Du und ich, wir gehen heute beide heim auf einem Weg, den wir nicht kennen.
Crow-Scout zu General Custer kurz vor Little Big Horn 1876
Charles zog Satans Sattelgurt an. Der Schecke stampfte und warf den Kopf hoch. Er war ausgeruht und voller Tatendrang.
»Leb wohl, Willa.«
Zitternd in einen Schal gehüllt - das Januartauwetter war vorüber -, war sie mit ihm durch die nächtlichen Straßen zum Stall gegangen. Eine Hure und deren Kunde, fast so betrunken, daß er nicht mehr stehen konnte, waren die einzigen menschlichen Wesen, die sie gesehen hatten. Eine Laterne brannte neben der Stalltür. Vom Fluß her stieg schwerer, kalter Bodennebel auf.
»Wie lange wirst du weg sein?« fragte sie.
»Bis ich meinen Jungen gefunden habe.«
»Du sagtest, sie hätten bereits die Spur von dem Entführer verloren. Es kann sehr lange dauern.«
»Das ist mir egal. Ich finde ihn, und wenn es fünf Jahre dauert. Oder zehn.«
Sie wäre beinahe in Tränen ausgebrochen, als sie sah, wie sehr er litt. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und küßte ihn, so fest sie konnte; sie umklammerte seine Arme durch den Zigeunermantel hindurch, als könnte sie ihm so Kