in der Erwartung, aufgehalten zu werden. Der grauhaarige Indianer warf einen kurzen Blick auf den Tipi-Eingang und nickte. Mit einem hoffnungslosen Gefühl im Herzen sprang Charles durch die ovale Öffnung. Augenblicklich stellte sich der Indianer davor.
Ein kleines Feuer in einer flachen Grube gab beißenden Rauch, aber wenig Wärme von sich. Charles duckte sich in der kalten Düsternis zusammen, griff nach einer steinernen Hacke.
»Leg das weg, Charlie.«
»Was zum Teufel ist mit dir los? Sie stehen direkt davor.«
Wütende Stimmen bestätigten das. Die von Narbengesicht tönte am lautesten. Während er wütend knurrte, sprach der ältere Indianer mit ruhiger, leiser Stimme. In das Knurren mischte sich ein Unterton von Frustration.
»Wir brauchen jetzt keine Waffen«, sagte Holzfuß. Er deutete über seinen Kopf. Dort hing etwas, das eine gewisse Ähnlichkeit mit einem aus einem Büffelkopf hergestellten Hut besaß. Es war mit blauen Perlen verziert, die Hörner wiesen ein Muster leuchtender Farben auf.
»Das ist der Büffelhut«, sagte Holzfuß. »Genauso heilig wie die vier Medizinpfeile. Der Hut wehrt Krankheiten ab, und wenn irgendein Narr ihn stiehlt, dann wird der Büffel für immer verschwinden. Der alte Priester draußen bewacht ihn Tag und Nacht. Keiner, der unter dem Hut Schutz sucht, darf belästigt werden.«
»Du meinst, das ist eine Zufluchtsstätte, wie eine Kirche?«
»Ja. Narbengesicht darf uns nicht anrühren.«
Charles' Schweiß trocknete, es wurde kühl, und er schauderte zusammen. Ziemlich überraschend stieg in ihm ein Gefühl der Verärgerung auf. »Hör mal, seit dem Krieg bin ich auf keinen Kampf mehr scharf. Aber wenn ein Kampf beginnt, dann renne ich nicht gern weg.«
»Du meinst, es war feig, hier Zuflucht zu suchen?«
»Nun...«
Während der Priester mit Narbengesicht diskutierte, sagte Holzfuß: »Habe ich dir nicht gesagt, daß du hier draußen deine natürlichen Empfindungen umkehren mußt? Was glaubst du, warum Narbengesicht so wütend ist? Wir haben gerade das Größte getan - und ich meine das Allergrößte -, was ein Mann der Hundegemeinschaft tun kann. Wir waren geschlagen, sollten ermordet werden und sind davongekommen. Das ist größer als der größte Coup.«
Der Priester des Büffelhutes bückte sich und betrat das Tipi. Der alte Indianer lächelte auf freundliche, bewundernde Weise.
Der Händler und der Priester begrüßten einander in der Zeichensprache. »Kleiner Bär«, sagte Holzfuß, nickte und lächelte. Der Priester sagte etwas in der Cheyenne-Sprache. Charles gegenüber erklärte der Händler: »Er hat gerade eben meinen Namen ausgesprochen, Mann-mit-schlimmem-Bein.« Er wandte sich an Kleiner Bär: »Das hier ist mein Partner Charlie, und meinen Neffen Boy kennst du ja. Du weißt, daß Narbengesicht gelogen hat, Kleiner Bär. Wir kommen immer in friedlicher Absicht, nur zum Handeln.«
Charles verstand, als Kleiner Bär sagte: »Ich weiß.«
»Wann kommt Schwarzer Kessel zurück?«
Der alte Indianer zuckte mit den Schultern. »Heute. Morgen. Ihr bleibt hier. Eßt etwas. Ihr seid in Sicherheit.«
»Nichts dagegen, Kleiner Bär.« Holzfuß schlug Boy auf die Schulter. Boy grinste. Charles gab sich Mühe, seine Einstellung neu zu ordnen, so wie Holzfuß es ihm geraten hatte.
»Mein Hund hängt noch im Zaumzeug, Kleiner Bär.«
»Ich werde ihn holen.«
»Sie haben unsere Waffen und Messer.«
»Ich werde sie finden.«
Der Priester ging. Bald lag Fen neben dem Feuer und wälzte sich glücklich im Dreck.
Charles konnte sich nur schwer damit abfinden, daß sie sich durch Weglaufen mit Ruhm bedeckt hatten. Er dachte weiter darüber nach, während Kleiner Bär ihnen Beeren und Streifen geräucherten Büffelfleisches servierte. Nach der Mahlzeit besorgte der Priester Felle und gewebte Kopfkissen.
Frühzeitig am nächsten Morgen ritt Schwarzer Kessel mit einem Dutzend Krieger in das Dorf ein. Die Mitglieder der Jackson Trading Company konnten endlich wieder ins Freie.
Nach dem Schneefall war die Sonne wieder herausgekommen. Cheyenne aller Altersgruppen umringten sie, das hübsche Mädchen eingeschlossen, das Charles aufgefallen war. Man lächelte ihm zu, schlug ihm auf die Schultern, grüßte ihn mit »How!«, was er als Ausruf der Anerkennung interpretierte. Von Narbengesicht war nichts zu sehen.
Holzfuß blies sich auf wie ein Schauspieler vor einem jubelnden Publikum. Er grinste über das ganze Gesicht.
»Darum kommen wir nicht herum, Charlie. Wir sind Helden.«
Das bessere Wetter ließ die Aktivitäten im Freien Wiederaufleben. Jungenbanden pirschten sich, mit stumpfen Pfeilen bewaffnet, an Hasen heran, als Training für die Stammesjagd im Erwachsenenalter. Frauen und Mädchen machten sich an ihre traditionellen Aufgaben und schabten Häute, spannten sie auf Rahmen und behandelten sie mit Rauch.
Charles bemerkte eine Art Schülerinnen-Lehrerin-Verhältnis bei einer Gruppe von Mädchen und Müttern, die einer viel älteren Frau aufmerksam lauschten. Wie Holzfuß ihm später erklärte, handelte es sich hier um eine Lehrstunde durch ein Mitglied der Webergemeinschaft. Für die Cheyenne besaßen dekorative Webstoffe eine große religiöse Bedeutung; man mußte sie in genau vorgeschriebener Weise herstellen. Nur Frauen, die in diese Gemeinschaft gewählt worden waren, durften diese Kunst lehren.
Eines Abends lud Schwarzer Kessel Holzfuß, Charles und Boy in seinen Wigwam ein. Aus Gesprächen mit dem Händler wußte Charles, daß die Cheyenne eine Anzahl von Friedenshäuptlingen hatten, Männer, die ihre Tapferkeit und ihre Klugheit unter Beweis gestellt hatten und die nun den Stamm berieten, wenn er sich nicht im Kriegszustand befand. Holzfuß betonte, daß die Weißen immer mit dem Häuptling verhandeln wollten, aber der existierte nicht. Es gab Häuptlinge für den Frieden und für den Krieg, ebenso wie einen Häuptling für jedes Camp - Schwarzer Kessel hatte diese Position auch in seinem Dorf inne -, und es gab die Anführer der Kriegergemeinschaften. Sie alle regierten im Kollektiv den Stamm, der seit ewigen Zeiten ungefähr dreitausend Seelen zählte. Der Stamm war nicht gewachsen, aber er war auch nicht durch Katastrophen, Hunger oder durch seine Feinde dezimiert worden. Charles' Respekt vor den Cheyenne wuchs weiter.
Der Friedenshäuptling Moketavato war ein gutgebauter Mann von ungefähr sechzig, der seine Haarflechten mit Otterfellstreifen umwickelt hatte. Er hatte ernste Augen und ein lebhaftes, intelligentes Gesicht. Er trug die üblichen Leggings mit Lendenschurz und Hirschlederhemd mit zahlreichen Verzierungen; sein Kopfschmuck bestand aus Adlerfedern und drei gehämmerten Silbermünzen an einem Lederriemen. Nachdem sie sich alle gesetzt hatten, reichte er den weißen Männern eine lange Friedenspfeife. Schon ein paar Züge machten Charles schwindelig. In seinem Kopf tauchten phantastische Farben und Formen auf, und er fragte sich, was für ein Kraut wohl in dem Pfeifenkopf brennen mochte.
Die stille, ruhige Frau des Friedenshäuptlings servierte eine herzhafte Schildkrötensuppe und anschließend Schüsseln mit einem wohlschmeckenden Stew. Während sie aßen, entschuldigte sich Schwarzer Kessel für Narbengesichts Taten. »Der Verlust seiner Mutter hat ihm die Vernunft geraubt. Wir versuchen ihn im Zaum zu halten, aber es ist schwer. Doch eure Handelswaren und eure Tiere sind in Sicherheit.«
Holzfuß bedankte sich, und Charles schob sich, den Gebräuchen entsprechend, mit den Fingern einen weiteren Fleischbrocken in den Mund. »Ein köstliches Stew«, sagte er.
Schwarzer Kessel nahm das mit einem Lächeln zur Kenntnis. »Das beste Gericht meiner Frau, nur für Ehrengäste.«
»Junger Hund«, sagte Holzfuß.
Um ein Haar hätte sich Charles übergeben. Er preßte die Lippen zusammen und bemühte sich um ein ausdrucksloses Gesicht, während er den Fleischbrocken gegen einige Widerstände hinunterwürgte. Danach aß er nichts mehr, rührte nur in seiner Schüssel herum.
»Ich hoffe, der Vertrag, den du unterzeichnet hast, bedeutet für eine Weile Frieden«, sagte Holzfuß.
»Das ist auch meine Hoffnung. Viele vom Stamm glauben, Krieg wäre besser. Sie glauben, nur Krieg kann unser Land retten.« Er wandte sich leicht zur Seite, um Charles einzuschließen, und sprach noch langsamer. »Ich habe den Frieden stets für den besten Weg gehalten, und ich habe mich bemüht, den Versprechungen des weißen Mannes Glauben zu schenken. Dieser Weg ist immer noch mein Weg, obwohl mir seit Sand Creek immer weniger auf diesem Weg folgen wollen. Ich brachte den Stamm nach Sand Creek, weil der Soldatenhäuptling in Fort Lyon sagte, uns würde nichts geschehen, wenn wir uns dort friedlich niederließen. Wir taten das, und dann kam Chiving-ton. So habe ich jetzt keinen Grund, den Versprechungen zu glauben, keinen anderen Grund als meinen eigenen brennenden Wunsch nach Frieden. Deshalb habe ich die Feder wieder in die Hand genommen. Aus der Hoffnung heraus, nicht aus Vertrauen.«
»Ich verstehe«, sagte Charles. Schwarzer Kessel war ihm sympathisch, und er spürte, daß dies auf Gegenseitigkeit beruhte.
Draußen vor dem Tipi glühte das Lagerfeuer, und festliche Musik ertönte. Charles neigte den Kopf. »Ist das eine Flöte?«
»Ja, die Flöte der Werbung«, sagte Schwarzer Kessel. »Sie wird vor dem nächsten Tipi gespielt. Also muß es Narbengesicht sein. Außer dem Krieg hat er auch noch einige andere Interessen, was für uns andere ein Segen ist. Laßt uns schauen.«
Sie traten hinaus in das Zwielicht und sahen Narbengesicht neben dem angrenzenden Tipi; er spielte auf einer handgefertigten Holzflöte, während seine Füße sich in einer Art Tanz vor-und zurückbewegten. Schwarzer Kessel grüßte. Narbengesicht wollte den Gruß erwidern, sah die Händler und machte ein mürrisches Gesicht. Er blies mehrere falsche Töne, bis er wieder die richtige Melodie erwischte.
An seinem Leibriemen trug Narbengesicht eine Quaste aus weißem Fell. Holzfuß deutete darauf. »Von einem Hirsch mit weißem Wedel. Ist ein großer Liebeszauber.«
Ein gelblicher Hund rannte bellend vorbei. Fen machte sich, ebenfalls bellend, an die Verfolgung. Aus dem Tipi, vor dem Narbengesicht sein Ständchen brachte, tauchte ein junges Mädchen auf - das gleiche Mädchen, das Charles am ersten Tag aufgefallen war. Er sah, wie eine Hand von innen das Mädchen stieß. Offensichtlich zwangen ihre Eltern sie, hinauszugehen, um den Freier zu begrüßen.
»Sie ist das Kind meiner Schwester, Grünes Gras«, sagte Schwarzer Kessel zu Charles. »Sie zählt jetzt fünfzehn Winter. Narbengesicht wirbt seit zwei Wintern um sie und muß das noch zwei weitere tun, bevor sie eine seiner Frauen werden kann.«
Die sanften Rundungen der Brüste des Mädchens zeigten, daß sie die Bezeichnung Frau durchaus schon verdiente. Sie trug Leggings und ein langes, geschmücktes, kittelartiges Kleidungsstück, das bis zu ihrer Hüfte hochgezogen war und sich vorne und hinten mittels eines zwischen den Beinen durchgezogenen Strickes bauschte. Faserbüschel des Strickes umschnürten sie von der Taille bis zu den Knien; sie hoppelte mehr, als daß sie ging.
Schwarzer Kessel sah Charles' verwirrtes Gesicht. »Sie ist kein Kind mehr, aber noch nicht verheiratet. Bis sie Narbengesichts Frau ist, bindet ihr Vater ihr nachts den Strick zur Wahrung ihrer Unschuld um.«
Grünes Gras mühte sich, Narbengesicht zuzulächeln, aber ihr Herz war deutlich erkennbar nicht dabei. Narbengesicht schaute unglücklich drein und stampfte schneller mit seinen Mokassins. Dann bemerkte sie die Zuschauer. Ihre Reaktion auf Charles war unmittelbar und offensichtlich.
Seine ebenfalls. Die Plötzlichkeit überraschte ihn. In der Hoffnung, daß man ihm nichts anmerkte, drehte er sich zur Seite, beunruhigt darüber, sich von einem so jungen Mädchen angezogen zu fühlen. Er beruhigte sein Gewissen damit, daß er sich einredete, daß es nur an der Schönheit des Mädchens lag; seine relativ lange Enthaltsamkeit hatte diese Reaktion ausgelöst.
Schwarzer Kessel bemerkte den Blickwechsel und gluckste. »Ich hörte, daß Grünes Gras dich mit Wohlgefallen betrachtet hat, Charles.«
Auch Narbengesicht bemerkte es. Er funkelte Charles an, trat zwischen die weißen Männer und das Mädchen, ihnen den Rücken zuwendend. Hastig redete er auf sie ein. Sie antwortete mit gleicher Geschwindigkeit und Schroffheit, irritierte und reizte ihn. Er überschüttete sie mit weiteren Bitten. Sie warf den Kopf zurück, griff nach den Rändern des Tipi-Eingangs und trat ein. Bevor sie verschwand, warf sie Charles einen weiteren liebes-trunkenen Blick zu.
Narbengesichts Züge verzerrten sich, eine schwarzkupferne Maske im Lichte des nahen Feuers. Mit einer Hand die Flöte umklammernd, stampfte er davon.
Fen schoß ins Blickfeld, verfolgt von dem gelblichen Hund. Ein Baby brüllte. Holzfuß seufzte.
»Naja, ich weiß, daß es nicht deine Schuld ist. Aber jetzt hat dieser Schlagetot einen weiteren Grund, uns zu hassen.«
Am nächsten Tag begannen sie mit dem Handel. Das Wetter wurde für die Frühwinterzeit ungewöhnlich warm und machte es möglich, daß Holzfuß Boy in der Dämmerung zum Fluß führen konnte. Dort verpaßte der Händler, außer Sicht der Tipis, seinem Neffen ein Bad, das dieser dringend nötig hatte. Charles legte seine Kleider ab, watete in den Fluß und wusch sich ebenfalls von Kopf bis Fuß. Er fühlte sich wie neugeboren.
Das Handeln besorgte einzig und allein Holzfuß. Charles holte die Waren, stellte sie zur Schau und kümmerte sich um die Pferde, die sie dafür bekamen. Je mehr Einzelheiten er über die komplexen Zusammenhänge der Cheyenne-Gemeinschaft erfuhr, desto größer wurde sein Respekt vor dem Stamm. In gewissen Dingen blieben die Indianer primitiv; sanitäre Angelegenheiten wurden im Dorf sehr nachlässig gehandhabt. In anderen Bereichen fand Charles die Cheyenne bewundernswert; beispielsweise wenn es um die Erziehung der Jungen ging.
Die Cheyenne betrachteten das Mannesalter nicht als etwas Unvermeidliches, sondern als ein Privileg, das mit großer Verantwortung verbunden war. Abends wurden gelegentlich die Seiten des einen oder anderen Tipis hochgerollt; drinnen versammelten sich die Mitglieder einer der Kriegergemeinschaften in voller Bemalung und mit den Insignien ihrer Gemeinschaft geschmückt um das Feuer. Wie beabsichtigt, drängten sich dann stets eine große Anzahl Jungs um das jeweilige Tipi und sahen zu, wie die Männer sprachen und tanzten und ein paar ihrer weniger geheimen Rituale durchführten.
Acht Tage lang wurde flott und profitabel gehandelt. Am neunten Morgen erwachte Charles frühzeitig; drohende Regenwolken hingen am Himmel. Holzfuß wollte aufbrechen. Sie brachen ihr Tipi in sechs Minuten ab - Charles genoß das Spielchen, ihren eigenen Rekord zu schlagen -, und nach einem ausgedehnten Abschied von Schwarzer Kessel und den Dorfältesten ritten sie, vierzehn neue Ponys vor sich her treibend, nach Süden.
Der Wind roch warm und feucht. Die Tipis am Cimarron verschwanden hinter ihnen, ebenso wie die aufsteigenden dünnen Rauchsäulen. Charles saß locker auf Satan und dachte an Grünes Gras, der er in dem kleinen Dorf häufig begegnet war. Ihr hübsches Gesicht brachte bei jedem Zusammentreffen ihre Gefühle deutlich zum Ausdruck. Sie war verliebt. Das schmeichelte einerseits seiner Eitelkeit, machte aber andererseits sein Eremitenleben noch schwerer erträglich. Eines Nachts hatte er einen erotischen Traum, in dem er bei dem Mädchen lag. Doch jedesmal, wenn er sie traf, tippte er lediglich an seinen Hut, lächelte und murmelte einige Freundlichkeiten auf englisch. Er fragte sich, ob bei seiner Rückkehr nach St. Louis Willa Parker vielleicht ...
»Paß auf, Charlie.« Holzfuß' plötzliche Warnung riß ihn aus seinen Tagträumen. Er zog seinen Colt, als ein berittener Indianer zwischen einigen Pappeln an einem Bachlauf hervorgesprengt kam. Einen Augenblick lang rechnete Charles damit, daß ein ganzer Trupp Krieger folgen würde, doch es kam kein weiterer Reiter mehr.
Der einsame Krieger galoppierte auf sie zu. Charles erkannte Narbengesicht.
Düster sagte Holzfuß: »Er muß mächtig schnell und weit geritten sein, um vor uns hier zu sein. Den muß ja ordentlich was zwacken - aber das ist wohl kaum eine Überraschung, he?«
Narbengesicht ließ sein Pony auf sie zutraben. Seine dunklen Augen richteten sich auf Charles. »Ich habe etwas zu sagen.«
»Nun, wir haben auch nicht angenommen, daß du hier rausgekommen bist, um dich an den Heilwassern zu laben«, sagte Holzfuß. Der Sarkasmus war bei dem Indianer fehl am Platz, der vom Pferd sprang und sich mit gespreizten Beinen in Positur stellte.
»Steig ab, Charlie«, sagte Holzfuß und kletterte vom Pferd. »Müssen die Formalitäten beachten, verdammt noch mal.«
Als die beiden Händler auf dem Boden standen, stampfte Narbengesicht mit dem Fuß auf.
»Ihr habt mich vor meinem Volk beschämt.«
»Oh, Scheiße.« Holzfuß seufzte. »Du hast dich selbst beschämt, Narbengesicht. Wir haben dir keinen Anlaß gegeben, uns zu töten. Du weißt es, und Schwarzer Kessel wußte es, und wenn das deine Klage ist, warum .«
Wütend packte ihn Narbengesicht. »Wir treffen uns unter einem Strick. Du wirst dran hängen.« Sein Blick richtete sich auf Charles. »Und du.«
Mit dunkelrotem Gesicht sagte Holzfuß: »Laß mein Hemd los.«
Narbengesicht verdrehte es noch mehr. Die eine Hand des Händlers schoß vor, erwischte den Riemen von Narbengesichts Lendenschurz und zerriß ihn. Narbengesicht schrie auf, ließ ihn los und sprang zurück, als hätte ihn eine Schlange gebissen.
»Ja, was ist denn das?« rief Holzfuß in gespielter Überraschung. Er deutete auf Narbengesichts entblößte Genitalien. »Ein Mann ist das bei Gott nicht.«
Narbengesicht kreischte auf und sprang Holzfuß an die Kehle. Charles riß seinen Colt aus dem Gurt. »Stopp!«
Der Ruf ließ Narbengesicht erstarren, seine Finger nur Zentimeter von Holzfuß' Hals entfernt. Der Händler hielt Narbengesicht den Lendenschurz hin. »Wirst Schwierigkeiten haben, dem Mädchen ohne das hier den Hof zu machen.« Er stopfte sich den Schurz unter den Gürtel. »Jawohl, Sir, eine Menge Schwierigkeiten.«
Es war deutlich zu sehen, daß Narbengesicht um seinen Schurz kämpfen wollte, doch Charles' Colt, auf seinen Kopf gerichtet, hielt ihn davon ab. Sehr ruhig sagte Holzfuß: »Und jetzt verschwindest du, bevor mein Partner eine Kugel dorthin jagt, wo mal deine Eier waren.«
Waren? Was zum Teufel ging hier vor?
Zum Beispiel Narbengesichts Rückzug. Sein verzerrtes Gesicht wirkte eher scharlachrot als braun. Er schien kurz vor einer Explosion zu stehen, als er in die Luft sprang, ein Bein über den Pferderücken schleuderte und davongaloppierte.
Charles atmete tief aus, als die Spannung nachließ. »Erklär mir jetzt mal, was du getan hast.«
Holzfuß zog den Lendenschurz aus dem Gürtel. »Erinnerst du dich, was ich dir übers Haareschneiden bei den Cheyenne erzählt habe? Das hier ist so ähnlich. Wenn du einem Mann den Schurz nimmst, dann verliert er sein Geschlecht. Er glaubt, er sei kein Mann mehr.«
Charles sah dem nach Norden galoppierenden Indianer nach. »Nun, jetzt sind wir quitt. Du hast ihm auch einen Grund gegeben, uns zu hassen.«
»Stimmt«, sagte der Händler, während die Röte aus seinem Gesicht wich. »Ziemlich dämlich, nehme ich an.« Er schnüffelte. »Hab's allerdings genossen.«
»Ich auch.«
Die beiden Männer grinsten. Holzfuß schlug Charles auf die Schulter, streckte dann die flache Hand aus.
»Wird bald regnen. Machen wir uns auf die Socken, Boy.« Er stieg auf, meinte dann mit einem Schuß Ernsthaftigkeit: »Schätze, daß wir mit einiger Sicherheit den Bastard nicht zum letztenmal gesehen haben. Paßt auf eure Haare auf.«
MADELINES JOURNAL
Dezember 1865. Keine Nachricht von Brett. Und einen Mord im Bezirk.
In der vorletzten Nacht wurde Edward Woodvilles ehemaliger Sklave Tom mit drei Pistolenkugeln im Leib an der Uferstraße unterhalb von Summerton gefunden. Col. O.C. Munro vom Büro kam mit einem kleinen Trupp Männer von Charleston, um die Sache zu untersuchen, aber ohne Ergebnis. Falls jemand im Bezirk den Täter kennt, dann schweigt er. Eine wirkliche Tragödie. Letzte Woche war Tom hier zu Besuch, immer noch überglücklich, von Woodville, einem üblen Herrn, befreit zu sein.
Munro und seine Männer blieben über Nacht auf. M.R. Munro inspizierte die neue Schule und notierte sich das bißchen, das ich ihm über das Feuer sagen konnte. Er ist verpflichtet, Berichte über alle derartigen Schandtaten - sein Ausdruck - an seine Vorgesetzten nach Washington zu schicken. Er wird auch über den Mord an Tom berichten. Er bot mir an, für eine Weile zwei Soldaten zur Bewachung der Schule abzustellen. Ich lehnte ab, sagte aber, ich würde mich an ihn wenden, wenn wir wieder Schwierigkeiten bekämen ...
... Für nächsten Samstag ist auf Six Oaks ein Turnier angekündigt, dort, wo Charles als junger Mann sein Duell austrug. Ich werde nicht gehen; Prudence konnte ich erst nach langer Diskussion dazu überreden. Vor dem Krieg besuchte ich mit Justin einige Turniere - das heißt, ich wurde mehr oder weniger hingeschleppt - und hielt sie stets für pompöse Angelegenheiten. Junge Männer zu Pferd, mit Federhüten in Samt und Seide, die versuchen, die aufgehängten Ringe mit ihren polierten Lanzen aufzuspießen. Alle gaben sich hochtönende mittelalterliche Namen. Sir Dies. Lord Das. Mit ihren gestreiften Pavillons und den gewaltigen Völlereien schienen diese Turniere typisch zu sein für die Gesellschaft, die der Krieg weggefegt hat.
Und wo, mein Liebster, wollen sie jetzt ihre jungen Ritter finden, wo so viele ebenso wie Du gefallen sind, in den Wäldern und auf den Feldern von Virginia ...?
Ungefähr fünfzig Ladys und Gentlemen aus dem Bezirk versammelten sich auf der Lichtung bei Six Oaks, nahe am Fluß. Kutschen standen herum, Pferde wurden angebunden. Die weißen Zuschauer beanspruchten zwei Drittel der offenen Fläche für sich; der feuchte Grund direkt am Fluß war für die schwarzen Kutscher und Diener, die alle Arbeitsverträge mit ihren Herren abgeschlossen hatten, abgeteilt worden.
Es war ein warmer Wintertag. Lange Lichtstreifen warfen Muster auf den braunen Boden, über den mittelalterliche Reiter in einer Linie galoppierten; ihre Lanzen waren auf die kleinen Holzringe gerichtet, die an Stricken von Baumästen hingen.
Hufe donnerten. Der erste Reiter verfehlte alle Ringe. Der zweite ebenfalls. Der dritte, ein Graubart, spießte erst einen, dann noch einen Ring auf. Ein altes Horn mühte sich um die Imitation der Trompete eines Herolds. Die Menge bedachte den Sieger mit sporadischem Beifall.
Während sich zwei weitere Reiter fertig machten, beklagte sich eine fette Frau, die den Sitz einer schäbigen offenen Kutsche vollkommen ausfüllte, bei einem neben dem Vehikel stehenden Gentleman.
»Ich wiederhole, was ich schon Cousin Desmond in meinem letzten Brief schrieb, Randall. Es ist ein Wort, eine Frage. Wann?«
Ihre roten Lippen spuckten die Frage voller Gehässigkeit aus. Mrs. Asia LaMotte, eine der unzähligen Cousinen von Francis und Justin, schwitzte trotz der milden Temperatur heftig und hätte ein Bad dringend nötig gehabt. In den Falten und Runzeln ihres Specknackens hatte der Schweiß den Puder zu winzigen Kügelchen gehärtet. Randall Gettys hielt sie für eine widerliche alte Frau, ließ sich aber wegen der sozialen Stellung ihrer Familie und seiner Freundschaft zu Des nichts anmerken. Der arme Des, der in den Docks von Charleston Schauerarbeit -Niggerarbeit - leisten mußte, um seinen Lebensunterhalt bestreiten zu können.
Gettys überzeugte sich, daß ihn niemand belauschen konnte, bevor er sagte: »Asia, wir können nicht einfach am hellichten Tag nach Mont Royal marschieren und losschlagen. Das Feuer hat sie nicht in Angst und Schrecken versetzt. Diese Pest von einer Schule ist wieder geöffnet. Natürlich wollen wir, daß die Schule vernichtet und diese Schlampe bestraft wird, aber wir wollen doch deswegen nicht ins Gefängnis. Diese verfluchten Yankees vom Büro schnüffeln wegen des Mordes herum.«
Asia LaMotte war nicht überzeugt. »Ihr seid alle Feiglinge. Hier fehlt ein Mann mit Courage.«
»Pardon, aber wir haben Courage - und damit meine ich deinen Cousin Des ebenso wie mich selbst. Was wir brauchen, ist ein Mann, der nichts mehr zu verlieren hat. So einen müssen wir finden, anheuern und ihn für uns die Kastanien aus dem Feuer holen lassen. Das bedeutet lediglich eine Verzögerung, aber keine Aufgabe des Plans. Des ist so versessen darauf wie eh und je, Mrs. Main loszuwerden.«
»Dann soll er die Familie davon überzeugen, indem er was unternimmt«, sagte Asia naserümpfend.
»Ich sag' dir doch, wir brauchen ...«
Er kam nicht weiter. Ein Weißer hatte sein Pferd nahe der Straße angebunden und schlenderte nun auf die schwarzen Zuschauer zu. Er war ein junger, gewalttätig wirkender Bursche, mit dunklem Bart, der sogar noch nach einer frischen Rasur zu sehen war, und einer Narbe auf der Stirn. Er sah selbstbewußt, aber sehr ärmlich aus in seiner groben, grauen Kleidung, den alten Kavalleriestiefeln und einem breitkrempigen Hut. In seinem Hosenbund steckte ein Paar Leech-&-Rigdon-Revolver Kaliber 36.
Lächelnd baute er sich vor einem der Schwarzen auf; es war Asia LaMottes Fahrer Poke. Der alte Poke trug eine Stoffmütze auf seinem grauen Kopf. Der Fremde zog seine Revolver und richtete sie auf Poke.
»Ich hasse es einfach, wenn ein Nigger Höherstehenden nicht den nötigen Respekt erweist. Nimm diese Mütze ab, Boy.«
Die Leute um Poke herum wichen zurück, ließen den alten Mann isoliert und verängstigt stehen. Die beiden neuen Wettkämpfer hielten ihre Pferde zurück, wie alle anderen auch von dem kleinen Schauspiel fasziniert.
Sichtlich erheitert spannte der Fremde beide Schlagbolzen. »Ich sagte, nimm die Mütze ab.«
Zitternd gehorchte Poke.
»In Ordnung. Und jetzt erweise deinen aufrichtigen Respekt. Knie nieder.«
»Ich bin ein freier Mann«, fing Poke an.
Eine Revolvermündung berührte Pokes Stirn. »Jawohl, Sir, frei genug, um zur Hölle zu fahren, wenn ich bis fünf gezählt habe. Eins. Zwei. Drei.«
Als der Fremde vier sagte, kniete Poke nieder.
Der Fremde lachte, steckte seine Revolver weg. tätschelte Pokes Kopf und nahm den Applaus von einigen der Zuschauer entgegen. Er schlenderte auf einen weißhaarigen Mann in schäbiger Kleidung zu. Vor Überraschung drückte es Randall Gettys fast die Augen heraus, als der junge Mann den älteren in ein Gespräch verwickelte.
»Ich möchte wetten, das ist er«, flüsterte Gettys. »Ich wette hundert Dollar.«
»Wer?« fragte Asia schmollend.
»Das Rauhbein, das Woodville angeheuert hat. Schau, die beiden tun ganz vertraut.« Er hatte recht; freundlich plaudernd hatte der Fremde dem alten Farmer einen Arm um die Schultern gelegt. Gettys sagte: »Jeder wußte, daß Tom nicht mehr für Edward arbeiten würde, weil das Büro Edwards Arbeitskontrakt abgelehnt hatte. Edward schwor, er würde jedem Weißen fünfzig Dollar geben, der den Nigger ordentlich bestrafte. Ich bin gleich wieder da.« Er eilte davon. Asia schaute ihm verwirrt nach.
Mit einem großen, weißen Taschentuch aus seiner Brusttasche wischte sich Gettys die Stirn. Trotz des milden Wetters war er in schweren, dunkelgrünen Samt gekleidet. Er näherte sich Woodville und dem Fremden, der zu reden aufhörte, seinen Daumen neben dem rechten Revolver einhakte und Gettys einen starren Blick zuwarf, der dessen Magen in einen Eisklumpen verwandelte.
Schwitzend und kriecherisch sprudelte Gettys hervor: »Wollte nur mal guten Tag sagen, Sir. Willkommen in unserem Bezirk. Ich bin Mr. Gettys. Ich führe den Laden an der Kreuzung und gebe unsere kleine Zeitung heraus, den >Weißen Blitz<.«
»Sie können Randall vertrauen«, sagte Woodville. »Er ist ein braver Bursche.«
»Ich nehme Sie beim Wort«, sagte der Fremde. Er gab Gettys die Hand, fand dessen Hand weich und feucht und wischte sich die Handfläche an seiner Hose ab. »Captain Jack Jolly. Übriggeblieben von General Forrests Kavalleriebataillon.«
Die beiden berittenen Männer trieben ihre Pferde auf die aufgehängten Ringe zu. Die Menge brüllte, doch Gettys hatte nur Augen für den Fremden. »General Nathan Bedford?«
»Forrest. Hören Sie schlecht, oder was?«
Gettys zuckte zurück und rang entschuldigend die Hände.
Captain Jolly, vierundzwanzig Jahre, aber offensichtlich zäh und erfahren, keckerte. »Dieser Teufel Forrest, wie die verfluchten Yankees ihn nannten. Ich habe für ihn Nigger bei Fort Pil-low umgebracht und bin den Rest des Krieges an seiner Seite geritten. Der beste Soldat der Konföderation, hat Joe Johnston gesagt. Er meinte, Forrest wäre die Nummer eins in der Armee geworden, wenn es ihm nicht an der formalen Ausbildung gefehlt hätte.«
Gettys geriet in höchste Erregung. »Haben Sie Verwandte in dieser Gegend, Captain Jolly?«
»Nein. Gibt nur meine Brüder und mich; wir treiben uns rum und schlagen Profit heraus, wo immer es möglich ist.« Er lä-chelte Woodville an, der zu Boden schaute. Auch der Farmer lächelte.
»Nun, das hier ist ein feiner Bezirk«, rief Gettys. »Eine Menge Möglichkeiten für Männer mit Mut und Prinzipien. Vielleicht trinken Sie nach dem Turnier einen Schluck in meinem Laden, da kann ich Ihnen mehr erzählen. Wir brauchen Leute von Ihrem Kaliber, die uns gegen die verdammten Soldaten und das verdammte Büro helfen und vor allem gegen die verdammten Niggerfreunde unter unseren eigenen Leuten, die sich auf deren Seite schlagen.«
»Zeigen Sie mir einen dieser Niggerfreunde«, sagte Captain Jack Jolly, »dann kann er schnell in meine Revolvermündungen schauen.«
Atemlos eilte Randall Gettys zu Asia LaMottes Kutsche zurück. »Ich muß Des schreiben. Siehst du den Mann dort bei Edward? Ich muß ihn zum Bleiben überreden. Er ist fähig, das zu tun, worüber wir gesprochen haben.«
Die fette, alte Frau starrte Gettys an, als würde er russisch sprechen. Das Horn dröhnte erneut. »Verstehst du nicht?« flüsterte er. »Wir haben den Wunsch, und er hat die nötigen Nerven dazu. Gott hat uns ein Ausführungsinstrument geschickt.«
Eine telegraphische Nachricht von George! Von Charleston überbracht. Nach kurzem Wochenbett erblickte Billys und Bretts Kind am 2. Dez. in San Francisco das Licht der Welt. Ein Sohn mit Namen George William. Welch segensreiches Geschenk.
Eine weitere Gabe ist der anhaltende Friede im Bezirk. Wir bleiben unbelästigt, sogar unbemerkt. Prudence unterrichtet nun zwei erwachsene Frauen und einen Mann, zusammen mit sechs Kindern. Denjenigen, die unsere Schule hassen, muß bekannt sein, daß wir jederzeit vom Büro Soldaten anfordern können.
Ich spüre, daß wir außer Gefahr sind. Ich bin dankbar dafür: Ich bin müde und möchte in Ruhe meinen Traum verfolgen können ...
_DAS GEHALT DES PRÄSIDENTEN_
Der Finanzminister unterzeichnete heute eine Anweisung zugunsten von Mrs. lincoln über die Summe von 25.000 Dollar, weniger als der Betrag, den Mr. lincoln im letzten März als Gehalt bekommen hat ...
Zeitungsbericht, acht Monate nach der Ermordung
Jasper Dills, Esquire, wurde am Freitag, dem 22. Dezember, vierundsiebzig, vier Tage nachdem der Außenminister die Ratifizierung des 13. Nachtrags zur Verfassung verkündet hatte. Dills, kinderlos und seit fünfzehn Jahren Witwer, besaß keine Verwandten, mit denen er den Geburtstag oder Weihnachten hätte feiern können. Ihn störte das nicht. In seinem Leben spielten nur noch sehr wenige Dinge eine Rolle, mit Ausnahme seiner Anwaltspraxis, seiner Position als Washingtoner Repräsentant gewisser großer New Yorker Finanzinteressen und dem endlosen, ewig faszinierenden Kampf um die Macht in der politischen Kommandozentrale der Nation.
In dem Herbst nach Appomattox mußte er jedoch feststellen, daß seine Praxis schrumpfte. Einige seiner New Yorker Klienten wandten sich an jüngere Männer; andere Fälle, die den Weg in sein mit Büchern gefülltes Büro in der Seventh Street fanden, schienen immer trivialer zu werden. Glücklicherweise erhielt er weiterhin die Zahlungen für Bent. Das half ihm, die Mitgliederbeiträge für seine Clubs und die gelegentliche Flasche Mumm's bei seinen Hotelmahlzeiten zu bestreiten.
Schon vor langer Zeit hatte Dills sein Gewissen wegen der Zahlungen beruhigt. Zwei- oder dreimal jährlich schrieb er El-kanah Bents Mutter einen Brief, in dem er ihr versicherte, daß ihr illegitimer Sohn am Leben war. Nach Dills' letzter Erfindung verdiente Bent gut mit Baumwollanbau in Texas.
Die Frau verlangte von Dills nie Beweise für derartige Aussagen. Er besaß ihr Vertrauen, seit er sie vor Jahren das letztemal gesehen hatte, und darauf griff er nun zurück, weil er schlicht und einfach nicht wußte, was aus Bent geworden war, seit ihn Colonel Lafayette Baker, Leiter der Geheimpolizei der Regierung, wegen übertriebener Brutalität anläßlich einer Verhaftung rausgeworfen hatte. Bent war nach Virginia verschwunden, hatte sich wahrscheinlich als Deserteur auf die Seite der Südstaaten geschlagen.
Sollte Bents Mutter das entdecken, dann würden die Unterstützungszahlungen eingestellt werden. Der jährliche Betrag bildete einen wesentlichen Teil seines Einkommens, deshalb erschreckte den Anwalt schon der bloße Gedanke an diesen Verlust. Auf der anderen Seite bekümmerte es ihn kein bißchen, daß er mit Elkanah Bent persönlich nichts mehr zu tun hatte. Ein fettleibiger, unzufriedener Nörgler mit Verfolgungswahn. Stets gab Bent anderen die Schuld an seinem Versagen. Das überraschte kaum: Bents verstorbener Vater, ein Washingtoner Lobbyist namens Starkwether, hatte sich als Mutter für seinen Sohn eine wenig gefestigte Frau ausgesucht. Sie stammte aus einer großen Grenzerfamilie, in der es bereits einige Fälle von Geistesgestörtheit gegeben hatte.
Bents Mutter hatte ihren Sohn niemals anerkannt. Ein Farmerpärchen, das ihn in Ohio aufgezogen hatte, hatte ihm seinen Namen gegeben. Von Ohio war er nach West Point gegangen, danach war Fehlschlag auf Fehlschlag gefolgt. Die Mutter war mittlerweile uralt, doch das spielte keine Rolle. Nichts spielte eine Rolle, solange sie nur Dills' Lügen akzeptierte und regelmäßig Bankanweisungen ausschrieb.
Um seinen hohen Lebensstandard halten zu können, hatte Dills in letzter Zeit gewisse andere Arbeiten übernommen. Er bildete den Kanal, durch den fünfhundert oder tausend Dollar zu diesem oder jenem Senator fließen konnten, der bereit war, seinen Einfluß geltend zu machen, damit der jeweilige Bewerber eine Armeekommission erhielt. Dills kassierte Prozente dafür, daß ein Politiker nicht persönlich in Erscheinung treten mußte und vielleicht noch zusammen mit einem ehemaligen BrevetOberst oder Brigadier, verzweifelt auf der Suche nach Wiedereinstellung, gesehen wurde.
Dills war außerdem noch Makler für Begnadigungen. Alle möglichen Washingtoner hatten sich auf diesen Bereich gestürzt, Frauen eingeschlossen, die außer sexuellen Gefälligkeiten nichts zu bieten hatten. Die juristische Ausbildung hatte Dills in die vorderste Front der Makler gebracht. Zusätzlich halfen ihm seine Beziehungen zu angesehenen Demokraten und mächtigen Republikanern. Im Augenblick lagen neununddreißig Begnadigungsgesuche auf seinem Schreibtisch.
Zu Beginn des Jahres hatte der Präsident ein Gesuch aus Charleston mit einem interessanten Namen vorgelegt: Main. Das war der Nachname eines der Männer, die Bent für seine zahlreichen Fehlschläge verantwortlich machte. Obwohl der Vorname des Antragstellers Cooper und jener von Bents Feind Orry lautete, vermutete Dills eine Verbindung, da beide aus South Carolina stammten. Er war nie über Richmond hinaus nach Süden gekommen, sah aber den unteren Teil der Südstaaten als ein gewaltiges Meer aus Cousins vor sich, alle durch Inzucht und Einheirat miteinander verwandt.
Die Natur schenkte Dills zu seinem Geburtstag einen Tag mit nassem Schneefall, eine weitere Garantie für ein leeres Büro. Er sperrte zu und wanderte die drei Blocks zu den gedämpften Räumen seines Lieblingsclubs, des >Concourse<. Er schlenderte durch den Club, bis er jemanden fand, den er recht gut kannte, einen republikanischen Abgeordneten.
»Wadsworth. Guten Morgen. Leisten Sie mir bei einem Whisky Gesellschaft?«
»Für mich noch ein bißchen früh, Jasper. Aber setzen Sie sich doch.«
Der Abgeordnete Wadsworth aus Kansas legte ein Exemplar des >Star< beiseite und bat den Kellner um einen Stuhl. Dills war ein winziger Mann, mit winzigen Händen und Füßen. In dem riesigen Stuhl glich er einem Kind.
Der Whisky wurde gebracht. Dills prostete seinem Clubfreund zu, bevor er einen Schluck nahm. »Was glauben Sie, wie die Sitzung wird?« Seine Frage bezog sich auf den 39. Kongreß, der zu Beginn des Monats zusammengerufen worden war.
»Stürmisch«, sagte Wadsworth. »Angelegenheiten, die bis auf Wade-Davis zurückgehen, sind immer noch nicht gelöst, und unsere Parteiführung ist entschlossen, das zu regeln.« Wade-Davis, ein Gesetzesantrag, der als Reaktion auf Lincolns gemäßigten Wiederaufbauplan eingebracht worden war, stellte viel schärfere Forderungen an die Wiederzulassung der konföderier-ten Staaten.
»Stürmisch, eh?« sinnierte Dills. »Ein reichlich dramatisches Wort.« Er dachte melodramatisch.
»Aber vollkommen angebracht«, sagte der Kongreßabgeordnete. »Schauen Sie sich nur mal die bereits in Aktion befindlichen Kräfte an.« Er zählte sie an den Fingern auf. »Sowohl im Repräsentantenhaus als auch im Senat haben wir den gewählten Vertretern der Verräterstaaten die Sitze mit Erfolg verweigert. Die Befolgung der wenigen Forderungen des Präsidenten reicht als Wiedergutmachung für das Verbrechen der Rebellion nicht aus. Das reicht nicht annähernd aus. Zweitens haben wir das Vereinigte Komitee für den Wiederaufbau gegründet.«
»Das Komitee der Fünfzehn. Ein direkter Affront für Mr. Johnson. Doch sehen Sie es wirklich nur als einen radikalen Apparat? Die meisten der Mitglieder sind gemäßigt oder konservativ. Senator Fessenden, der Vorsitzende, ist weit davon entfernt, radikal zu sein.«
»Oh, kommen Sie, Jasper. Mit Thad Stevens und Sam Stout im Komitee, haben Sie da noch irgendwelche Zweifel an der Richtung? Um fortzufahren«, er kippte einen weiteren Finger nach unten weg, »Lyman Trumbull bringt gerade ein Senatsgesetz zur Verlängerung und Ausweitung des Büros für befreite Negersklaven ein. Wenn das den Präsidenten nicht provoziert, dann bin ich Marse Bob Lee.«
»Da gebe ich Ihnen recht«, sagte Dills nickend. Johnsons Opposition gegen das Büro - auf der Basis, daß es die Rechte der einzelnen Staaten beeinträchtigte - gehörte zu den großen ewigen Streitpunkten seiner Regierung. Durch einen Klienten, einen reichen politischen Mitläufer namens Stanley Hazard, war Dills mit dem Büro bestens vertraut. Dieser Mann war ein Angehöriger der Pennsylvania-Familie, zu der auch George Hazard gehörte, der zweite von Elkanah Bents erklärten Feinden. Stan-ley hatte Dills für juristische Geheimarbeiten engagiert, unter anderem dafür, das Eigentumsrecht an einigen höchst zweifelhaften Besitztümern abzuklären.
»Ein Freund von mir«, fuhr Dills fort, »der dem Büro nahesteht, erzählt, daß sie alle möglichen Horrorgeschichten aus dem Süden zu hören bekommen. Geschichten von Negern, die man mit Arbeitskontrakten hereinlegt, die in Wirklichkeit auf nichts anderes als auf Sklavenarbeit hinauslaufen.«
»Ja, genau«, sagte Wadsworth. »In Mississippi ist der Kodex für Schwarze in Kraft getreten. Neben anderen Dingen steht dort, daß ein Neger verhaftet, sogar geschlagen werden kann, wenn man ihn der Landstreicherei beschuldigt. Und wer bestimmt, was das ist? Wenn man den gleichen Gehsteig benutzt wie ein weißer Mann? Oder nur durch eine Stadt kommt? Da unten, Jasper, das sind Narren, arrogante Narren. Anscheinend hat der Krieg sie nichts gelehrt. Jetzt müssen wir im Kongreß ihren weiteren Unterricht übernehmen.«
»Johnson wird nicht aufhören, Widerstand zu leisten.«
»Selbstverständlich. Und wenn man auf ihn zu sprechen kommt, dann erhebt sich auch gleich die zentrale Frage, mit der alle anderen verbunden sind. Wo ruht die politische Staatsgewalt? Meiner Meinung nach nicht beim Präsidenten oder seiner Armee. Militärische Eroberungen der Vereinigten Staaten, ganz gleich, ob ausländischer oder inländischer Natur, können nur vom Kongreß geleitet und beaufsichtigt werden. Ich glaube das, Thad Stevens glaubt das, Ben Wade glaubt das. Und wir haben im Kongreß eine Dreiviertelmehrheit, um unsere Ansicht durchzusetzen. Falls es sein muß, auch über die Leiche von Mr. Johnsons politischer Zukunft«, schloß Wadsworth mit selbstzufriedenem Lächeln.
»Dann reicht vielleicht Ihre Bezeichnung >stürmisch< kaum aus. Sollen wir es Umsturz nennen?«
Wadsworth zuckte mit den Schultern. »Nennen Sie es, wie Sie wollen. Andrew Johnson steuert jedenfalls auf eine Katastrophe zu.«
Das Thema war erschöpft. Wadsworth erhob sich und warf einen Blick auf seine Taschenuhr. »Mein lieber Jasper«, sagte er trocken, »ich habe vorhin gerade den Aushang am Schwarzen Brett gelesen. Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag.«
Wadsworth brach auf; seine letzten Worte waren in diesem Jahr das einzige Geburtstagszeremoniell für Jasper Dills. Aber ganz egal, Dills war mit seinem Club, seinem Whisky und den Zahlungen von Bents Mutter zufrieden - und mit seinem Logenplatz für den anstehenden Kampf.
>Umsturz< mochte keine Übertreibung sein, dachte er. Wie Wadsworth gesagt hatte, man mußte nur die beteiligten Kräfte und die Einsätze berücksichtigen. Sie waren gewaltig. Nicht weniger als die Legislatur und die Stimmen der Südstaaten standen auf dem Spiel, was wiederum Kontrolle über Land und Reichtum des Südens bedeutete. Im Rahmen von Dills Arbeit für Stanley Hazard hatte ihm sein einfältiger Klient einige Zahlen gezeigt, die sehr deutlich illustrierten, wie üppig die Beute war.
Der zweite Drink beflügelte seine Phantasie; Dills versuchte, die Ereignisse vorauszusehen. Die Sache mit dem Büro für befreite Negersklaven konnte an den Rand eines neuen Bürgerkriegs führen, doch der arme Tölpel aus Tennessee würde von einem Stevens, einem Wade, einem Stout, einem Sumner ausmanövriert werden. Johnson wollte sich lediglich fair und der Verfassung entsprechend verhalten; die anderen wollten eine Minoritätspartei in eine Regierungspartei verwandeln, wobei die Neger die entscheidenden Stimmen lieferten. Johnson kämpfte, ebenso wie einige wenige der Radikalen, um Prinzipien. Doch die Radikalen als Gruppe kämpften um eine lohnendere Sache: Sie wollten ihr eigenes Verlangen nach Macht befriedigen.
Plötzlich murmelte Dills lächelnd: »Ein Zirkus. Das ist eine bessere Metapher als Wetter oder Krieg.« Sofort verfeinerte er es zu einem römischen Zirkus: Mr. Johnson, der Christ, umgeben von hungrigen Löwen.
Der Kongreß legte ein Gesetz vor; der Präsident verweigerte die Zustimmung, setzt dann aber durch Proklamation soviel davon in Kraft, wie ihm gerade zusagt ... Niemals ist die legislative Autorität des Volkes schlimmer verletzt worden ... Die Autorität des Kongresses steht an oberster Stelle und muß respektiert werden.
Aus dem Wade-Davis-Manifest.
August 1864
Die Stimme drang bis in die entferntesten Ecken des Kongreßsaals, bis zu den Sitzen auf der überfüllten Galerie, einschließlich Virgilia Hazards Sitz in der vordersten Reihe. Es war der Morgen des 8. Januars 1866.
Virgilia hatte dem Sprecher schon oft zugehört, doch auch jetzt noch brachte er es fertig, daß ihr ein Schauer über den Rücken lief. Jene, die den Kongreßabgeordneten Sam Stout, Republikaner aus Indiana, zum erstenmal hörten, wunderten sich stets, daß eine so wunderbare Stimme aus einem so unansehnlichen Körper kommen konnte.
Der Abgeordnete Stout war Virgilias Geliebter. Eine Zeitlang hatte er sie in einem Vier-Zimmer-Häuschen in der Thirteenth Street untergebracht. Er weigerte sich, mehr für sie zu tun, weigerte sich, sich in der Öffentlichkeit mit ihr sehen zu lassen, weil er mit einer flachbrüstigen Schlampe namens Emily verheiratet war und weil er von einem gewaltigen Ehrgeiz besessen war. Heute morgen befand er sich an der Schwelle zu einem großen Sprung nach oben. Seine Rede zielte darauf ab, jeden Zweifel an seinen Qualifikationen zu zerstreuen.
Während der ersten zehn Minuten hatte er die vertrauten radikalen Positionen wiederholt. Es war ein Faktum, daß der Süden abgefallen war, und Lincoln hatte sich getäuscht, als er diesen Akt als verfassungsgemäße Unmöglichkeit bezeichnete. Durch den Abfall hatten die konföderierten Staaten Selbstmord begangen< und unterlagen nun den Bestimmungen, die für >eroberte Provinzen< galten. Virgilia kannte dieses Argument und die Schlüsselphrasen auswendig.
Die geballten Fäuste auf das Podium gestemmt, so strebte Stout dem Höhepunkt seiner Rede entgegen. »Eine philosophische Kluft trennt diese beratende Versammlung vom Präsidenten. Diese Kluft ist so breit und tief, daß man sie nicht überbrücken kann, ja vielleicht gar nicht soll. Die Ansichten unseres Gegners, was die Verfassung und die damit verbundenen Prozesse anbelangt, drücken all das aus, was wir schärfstens zurückweisen - vor allem Nachsicht genau jenen Leuten gegenüber, die um ein Haar diese Republik zerstört hätten.«
An der Stelle erwartete er eine Reaktion und bekam sie auch. Mehrere Senatoren klatschten.
»Ich habe eine Vision für diese Nation«, sagte er, nachdem der Beifall abgeflaut war. »Eine Vision, die, wie ich fürchte, der Präsident nicht teilt. In dieser Vision sehe ich ein starrsinniges, arrogantes Volk gedemütigt und entmachtet, ich sehe, wie diese korrupte Gesellschaft gestürzt wird, während ein anderes Volk, eine ganze Rasse, von erzwungener Ungleichheit zu einer neuen, rechtmäßigen Position der vollen Bürgerschaft erhoben wird. Es ist eine Vision, die unter Führung dieses Kongresses erfüllt werden wird und muß; jede Gruppe oder jedes Individuum, das dagegen zu opponieren wagt, soll mit Schimpf und Schande bedeckt werden. Der Fehdehandschuh ist hingeworfen worden. Gott segne und fördere den edlen Kreuzzug dieses Kongresses. Er wird uns sicher den Sieg schenken. Ich danke Ihnen.«
Virgilia klatschte stehend Beifall. Die Rede hatte nicht nur ihr Herz erwärmt; sie konnte es kaum erwarten, mit Sam zu sprechen und ihn zu loben. Seit er ihr letzten Samstag den Entwurf vorgelesen hatte, war die offene Feindseligkeit gegen Johnson noch deutlicher zum Ausdruck gekommen. Sie klatschte so heftig, daß ihre Hände schmerzten.
Georges Schwester war mittlerweile einundvierzig; sie besaß die weibliche, vollbusige Figur, die von der Mehrheit der Männer als Idealfigur angesehen wurde. Der monatliche Unterhalt von ihrem Liebhaber versetzte sie in die Lage, sich gut zu kleiden. Sie hatte es gelernt, sich so zu schminken, daß die Gesichtsnarben, die von einer Pockenerkrankung aus ihrer Kindheit zurückgeblieben waren, kaum noch zu sehen waren.
Eine Woge von Bewunderern drohte Stout zu überschwemmen. Während sie ihn beobachtete, überkam Virgilia eine vertraute Sehnsucht. Sie liebte Sam und hegte immer noch den Wunsch, ihn zu heiraten und ihm Kinder zu schenken, auch wenn ihr Alter und sein Ehrgeiz diesen Traum zur Aussichtslosigkeit verurteilten. Schlimmer noch, in letzter Zeit hatte sie einigen Klatsch gehört, daß er mit einer anderen Frau gesehen worden war. Sie versuchte, die Existenz dieses Gerüchts zu leugnen, indem sie ihn nicht zur Rede stellte. Ein ziemlich mißglückter Versuch.
Der Sprecher schlug mit dem Hammer zu und verkündete eine Unterbrechung. Virgilia kämpfte sich nach unten, wo sie einige begeisterte Worte mit Senator Sumner austauschte. »Brillant«, erklärte er. »Trifft genau ins Schwarze.« Wie üblich verbot sein Tonfall jede abweichende Meinung.
Stout kam durch die Tür, die Kollegen hinter ihm, während sich vor ihm Journalisten und Gratulanten drängten. Virgilia wollte mit den anderen zusammen auf ihn zustürzen, hielt aber plötzlich mit hämmerndem Herzen inne. Stouts Blick hatte sich kurz mit dem ihren getroffen und war dann ohne jedes Erkennen abgeglitten. Sie preßte ihre behandschuhten Hände zusammen und sah zu, wie ihr Geliebter in der Menge untertauchte.
Eine Stimme erschreckte sie. »War das nicht eine Alarmglocke, Virgilia? War das nicht ein Aufruf zum Krieg?«
Sie wandte sich um, mühte sich ein Lächeln ab. »Und ob es das war, Thad. Wie geht's dir?«
»Viel besser, seit ich Sams Rede gehört habe. Die Spaltung zwischen Kongreß und Präsident liegt jetzt offen zutage. Johnson wird bald auf der Flucht sein.«
Virgilia hatte Thad Stevens bei einem Treffen im Frühjahr kennengelernt. Er kannte ihre Familie, und sie hatten gemeinsame Ideale. Bald schon war er ihr Vertrauter geworden; er war der einzige Mensch, dem sie von ihrer Beziehung zu Stout und ihrem früheren Verhältnis zu Grady, einem entsprungenen Sklaven, erzählt hatte. Stevens hatte aufgrund seiner Prinzipien und seiner großen Zuneigung zu Lydia Smith, seiner Mulattenhaushälterin, großes Verständnis dafür.
Er führte sie nach draußen in den kühlen, blassen Sonnenschein. Am anderen Ende der schlammigen Promenade erhob sich das unfertige Monument von George Washington. Stevens sagte: »Es ist weise von Gouverneur Morton, daß er Sam diesen Posten anvertraut.«
Freude belebte Virgilias Gesicht. »Du meinst, es ist endgültig?«
»Heute abend wird es das sein. Sam muß das Komitee der Fünfzehn verlassen, weil wir neun Kongreßmitglieder brauchen, aber er wird unsere Arbeit weiterhin aus dem Hintergrund leiten.«
»Ich kann es kaum erwarten, ihm zu gratulieren.« Stout hatte versprochen, heute abend mit ihr zu essen.
»Ja, nun«, Stevens hüstelte; in seinen Augen lag eine merkwürdige Verlegenheit. »Es wäre klug, von Sam in der nächsten Zeit nicht zuviel zu erwarten. Die Einzelheiten der neuen Berufung werden ihn vollkommen beanspruchen.«
Virgilia hörte die Warnung, war aber zu aufgeregt und ihrem Geliebten zu innig verbunden, um ernsthaft darauf zu achten.
Bei Kriegsausbruch hatte sich Virgilia, emotionell erschöpft, treiben lassen. Der Kummer über ihren Verlust, verbunden mit zwanzig Jahren der Aktivität für die Abolitionistenbewegung, hatte sie ausgehöhlt.
Kurz nach Beginn des Krieges war Virgilia in das Schwesterncorps der Union eingetreten. In einem Feldhospital hatte sie, getrieben von ihrem Wunsch nach Rache für Grady, einen verwundeten konföderierten Soldaten verbluten lassen. Nur Sam Stouts verdeckte Intervention hatte ihr einen fast sicheren Gefängnisaufenthalt erspart. Danach waren sie ein Liebespaar geworden.
Zur damaligen Zeit hatte Virgilia geglaubt, daß ihre Handlungsweise gerechtfertigt sei. Sie hatte sich selbst als Soldat im Krieg gesehen, nicht als Mörderin. Erschöpft von Reue und dem stärker werdenden Wunsch, die Tat ungeschehen machen zu können, hatte sie in letzter Zeit zu einem neuen Idealismus gefunden; ein Idealismus, gereinigt durch die Schuld, mit der sie den Rest ihres Lebens verbringen mußte.
Sie verachtete ihren Bruder George nicht länger wegen seiner Freundschaft zu Orry Main, auch nicht ihren Bruder Billy, weil er Brett geheiratet hatte. Sie hegte nicht mehr den Wunsch, den Süden zu strafen, so wie es Sam und andere Republikaner wollten. Es wäre schon Strafe genug, wenn einige der republikanischen Schlüsselgrundsätze Gesetz würden. Das ließ sich am sogenannten Schwarzen Kodex ablesen, den einige Staaten in Kraft gesetzt hatten, um die Arbeit des Büros für befreite Negersklaven zu durchkreuzen.
Über all das dachte Virgilia nach, während sie auf dem Eisenofen in ihrem kleinen Häuschen eine Sauce anrührte. Bei Anbruch der Dämmerung hatte ein feiner, kalter Regen eingesetzt, gerade als ihre Uhr auf dem Kaminsims halb sechs geschlagen hatte. Nun schlug sie halb sieben. Immer noch kein Zeichen von .
Moment. Durch den klatschenden Regen hindurch hörte sie das Knirschen von Rädern und das Geräusch von Pferdehufen im Schlamm. Sie rannte zur Hintertür, schob den Vorhang beiseite und beobachtete, wie Sams überdachter Buggy in den kleinen Schuppen hinter dem Haus fuhr, sicher vor jeder Entdeckung von der Thirteenth Street aus. Einen Moment später kam der Kongreßmann auf das Haus zu. Virgilias Lächeln verblaßte. Er hatte das Pferd nicht ausgespannt.
Sie öffnete die Tür, während er nach seinem Schlüssel suchte. »Komm rein, Liebling. Gib mir deinen Hut. Was für eine scheußliche Nacht.«
Er trat ein, ohne sie anzuschauen. Sie schloß die Tür und schüttelte das Wasser von der Krempe seines Hutes. »Zieh deinen Umhang aus. Das Essen ist fertig in ...«
»Ist egal«, sagte er, immer noch ihrem Blick ausweichend. Er ging durch das kleine Speisezimmer nach vorn. Auf dem polierten Fußboden blieb eine nasse Spur zurück. »Ich habe eine dringende Verabredung mit Ben Butler.«
»Heute abend? Was kann denn so dringend sein?«
Seine Verärgerung zeigte sich, als er sich die Hände am Kamin im Wohnzimmer wärmte. »Meine neuen Verantwortlichkeiten.« Er drehte sich um, als sie sich ihm näherte; was sie in seinen dunklen Augen sah, ließ sie innehalten - genauer gesagt das, was sie nicht sah.
»Da Senator Ivey aufgrund seines schlechten Gesundheitszustandes seine Amtszeit nicht ableisten kann«, sagte Stout, »hat Gouverneur Morton meine Ernennung als Ersatz für Ivey verkündet. In zwei Jahren werde ich um meine Nominierung für eine volle Amtsperiode nachsuchen. In der Zwischenzeit werde ich in der Lage sein, unser Programm durchzusetzen und diesen verdammten Schneider aus Tennessee zu Fall zu bringen.«
Sie packte ihn an den Schultern und rief: »Senator Stout! Thad deutete es schon an. Oh, Sam, ich bin so stolz auf dich.«
»Es ist eine sehr große Ehre. Und eine große Verantwortung.«
Virgilia preßte sich gegen ihn, genoß den Druck seines festen Körpers gegen ihre Brüste. Als sie die Arme um seine Taille schlang, spürte sie, wie er zurückwich.
Die wunderbare Stimme senkte sich. »Das verlangt natürlich nach gewissen Änderungen in meinem Leben.«
Langsam zog sie ihre Hände zurück. »Was für Änderungen?« Er räusperte sich und beobachtete das Feuer. »Hab wenigstens den Mut, mich dabei anzusehen, Sam.«
Er tat es; im Widerschein des Feuers sah sie seinen aufsteigenden Zorn. »Eine Beendigung dieser Treffen, zum Beispiel. Die Leute haben Wind davon bekommen, frag mich nicht, wie. Wahrscheinlich war es unvermeidlich. Klatsch ist Wasser auf die Mühlen dieser Stadt. Hier kann man nicht mal Zahnschmerzen für sich behalten. Wie auch immer, wenn man über den Senat hinaus auf ein höheres Amt abzielt - eine Ambition, die ich, wie du dich erinnern wirst, niemals verborgen habe ...«
In das Schweigen hinein flüsterte Virgilia: »Nur zu, Sam. Sprich weiter.«
»Um dieser Zukunft willen muß ich die öffentliche Seite meines Lebens mehr herausstellen. Ich muß mich öfter mit Emily sehen lassen, so abscheulich das auch sein mag.«
»Ist es Emily?« unterbrach ihn Virgilia. »Oder jemand anderes? Auch ich habe Gerüchte gehört.«
»Diese Bemerkung ist deiner unwürdig.«
»Vielleicht. Ich kann es nicht ändern.«
»Ich habe es nicht nötig, dir gegenüber Erklärungen über mich oder meine Handlungen abzugeben. Das war Teil unserer Vereinbarung. Deshalb ziehe ich es vor, deine Frage nicht zu beantworten.«
Sie hörte das Geräusch des auf dem Eisenofen verbrutzelnden Schmorfleisches. Sie roch das verbrannte Fleisch und achtete nicht darauf. Stout reihte seine kurzen, kalten Worte aneinander.
»Diese Art von Reaktion habe ich fast von dir erwartet. Deshalb beschloß ich, die Trennung so kurz wie möglich zu gestalten. Ich werde den Gegenwert von sechs Monaten Unterhalt auf dein Konto überweisen. Danach wirst du selbst für dich sorgen müssen.«
Er ging davon. Einen Augenblick später riß sie sich selbst aus ihrer Erstarrung. »Und so endet es? Ein paar Worte und Schluß?«
Er ging weiter, durch den Rauch des verkohlenden Fleisches hindurch. Virgilias Finger zerrten an ihrem Haar, lösten Nadeln. Die Haare fielen ihr über die linke Schulter. Sie bemerkte es nicht.
»So behandelst du also jemand, der dir geholfen und dich beraten hat, Sam? Jemand, der sich um dich sorgte?«
Mit dem Hut in der Hand drehte er sich an der Hintertür noch einmal um. In seinen Augen sah sie offene Feindseligkeit.
»Ich bin jetzt Senator der Vereinigten Staaten. Andere Leute haben größeren Anspruch auf mich.«
»Wer? Diese Varieté-Hure, von der die Leute reden? Gehst du jetzt dorthin, zu dieser Miss Canary? Sag's mir, Sam.« Kreischend rannte sie auf ihn zu. Ihre Fäuste flogen nach oben. Stout erwischte ihre Handgelenke und zwang ihre Arme nach unten.
»Du schreist laut genug, daß man dich noch bei Willard hören kann. Ich kenne die Person nicht, von der du sprichst.« Sie verzog höhnisch das Gesicht; die Lüge stand ihm deutlich ins Gesicht geschrieben. »Und obwohl es dich nichts angeht, ich verbringe den Abend, wie ich dir sagte, mit Butler und einigen anderen Gentlemen. Es geht darum, wie wir Mr. Johnson außer Gefecht setzen können.«
Er riß die Tür auf. Der Regen war jetzt so stark, daß man den Schuppen hinten im Hof fast nicht mehr sehen konnte. »Und jetzt, Virgilia, läßt du mich vielleicht gehen, nachdem ich dir ausreichende Erklärungen geliefert habe. Ich wollte nicht auf diese Weise gehen. Unseligerweise hast du mich dazu gezwungen.« Er drückte sich den Hut auf den Kopf und marschierte die Stufen hinab.
»Sam«, schrie sie, und noch einmal: »Sam!«, als er den Buggy bereits die Straße neben dem Haus entlangrattern ließ. Der Buggy bog nach rechts ab und war verschwunden.
»Sam ...« Das Wort löste sich in einem Schluchzer auf. Sie warf beide Arme um den Verandapfosten, umarmte ihn, als wäre er ein lebendes Wesen.
Frühzeitig am nächsten Nachmittag erkundigte sich Virgilia bei ihrer Bank nach ihrem Kontostand. Er hatte sich genau um den Betrag von sechs Monatszahlungen erhöht.
Wie betäubt ging sie wieder hinaus in die kalte Wintersonne und lief, mit der Bürde der Gewißheit belastet, den ganzen Weg zu Fuß nach Hause. Sie hatte Senator Samuel G. Stout, Republikaner aus Indiana, zum letztenmal gesehen - außer natürlich, sie schloß sich der allgemeinen Menge an, wenn er sprach, und hörte ihm zu, wie jeder andere Bürger auch.
MADELINES JOURNAL
Februar 1866. Heute ein weiteres Paket mit alten >Couriers<. Das ist Judiths Freundlichkeit - und meine einzige Verbindung zur Welt. Ich bin mir nicht sicher, ob ich nicht gern auch darauf verzichten würde, so schlecht sind die Nachrichten - nichts als Streit und Bosheit, selbst im höchsten Amt im Land. Vor einigen Abenden brachte eine Menschenmenge vor dem Weißen Haus ein Ständchen dar. Mr. Johnson ging hinaus, um ihnen zu danken, und hielt ganz impulsiv eine freie Rede, ein gefährliches Unterfangen für ihn. Er nannte Stevens, Sumner und den Abolitionisten Wendell
Phillips seine verschworenen Feinde. Kann derartige Unbesonnenheit etwas anderes als neue Feindseligkeit erzeugen?
März 1866. Immer noch viel Unruhe im Bezirk; und Menschenmassen auf den Straßen, vor allem am ersten Montag im Monat, der zum >Verkaufstag< geworden ist, an dem beschlagnahmtes Land unter den Hammer kommt, und zum >Verlosungstag<, an dem befreite Neger nach Charleston und anderen Städten fahren, in der Hoffnung das Büro werde Kleidung, Schuhe und Maisrationen verteilen. Sie kehren mit leeren Händen zurück, wenn der leitende Beamte zu wenig Vorräte hat oder die Menge für zu groß oder >un-wert< erachtet.
Die Menge setzt sich aus Armen, Alten, Verkrüppelten und Frauen ohne Männer, aber mit Kindern zusammen, jedoch auch aus Weißen, zu wertlos oder zu faul, um sich durch ehrliche Arbeit zu ernähren. Wir haben auch solche Leute im Bezirk, ein jämmerlicher Haufen namens Jolly. Ich habe ein paarmal ihre zerfetzten Zelte und ihre Lagerfeuer in den Wäldern nahe Summerton gesehen, als mich die verzweifelte Notwendigkeit zu Gettys Laden getrieben hat...
Captain Jolly und seine Familie ließen sich in einem Eichenhain nahe dem Dixie-Laden nieder. Die Familie bestand aus ihrem Patriarchen, dem jungen Jack, und seinen beiden verheirateten Brüdern, zwanzig und einundzwanzig Jahre alt, aber bereits mit viel Erfahrung, wie man ohne Arbeit überleben konnte. Die Frau des Älteren war eine Hure aus Macon; die Frau des Jüngeren, fünfzehn Jahre älter als ihr Mann, stammte aus Böhmen, verstand kein Englisch und hatte Arme wie ein Kohlenarbeiter. Drei dreckverkrustete Kinder lebten bei den Jollys - keiner der Erwachsenen wußte genau, wer der Vater welchen Kindes war -, und mehrere wilde Hunde trieben sich bei ihrem mit Abfall übersäten Camp herum.
Die Decken für ihre Zelte hatten sie mit gezogenem Revolver aus den Heimen befreiter Negersklaven geholt. Außerdem besaßen sie ein Muli und einen Karren, beides auf die gleiche Art erworben. Vorräte holten sie sich einfach aus Gettys Laden.
Captain Jolly war gerade auf dem Weg dorthin; er trat beiseite und tippte an seinen alten Schlapphut, als eine gutaussehende Frau mit großen Brüsten in einem Wagen Richtung Charleston vorbeifuhr. Jolly, von dem engen Kleid der Frau beeindruckt, verbeugte sich und rief hinter dem Wagen her, sie solle anhalten und sich von ihm ein bißchen verwöhnen lassen. Die Frau warf ihm einen verächtlichen Blick zu und fuhr weiter. Ihr Temperament amüsierte Jolly, ihre Zurückweisung brachte ihn in Wut.
In Gettys' Laden fand er, was er suchte, eine glänzende neue Öllampe. »Die gefällt mir«, sagte er und schlenderte hinaus.
»Jolly, du machst mich noch bankrott«, rief Randall Gettys. »Die kostet vier Dollar.«
»Nicht für mich.« Er zog einen seiner Leech-&-Rigdon-Revol-ver. »Stimmt's nicht?«
Gettys huschte hinter den Tresen. Er war ein Narr gewesen, Jolly mitsamt seiner schäbigen Verwandtschaft einzuladen, sich am Ashley niederzulassen. Der Mann war so gefährlich wie ein tollwütiger Hund und ungefähr genauso sensibel. Er und seine Familie überlebten dank Diebstahl und Maisrationen am Verlosungstag in Charleston. Eine der Frauen sagte die Zukunft voraus, und die Dame aus Böhmen verkaufte sich selbst, hatte er gehört.
»In Ordnung«, sagte Gettys; der Schweiß ließ seine Brillengläser beschlagen. »Aber ich führe ein Konto, denn mein Freund Des und ich wollen, daß du uns einen kleinen Dienst erweist. Wir haben ja schon darüber gesprochen.«
Jolly zeigte grinsend seine braunen Zahnstümpfe. »Ich wollte, du würdest endlich sagen, wann. Ich werde langsam ungeduldig. Teufel auch, ich weiß noch nicht mal, wen ich um die Ecke bringen soll.«
»Sie war gerade eben hier. Müßte eigentlich in ihrem Wagen auf der Straße an dir vorbeigekommen sein.«
»Die tolle schwarzhaarige Frau? Meine Güte, Gettys, die erledige ich umsonst, da erwarte ich keine Bezahlung. Vorausgesetzt, ich kann sie eine Stunde für mich haben, bevor ich ihr die Lebenslichter ausblase.«
Gettys wischte sich das feuchte Gesicht mit dem unvermeidlichen Taschentuch ab. »Des besteht darauf, daß wir auf einen geeigneten Vorwand warten. Wir wollen nicht, daß wieder diese verfluchten Soldaten vom Büro überall rumschnüffeln und alles nach Washington melden, so wie sie es bei dem Mord an Tom getan haben.«
»Ich weiß, verdammt noch mal, nichts von einem Mord«, sagte Jolly; jetzt lächelte er nicht mehr. »Wenn du das Thema noch einmal auf den Tisch bringst, dann gehen deine Lampen auch aus.«
Er kratzte sich zwischen den Beinen. »Was die andere Sache betrifft, gib mir einfach Bescheid. Ich erledige das glatt und sauber, ohne eine Spur zu hinterlassen. Und werde mich dabei auch noch großartig amüsieren.«
Andrew J. nutzte sein Vetorecht, um den vom Kongreß so bezeichne-ten >Bürgerrechtserlaß< zurückzuweisen. Soweit ich weiß, gesteht die Resolution den freien Negern ungehindert Zugang zu den Gerichten zu und erlaubt es den Bundesgerichten, Fälle an sich zu ziehen. In einem Courier habe ich einige der Einwände des Präsidenten gelesen. Er steht mit einer derart wilden Entschlossenheit hinter der Unantastbarkeit der >Staatsrechte<, genau wie James Huntoon vor der Rebellion ...
Die Straßen sind immer noch überfüllt. Männer und Frauen, vor Jahren durch Verkauf von ihren Lebenspartnern getrennt, durchstreifen den Staat in der Hoffnung, einen geliebten Menschen wiederzufinden. Der schwarze Strom fließt Tag und Nacht.
Auch M.R. ist davon auf tragische Weise betroffen. Gestern tauchte ein Mann namens Foote auf. Er und nicht Nemo ist Cassandras Ehemann. Foote wurde '58 an Squire Revelle von Greenville verkauft, und Cassandra hatte die Hoffnung aufgegeben, ihn je wiederzusehen.
Doch Nemo ist der Vater ihres kleinen Jungen. Als Foote das entdeckte, zog er ein Messer und versuchte sie niederzustechen. Andy überwältigte ihn und holte mich. Ich sagte ihnen, sie sollten die Sache friedlich regeln. Heute morgen war Nemo verschwunden. Foote hat sich hier niedergelassen, und Cassandra ist vollkommen durcheinander. Nimmt das Elend denn kein Ende?
April 1866. In Washington wird Geschichte geschrieben, steht in den Zeitungen. Präsident J.s Veto gegen die Bürgerrechtsresolution wurde im Kongreß überstimmt. Nie zuvor war ein wichtiges Gesetz auf diese Weise durchgebracht worden, noch war ein amtierender Präsident dermaßen gedemütigt worden.
... Wir bringen die Ernte des Kampfes Weiß gegen Schwarz ein. Die Stadt Memphis wurde durch einen dreitägigen Aufruhr verwüstet; den Höhepunkt bildeten Konfrontationen zwischen Bundestruppen - Farbige - und wütenden weißen Polizisten. Mindestens 40 Tote, viele Verletzte, und der Aufstand ist immer noch nicht unter Kontrolle .
... Der Aufruhr ist endlich vorbei. Ich bin sicher, das Komitee der Fünfzehn wird die Sache untersuchen. Col. Munro ist mit einem ansässigen Schwarzen nach Washington gefahren, um vor dem Komitee Zeugnis abzulegen ...
»Ich weiß, das ist sehr schwierig für Sie«, sagte Thaddeus Stevens. »Bitte sammeln Sie sich, und fahren Sie erst dann fort, wenn Sie wirklich bereit sind.«
Bei Stevens emotionsgeladenem Tonfall stöhnte der Abgeordnete Elihu Washburne aus Illinois auf. Der Kongreßmann aus Pennsylvania konnte ein Hearing so weit manipulieren, bis es einem tränenüberströmten Melodram zu ähneln begann; genau das tat er jetzt gerade mit dem ärmlich gekleideten Schwarzen, der an einem Tisch den Komiteemitgliedern gegenübersaß. In einem Besucherstuhl hinter dem Komitee machte sich Senator Sam Stout eine Notiz über Washburnes ungebührliches Benehmen; darüber mußte er mit der Führung einmal sprechen.
Der Zeuge wischte sich mit den Handflächen über die Backen und fuhr mühsam mit seiner Aussage fort:
»Gibt nicht mehr viel zu sagen, Sirs. Mein kleiner Bruder Tom, er sagte nein zu Mr. Woodvilles Kontrakt. Danach hatte er mächtig Angst, aber Colonel Munro unten in Charleston hat ihm gesagt, es wär' schlechter Kontrakt. Der Kontrakt sagt, Tom darf nicht von der Farm weg, ohne vorher den alten Woodville zu fragen. Und er muß die ganze Zeit respektvoll und höflich sein, sonst kriegt er keinen Lohn. Und er darf keine Hunde halten - Tom hat gern gejagt. Hatte zwei mächtig feine Hunde.«
Der Zeuge schaute Stevens an. »Nur zu, Sir, wenn Sie dazu in der Lage sind«, forderte ihn Stevens sanft auf.
»Nun, wie ich schon sagte, der Colonel, er sagt Tom, er soll den Kontrakt nicht unterschreiben. Am nächsten Tag geht Tom zurück und sagt's dem alten Woodville. An dem Abend kam Tom zum Abendessen rüber, da hab' ich ihn das letzte Mal geseh'n. Er sagte, Woodville sei sehr wütend auf ihn gewesen. Zwei Tage später haben sie Tom«, die Stimme des Zeugen brach, »haben sie Tom tot gefunden.«
Vom Nebenstuhl aus legte Orpha Munro dem weinenden Schwarzen einen Arm um die Schultern. Zum Schriftführer sagte Stevens: »Sorgen Sie dafür, daß im Protokoll klar zum Ausdruck kommt, daß der Mord eine Folge der Weigerung Toms war, unter derartigen Sklavenbedingungen zu arbeiten.«
»Ich muß meinen Kollegen um Nachsicht bitten.« Senator Reverdy Johnson von Maryland wedelte mit seiner Feder. »Ich habe volles Mitgefühl für den Verlust dieses Gentleman. Aber er hat keinen Beweis geliefert, daß ein Zusammenhang besteht zwischen dem unseligen Mord und den vorangegangenen Ereignissen.«
Stout funkelte den Demokraten an, einen Politiker von vornehmer Herkunft, der sich langsam zu einem Hemmschuh im Komitee entwickelte. Auch Stevens schaute drein, als stünde er kurz vor einem cholerischen Anfall. »Wünschen Sie, daß dies ins Protokoll aufgenommen wird, Senator?«
»Das wünsche ich, Sir.«
»Also gut«, sagte Stevens.
»Ich danke dem Gentleman aus Pennsylvania«, sagte Johnson zufrieden, jedoch ohne eine Spur von Dankbarkeit.
Egal, dachte Stout, seinen Ärger hinunterschluckend. Er und Stevens und der Kern der republikanischen Idealisten im Kongreß waren sehr zufrieden mit den Zeugenaussagen, die vor dem Komitee gemacht worden waren. Aus einem Staat nach dem anderen waren die Zeugen - Schwarze und Beamte des Büros - aufmarschiert und hatten von körperlichen und rechtlichen Mißhandlungen befreiter Neger berichtet, während der Präsident weiterhin darauf beharrte, daß der Kongreß nicht das Recht zur Intervention besitze.
Doch der Schneider aus Tennessee lieferte Rückzugsgefechte, während die Sache der Republikaner durch Vorfälle wie den Aufruhr in Memphis Auftrieb erhielt. Außerdem hatte man bereits gegen einen möglichen Gerichtshofentscheid vorgesorgt, der die Bürgerrechtsresolution für nicht verfassungsgemäß erklären könnte, indem man einen vierzehnten Zusatz zur Verfassung vorbereitete, der die wesentlichen Garantien dieses Gesetzes rechtmäßig machen würde: Vollbürgschaft für alle Schwarzen und die Verweigerung der offiziellen Anerkennung eines jeden Staates, der berechtigten Männern über einundzwanzig das Wahlrecht vorenthielt.
Der ältere Zeuge hatte erneut die Fassung verloren. Er schluchzte in seine Hände, trotz Munros Bemühungen, ihn zu beruhigen. Stevens verließ den Tisch. Stout erhob sich. Er und Stevens tauschten einen Blick aus, als letzterer hinüberging und dem Zeugen mitfühlend eine Hand auf die Schulter legte.
Senator Johnson ließ sich deutlich anmerken, daß er Stevens Benehmen mißbilligte. Reporter im Hintergrund des Sitzungssaals kritzelten schnell mit. Gut, dachte Stout, während er auf die Tür zueilte. In den ihnen freundlich gesinnten Zeitungen würden sie morgen lesen können, daß Stevens und damit alle Republikaner den Kampf zur Unterstützung der Unterdrückten fortsetzen sollten.
Juli 1866. Weitere Aufstände. Diesmal in New Orleans. Der Courier behauptet, mindestens 200 Tote.
Andrew J. legte sein Veto gegen Gesetzesvorlage ein, das Büro für befreite Negersklaven fortzuführen. Es heißt, das Veto werde sich nicht halten können, und so wird J. nach Mitteln und Wegen suchen, um zurückzuschlagen.
... Er hat was gefunden. J. wies den vierzehnten Verfassungszusatz zurück und drängte unseren Staat und die gesamten Südstaaten, ihn nicht zu ratifizieren. Tennessee hat ihn daraufhin sofort ratifiziert, und Gouv. Brownlow - der >Pastor< - ließ in Washington ausrichten: »Meine besten Empfehlungen dem toten Hund im Weißen Haus.«
Was kommt nun?
ERMORDUNG EINES NEGERS DURCH GEN. FORREST
In einem Bericht aus Sunflower County, Miss., heißt es, ein auf der Plantage von Gen. forrest beschäftigter Neger habe gestern seine kranke Frau geschlagen und sei daraufhin von forrest zurechtgewiesen worden. Der Neger zog ein Messer und versuchte forrest zu töten, der nach einer Verwundung an der Hand eine Axt ergriff und den Neger umbrachte. Gen. forrest stellte sich anschließend dem Sheriff. Die Neger auf der Plantage rechtfertigen den Mord.
Holzfuß bereicherte die Winterbilanz um ein weiteres Bild: die Jackson Trading Company im Inneren eines Tipis unter einem winzigen Büffelhut; davor malte er zwei Beile schwingende Strichmännchen, dazu ein drittes, das mit beiden Hän-den seine Lendengegend bedeckte. Wann immer Boy diesen Teil des Bildes betrachtete, legte er nach Art der Indianer die Hände vor den Mund und kicherte.
Als der Schnee zu schmelzen begann, ritt ein weißer Besucher in das Cheyenne-Dorf, in dem die Händler überwintert hatten. Er wurde mit Rufen und breitem Lächeln begrüßt. Mütter hoben ihre Babys hoch, damit sie den unter dem Büffelfell sichtbaren schwarzen Rock berühren konnten. Holzfuß stellte Charles dem verwitterten, grauhaarigen Jesuitenmissionar vor.
Pater Pierre-Jean DeSmet war jetzt fünfundsechzig, eine legendäre Gestalt. In Belgien geboren, war er als junger Mann nach Amerika emigriert. 1823 verließ er das katholische Novizenhaus in der Nähe von St. Louis und begann seine bemerkenswerte Karriere in der Wildnis. Er bekehrte die Indianer nicht nur, er wurde auch ihr Anhänger. Einige seiner Reisen führten ihn bis ins Willamette Valley. Für die Sioux, die Schwarzfußindianer, die Cheyenne und andere Stämme war er >Schwarzkittel<, ein Beichtvater, ein Vermittler, ein Fürsprecher in den Ratsversammlungen des weißen Mannes, ein Freund.
Am abendlichen Lagerfeuer zeigte DeSmet viel Humor und ein umfassendes Wissen, was Indianerangelegenheiten betraf. Es gab keinen Zweifel, wem seine Loyalität gehörte:
»Mr. Main, ich sage Ihnen, wenn die Indianer sich gegen die Weißen versündigen, dann nur, weil die Weißen sich in großem Ausmaß an ihnen versündigt haben. Wenn sie zornig werden, dann nur, weil die Weißen sie provoziert haben. Eine andere Erklärung akzeptiere ich nicht. Erst wenn Washington seine grausame Politik aufgibt, wird in den Prärien Frieden einkehren.«
»Wie stehen die Chancen, daß es so kommen wird, Pater?«
»Jämmerlich«, sagte DeSmet. »Gier ist oft stärker als ein göttlicher Impuls. Aber das entmutigt mich nicht. Ich werde nach einem friedvollen Königreich streben, bis Gott mich zu sich ruft.«
Der größte Teil des Verkehrs westlich des Missouri spielte sich auf drei Straßen ab. Der alte Overland Trail nach Oregon folgte dem Platte-Tal; eine neuere Verbindung, der Bozeman's Trail, zweigte hier zu den Goldfeldern von Montana ab. Der Santa Fe Trail verlief in südöstlicher Richtung nach New Mexico. Zwischen der nördlichen und der südlichen Route führte die Smo-ky Hill Road am Fluß entlang in allgemein westlicher Richtung zu den Colorado-Minen.
Im Mai 1866 traf die Jackson Trading Company, immer noch dreißig Meilen südlich von Smoky Hill, auf einen anderen Weißen. Der Mann fuhr einen Planwagen, hatte das Haar geflochten und vorn so geschnitten und eingefettet, daß es in Borsten nach oben stand. Er war fett, mit einem Gesicht, das Charles an einen Weihnachtsmann erinnerte, der gerade von einer wochenlangen Sauftour zurückgekommen war. Er begrüßte die Händler herzlich und lud sie ein, die Nacht in seinem Camp zu verbringen.
»Nein, danke. Wir sind in Eile, Glyn«, sagte Holzfuß, ohne zu lächeln. Er gab seinen Gefährten ein Zeichen, weiterzureiten. Als sie an dem Wagen vorbei waren, blickte Charles über die Schulter zurück und sah zu seiner Verblüffung hinten aus dem Wagen ein Indianermädchen gucken, vielleicht vierzehn oder fünfzehn Jahre alt. Er hatte den flüchtigen Eindruck eines ehemals hübschen Mädchens, dessen Schönheit durch zuviel Essen zerstört worden war; jetzt besaß sie die zahlreichen Kinne einer Frau in mittleren Jahren.
»War ja deutlich zu sehen, daß du den Mann nicht magst«, sagte Charles. »Konkurrenz, was?«
»Nicht für uns. Er handelt mit Schnaps und Waffen. Heißt Septimus Glyn. Hat mal eine Zeitlang für die Upper Arkansas Agency gearbeitet. Selbst die Indianeragentur konnte ihn nicht ertragen. Er schleicht sich rum und verkauft lauter verbotene Sachen. Jede Saison sucht er sich ein junges Mädel raus, verspricht ihr den Himmel auf Erden, gibt ihr Alkohol, bis sie sich daran gewöhnt hat, dann nimmt er sie mit. Wenn sie nur noch zum Huren taugt, verkauft er sie.«
»Ich habe ein Mädchen in dem Wagen gesehen.«
»Wundert mich nicht.« Angeekelt beschloß Holzfuß, sich gar nicht erst umzudrehen. »Muß eine Crow sein. Er hat sich die Haare im Crow-Stil geschnitten. Sie sind ein gutaussehendes Volk, aber bevor er mit ihr fertig ist, hat er sie längst ruiniert, dieser elende Hurentreiber.«
Charles sah zu, wie der Wagen hinter einem Hügelkamm verschwand, und war froh, daß er nicht gezwungen war, mit Septimus Glyn nähere Bekanntschaft zu schließen. Wenn er Willa Parker wiedersah, mußte er ihr erzählen, daß nicht alle Weißen die Indianer ausbeuteten. Jackson tat es nicht, ebensowenig wie der Jesuitenpater. Er hoffte, daß diese kleine Information sie erfreuen würde. Er selbst wurde ihr gern eine Freude machen.
Mit ihren sechsundvierzig Ponys erreichten sie die Smoky Hill Route; sie hatten sämtliche Waren verkauft. Holzfuß sagte wiederholt, sein neuer Partner habe ihm Glück gebracht.
Südlich von Smoky Hill hatten sie bis auf Glyn keinen Weißen mehr zu Gesicht bekommen. Auf dem Trail jedoch mußten sie sich durch eine Flut von Kavallerietruppen, Überlandkutschen und Auswandererwagen nach Osten durchkämpfen. Ein Zug von Wagen, die zu zweit und zu dritt nebeneinanderher fuhren, ließ ihnen keinen Spielraum, und so mußten die Händler staubschluckend ihre Packmulis und ihre Ponys zwischen den Wagen hindurchtreiben. Zweimal hätten Ochsen Fen um ein Haar niedergetrampelt. Zwei wertvolle Ponys rannten davon.
Die Händler stoppten, nachdem sie zwischen den Wagen durch waren. Sie sahen aus, als hätten sie ihre Gesichter in gelbes Mehl getaucht. Der verkrustete Staub ließ ihre Augen um so größer und weißer erscheinen.
»Ich schwör's bei Gott, Charlie, so früh in der Saison habe ich noch nie so viele Greenhorn-Wagen gesehen.«
»Und die Wagenzüge werden die Sioux und die Cheyenne verrückt machen, nicht wahr?«
»Da hast du recht«, sagte Holzfuß.
Charles beobachtete, wie die Planen gen Westen schwankten. »Ich hatte ein merkwürdiges Gefühl, als diese Wagen uns keinen Platz machten. Ganz plötzlich begriff ich, wie sich die Indianer fühlen.«
Dreißig Meilen außerhalb von Fort Riley, Kansas, sahen sie die ersten Markierungen für die Route der im Bau befindlichen Eisenbahn. Ein paar Meilen weiter kamen sie an Stapeln von Telegraphenstangen vorbei, die darauf warteten, eingegraben zu werden. Ein Stapel bestand nur noch aus Asche und verkohltem Holz. »Die Stämme mögen den sprechenden Draht ungefähr genauso gern wie die Siedler«, bemerkte Holzfuß.
Sie ritten weiter. Das Leben in der freien Natur hatte Charles wieder gegerbt und zäh gemacht; er fühlte sich gut in Form und in Einklang mit seiner Umgebung. Das ausgebrannte, leere Gefühl in seinem Inneren machte allmählich neuerwachter Energie und Lebenslust Platz. Wenn er noch nicht geheilt war, so hatte die Heilung doch schon begonnen.
Der Morgen war warm. Er zog seinen Zigeunermantel aus, rollte sich die Ärmel hoch und zündete sich eine Zigarre an.
Acht weitere Fahrzeuge näherten sich ihnen; es waren planenbedeckte US-Ambulanzen mit hohen Rädern, jeweils von zwei Pferden gezogen. Berittene Soldaten bildeten einen Verteidigungsring um die Wagen.
»Was zum Teufel ist das?« sagte Holzfuß.
Sie trieben ihre Maultiere und Ponys im Kreis zusammen und warteten. Die Ambulanzen stoppten. Ein Colonel sprang ab und begrüßte sie. Ein zweiter Offizier sprang aus dem führenden Wagen, ein sehniger Kerl mit einem scharfgeschnittenen Gesicht und borstigen roten, mit Grau vermischten Haaren. Sein Gesicht überraschte Charles mehr als seine drei Sterne.
»Morgen«, sagte der General. »Wo kommen die Gentlemen her?«
»Aus dem Indianerterritorium«, sagte Holzfuß.
»Wir haben bei den Cheyenne überwintert«, sagte Charles.
»Ich bin auf Inspektionstour. In was für einer Stimmung sind sie?«
»Nun«, sagte Holzfuß vorsichtig, »wenn man berücksichtigt, daß kein Häuptling oder Repräsentant des Dorfes für alle sprechen kann, dann würde ich sagen, die Stimmung des Stammes ist schwankend. Schwarzer Kessel, der Friedenshäuptling, hat uns erzählt, daß er nicht weiß, wie lange er seine jungen Männer noch zurückhalten kann.«
»Oh, tatsächlich?« sagte der General auffahrend. »Dann rede ich besser mit dieser Rothaut. Wenn hier draußen noch ein einziger Weißer skalpiert wird, dann kann ich meine Männer auch nicht mehr zurückhalten.«
Danach beruhigte er sich wieder. Charles paffte seine Zigarre. Der General warf ihm einen scharfen Blick zu. »Habe ich da einen Hauch von Südstaatenakzent entdeckt, Sir?«
»Mehr als nur einen Hauch, General. Ich bin für Wade Hampton geritten.«
»Ein tüchtiger Soldat. Sie mögen Zigarren, Sir.« Charles nickte. »Ich ebenfalls. Rauchen Sie eine von meinen, während wir kochen.«
»Nein, danke, General. Ich kann's kaum erwarten, weiter nach Osten zu kommen und meinen Sohn zu besuchen.«
»Dann gute Reise.« Der sehnige Offizier salutierte lässig; er und der Colonel sprangen wieder auf die Wagen.
Kaum hatten sich die Pferde in Bewegung gesetzt, da sagte Holzfuß: »Du kennst den General?«
»Sicher. Das heißt, ich habe Bilder gesehen. Seine Landstreicher haben ein ganz schönes Stück meines Heimatstaates niedergebrannt.«
»Guter Gott, du willst doch nicht sagen, das war Uncle Billy Sherman?«
»Und ob ich das will. Möchte mal wissen, was der hier draußen verloren hat.«
In Riley erhielten sie darauf eine Antwort. Seit dem Zeitpunkt, als Charles durch Chicago gekommen war, hatte Sherman die Mississippi-Division kommandiert. Er hatte sein Hauptquartier nach St. Louis verlegt und im März dann Grant überredet, ein Platte-Departement zu schaffen, um das sperrige Missouri-Departement zu begrenzen und so für beide innerhalb der Division eine bessere Verwaltung zu schaffen. Das mißfiel allerdings John Pope, dem Kommandeur des Missouri-Departements.
Zu den reinen Fakten gab es natürlich die unvermeidlichen Gerüchte. Die größere Verwaltungseinheit würde bald in Missouri-Division umbenannt werden. Sherman hielt den Kommandeur des Platte-Departements, St. George Cooke, mit seinen sechsundfünfzig Jahren für zu alt. Er wünschte, daß Pope durch Winfield Hancock, >Superb< Hancock von Gettysburg, ersetzt wurde. Er wünschte, daß der Kongreß neue Infanterie- und Kavallerieregimenter genehmigte und sie in die westlichen Prärien abkommandierte, auch wenn sie zur Unterstützung der diesjährigen Wagenzüge zu spät kommen würden.
Charles gelangte zu dem Schluß, daß Sherman feste, hauptsächlich negative Ansichten über die Indianer hegte, jedoch in die sie betreffende Politik nicht verwickelt werden wollte. Sheriffs der Nation<, das war Shermans Definition der Rolle der Armee. Pope war da schon emsiger. Er hatte darauf bestanden, daß sich die Auswandererzüge organisierten, bevor sie solche Ausgangspunkte wie beispielsweise Leavenworth verließen. Andernfalls, sagte er, lehnten seine Regimenter jede Verantwortung ab.
Beim Marketender nahm Charles einen Brief von Duncan in Empfang. »Was denn, er ist ja jetzt viel näher als bei meiner Abreise. Sie haben ihn im Januar nach Fort Leavenworth versetzt. Beeilen wir uns, und verkaufen wir die Pferde.«
Am 1. Juni hatten sie alle Tiere weg, was der Company etwas mehr als zweitausend Dollar eingebracht hatte. Die Händler ritten nach Osten und brachten in Topeka ihr Geld auf die Bank; jeder von ihnen behielt fünfzig Dollar für persönliche Ausgaben. Für die Winterbilanz malte Holzfuß drei Säcke mit dem Dollarzeichen. Er und Charles gaben sich die Hand, Charles umarmte Boy, und dann verabredeten sie sich für den 1. September.
Mit einem listigen Seitenblick sagte Holzfuß: »Gehst du noch irgendwo anders hin als nach Leavenworth? Bloß für den Fall, daß ich dich brauche.«
»Oh«, Charles schwang sich in Satans Sattel, »vielleicht St. Louis. Laß mich mal richtig von einem Barbier bearbeiten.«
Sein Bart war lang und dicht gewachsen. »Sehe mir eine Show an. Erinnerst du dich, ich habe doch diese Schauspielerin kennengelernt.«
»Mmm, richtig. Hätt' ich beinah vergessen.« Charles lächelte. »Diese leckere Freidenkerin, die sich den Teufel drum schert, was die Leute von ihr halten, wenn sie einen Burschen zum Abendessen einlädt.«
»Genau die.«
»Du bist so ungeduldig gewesen, da dacht' ich mir schon, daß du was vorhast. Also um diese Augusta geht's.«
Plötzlich wieder schwermütig, sagte Charles: »Augusta war die Mutter meines Sohnes. Sie ist tot. Ich hab' ihren Namen niemals erwähnt.«
»Wach nicht, aber du redest im Schlaf, Charlie. Ich dachte, es sei ein angenehmer Traum. Tut mir leid.«
»Schon gut.«
»Ich möchte, daß du dich gut fühlst. Du bist mein Freund. War schon verdammtes Glück, daß wir uns bei Jefferson Barracks getroffen haben.«
»Das denk' ich auch.«
»Sag deinem Jungen guten Tag und laß dich nicht bei einem Kneipenstreit umbringen.«
»Ich doch nicht«, sagte Charles und ritt davon.
Von Leavenworth City führte eine Straße nach Norden zum Militärbezirk. Charles trabte die zwei Meilen, vorbei an sauberen Farmen und dem Hauptquartier von Russell, Majors und Waddell, einer riesigen Enklave abgestellter Wagen, aufgetürmter Fracht, eingepferchter Ochsen, lärmender Kutscher.
Der zehn Quadratmeilen umfassende Posten enthielt das Departement-Hauptquartier, Baracken und Unterkünfte für sechs Kompanien und das große Depot des Quartiermeisters, aus dem die Forts im Westen versorgt wurden. Col. Henry Leaven-worth hatte das ursprüngliche Quartier 1827 am rechten Ufer des Missouri gegründet, nahe dem Kaw-Zufluß.
Jack Duncans Quartier war für Militärposten im Westen typisch. Spartanische Räume mit einem alten Eisenofen und was immer auch der Bewohner für Möbel mitgebracht, gekauft oder aus Kisten und Brettern gebastelt hatte.
Charles konnte es nicht fassen, wie groß sein Sohn seit dem letzten Herbst geworden war. Der kleine Gus marschierte so schnell und schwankend in Duncans Wohnzimmer herum, daß Charles ständig auf dem Sprung war, um den Jungen aufzufangen, wenn er stürzte. Duncan amüsierte sich darüber.
»Ist nicht notwendig. Er steht verdammt fest auf den Beinen.«
Das war Charles schnell klar. »Er kennt mich nicht, Jack.«
»Natürlich nicht.« Duncan streckte die Arme aus. »Gus, komm zum Onkel.« Der Junge kletterte, ohne zu zögern, auf seinen Schoß. Duncan deutete auf den Besucher. »Das ist dein Vater. Willst du zu deinem Vater?«
Charles griff nach ihm. Gus brüllte.
»Ich glaube, es liegt an deinem Bart«, sagte Duncan.
Charles fand das nicht lustig. Eine Stunde lang mühte er sich, Gus auf seine Knie zu locken. Als er es dann endlich geschafft hatte, klammerte sich sein Sohn kurz darauf schon an seine Daumen und lachte, als er Hoppe-hoppe-Reiter mit ihm spielte. Maureen kam aus der Küche und brachte ihre Mißbilligung zum Ausdruck. Charles hörte nicht auf.
Duncan lehnte sich zurück und zündete seine Pfeife an. »Du schaust gut aus, Charles. Das Leben bekommt dir.«
»Ich vermisse Augusta, daran wird sich nie etwas ändern. Ansonsten bin ich nie glücklicher gewesen.«
»Dieser Adolphus Jackson muß ein feiner Kerl sein.«
»Es gibt keinen besseren.« Charles räusperte sich. »Jack, ich muß noch was über Augusta sagen. Na ja, eigentlich über eine Frau, die ich in St. Louis kennengelernt habe. Eine Schauspielerin in einem der Theater dort. Ich möchte sie gern besuchen. Aber ich möchte auch die Erinnerung an Gus nicht entehren.«
Nüchtern sagte Duncan: »Du bist ein anständiger, rücksichtsvoller Mann. Es gibt viele, die keine Gedanken daran verschwenden würden. Ich erwarte nicht von dir, daß du dein restliches Leben wie ein Einsiedler verbringst. Auch Augusta würde das nicht wollen. Ein Mann braucht eine Frau, das ist eine feste Tatsache im Leben. Geh nach St. Louis, sobald du willst.«
»Ich danke dir, Jack.« Er strahlte Maureen an, die immer noch stirnrunzelnd seine zerlumpte Garderobe betrachtete, seinen zerzausten Bart und die Art und Weise, wie er mit seinem Sohn umging. Charles ignorierte sie einfach.
»Das Leben ist zu schön, um wahr zu sein«, sagte er und schaute seinen Sohn an, der allmählich seiner Mutter ähnlich zu sehen begann.
Duncan lächelte. »Das freut mich. Lange genug traf genau das Gegenteil zu.«
Der Vorhang hob sich. Die Schauspieler reichten sich die Hände und traten vor. Trump zog die anderen mit sich; er riß sich die Holzfällermütze vom Kopf, winkte damit dem Publikum zu und warf dann die glücksbringende Chrysantheme, die er an seinem schlichten Kittel getragen hatte, den Leuten zu. Ein fetter Mann fing sie auf, untersuchte sie und ließ sie dann zu Boden fallen.
Das Ensemble verbeugte sich erneut. Trump machte ganz allein eine dritte Verbeugung. Die Frau, die seine Gattin spielte, tauschte einen leidenden Blick mit Willa aus, die für ihre Rolle als jugendliche Liebhaberin eine hübsche Robe mit hochange-setzter Taille trug. Das Stück war Molieres >Der eingebildete Kranke<, >erweitert und verbessert von Mr. Trump<, wie es auf den Plakaten draußen hieß.
Charles war es ziemlich egal, inwieweit Moliere von Trump umgeschrieben worden war. Wie die meisten anderen auch war er von Willa Parkers Bühnenpräsenz gefesselt. Von ihrem ersten Auftritt an hatte sie alle in Bann geschlagen, nicht mit konventioneller Schönheit, sondern mit einer nicht greifbaren Kraft, die das Auge fesselte. Vielleicht besaßen alle großen Darsteller diese Eigenschaft.
Charles streckte, immer noch klatschend, seine Hände über das Geländer. Durch die Bewegung richtete sich Willas Aufmerksamkeit auf die Loge. Charles hatte sich ein Bad geleistet und sich den Bart stutzen lassen; außerdem hatte er sich einen billigen braunen Gehrock und dazu passende Hosen gekauft. Willa sah ihn, erkannte ihn und reagierte, wie er glaubte, mit Überraschung und dann mit Freude.
Charles nickte lächelnd. Plötzlich glitt Willas Blick zu der Loge auf der gegenüberliegenden Seite. Eine leere Loge, obwohl sich der Vorhang noch bewegte; offensichtlich mußte jemand gerade gegangen sein.
Der Bühnenvorhang senkte sich, enthüllte aufgemalte Werbeschriften über Restaurants und Geschäfte. Der Applaus erstarb. Das Publikum, bestehend aus Männern und einigen wenigen Damen in Begleitung, begann hinauszudrängen. Charles fragte sich, was oder wer diesen Ausdruck von Besorgnis auf Willas Gesicht hervorgerufen hatte.
Nervös eilte er auf den Bühneneingang zu, vor dem er letztes Jahr den Kutscher daran gehindert hatte, weiter auf sein Pferd einzuschlagen. Er gab dem Pförtner einen halben Dollar, wurde von hinten von anderen Gentlemen gestoßen, die ebenfalls hinein wollten. Wegen seiner Größe konnte Charles über die meisten Gratulanten, Bühnenarbeiter und Darsteller hinwegschauen.
Er sah Trump vor einem Korridor stehen, der zu den Garderoben führte. Wer zu einem der anderen Schauspieler wollte, mußte an Trump vorbei und ihm Komplimente machen.
Charles tat es mit übertriebener Begeisterung. Mit vor Freude glasigen Augen sagte Trump: »Ich danke Ihnen, mein lieber Junge, ich danke Ihnen.« Braunes Färbemittel sickerte hinter seinen Ohren hervor. »Ihr Gesicht kommt mir bekannt vor. War es Boston? Ich hab's! Cincinnati.«
»St. Louis. Ich trage jetzt einen Bart.« Er streckte die Hand aus. »Charles Main.«
»Natürlich. Jetzt erinnere ich mich.« Was selbstverständlich nicht stimmte. »Freut mich wahnsinnig, daß Sie unsere Vorstellung heute besucht haben. Ab morgen erwarte ich ausverkauftes Haus.« Sein Blick wanderte bereits auf der Suche nach dem nächsten Bewunderer über Charles' Schulter. Charles schlüpfte vorbei; Trump roch nach Schweiß, aber nicht nach Alkohol. Willa mußte ihn mit Erfolg ausgetrocknet haben. Bis auf die letzte rechts standen alle Garderobentüren offen. Er vermutete, daß es sich dabei um ihre Tür handelte, denn ein kleiner, adrett gekleideter Mann wartete bereits davor.
Als Charles sich näherte, drehte der Mann sich um. Charles erkannte sofort die unnatürlich steife Pose, den getrimmten Kinnbart und die gewachsten Schnurrbartspitzen, die hochglanzpolierten Schuhe, die Kleidung ohne eine Knitterfalte.
Willas Bewunderer war der Mann, der ihn aus der Armee geworfen hatte: Captain Harry Venable.
Charles' Nerven waren zum Zerreißen gespannt, als er auf V.> Harry Venable zuging. Der elegante Offizier erkannte ihn offensichtlich nicht, bekam aber sofort Charles' Absicht mit. Charles studierte die auf der Tür aufgemalten Lettern, mrs. Parker. Er trat vor, um an die Tür zu klopfen, und Venable verstellte ihm den Weg.
»Entschuldigen Sie. Mrs. Parker ist beschäftigt.«
Charles schaute hinunter in die eisigen Augen, neigte den Kopf, um den Größenunterschied zu betonen. »Fein. Das soll sie uns doch selbst sagen, ja?« Er langte über Venables Schulter und klopfte.
Venable lief scharlachrot an. Von drinnen rief Willa, er solle sich noch einen Moment gedulden. Venable sagte: »Worüber zum Teufel grinsen Sie?«
»Der hübsche Harry Venable«, Charles begann die Knöchel seiner linken Hand zu reiben, »West Point, Jahrgang '59.«
Verwirrt bemühte sich Venable, den bärtigen Fremden zu identifizieren. Charles fuhr fort: »Als wir uns das letztemal be-gegneten, hatten Sie einige Helfer dabei. Wie ich sehe, haben Sie jetzt keine. Falls es gewisse Meinungsverschiedenheiten gibt, können wir die diesmal vielleicht fair regeln.« Seine Zähne glänzten zwischen seinem Bart, aber sein Lächeln war alles andere als freundlich. Er rieb sich weiter die Knöchel. Venable erkannte ihn.
Dann flog die Tür auf. Willa stürzte heraus und umarmte ihn schwungvoll. »Charles! Ich wollte meinen Augen nicht trauen, als ich dich in der Loge sah!« Sie trat zurück, hielt ihn an den Armen fest und musterte ihn. Sie trug einen pastellfarbenen Überwurf, dekoriert mit durchsichtigen Schmetterlingen. Obwohl fest gegürtet, verbarg er doch nicht ganz den Ansatz ihrer Brüste. Ein Cremefleck glänzte auf ihrer Nase. Mit den silberblonden Haarsträhnen sah sie ungekämmt und wunderschön aus.
»Komm doch rein, während ich mir das restliche Make-up entferne.« Damit zog sie ihn in die Garderobe.
Venable hatte währenddessen stocksteif mit gestrafften Schultern dagestanden, unfähig, seine Wut zu verbergen. Willa, ganz erstklassige Schauspielerin, lächelte ihm zu und sagte anmutig: »Colonel, es tut mir leid, Ihnen wieder einen Korb geben zu müssen. Mr. Main und mich verbindet eine langjährige Beziehung. Ich bin sicher, Sie haben Verständnis dafür.«
Sie schloß die Tür.
»Ich habe den langjährigen Wunsch, dieser kleinen Kröte die Seele aus dem Leib zu prügeln. Er ist derjenige, der mich in Jef-ferson Barracks erkannt hat.«
»Nun, er ist immer noch hier stationiert.« Willa nahm Nadeln vom Schminktisch und begann sich das Haar hochzustecken. In dem kleinen Raum herrschte ein wirres Durcheinander aus Kostümen, Straßenkleidern, Make-up-Töpfen und Bürsten, Manuskripten, alles zusätzlich reflektiert durch den Tischspiegel. »Er hat das Stück vor vier Abenden gesehen und ist seitdem hinter mir her. Oh, Charles, du warst so lange weg.«
»Es ist ein weiter Weg ins Indianerterritorium.« Er merkte, daß er intensiver in ihre blauen Augen schaute, als er geplant hatte.
»Ich weiß. Ich dachte schon, du würdest nie zurückkommen. Als ich dich mitten im ersten Akt sah, wäre ich beinahe gegen diese Bank gerannt.«
»Ich nahm an, du habest mich erst beim Schlußvorhang gesehen.«
»Oh, schon lange vorher. Ich habe ganze Zeilen ausgelassen.«
»Ist mir nicht aufgefallen.«
»Soll dir auch nicht auffallen.« Auf Zehenspitzen stehend gab sie ihm einen Kuß auf die Wange, umarmte ihn dann noch mal. Unter dem dünnen Stoff fühlte sich ihr Körper weich und warm an. »Gehen wir vielleicht zusammen essen?«
»Unbedingt.« Er grinste. »Diesmal keine Schnecken.«
»Gut. Warte im Vorraum auf mich. In zwei Minuten bin ich fertig.« Erregung schwang in ihrer Stimme mit.
In der Halle war nichts von Venable zu sehen. Er fühlte sich erleichtert; er war zu gut aufgelegt, um den Abend durch eine Schlägerei zu zerstören. Er wußte, daß er den kleinen Mann leicht verprügeln konnte, also würde er nach einem Kampf unvermeidlich Schuldgefühle bekommen.
Als Charles und Willa das Theater verließen, winkte sie Sam Trump zu, der in der Seitenkulisse stand, die Theaterkatze auf dem Arm. Trump unterbrach sein Gespräch mit einem Bühnenarbeiter und nickte ihnen zu. Er warf Charles einen merkwürdigen Blick zu und sah ihnen nach, als sie durch die Tür auf die Olive Street hinausgingen.
Draußen auf dem Bürgersteig blieb Charles aus irgendeinem Grund stehen. Sie sagte: »Was ist? Oh.« Jetzt sah sie ihn auch, auf der anderen Straßenseite im Schatten des hölzernen Indianerhäuptlings vor einem Tabakladen. Venable sah sich entdeckt, machte auf dem Absatz kehrt und eilte um die Ecke.
Willa schauderte. »Was für ein seltsamer Mensch.«
»Vielleicht läßt er sich nicht mehr blicken, jetzt, wo ich da bin.«
»Vorhin vor der Garderobe sah er einen Moment lang so aus, als wollte er dich umbringen, Charles.«
»Einmal hat er es versucht, es aber nicht geschafft.« Er tätschelte die behandschuhte Hand auf seinem rechten Arm. »Ich bin fürs Essen. Das New Planter's House?«
»Warum nicht? Es ist bequem. Ich bin dorthin gezogen. Jawohl, ich habe die Bühnenräume verlassen.« Arm in Arm schlenderten sie durch die nächtlichen Straßen. »Das Theater schreibt seit Februar schwarze Zahlen. Nicht überragend, aber schwarz. Die Truppe hat eine lokale Anhängerschaft gewonnen, und so bot mir das Hotelmanagement Räume zu ermäßigtem Preis an. Offensichtlich sind Mr. Trump und Mrs. Parker nun in der ganzen Stadt willkommen.«
Er gluckste; der leichte Zynismus, den er aus ihren Worten herausgehört hatte, brachte ihm ihre Reife zu Bewußtsein. Er machte eine diesbezügliche Bemerkung, als sie in dem vertrauten Speisesaal vor saftigen Wildbretsteaks saßen. Diesmal hatte er bestellt.
»Du schmeichelst mir«, sagte sie.
»Nein. Ich sage die Wahrheit. Du bist nicht nur sehr - nun ja - weltgewandt für jemand deines Alters, sondern auch intelligenter als die meisten Männer, die ich kenne.«
Mit einer kleinen Geste nahm sie das Lob zur Kenntnis. »Wenn das alles stimmt, wovon ich keineswegs überzeugt bin, dann liegt es vielleicht daran, daß ich im Theater aufwuchs. Die Theaterstücke, die ich kannte, machten mir Appetit auf andere Bücher. Und mein Vater war sehr liberal, was die Ausbildung von Mädchen anbelangte.«
Sie begannen darüber zu sprechen, was sie alles seit ihrer letzten Begegnung erlebt hatte. Trumps St.-Louis-Theater hatte nun sein ständiges Ensemble zusammen. »Die Schauspieler sind nun bereit, Verträge für eine ganze Saison zu unterschreiben, weil ich sie davon überzeugt habe, daß Sam nicht mehr den gesamten Gewinn versäuft.« Die Truppe hatte nun ein Repertoire von vier Stücken und dachte über eine Tournee nach. »Wußtest du, daß es zwischen hier und Salt Lake City kein einziges anständiges Theater gibt? Ich könnte mir vorstellen, daß all diese neuen Städte, die entlang der Eisenbahn hochschießen, geradezu ideal für eine Truppe mit eigenem Zelt wären.«
»Die Armeeposten ebenfalls«, sagte er. Ein Kellner schenkte duftenden schwarzen Kaffee aus einer Silberkanne ein. »Du liebst dieses Leben, nicht wahr?«
»Ja, das tue ich. Aber - jetzt werde ich schon wieder schamlos.« Ihre Wangen röteten sich, als sie ihn anschaute. »Während des Winters habe ich oft an dich gedacht.«
Dieser Blick entzündete etwas in ihm. Er wußte, daß er nun den Rückzug antreten sollte, konnte es aber nicht.
»Ich habe an dich gedacht, Willa.«
Sie legte ihre Hände in den Schoß. Sehr ruhig sagte sie: »Ich weiß nicht, was du mit mir machst. Ich zittere wie das Mädchen in der Rolle der Naiven vor ihrem ersten Auftritt. Ich kann den Kaffee nicht trinken. Ich will nichts mehr.« Eine lange Pause. »Würdest du mich in meine Räume begleiten?«
»Ja. Sehr gern.«
Und so geschah es, viel früher, als er erwartet hatte, in dem kleinen, von dem Gaslicht im angrenzenden Wohnzimmer schwach erhellten Schlafzimmer. Voller Erwartung stöhnte sie ein bißchen auf, als ihre Hände sich auf die Suche begaben, überall
Kleidung verstreuten. Während sie ihr silbernes Haar löste und es ausschüttelte, berührte Charles zart und sanft erst die eine, dann die andere ihrer kleinen, festen Brüste. »Oh, ich bin so froh, daß es dich in dieser Welt gibt, Charles«, sagte sie, bewegte sich unter ihm, zog ihn zu sich herab. Sie streichelte seine Brust, küßte seinen Hals, suchte seinen Mund. Er fühlte Tränen des Glücks auf ihren Wangen.
»Ich bin gar kein richtig schamloses Frauenzimmer«, flüsterte sie. »Es hat nur einen Mann gegeben, und da ist's auch nur zweimal passiert, aus Neugier. Es war nichts Halbes und nichts Ganzes, ich besitze also keine Erfahrung. Ich hoffe, das -«
»Psst«, sagte er und küßte sie. »Psst.«
Sie war weich und warm - dort, wo er in sie eindrang. Sie bog sich ihm entgegen, als sie ihren gemeinsamen Rhythmus fanden. Ihre Fersen und Waden hielten ihn fest, und er vergaß jeden Gedanken an Verstrickungen. Er dachte an nichts weiter als an die offene Wärme dieser einzigartigen, leidenschaftlichen jungen Frau, die in seinem Körper und seinem Geist das Licht der Liebe entzündet hatte.
Abrupt erwachte er. Er wußte nicht, wo er war, schlug mit den Armen um sich, drehte sich um; durch die halboffene Tür sah er das vom Gaslicht erleuchtete Wohnzimmer. Seine Bewegungen weckten sie.
»Alles in Ordnung mit dir?«
»Ich hatte einen Traum.«
Zart drückte sich ihre warme Nacktheit gegen ihn. Sie küßte seine Schulter. »War er schlimm?«
»Ich glaube schon. Habe ihn bereits vergessen.«
Nach einer Pause sagte sie: »Du hast ein paarmal was gerufen. Einen Namen.« Eine weitere Pause. »Nicht meinen.«
Erregt stützte er sich auf einen Ellbogen. »Nein, nein«, sagte sie, »es ist schon gut, Charles. Du mußt darüber sprechen. Es gibt auch etwas, worüber ich sprechen muß. Morgen«, murmelte sie, zog seinen Rücken gegen ihre nackten Brüste, schlang die Arme um ihn und strich ihm sanft über die Augen.
Aus Gründen der Schicklichkeit kleidete er sich in den frühen Morgenstunden an und verließ das Hotel. Er marschierte tollkühn, sogar ziemlich lärmend von der Treppe durch die Hotelhalle. Der Portier öffnete ein Auge und schloß es gleich wieder, da Charles offensichtlich nichts zu verbergen hatte.
Charles nahm sich ein Zimmer in einem billigeren Hotel und fuhr am späteren Morgen in einem gemieteten Buggy bei Willa vor. Sie hatte einen Lunchkorb gepackt. Sie fuhren flußaufwärts und picknickten in einem hübschen Ulmen- und Platanenwäldchen. Das Wäldchen roch nach Minze.
»Eine Frage, die mir ein bißchen peinlich ist«, sagte Charles, während er half, den Korb auszupacken: dicke Wurstscheiben zwischen frischem Brot aus einer der örtlichen deutschen Bäckereien, ein verkorkter Krug mit schäumendem Ingwerbier. »Letzte Nacht, war da mein Bart ...? Das heißt ...«
»Jawohl, so stachlig wie die Disteln dort drüben«, sagte sie neckend. »Fällt dir nicht der viele Puder auf? Du hast untilgbare Spuren deines skandalösen Verhaltens hinterlassen.«
Sie drückte sich an ihn, gab ihm einen kleinen Kuß. »Was ich ungemein genossen habe und nicht im geringsten bedaure.« Sie breitete im Schatten ein kariertes Tuch aus. Das Pferd ihres Einspänners zuckte mit dem Schwanz, um die Fliegen zu vertreiben. Ein stattlicher Heckraddampfer tauchte im Norden auf, mit Zielrichtung St. Louis. »Ich möchte dir etwas mitteilen, damit wir keine Geheimnisse voreinander haben. Ich bin nicht ganz freiwillig zu Sams Theater gestoßen, obwohl ich jetzt sehr froh darüber bin. Ich war auf der Flucht vor einem Mann namens Claudius Wood.«
Sie erzählte die Geschichte von New York, dem Dolch von >Macbeth<, von Edwin Booths Freundlichkeit. Das gab ihm Gelegenheit, ihr von Augusta Barclay zu berichten und daß sie ein Liebespaar, aber nie verheiratet gewesen seien. Zum Schluß blieb er ein bißchen vage und sagte bloß, der Krieg habe sie getrennt, bevor sie starb. Er erwähnte nichts davon, daß er die Trennung herbeigeführt hatte, um ihr Kummer und Schmerzen zu ersparen, falls er getötet wurde. Ironischerweise war er derjenige, der kummerbeladen zurückgeblieben war, auf der Hut vor weiteren emotionalen Verstrickungen.
Und doch saß er nun hier.
Während sie picknickten, wanderte die Sonne weiter. In dem Wäldchen wurde es warm. Schweiß lief Charles über den Nacken.
Willa zog seinen Kopf auf ihren Schoß. Er fragte sie, ob er eine Zigarre rauchen dürfe, zündete sich eine an und sagte dann: »Sag mir, wie du wirklich bist, Willa. Sag mir, was du magst und was nicht.«
Sie streichelte sanft seinen Bart und dachte darüber nach. »Ich mag den frühen Morgen. Ich mag die Art, wie sich mein Gesicht anfühlt, nachdem ich es geschrubbt habe. Ich mag den Anblick schlafender Kinder und den Geschmack wilder Beeren. Ich mag Edgar Allan Poes Verse und Shakespeares Komödien. Paraden. Das Meer. Und ich liebe es ganz schamlos, auf der Bühne zu stehen, wenn das Publikum klatscht.« Sie beugte sich herab, um ihn auf die Stirn zu küssen. »Ich habe gerade entdeckt, daß ich gerne einschlafe, meine Arme um einen Mann geschlungen. Allerdings nicht irgendeinen Mann. Was die Dinge anbelangt, die ich nicht mag - nun, Dummheit zum Bei-spiel. Unnötige Unfreundlichkeit in einer Welt, in der es bereits hart genug zugeht. Angeberei. Leute mit Geld, die glauben, ein Mensch werde durch Geld allein wertvoll. Aber vor allem anderen«, wieder ein sanfter Kuß, »mag ich dich. Ich glaube, ich liebe dich. Bei dir habe ich die Maske fallen lassen, die mein Pa mich aufzusetzen gelehrt hat, damit einem das Leben weniger Wunden schlägt. Ich glaube, ich habe dich vom ersten Augenblick an geliebt.«
Er sagte nichts, hielt den Blick auf den Fluß gerichtet. Er fühlte sich, als schwankte er am Rande eines tiefen Abgrunds entlang und könnte jeden Moment abstürzen.
Sie küßten sich, murmelten Unverständliches, streichelten sich, bis ihr Atem so heiß wurde wie der strahlende Sommertag. »Liebe mich, Charles«, sagte sie, ihren Mund an seinem Ohr. »Jetzt und hier.«
»Willa, einmal ist einigermaßen sicher, aber - was ist, wenn du schwanger wirst?«
»Was bist du doch für ein merkwürdiger Mann. Viele würden sich überhaupt keine Gedanken darüber machen. Es gibt viel schlimmere Dinge. Ich würde dich nicht mit einem Baby in die Falle locken.« Sie bemerkte seine Reaktion. »Das sorgt dich.«
»Es ängstigt mich. Ich könnte es nicht ertragen, jemanden zu verlieren, der mir am Herzen liegt. Einmal war genug.«
»Besser, es liegt einem niemand am Herzen?«
»Das habe ich nicht gesagt.«
»Gut. Also keine Schuldgefühle. Was immer geschieht, es geschieht für den Moment.« Wieder küßte sie ihn.
Als er sie sanft nach hinten drückte, auf die weiche Matte aus braunem Gras und Platanenblättern, da wußte er, daß sie schon zu weit gegangen waren, als daß noch einer von ihnen unverletzt hätte entrinnen können.
Bis auf Proben oder Aufführungen verbrachten sie jede Stunde der nächsten vier Tage gemeinsam.
Er berichtete ihr von seinen Erlebnissen bei der Jackson Trading Company und was er über Sitten und Gebräuche der südlichen Cheyenne gelernt hatte; wie sein Respekt vor ihnen gewachsen war, ebenso seine Bewunderung vor Führern wie Schwarzer Kessel. Sie freute sich, daß er nicht mehr die typisch feindselige Haltung des weißen Mannes einnahm, eine aus Gier und Mißtrauen erwachsene Einstellung.
»Wir fürchten immer das, was wir nicht verstehen«, sagte sie.
Sie fanden ein Fotoatelier und nahmen für ein Porträt Platz. »Schaut freundlich - freundlich!« schrie der Mann unter der schwarzen Kameraabdeckung hervor. Charles stand neben ihr, eine Hand auf ihre Schulter gelegt; sein Gesicht nahm einen feierlichen Ausdruck an. Willa kicherte aus Nervosität und Freude, und der Fotograf mußte zehn Minuten warten, bis sie sich beruhigt hatte.
Sie wollte wissen, was für eine Sorte Mann er war, was er mochte. Nach der Samstagabendvorstellung von >Richard III.< lag er mit ihr im Bett, dachte eine Weile darüber nach und sagte:
»Ich mag Pferde, gute Zigarren, einen Sonnenuntergang mit einem Glas Whisky in der Hand. Genaugenommen mag ich alles, was ich bis jetzt vom Westen gesehen habe.
Ich mag die Kraft, die man in den meisten Schwarzen findet. Sie sind Überlebende, Kämpfer. Yankees würden nicht glauben, daß ein Südstaatler so was sagt.
Ich liebe meine Familie. Ich liebe meinen Sohn. Ich liebe meinen besten Freund Billy, der mit seiner Frau nach Kalifornien gegangen ist.
Ich haßte die letzten beiden Kriegsjahre und was sie den Menschen, mich eingeschlossen, angetan haben. Ich hasse die Politiker und die Salonpatrioten, die die Trommel schlugen, bis der Kampf begann. Sie mußten nie die Tage und Nächte der Schlacht durchleben, sie mußten nie über eine offene Wiese auf die feindlichen Stellungen vorstürmen, sie mußten nie mit ansehen, wie ihre Freunde um sie herum fielen, pißten nie vor Angst in die Hosen - entschuldige«, sagte er, seine Stimme plötzlich leise und heiser.
Sie küßte seinen Mundwinkel. »Schon gut. Ich möchte gern deinen Sohn kennenlernen. Darf ich Fort Leavenworth besuchen? Ich könnte mit einem Missouri-Dampfer kommen, vielleicht im August. Der August ist der schlechteste Theatermonat. Ich bin mir sicher, daß Sam mit einem Ersatz für mich einverstanden ist.«
Er fürchtete die weiteren Verwicklungen, sagte aber trotzdem: »Ich würde mich freuen.«
Am Tag danach umarmte und küßte er sie am Bühneneingang und schwang sich dann auf Satan. Plötzlich tauchte Amerikas Schauspieleras auf und scheuchte Willa hinein, damit er vertraulich mit Charles sprechen konnte. Trump trat dicht an den tänzelnden Schecken heran. »Was ich Ihnen zu sagen habe, Sir, ist ganz einfach. Sie mögen vielleicht glauben, ich sei ein kraftloser Schwächling, weil ich Schauspieler bin. Ganz im Gegenteil. Ich bin erst fünfzig und im besten Alter.«
Er streckte mit geballter Faust seinen Unterarm empor. Charles hätte gelacht, wäre nicht der ernste Gesichtsausdruck des Schauspielers gewesen. Trump packte Satans Zaumzeug und schob das Kinn vor.
»Willa hat sehr viel für Sie übrig, Mr. Main. Eine Marmorstatue könnte das sehen. Schön und gut. Sie ist ein wunderbares Mädchen und ich liebe sie wie meine eigene Tochter. Wenn Sie also nur mit ihr herumspielen - wenn Sie sie in irgendeiner Weise verletzen sollten und Gott sei mein Zeuge«, wieder die geballte Faust, »dann werde ich Sie zerschmettern, Sir. Ich werde Sie finden und zerschmettern.«
»Ich habe nicht vor, sie zu verletzen, Mr. Trump.«
Der Schauspieler ließ das Zaumzeug los. »Dann wünsche ich Ihnen eine gute Reise. Mit meinem Segen.«
Aber in irgendeiner Weise würde er sie verletzen müssen, das wurde Charles klar, als er in westlicher Richtung aus der Stadt trabte. Er war in sie verliebt, und das verwirrte ihn; auf eine vage, verschwommene Art war er ärgerlich mit sich, daß er es soweit hatte kommen lassen, daß er gewollt hatte, daß es soweit kam. Doch das war nun der Fall. Also mußte er es rückgängig machen, und zwar schon bald.
Äls Charles in Fort Leavenworth angekommen war, erzählte ihm Duncan, daß Johnson Ende Juli ein Gesetz unterzeichnet habe, durch das die Anzahl der Infanterieregimenter von neunzehn auf fünfundvierzig angehoben würde; und was für den Westen mit seinen gewaltigen Entfernungen noch wichtiger war, die Kavallerieregimenter waren von sechs auf zehn verstärkt worden.
Der Brigadier, der nun den olivgrünen Besatz der Divisionsabteilung des Zahlmeisters trug, befand sich wegen der Neuigkeiten in heller Aufregung. »Das bedeutet, daß wir nächstes Jahr gegenüber den feindlichen Stämmen mächtig auftrumpfen können.«
Charles kaute auf einer kalten Zigarre herum und sagte nichts. Wie Sherman, so glaubte auch Jack Duncan, daß die Stämme unweigerlich in Reservation getrieben werden mußten, wenn man den Westen für Siedler und den Handel sichermachen wollte. Duncan sah in dieser Besetzung von Indianerland nichts Unrechtes, und da Charles wußte, daß er Duncans Einstellung nicht ändern konnte, versuchte er es gar nicht erst. Statt dessen kündigte er Willas bevorstehenden Besuch an.
»Ah«, sagte Duncan lächelnd.
»Was soll das heißen - ah? Sie kommt nicht bloß mich besuchen. Sie möchte sich Hallen anschauen, die die Truppe für eine Tournee mieten könnte.«
»Oh, natürlich«, sagte Duncan nüchtern. Es freute ihn, wie Charles auf jede Neckerei reagierte. Vielleicht wich die Verzweiflung allmählich von dem jungen Mann, die ihn so lange bedrückt hatte.
Willa kam Ende August an. Sie hatte bereits Kansas besucht -einige nannten die Stadt Kansas City -, das am gegenüberliegenden Ufer des Missouri lag. Sie meinte, Frank's Hall in Kansas gäbe einen idealen Zuschauersaal ab.
Duncans Residenz im Offiziersquartier enthielt einen zusätzlichen Raum, den Maureen benützte. Hier schlief auch der kleine Gus in einem selbstgebastelten Kinderbettchen. Sie lud Willa ein, das Bett mit ihr zu teilen, was die junge Schauspielerin sofort akzeptierte. Maureen fand lobende Worte über Willas Anpassungsfähigkeit; tatsächlich fügte sie sich auch nahtlos ein. Sie plauderte locker über Sam Trump und das Theater und lauschte aufmerksam den Erzählungen über das Armeeleben und das Indianerproblem. Sie verbarg nicht, daß sie auf Seiten der Indianer stand, gegen die große Mehrheit der Siedler und der Berufsoffiziere der Armee. Es reizte Duncan nicht so sehr, wie Charles erwartet hatte. Der Brigadier diskutierte mit Willa, respektierte sie aber eindeutig als intelligenten Kontrahenten.
Am ersten Abend schenkte Duncan, nachdem sich die Frauen zurückgezogen hatten, zwei Whiskys im Wohnzimmer ein. Durch das offene Fenster drang der kräftige Sauerteiggeruch von der nahegelegenen Bäckerei. Ein paar Minuten lang beklagte sich Duncan über die Zahlmeisterabteilung. Es war eine undankbare Aufgabe; die Offiziere, die mit den Löhnen der Soldaten von Fort zu Fort unterwegs waren, konnten nie schnell genug reiten, um die Männer zufriedenzustellen.
Unvermittelt sagte er: »Das ist eine nette junge Frau. Ein bißchen sehr offen in ihren Vorstellungen, das ist klar. Aber sie wäre eine großartige .«
»Freundin«, sagte Charles, auf seine Zigarre beißend.
»Genau.« Duncan beschloß, Willas Sache im Augenblick nicht weiter zu fördern. Charles schaute wild und grimmig drein. Vielleicht war er doch noch nicht bereit für das normale Leben.
Am letzten Tag ihres Besuchs spazierten Charles und Willa im Schatten von Eichen und Pappeln an der Klippe oberhalb der Dampferanlegestelle des Forts entlang. Gus ritt auf den Schultern seines Vaters und betrachtete von seinem Thron aus mit glücklichen Augen die Welt. Sanfte Laute trieben durch die sonntägliche Luft: die fernen Anfeuerungsrufe der baseballspielenden Soldaten; das Klatschen der Wasserpumpe des Postdampfers.
Willa war nervös und ein bißchen unglücklich. Hier im Fort war Charles weniger offen als in St. Louis. Sie liebte ihn, aber sie wußte auch, daß sie es besser nicht so oft aussprach. Der düstere, erschöpfte Blick, der gelegentlich in seinen Augen auftauchte, besagte deutlich, daß er für eine tiefe emotionale Bindung noch nicht bereit war.
Doch sie war einfach nicht in der Lage, selbst Desinteresse vorzutäuschen. Im Schatten der in der leichten Brise raschelnden Blätter nahm sie Charles' Sohn in die Arme. Da ruhte er zufrieden, schaute über ihre Schulter auf die Eichhörnchen in den Ästen.
»Gus ist ein wunderbarer Junge«, sagte sie. »Du und seine Mutter, ihr habt einen feinen Sohn in die Welt gesetzt.«
»Danke.« Charles starrte auf den glitzernden Fluß, hundertfünfzig Fuß unter ihnen. Der gesunde Menschenverstand sagte Willa, sie solle ihn nicht weiter bedrängen. Aber sie liebte ihn so sehr.
»Das war ein großartiger Besuch. Ich hoffe, ich werde wieder eingeladen.«
»Aber sicher, wenn es dir paßt.«
Gus legte seinen Kopf auf Willas Schulter und steckte seinen Daumen in den Mund. Er schloß die Augen, und sein Gesicht nahm einen weichen, glückseligen Ausdruck an. Willa berührte Charles' Ärmel. »Du behandelst mich, als hätten wir uns eben erst kennengelernt.«
Er runzelte die Stirn. »Das wollte ich nicht, Willa. Ich habe bloß so das Gefühl, als wollten Jack und Maureen uns - na ja -zusammenbringen. Das ist nicht gut. Übernächste Woche treffe ich mich mit Holzfuß in Fort Riley. Ich habe es zuvor schon gesagt: Der Handel ist nicht gerade die sicherste Arbeit, auch wenn die meisten der südlichen Cheyenne Freunde meines Partners sind. Ich möchte mich nicht binden. Angenommen, wir ziehen in einer Saison los und kommen nie zurück. Es wäre dir gegenüber nicht fair.«
Ihre blauen Augen funkelten. »Oh, komm, Charles. Das Leben steckt voller Risiken. Wen willst du wirklich schonen, mich oder dich?«
Er sah sie an. »Also gut. Mich. Ich möchte nicht noch mal das durchmachen, was ich durchgemacht habe.«
»Glaubst du, ich bin so zart? Krank? Glaubst du, ich werde morgen zusammenbrechen und du verlierst mich? Übrigens, ich bin nicht schwanger.« Der Gebrauch dieses unaussprechlichen Wortes schockierte ihn. »Ich habe schon einiges mitgemacht. Deine Ausrede taugt nichts.«
»Ich kann nicht anders.«
»Und ich dachte immer, Frauen seien das wankelmütige Geschlecht.«
Er wandte sich ab, starrte wieder auf den Fluß. Die kühle Brise fächelte seinen Bart. Die tiefstehende Sonne ließ Willas Haare wie feines Weißgold aufglühen. »Charles, was um Gottes willen hat dir der Krieg angetan?«
Er gab keine Antwort.
Seine steinerne Haltung brachte sie aus der Fassung, machte sie aber auch zugleich zornig. »Wir können Freunde sein gelegentlich mal ein Liebespaar -, sonst nichts?«
Er schaute sie an. »Ja.«
»Ich bin mir nicht sicher, wie ich dazu stehe und ob es mir gefällt. Ich werde es dir sagen, wenn du von deinem nächsten Trip zurückkommst. Wenn du nichts dagegen hast, würde ich jetzt gern zum Quartier des Brigadiers zurückgehen. Es ist kühl geworden.« Sie hob Gus hoch, reichte ihn seinem Vater und ging davon.
Sie haßte es, daß der Besuch mit einem solchen Mißton enden sollte, aber das tat er. Als sie sich auf dem Landesteg verabschiedeten, küßte er sie auf die Wange, ein gutes Stück entfernt von ihrem Mund. Er sagte nichts davon, ob er im Frühjahr zu Besuch nach St. Louis kommen würde, sondern dankte ihr lediglich für ihren Besuch. Der kleine Gus winkte und winkte, als sie an Bord des Heckraddampfers ging.
Der Dampfer wühlte sich in die Strömung, und Willa sah zu, wie Mann und Junge immer kleiner wurden. Charles schaute unglücklich und verwirrt drein. Genau so fühlte sie sich auch.
Doch es ließ sich nicht leugnen, daß sie verliebt war. Sie würde also nicht aufgeben.
Es würde ein langer Winter werden.
Der August schwand dahin, und Charles wurde immer ungeduldiger. Er brach einen Tag zu zeitig auf; sein einziges Bedauern galt Gus. Der Junge nannte ihn nun Pa und kam bereitwillig in seine Arme. Charles war traurig, daß sich der ganze Prozeß wiederholen würde und er sich im nächsten Frühjahr erst wieder mit dem Jungen vertraut machen mußte. Was Willa anbelangte, so versuchte er seine Gefühle für sie zu unterdrücken und hoffte, daß er ihr klargemacht hatte, daß jede engere Beziehung unmöglich war.
An einem sonnigen Nachmittag sagte er dem Brigadier und Maureen auf Wiedersehen. Maureens letzte Worte klangen scharf: »Sie sollten das Mädchen heiraten, Sir. Sie sagte, es gebe keinen Mr. Parker mehr, und sie ist eine großartige Person.«
Ziemlich schroff erwiderte Charles: »Händler geben keine guten Familienväter ab.«
Am ersten Tag kam er nicht so weit, wie er geplant hatte. Am späten Nachmittag, während er durch Salt Creek Valley, Kicka-poo Township, ritt, verlor Satan ein Hufeisen. Als der örtliche Schmied es ersetzt hatte, ging die Sonne unter. Charles logierte im Golden Rule House, über das Duncan voller Begeisterung gesprochen hatte:
»Es hat erst vor kurzem eröffnet, aber es ist schon den ganzen Fluß rauf und runter berühmt. Der Besitzer ist ein großzügiger junger Bursche. Wenn er sich selbst ein paar hinter die Binde gegossen hat, berechnet er dir für deine Mahlzeit den halben Preis und schenkt dir den Whisky umsonst aus. Wenn er so weitermacht, wird er bald pleite sein. Aber solange es anhält, ist es ganz großartig.«
Es stimmte. In dem Haus herrschte eine lärmige, gesellige Atmosphäre. Der Besitzer, obwohl erst zwanzig, gehörte zu jenen Originalen, die dem Westen sein Flair gaben. Der junge Mann aus Kansas, der gegen sechs Uhr schon ganz ordentlich unter Alkoholeinfluß stand, unterhielt seine Gäste mit einer langen Geschichte, in der es darum ging, daß er einmal eine Überlandkutsche gefahren hatte und plötzlich von einer gewaltigen Sioux-Bande angegriffen worden war. Er behauptete, er habe sie mit einer Mischung aus gebrüllten Drohungen und Gewehrfeuer vertrieben und so die Kutsche mitsamt den Fahrgästen gerettet.
Charles teilte sich einen Tisch mit einem riesigen, freundlichen Mann in seinem Alter, der sich als Henry Griffenstein vorstellte. Er sagte, er stamme aus einer der deutschen Siedlungen oberhalb des Missouri, bekannt als Kleines Rheinland.
»Meine Freunde nennen mich deshalb Dutch Henry. Momentan führe ich Wagen nach Santa Fe. Wer weiß, was ich nächstes Jahr machen werde?«
Charles kaute an einem Stück Büffelsteak, deutete dann mit der Gabel auf den redefreudigen jungen Mann hinter der Bar. »Ich glaub' die Story zwar nicht, vor allem, daß er einen Haufen Sioux in die Flucht geschlagen hat, aber er ist ein verdammt guter Geschichtenerzähler.«
»Und auch ein verdammt guter Kutschenfahrer«, sagte Dutch Henry. »Außerdem hat er Frachtwagen gefahren und war Scout für die Armee. Mit vierzehn Jahren ist er Pony Express geritten - behauptet er.«
»Wie ist er ins Hotelgeschäft gekommen?«
»Er und Louisa eröffneten das Haus hier, nachdem sie sich im Januar zusammengetan hatten. Ich glaube nicht, daß er so lange durchhält. Er ist zu voll mit Ingwerbier. Von der Gabe des Mundwerks mal ganz abgesehen.«
»Kommt her, Jungs«, brüllte der junge Mann und winkte seine Gäste heran. »Ich erzähle euch, wie's im Krieg bei der Se-venth Kansas Cavalry war. Jennison's Jayhawkers. Wirklich schwere Kaliber. Wir - wartet, erst noch eine Runde.«
Sichtbar schwankend schenkte er seinen Zuhörern großzügig Drinks ein. So wie er seinen Whisky kippte, schätzte Charles ihn selbst als schweres Kaliber ein.
»Wie war doch gleich sein Name?« fragte er Dutch Henry.
»Cody. Will F. Cody.«
Ein Packmuli hinter dem anderen, so ritt die Jackson Trading Company über die herbstliche Prärie, auf das Land hinter dem dunstigen blauen Horizont im Süden zu. Sie ritten neben dem gleichen zertrampelten Büffelpfad, dem sie schon im letzten Jahr ins Indianerterritorium gefolgt waren. Im Nordwesten rasten dunkelgraue Wolken über den Himmel. Ungefähr jede halbe Minute blitzte es in den Wolken weiß auf.
Das Land hier zog sich wellenförmig hin, eine Reihe sich erhebender Hügel, keiner höher als sechs Fuß. Es war später Nachmittag. Vor zwei Tagen hatten sie ungefähr zur gleichen Zeit die Smoky Hill Road überquert, auf der immer noch Wagen nach Westen polterten, so schnell es ihre Fahrer schafften. In der kühlen Septemberluft konnte man den Winter riechen. In Fort Riley hatte ein Offizier Charles erzählt, daß den Sommer über so ungefähr hunderttausend Auswandererwagen durchgekommen sein mußten.
Der Wind wurde stärker. Das trockene, spröde Gramagras, das Satan bis an die Knie reichte, wogte und brodelte. Charles merkte, daß der Schecke nervös war. Die anderen Tiere ebenfalls, Fen eingeschlossen. Der Collie rannte ständig bellend in Kreisen vor ihnen herum.
Der Hund verschwand hinter dem nächsten Hügelkamm. Nur die Bewegung des Grases markierte seine Spur. Charles stoppte, bemerkte noch mehr Bewegung im Gras. Es wogte, als würde ein unsichtbarer Mann auf sie zugerannt kommen.
»Es ist Fen«, sagte Holzfuß. »Möchte wissen, was zum Teufel er hat?« Er griff nach seinem Gewehrfutteral. »Boy, halt dich dicht an mich.«
Boy drängte sein Pferd näher an den Händler heran. »Ich schaue mal nach«, sagte Charles und berührte Satan mit seinen Stiefelabsätzen.
Der Schecke trottete ungefähr fünfzig Fuß bis zum Hügelkamm. Dreck und vom Wind gepeitschte Grashalme flogen Charles in die Augen. Er kniff sie zusammen und schützte sie mit einer Hand, als er über den Kamm ritt.
Unten saßen neun Männer in einer Linie auf ihren Ponys und warteten.
Von der Mitte her starrte Narbengesicht zu ihm hoch. Er und die anderen trugen mit roter Farbe bemalte Leggings; auf Ge-sicht, Arme und nackte Brust hatten sie ebenfalls rote Farbe aufgetragen. Jeder trug eine Kappe der Hundegemeinschaft, mit einem schmalen, perlenbesetzten Band und den Federn eines Adlers und eines Raben; die Federn waren gebündelt und zusammengeschnürt, so daß sie steil nach oben ragten. Jeder Mann hatte eine Pfeife aus Adlerknochen an einem Lederriemen um den Hals hängen und war mit Pfeil und Bogen sowie einem Gewehr oder einer Muskete bewaffnet, über und über mit Kriegsinsignien bemalt.
Narbengesicht sah, wie in Charles die Erkenntnis aufdämmerte. Er grinste und schwenkte sein Gewehr auf und nieder. Die anderen bellten und heulten.
Holzfuß und Boy schlossen zu Charles auf. »Oh, mein Gott, Charlie, das ist kein Zufall. Ich hätte ihm den Lendenschurz nicht abreißen sollen. Er hat den ganzen Sommer auf uns gewartet. Er wußte, daß wir wahrscheinlich auf diesem Weg zurückkehren würden.«
Charles wollte gerade fragen, ob sie eine Unterredung signalisieren sollten. Der Knall eines Indianergewehrs ließ allein die Idee schon närrisch erscheinen.
DIE TOUR DES PRÄSIDENTEN
Auf dem Weg von Buffalo nach Cleveland.
Ein freudiges Auf-Wiedersehen von den Einwohnern von Buffalo.
Begeisterte Demonstrationen in Silver Creek und Erie.
Große Feier bei den Western-Reserve-Radikalen.
Sondermeldung an die New York Times Cleveland, Ohio, Montag, 3. September
Die Begeisterung der Menschen wächst, je länger die Tour der Truppe des Präsidenten dauert ...
MADELINES JOURNAL
September 1866. Sims Junge Pride brachte mir einen weiteren dieser übelriechenden Felsbrocken, diesmal von seinem eigenen Land. Ich sagte ihm, ich wisse nicht, was es sei. Muß Cooper fragen, falls er sich je wieder herabläßt, uns zu besuchen ...
Judith und Marie-Louise sind heute hier. M.-L. blüht und gedeiht! Sie ist jetzt schon stattlicher als ihre Mutter. Judith meint, sie sei in einen Jungen aus Charleston verknallt, aber C. hält sie für zu jung und erlaubt dem Jungen nicht, sie zu besuchen oder ihr kleine Geschenke zu schicken. Wenn M.-L. etwas älter und selbstsicherer ist, dann werden sie und C. sicherlich miteinander Streit bekommen, wenn es um ihre Verehrer geht.
Judith sagt, C. lobe den Präsidenten, seit dieser beschlossen hat, sich gegen seine bei der Gesetzgebung erlittenen Niederlagen zu wehren und den Fall dem Volk vorzutragen. Johnson macht momentan gerade eine >Goodwilltour<, mit Grant und anderen Generälen und Würdenträgern im Schlepptau.
Andrew Johnson und seine Truppe fielen in Ohio ein, dem Heimatstaat von Ben Wade, Stanleys mächtigem Freund und zeitweiligem Wohltäter. In Cleveland, das zu den großen Stationen der Tour zählte, wurde der Präsident von einer großen, freundlichen Menschenmenge am Bahnhof begrüßt. Draußen drückte eine spezielle Dekoration über der Straße Unterstützung für seinen Besuch aus. >die verfassung<, hieß es da, Washington GRÜNDETE SIE. LINCOLN VERTEIDIGTE SIE. JOHNSON WIRD SIE BEWAHREN^
Johnson zeigte sich erfreut. Von da an begann die Wende zum Schlechteren.
In der Dämmerung eilte der Boy General zusammen mit Außenminister Seward den Korridor des Kennard-Hotels in Cleveland entlang. Am Nacken des Ministers waren immer noch die roten Narben von der Messerattacke zu sehen, die einer von John Wilkes Booths Mitverschwörern gegen ihn geführt hatte, am gleichen Abend, an dem Lincoln erschossen worden war.
Der Boy General war nervös. Das hier war Ben Wades Land; Radikalenland. Der Präsident hatte sich für den Schienenweg entschieden, weil er den Grundstein für ein Stephen-DouglasDenkmal in Chicago legen wollte. Hier stoppte er eigentlich nur, um die Republikaner zu attackieren.
Die Strategie hätte womöglich funktioniert, hätte nicht ein großes Pressekontingent, einschließlich Mr. Gobrights von Associated Press, den Präsidenten begleitet. Die Reporter wollten bei jedem Stopp einen neuen Bericht losjagen, deshalb war es für Johnson unmöglich, jedesmal die gleiche vorbereitete Rede zu halten. So war er gezwungen, das zu tun, was er so schlecht konnte - aus dem Stegreif reden.
Die Spannung des Boy General zeigte sich in seinem federnden Schritt und den huschenden Blicken seiner blauen Augen. George Armstrong Custer, hager und von einer Aura schwung-voller Energie umgeben, trug einen gutgeschnittenen Zivilanzug, der seine schlanke Figur vorteilhaft zur Geltung brachte. Kleine, goldene Sporen klingelten an seinen polierten Stiefeln. Libbie drängte ihn stets, Sporen zu tragen, um die Leute an seine Kriegserfolge zu erinnern.
Seine Heldentaten waren eine Zeitlang das Tagesthema im ganzen Land gewesen - ein verwegener Kavalleriegeneral mit einem bemerkenswerten Siegestalent. Custers Glück, so hatte es jemand getauft. Wie ein Zauberstaub hatte es ihm während des ganzen Krieges angehangen und ihm Erfolg auf dem Schlachtfeld und Ruhm in der Presse eingebracht.
Dann kam der Friede, die Armee schrumpfte, und er verschwand in der Versenkung. Als er vor einigen Monaten aus der Armee ausgetreten war, hatte er den Rang eines Captain innegehabt.
Jetzt stand er am Anfang eines langen, aber zielgerichteten Weges, der ihn wieder ins Rampenlicht führen sollte. Bei einem wichtigen Treffen mit Kriegsminister Stanton hatte er für seinen loyalen Bruder Tom den Rang eines Captain und für sich den Rang eines Lieutenant Colonel herausgeschlagen. Beides galt für die neuen Regimenter im Westen. Bald schon würde er seinen Dienst bei der Seventh Cavalry aufnehmen.
Er hielt das für eine gute Gelegenheit, denn der Kommandeur des siebten Regiments, General Andrew Jackson Smith, war ein Veteran mit dreißig Dienstjahren auf dem Buckel - ein alter, müder, eitler Mann. Auf Smith lastete die Verantwortung für den ganzen Bezirk Upper Arkansas, und so nahm Custer an, daß er nicht jeden Tag das Kommando bei der Siebten führen konnte. Das waren die idealen Voraussetzungen für ihn, um sich ein eigenes Regiment aufzubauen.
Er betrachtete die Siebte allerdings nicht als Endziel. Politiker traten jetzt schon für Grant als Präsidentschaftskandidaten ein, und Libbie Custer hatte dafür gesorgt, daß sich der Blick ihres Mannes ebenfalls auf dieses hohe Amt richtete. Er war fasziniert davon, stimmte allerdings mit Libbie darin überein, daß er irgendwelche spektakulären militärischen Erfolge benötigte, die ihn wieder als hellen Stern erstrahlen lassen würden. In der Zwischenzeit konnte er seinen Ruf aufpolieren, indem er die Tour mit Johnson mitmachte. Zumindest hatte er das am Anfang geglaubt; jetzt hatte die Tour eine Wendung zum Schlechteren genommen.
Custers lange, wellige Lockenpracht umtanzte seine Schultern; sein Blick flog voraus auf die offenen Türen des Salons. Er erspähte Minister Welles, Admiral Farragut und andere Würdenträger. Unter der Vorgabe, sich nicht wohl zu fühlen, war Grant schon nach Detroit vorausgeeilt. Insgeheim war Custer davon überzeugt, daß die Indisposition von einer Flasche herrühre -oder vielleicht von den Gerüchten, daß es in Cleveland Ärger geben könnte.
Der siebenundzwanzigjährige Soldat hoffte, die Gerüchte würden sich als falsch erweisen. Ohio war sein Heimatstaat; er hatte die Südstaatler schon immer gemocht, selbst wenn er gegen sie gekämpft hatte. Er hatte ein Kommando in einem der neuen farbigen Regimenter, dem Neunten, glatt verweigert, und er hegte die Überzeugung, daß die Republikanische Partei lieber untergehen sollte, anstatt ihren Erfolg ausschließlich mit den Stimmen der Exsklaven zu suchen.
Nahe der Salontüren sagte Custer zu Seward: »Glauben Sie, Herr Minister, man sollte den Präsidenten noch einmal zur Vorsicht mahnen? An Senator Doolittles Warnung erinnern?« In einem vertraulichen Memo hatte Doolittle festgestellt, daß Johnsons Feinde nie Vorteile aus seinen niedergeschriebenen Ansichten ziehen konnten, sondern stets nur aus seinen spontanen Antworten auf irgendwelche Fragen oder Angriffe.
»Ich werde mich darum kümmern, George«, sagte Seward.
Sie betraten den Salon. Modisch gekleidete Männer und Frauen umringten den Präsidenten und eine junge Frau, die eine gewisse Ähnlichkeit mit ihm besaß - Mrs. Martha Patterson, seine Tochter. Sie hatte für Johnson die Rolle der Gastgeberin übernommen, da dessen Frau Eliza invalid war.
Während Seward sich an den Präsidenten heranschob, schlug Custer einen Bogen zu den hohen Flügelfenstern. Er studierte die Menge unten. Ungefähr dreihundert, schätzte er, und es wurden laufend mehr. Er lauschte dem einheitlichen Stimmengewirr. Lärmend, aber nicht sonderlich freudig. Die Leute am Bahnhof hatten viel gelacht.
Er trat in die Mitte der Balkontür. Wie erwartet, reagierte die Menge darauf.
»Da ist Custer!«
Das löste einige Pfiffe und Beifall aus. Er wollte gerade winken, hielt sich aber zurück, als er Buhrufe hörte. Sein normalerweise rötliches Gesicht verdunkelte sich, und er trat hastig zurück. Vielleicht sollte er, genau wie Grant, die Stadt verlassen.
Libbie schwebte in den Raum, zog wie stets die Aufmerksamkeit auf sich. Was für ein herrliches Wesen er doch geheiratet hatte, dachte er und ging auf sie zu. Lebhafte dunkle Augen, üppiger Busen und eine Taille, um die sie andere Frauen beneideten.
Sie nahm seinen Arm und flüsterte: »Wie ist die Menschenmenge, Autie?«
»Nicht freundlich. Wenn er mehr tut, als ihnen nur zu danken, dann ist er ein Narr.«
Lächelnd führte er seine Frau zu der großen Gruppe. »Herr Präsident«, sagte er voller Wärme, »guten Abend!«
Die Menge in der St. Clair Street wurde allmählich ungeduldig. Die vor dem Kennard-Hotel gespannten Lampions warfen ein bläßliches Licht auf die emporgerichteten Gesichter, darunter viele häßliche Gesichter, in denen sich die üble Stimmung widerspiegelte.
Ein Mann ganz hinten in der Menge beobachtete die Leute sorgfältig. Er trug einen schäbigen Umhang und eine Armeemütze der Union mit den gekreuzten Kanonen der Artillerie. Ein anderer Mann schlüpfte neben ihn. »Alle an Ort und Stelle«, sagte der zweite Mann.
»Gut. Ich hoffe, sie wissen, was sie zu tun haben.«
»Ich bin's noch mal mit ihnen durchgegangen, bevor ich sie bezahlt habe.«
Minister Seward erschien auf dem Balkon und kündigte den Präsidenten an. Der untersetzte, dunkelhäutige Andrew Johnson kam heraus und hob die Arme, um sich für den spärlichen Applaus zu bedanken.
»Meine Freunde und Wähler, ich danke Ihnen für den herzlichen Empfang in Cleveland. Ich habe nicht die Absicht, eine Rede zu halten.«
Der Mann mit der Feldmütze grinste. Der Idiot sagte fast immer dasselbe, warf seinem Publikum ein Stichwort hin. Einer der angeheuerten Männer nahm es auf. »Dann tu's halt nicht.«
Gelächter. Klatschen. Johnson packte das Balkongeländer. »Ihr Schreihälse scheint mich überallhin zu verfolgen. Bringt wenigstens soviel Höflichkeit -«
»Wo ist Grant?«
»Ich bedaure, daß General Grant nicht an meiner Seite sein kann. Er -« Gejohle verschluckte den Rest.
»Warum wollen Sie nicht, daß Farbige im Süden wählen können?« brüllte jemand.
Seward berührte Johnson am Ärmel, um ihn zu warnen. Der Präsident zog den Arm weg. »Kehrt erst mal vor eurer eigenen Tür!« schrie er. »Laßt eure eigenen Neger hier in Ohio wählen, bevor ihr euch dafür stark macht, das Wahlrecht im Süden zu verbreiten.«
Von verschiedenen Seiten begann es Zwischenrufe zu hageln:
»Du hast ja kein Rückgrat.«
»Gefängnis ist zu gut für Jeff Davis!«
»Hängt ihn. Hängt ihn!«
Johnson explodierte. »Warum hängt ihr nicht Ben Wade?« Laute Buhrufe, die den Präsidenten nur beflügelten. »Warum hängt ihr nicht Wendell Phillips und Thad Stevens, wenn ihr schon dabei seid? Ich sage euch eins. Ich habe Verräter im Süden bekämpft, und ich bin bereit, sie auch im Norden zu bekämpfen.«
»Du bist der Verräter!« überbrüllte jemand das Gejohle und Gezische. »Du und deine National Union Party. Verräter!«
Die Schmähung brachte den Präsidenten in Rage. Er drohte dem Mob mit einem Finger. »Wer immer das gesagt hat, er soll sich zeigen. Nein, natürlich wird er das nicht. Falls er jemanden erschießen will, dann wird er das im Dunkeln tun, von hinten.«
Ein Tumult brach los. Johnson, der nun endgültig die Beherrschung verlor, überschrie ihn:
»Das hat der Kongreß auf dem Gewissen. Der Kongreß hat euren Geist vergiftet, aber nichts getan, um die Union wiederherzustellen. Statt dessen teilen sie das amerikanische Volk, Eroberer gegen Eroberte, Republikaner gegen Demokraten, Weiße gegen Schwarze. Hätte Abraham Lincoln das erlebt, dann müßte auch er die bösartige Feindseligkeit der nach Macht gierenden radikalen Clique erdulden.« Außer sich bemühte sich Se-ward, ihn hineinzuziehen. ». dieser Krämerseelen des Hasses, die nun den Kongreß und den Senat kontrollieren und die auch mich einzuschüchtern und zu kontrollieren versuchen.«
»Lügner!« brüllte jemand. Johnsons Kinnlade bewegte sich, aber in dem wachsenden Lärm konnte ihn niemand hören. Er schüttelte drohend eine Faust. »Lügner, Lügner«, skandierten sie unten, von Mal zu Mal lauter.
Hinten in der Menge erlaubte sich der Mann mit der Feldmütze, der auf Anweisung einer Mittelsperson die Leute angeheuert hatte, ein Lächeln. Der Plan hatte perfekt funktioniert. Johnson tobte vor Wut; um Mitternacht würden die Reporter bereits jedes Wort dieses Debakels durchgegeben haben. Johnson war so närrisch zu glauben, er könne Wade ungestraft angreifen. Der Mann mit der Feldmütze war überzeugt davon, daß der Senator die Störungen arrangiert und bezahlt hatte, obwohl es natürlich keine direkte Verbindung zu ihm gab. Dafür waren schließlich Mittelsmänner da.
»Lügner! Lügner! Lügner! Lügner!«
Das Gebrüll hatte für ihn einen lieblichen Klang; es bedeutete einen großzügigen Bonus. Der Mann mit der Feldmütze entfernte sich eilig von der gröhlenden Menge. Am Telegraphenschalter des Bahnhofs griff er zu Block und Bleistift und verkündete dem Mittelsmann, der ihn angeheuert hatte, seinen Erfolg. In die erste Zeile schrieb er in Druckbuchstaben
MR. S. HAZARD, WASHINGTON, D.C.
...Es hat den Anschein, als würde Mr. Johnsons Tour in einer Katastrophe enden. Es ist traurig und merkwürdig zugleich, daß dieses erschöpfte Land der große Preis ist, um den so heftig gekämpft wird. Ein Krieg hat lediglich zum nächsten geführt...
... Letzte Nacht ein weiterer Attentatsversuch gegen die Schule.
Bei schlechtem Wetter werden die Fenster durch Läden geschützt. Glas können wir uns nicht leisten. Wer immer für die Tat verant-wörtlich ist, er scherte sich nicht um den Lärm, als er die Fensterläden abriß. Es war ein stiller Abend, und der Krach drang bis zu Andys Hütte. Er rannte hin und stürzte sich im Dunkeln auf den Übeltäter. Der Mann schlug ihn zusammen und floh. Sein Gesicht bekam Andy gar nicht zu sehen.
Ich weiß nicht, wen ich verdächtigen soll. Die heruntergekommenen weißen Siedler nahe Summerton? Mr. Gettys? Dieser Tanzlehrer, der sich für einen Aristokraten hält? Unter den möglichen Verdächtigen scheinen alle Klassen der Weißen repräsentiert...
Die meisten der schwarzen Stauer trugen nur ein Faß die Planke hoch zu dem jeweiligen Dampfer, den sie gerade beluden. Des LaMotte, auf ihr Niveau hinabgedrückt, weil es immer noch keine besseren Familien gab, die ihn beschäftigen konnten, schleppte zwei Fässer.
Er arbeitete in den Reithosen eines Gentleman, auch wenn diese dreckig und zerrissen waren. Auf jeder Schulter balancierte er ein Faß. Nach seinen ersten Versuchen hatten die Ränder rote Blasen hinterlassen, die später bluteten. Narbengewebe hatte die Schultern jetzt hart und zäh gemacht.
Er verabscheute die Arbeit und all diese namenlosen, gesichtslosen Niggeranhänger im Norden, die ihn dazu gezwungen hatten. Doch er hegte den verrückten Stolz, mehr zu tun und mehr zu schleppen als der stärkste Nigger. Bald schon war er eine bekannte Figur in den Docks von Charleston, ein gewaltiger weißer Mann mit schwellenden Armmuskeln und dem sauber gestutzten Bart eines reichen Pflanzers. Er weigerte sich, mit einem der schwarzen Schauerleute zu sprechen, falls nicht gerade irgendwelche Arbeitsumstände es unbedingt erforderlich machten. An seinem zweiten Arbeitstag hätte er beinahe einen Schwarzen niedergeschlagen, der ihn wegen Beteiligung an einer
Schutzgemeinschaft der Hafenarbeiter ansprach; gleich zu Beginn machte der Schwarze einige Bemerkungen über einen Beerdigungsfonds, zu dem jeder wöchentlich soviel beitrug, daß notfalls die Beerdigungskosten gedeckt werden konnten.
Als Des das hörte, sah er rot. Er unterdrückte seine mörderischen Impulse, konnte sie aber nicht verscheuchen. Wie konnte dieser unwissende Afrikaner die subtilen Tiefen von Des' Zuneigung für seine Frau Sally Sue oder für seinen Kommandanten Ferris Brixham erfassen? Das waren die einzigen Beerdigungen, die Des etwas bedeuteten, die tief in sein Gedächtnis eingemeißelt waren.
Der Vorfall erschütterte ihn, denn er war nahe daran gewesen, den Stauer umzubringen. Wie lange mochte es dauern, bis er sich wirklich auf einen von ihnen stürzte? Ihm wurde klar, daß er durch seine Arbeit unter den freien Negern ein gefährliches Spiel mit seinem eigenen Leben spielte. Irgendwie kümmerte ihn das nicht.
Unter der heißen Herbstsonne von Carolina, die fast so warm wie im Sommer schien, schwitzte er ganze Salzbäche, als er wieder und wieder über die Planke zum Küstendampfer >Sequoiah< schwankte; die Muskeln unter seiner verbrannten Haut zuckten wie dicke Stricke. Nach außen hin ließ er sich nichts von der schmerzhaften Anstrengung anmerken.
Anderes noch als diese Schmerzen peinigte ihn an diesem Morgen. Er hatte Nachricht von Gettys erhalten, in der es hieß, daß Captain Jolly, den sie mit dem Mord an Madeline Main beauftragen wollten, sich mit gestohlenem Whisky hatte vollau-fen lassen und dann losgezogen war, um die Schule niederzureißen.
Idiot, dachte Des, vor Wut kochend. Er schulterte ein Faß rechts, ein weiteres links. Seine Knie gaben ein bißchen nach, als er dem Gewicht standzuhalten versuchte.
Er war mehr denn je darauf erpicht, die Mains in den Dreck zu treten, angefangen mit Colonel Orry Mains Witwe. Allerdings wollte er für dieses Verbrechen nicht seinen Hals riskieren. Und Mr. Cooper Main aus der Tradd Street besaß zwar keinen direkten Draht zu den Besatzungssoldaten, verfügte jedoch immer noch über genügend Einfluß, um die Soldaten auf Des zu hetzen, falls er mißtrauisch wurde.
So hatte er sich all diese Wochen zurückgehalten und auf eine günstige Gelegenheit gewartet. Er glaubte, daß ein Niggeraufstand unvermeidlich war. In irgendeiner heißen Nacht, angestachelt vom Alkohol und von den Agenten der Yankee-Regierung, würden die befreiten Neger Amok laufen. Es würde zu Brandschatzungen und Plünderungen kommen, und jeder Mann mit weißer Haut könnte sein Heil nur noch in der Flucht suchen. Ein derartiger Ausbruch könnte ihm den Schutzschirm liefern, den er benötigte.
Und nun hatte Jolly die Aufmerksamkeit auf sich und Mont Royal gelenkt. Jolly war es gewohnt, das zu tun, was ihm paßte; im Ashley-Bezirk terrorisierte er sowohl die Weißen als auch die Nigger. Nun, mit der Main würde er nicht nach seinem eigenen Gutdünken umspringen. Des hatte bereits eine Antwort an Gettys abgeschickt, in der er forderte, daß Jolly zurückgehalten werden mußte und erst auf Anweisung loszuschlagen hatte.
Ächzend und schwitzend kämpfte sich Des die Planke hoch, machte einen schmerzhaften Schritt nach dem anderen. Ein Trio eleganter junger Damen mit Sonnenschirmen promenierte auf dem überfüllten Kai; eine von ihnen, Miss Leamington von Leamington Hall, war seine Schülerin gewesen. Die abgetragenen Kleider zeugten von ihrer Armut, doch die lässige Arro-ganz ihrer Klasse - etwas, das Des verstand und sogar mit ihnen gemeinsam hatte - zeigte sich in den amüsierten Blicken, mit denen sie die Stauer musterten, und in ihrem lebhaften Geplauder.
Plötzlich hielt Miss Leamington inne. »Meine Güte. Ist das?« Des duckte sich, verbarg seinen Kopf hinter einem Faß. »Nein, das kann nicht sein.«
»Was denn, Felicity? Was kann nicht sein?«
»Seht ihr den Weißen dort, der Fässer wie ein Nigger schleppt? Einen Moment lang dachte ich, es sei mein alter Tanzlehrer, Mr. LaMotte. Aber Mr. LaMotte ist ein Weißer durch und durch. Er würde sich nie auf diese Weise erniedrigen.«
Die jungen Damen gingen weiter, ohne einen Blick zurückzuwerfen. Wer verschwendete auch schon einen zweiten Blick auf Dreck und Schweiß?
Das war am Freitag gewesen. Die Erinnerung an Miss Leaming-tons Abscheu hielt Des die ganze Nacht wach. Gegen vier Uhr schlief er auf seiner feuchten Matratze ein und erwachte ein paar Stunden zu spät für die Arbeit. Er zog sich an und eilte, ohne zu essen, zu den Docks; von der Meeting Street hörte er das Geplärr einer kleinen Kapelle.
Eine Parade hinderte ihn daran, die Meeting Street zu überqueren. Er sah Nigger in Formation marschieren, jeder in einem Gehrock aus weißem Flanell mit blauem Besatz und dazu passenden weißen Hosen. Sie waren in festlicher Stimmung, winkten und plauderten mit Leuten aus der Menge, die sich angesammelt hatte. An der Spitze der Parade trugen zwei Mann ein Banner:
CHARLESTOWNE VOL. FIRE CO.
NUMMER 2 >SCHWARZER OPAL<
Des stand in der dritten Reihe der Menge und warf wütende Blicke um sich, als die Feuerwehrmänner vorüberzogen. Hinter den Marschierern zogen mit Blumen geschmückte Pferde zwei Spritzen. Kleine amerikanische Flaggen waren an das polierte Messinggeländer der Spritzen gebunden. Des ballte die Hände zu Fäusten. All diese schwarze Haut, diese Yankee-Flaggen - das war fast mehr, als er ertragen konnte.
Ein kräftiger Nigger mit glänzenden Backen winkte jemandem links von Des zu. »Wie geht's, Miss Sally? Schöner Morgen.«
Des wandte sich um. Der Name Sally hallte in seinem Kopf mit scharfem Echo nach. Er sah ein fettes, heruntergekommenes Mädchen vor sich, das mit einem Taschentuch einem Feuerwehrmann zuwinkte, der sie angrinste, als würde er am liebsten gleich auf der Stelle herüberkommen und ihr die Röcke hochziehen.
Miss Sally war ein weißes Mädchen. Sie winkte und winkte mit ihrem Taschentuch, schenkte dem Nigger ihre Aufmerksamkeit, zog sich und ihre ganze Rasse in den Schmutz. Des hatte das Gefühl, als würde ihm das pochende Blut in den Schläfen jeden Moment den Schädel sprengen.
Eine kleine, zu der Feuerwehr gehörende Kapelle schlug mit den Trommelstöcken den Takt, und die Bläser setzten zu >Hail, Columbia!< an. Die weiße Schlampe strahlte den Feuerwehrmann dermaßen an, daß er ihr einen Kuß zuwarf.
Den sie erwiderte.
Des' gewaltige Hände flogen hoch, krallten sich in die Schultern rechts und links, teilten die Menschenmauer. Jemand schrie vor Schmerz auf, als er auf die Straße stürzte.
Dann verwandelte sich sein Geist in ein Flammenmeer, und er erinnerte sich an nichts mehr.
Col. Munro war hier, inspizierte die Schule und beklagte sich darüber, daß er Berichte in zwei- und dreifacher Ausführung wegen Ausschreitungen erstellen mußte. Er ließ zwei junge Corporals, nette Jungs aus Maine, zurück, die die Schule für ein paar Tage bewachen sollen. Einer von ihnen meint, er würde sich gern in Carolina niederlassen; Klima und Leute seien so angenehm.
Bevor Munro in die Stadt zurückkehrte, gab er eine düstere Warnung von sich, die ich hier zitiere: »Ich bin jetzt lange genug im Palmetto-Staat, um ein bißchen was von den Gefühlen der Süd-staatler zu verstehen. Soweit ich beobachtet habe, bringen die Weißen dem Neger als Neger keine Feindschaft entgegen. In vielen Punkten mögen sie ihn sogar. Doch wenn er sie als möglicher Beamter, Geschworener, Wähler, politisch und sozial Gleichgestellter bedroht, dann geht das zu weit. Freiheit ist nicht der entscheidende Punkt, sondern Gleichberechtigung. Jede Person oder Institution, die das fordert, ist der Feind.«
»Vielleicht«, entgegnete ich. »Doch Prudence und ich werden die Schule weiterführen.«
»Dann kann ich Ihnen voraussagen, daß Sie weiterhin Arger haben werden«, sagte er. »Eines Tages wird das Ausmaße annehmen, denen weder mit Glück noch mit Mut beizukommen ist.«
... Cooper schreibt, daß D. LaMotte im Gefängnis sitzt. Am Samstag griff er anscheinend ohne jede Provokation einen Farbigen der freiwilligen Feuerwehr an, worauf ihn die Behörden einsperrten. C. meinte, in letzter Zeit habe er so seine Zweifel über LaMottes Bereitschaft gehabt, seinen Drohungen Taten folgen zu lassen. Diese Zweifel seien nun zerstreut. Für eine Weile haben wir nun jedoch, um C.s Ausdruck zu gebrauchen, >einen Aufschub gewonnen.
Der Schuß aus dem Cheyenne-Gewehr zerfetzte das linke Auge von Holzfuß' Pferd. Unter einer Blutfontäne stürzte der Händler in das windgepeitschte Gras. Charles war bereits aus dem Sattel. Er schnappte sich seine Spencer und schickte Satan mit einem Klaps davon. Boy, von dem plötzlichen Angriff erregt, versuchte vergeblich vom Pferd aus die Packmulis unter Kontrolle zu halten.
»Runter, runter von deinem Pferd«, brüllte Charles. Die Cheyenne trieben ihre Ponys den Hügel hoch. Eine Kugel zupfte an Charles' Hutkrempe; der Hut segelte davon. Wieder schrie er Boy an, doch das Geheul der Indianer und der Lärm von den Mulis löschten seine Worte aus. Nach ein paar Sekunden verstand Boy den Ausdruck auf Charles' Gesicht und rutschte ungeschickt zu Boden.
Holzfuß kniete nieder und schoß auf die Cheyenne, die sich dem Hügelkamm näherten. Er verfehlte. Charles feuerte, als der Krieger neben Narbengesicht eine gefiederte Lanze schleuderte. Charles duckte sich. Seine Kugel fegte den Indianer aus dem Sattel.
Überall herrschte Lärm und Verwirrung. Ein paar Meilen weiter im Westen schlugen Blitze aus den sich nähernden Sturmwolken in die trockene Prärie.
Boy schrie auf. Charles sah, wie er taumelte, seinen rechten, sich rot verfärbenden Ärmel umklammerte. Eine Lanze hatte ihn geritzt. Schmerz und Verwirrung ließen ihm die Tränen übers Gesicht laufen.
Holzfuß brüllte: »Hinter dir, Charlie!« und feuerte fast gleichzeitig sein langes Gewehr ab. Charles wirbelte herum und sah einen berittenen Cheyenne vor sich, der ihn gerade mit einer Kriegskeule niederschlagen wollte. Charles schoß auf das rotgemalte Gesicht, war aber nicht schnell genug, um den Schlag zu stoppen. Die Keule hämmerte auf seine Schulter mit einer Wucht, die ihn zur Seite warf. Der Cheyenne sackte vom Pferd, sein Gesicht eine einzige blutige Masse.
Die Sturmwolken schoben sich über sie, als würde sich ein Augenlid über der Welt schließen. Donner grollte. Blitze zuckten. Der Westwind trug den Geruch von Rauch heran. Er sah, wie Narbengesicht vom Pferd aus mit seiner Lanze nach Holzfuß stach.
Die Cheyenne drängten ihre Ponys dicht heran, allerdings schon mit etwas weniger Begeisterung, da einige von ihnen bereits gefallen waren. Holzfuß wich zurück; Narbengesichts Stoß ging daneben. Wieder stieß er zu. Der Händler packte sein Gewehr mit beiden Händen und wehrte damit die Lanze ab. Sein Gesicht war heftig gerötet.
Charles lud die Spencer durch, zielte auf Narbengesicht und drückte ab. Das Gewehr hatte Ladehemmung.
Ein anderer Cheyenne ritt heran und rammte seine Lanze in Charles' rechten Arm. Er ließ die Spencer fallen, riß sein Bowiemesser heraus und stieß dem Indianer die Klinge in die Seite. Der Indianer kreischte auf und fiel nach vorn über den Hals seines Ponys. Das Pferd raste mitsamt dem Indianer und dem herausragenden Messer davon.
Narbengesicht, wild entschlossen, Holzfuß endgültig den Garaus zu machen, trieb sein Pony wieder heran. Geschickt blockte Holzfuß seine Stöße mit dem Gewehr ab, doch er mußte dem Kampf allmählich Tribut zollen. Seine Wangen waren so dunkel wie Pflaumen.
Vorübergehend sah Charles keinen Gegner vor sich. Gleich darauf erkannte er den Grund. Drei Cheyenne stürzten sich auf die Maultiere und Boy. Weinend schlug der Junge nach ihnen, so als würde er Fliegen klatschen. Ein Krieger sprang vom Pferd und packte Boy. Wie von der Feder geschnellt sprang Fen aus seinem Versteck im Gras. Die Kiefer des Collies schlossen sich um den Unterarm des Cheyenne. Ein anderer Indianer schlug mit seinem Gewehrkolben auf den Hund ein.
Inmitten des Sturms und des Aufflammens der weißen Blitze stieß Holzfuß einen merkwürdig erstickten Schrei aus. Charles, der seinen Colt zog und sich duckte, als ein Cheyenne auf ihn schoß, sah seinen Partner taumeln und in das hohe Gras sinken. Holzfuß keuchte, als bekäme er nicht genügend Luft. Er zerrte an seinem perlengeschmückten Hemd, als wollte er etwas herausreißen.
Charles erinnerte sich, daß er das Gesicht von Holzfuß schon ähnlich verfärbt gesehen hatte. »Es ist nichts.« Doch es war was: ein Herzanfall, ausgelöst durch die gewaltige Belastung des Angriffs.
Narbengesicht hielt sein Beil in der hoch erhobenen Hand. Charles feuerte, gerade als Narbengesichts Pony wegtänzelte. Die Kugel verfehlte ihr Ziel und traf das Beil. Charles sprang vor Holzfuß, um erneut zu schießen. Tief geduckt jagte Narbengesicht sein Pony den Hang hinunter.
Blut sickerte aus Charles' Wunde. Er brüllte vor Frustration auf, ein wortloser, rauher Wutschrei, weil er von zwei Dingen gleichzeitig in Anspruch genommen wurde: Holzfuß, der mit beiden Händen an seinem Hemd zerrte und Luft in die Lungen zu bekommen versuchte, und drei Cheyenne zu Fuß, die Boy hinter den nächsten Hügelkamm schleppten. Fen jagte hinter ihnen her; Schaumflocken flogen von seinem Maul. Holzfuß' Finger rissen Perlen von seinem Hemd; sie glänzten und funkelten unter den aufflammenden Blitzen.
Beiden konnte Charles nicht helfen. Er entschied sich für Holzfuß, der ihm näher und zudem unmittelbar vom Tode bedroht war.
Holzfuß schwankte nach hinten. Charles fing ihn mit der linken Hand auf, während er mit der Rechten auf den nächsten Cheyenne feuerte. Wegen der Wunde zitterte und pochte sein Revolverarm. Die Kugel verfehlte ihr Ziel um einige Meter.
Die Cheyenne würden sie fertigmachen, also konnte Charles nichts weiter tun, als kämpfend unterzugehen. Er kniete nieder und schob sein Knie unter den durchsackenden Rücken seines Partners. Der Händler stemmte sich dagegen; seine Augen waren weit geöffnet, seine Hände fielen schlaff herab. Hilflos mußte Charles zusehen, wie alle Farbe aus seinem Gesicht wich.
Holzfuß erkannte seinen Partner. Er versuchte Charles zu berühren, bekam aber die Hand nicht mehr hoch. Hinter dem Hügelkamm hörte Fen plötzlich auf zu bellen, jaulte dann noch einmal auf.
Charles brachte sein Ohr nahe an Holzfuß' Mund. Er glaubte ein »Danke für alles« zu verstehen. Ein blendender Blitz löschte alles andere aus. Als er wieder etwas erkennen konnte, wären ihm beinahe die Tränen gekommen. Holzfuß' Augen standen noch offen, aber kein Leben war mehr in ihnen.
Hinter dem Hügelkamm tauchten die drei Indianer wieder auf und fingen ihre Pferde ein. Dann trotteten sie auf Narbengesicht zu, der an der Stelle auf sie wartete, wo Charles die Indianer zuerst gesehen hatte.
Charles raste auf den Fleck zu, wo Boy verschwunden war. Der Sturm fegte ihm Gras und Erde in die Augen. Als Narbengesicht sah, daß sich Charles von Holzfuß' Leiche entfernte, gab er seinen restlichen Kriegern ein Zeichen; sie ritten auf die Stelle zu.
Charles kam an zwei Packmulis vorbei, die an ihren Schußwunden verbluteten. Wieder zuckten Blitze auf. »Boy?« brüllte er und kämpfte sich mit vor Schwäche zitternden Beinen den Hügel hoch. »Boy, gib Antwort!«
Die einzige Antwort war ein Blitzschlag. Gras rauchte, glühte orangefarben auf, dann schlugen Flammen empor. Allmächtiger, das Ende der Welt, dachte Charles, während er den Hang hinab auf ein ausgetrocknetes Flußbett zustolperte. Auf seiner Seite glänzte niedergetrampeltes Gras feucht und schwarz. Mitten in dem Blut lag etwas, was so formlos wie ein Kartoffelsack war.
Über den Hügel hinter ihm zuckte ein Wall von Flammen, scharlach, orange, weiß. Der Wall breitete sich nach allen Seiten aus. In Texas hatte er einmal ein ähnliches Präriefeuer erlebt, das vierzig Quadratmeilen zerstört hatte.
Er erreichte das formlose Ding und starrte hinunter; der Schock hatte jedes Gefühl in ihm abgetötet. Boy lag da, sein jämmerlich deformierter Kopf ruhte in dem trockenen Flußbett. Ein Messer hatte ihn von der Kehle bis zum Bauch aufgeschlitzt. Aus der Brusthöhlung, in der es bereits von Fliegen wimmelte, ragten die Überreste von Fen. Ein Bein, dessen Knochen aus dem Fell schaute; ein Teil der Schnauze und des Schädels, einschließlich eines Auges. Andere Teile lagen verstreut im Gras.
Charles starrte höchstens fünf Sekunden auf das Gemetzel, aber es hätte genausogut auch ein Jahrhundert sein können.
Schließlich wandte er sich ab und mühte sich wieder den Hügel mit der dahinter lodernden Feuerwand hoch. Holzfuß tot, Boy tot. Der nächste werde ich sein, aber ich muß diesen nar-bengesichtigen Bastard mitnehmen.
Von dem Kamm aus sah er Narbengesicht und fünf andere in einiger Entfernung auf ihren Ponys sitzen; die wehenden Rauchfahnen ließen sie verschwinden und wieder auftauchen. Die Cheyenne hatten ihre ursprüngliche Position leicht nach Süden verlagert. Trotz des Rauches konnte Charles einen neuen Ausdruck auf ihren Gesichtern erkennen: Bedenken oder zumindest gewisse Zweifel. Das Feuer hatte sich bereits den halben Hang hochgearbeitet, auf dessen Kamm die Jackson Trading Company ihren letzten vergeblichen Kampf gekämpft hatte.
Der Schweiß tropfte ihm vom Gesicht, als er auf die Stelle zustolperte, wo er Holzfuß zurückgelassen hatte. Das ist Sharps-burg, noch einmal von vorn, dachte er. Das ist das nördliche Virginia, wieder und wieder.
Hinter dem Rauchvorhang lächelte Narbengesicht. Charles fragte sich, warum, während er sich Holzfuß' Leiche näherte. Als er hinabschaute, begann er zu würgen.
Von aller Kleidung entblößt lag der bleiche Körper seines Partners da. Ein rotes Loch zwischen den Beinen war mit Fliegen übersät. Die blutigen Genitalien hatten sie ihm in den Mund gestopft. Auf die Augen hatten ihm die Cheyenne kleine Berge von Perlen gehäuft, die im Feuer funkelten.
»Ihr Bastarde«, brüllte Charles. »Ihr dreckigen, unmenschlichen Bastarde.«
Narbengesicht hörte auf zu lächeln. Charles richtete den Colt auf den Cheyenne-Führer, versuchte ihn mit beiden Händen ruhig zu halten. Der Rauch wurde dichter, verbarg Narbengesicht und die anderen. Charles gab einen Schuß ab. Noch einen. Und noch einen. Bis die Trommel leer war.
Hinter dem Rauch und dem Feuer war mittlerweile von den Cheyenne nichts mehr zu sehen. Um Charles zu erreichen, mußten sie entweder durch das Feuer oder einen großen Bogen schlagen. Böiger Wind fauchte durch seine Haare. Das tobende Feuer am Hang erleuchtete sein verzerrtes Gesicht, als wäre es heller Tag.
Wieder teilte sich der Rauchvorhang. Die Cheyenne waren immer noch da. Keiner von Charles' Schüssen hatte getroffen. Narbengesicht trieb die anderen mit einem Zeichen nach vorn.
Ein Cheyenne nach dem anderen schüttelte den Kopf. Sie hatten keine Lust mehr, den tobenden Irren auf dem Hügelkamm, geschützt von einer Wand aus Feuer und Rauch, anzugreifen. Auch wenn sie seine Worte nicht verstanden, so begriffen sie doch deren Bedeutung: »Los, kommt, zeigt mal, wie tapfer ihr seid! Ihr habt einen alten Mann und einen Jungen und einen Hund getötet. Zeigt mal, was ihr mit mir anfangen könnt!«
Einer der widerstrebenden Cheyenne schüttelte wieder den Kopf, diesmal sehr nachdrücklich. Das mißfiel Narbengesicht. Er griff nach dem letzten Mann. Der Cheyenne schlug Narbengesichts Hand beiseite, zog sein Pferd herum und ritt in die stürmische Finsternis hinein. Vier andere folgten ihm nacheinander. Allein gelassen warf Narbengesicht Charles einen verächtlichen Blick zu, bevor er sich dem allgemeinen Rückzug anschloß.
»Kommt zurück, verdammt noch mal. Ihr feigen Hundesöhne!« Alle Kraft verließ ihn, als die Flammen erneut hochschlugen und die Indianer verbargen. Charles brüllte Narbengesicht nach: »Du verdienst es, von dieser Erde weggefegt zu werden, du und dein ganzer Stamm. Ich werde einen Weg finden, darauf kannst du dich verlassen.«
Kannst du dich verlassen ... kannst du dich verlassen ...
Er drehte sich um. zog sich vor der Hitze und dem Feuerschein ein Stück zurück. In seiner linken Hand baumelte Holzfuß' Satteltasche; er konnte sich nicht erinnern, sie vom toten Pferd seines Partners gerissen zu haben.
Die Sturmfront zog weiter nach Osten, nun schon Meilen entfernt. Ein leichter Regen setzte ein, nicht heftig genug, um das Feuer zu löschen. Charles taumelte zwischen den toten Mulis herum, um zu sehen, was er sonst noch retten konnte. Zwei Mulis waren noch unverletzt am Leben. Ihre Zügel in der Linken, kämpfte er sich wieder den Hang hoch.
Das Feuer stoppte ihn. Die große, scharlachfarbene Wand umkurvte nun den Haupthügel und zog sich nach rechts bis zu dem Flußbett hinunter, an dem Boy und Fen gestorben waren. Während er zusah, verschlang das Feuer vollständig den Hügel, auf dem Holzfuß' Leiche lag.
Er konnte sie nicht einmal beerdigen.
Tränen des Zorns liefen ihm übers Gesicht.
Durch einen Glücksfall fand Charles seinen Schecken ungefähr zwei Meilen nordöstlich von dem Feuer. Er ritt auf einem der beiden Maultiere und zog das andere hinter sich her. Ein breiter Stoffstreifen, den er aus seinen Hosen gerissen und mit einem Stock zusammengedreht hatte, hatte die Blutung an seinem rechten Arm gestoppt. Die Wunde schmerzte und mußte versorgt werden, war aber nicht sehr gefährlich. Als er auf Satan traf, der wie aus Stein gehauen dastand, wechselte er in dessen Sattel über und ritt weiter nach Norden, seine Emotionen eine zuckende Masse aus Kummer und Wut. Bei Einbruch der Dunkelheit schlug er sein Lager auf. Er machte ein kleines Feuer und kaute dann ein bißchen Pemmikan aus seiner eigenen Satteltasche. Zwei Bissen, und sein Magen schmerzte. Vier Bissen, und alles kam wieder hoch.
Nach dem Sturm klarte der Himmel auf. In der kalten Brise unter den leuchtenden Sternen krümmte er sich zitternd zusammen. Mit klammen Fingern öffnete er Holzfuß' Satteltasche. Er fand die Töpfe mit den Farben und die zusammengerollte Winterbilanz. Er löste den Riemen und breitete sie vor seinen Füßen aus.
Obwohl er sich den Grund dafür nicht erklären konnte, trieb ihn etwas dazu, den Versuch zu unternehmen, sie zu vollenden. Er öffnete den Topf mit der schwarzen Farbe, befeuchtete den Pinsel und tauchte ihn ein.
Er studierte die verschiedenen Bilder, auch das mit der Zufluchtstätte im Büffelhut-Tipi. Wie er doch diesen Vorfall mißverstanden hatte. Er hatte ihn fälschlicherweise glauben lassen, die Cheyenne seien des Mitgefühls fähig. Das waren sie nicht. Nur die Heiligkeit des Objektes, des Hutes, hatte die Händler gerettet. Die Cheyenne haßten alle Weißen, ganz egal, ob sie einen Grund dafür hatten. Sie besaßen keine Gründe, die ausreichend gewesen wären, die Barbarei zu rechtfertigen, die er gerade erlebt hatte. Sie haßten einfach die Weißen. Auf die gleiche Weise, wie er nun jeden einzelnen von ihnen haßte.
Mühsam malte er drei sehr grobe Strichmännlein, aber die Flecken und Klumpen häuften sich. Schließlich warf er den Pinsel ins Feuer, dann die Farben. Er faßte das Panorama an den Ecken und studierte der Reihe nach jedes Bild, bis jeder Impuls zu weinen aus ihm herausgebrannt war. Er trauerte im-mer noch, aber die Trauer hatte sich verhärtet. Sein eigenes Leben, das wiederaufzubauen er sich im vergangenen Winter so viel Mühe gegeben hatte, war so schnell und sicher vernichtet worden wie das Gras in der Bahn des Präriefeuers.
Sharpsburg, noch einmal von vorn.
Der Norden Virginias, wieder und wieder.
Nichts ändert sich.
Jesus Christus!
Er legte die Winterbilanz auf das Feuer und sah zu, wie sie verbrannte. Sie wollen töten. Das können sie haben, dachte er. Ich verstehe mehr vom Töten als sie. Ich hatte fünfhunderttausend erfahrene Lehrer.
Die Figuren des Panoramas färbten sich schwarz und verbrannten, während er sich jedes einzelne Bild einzuprägen suchte.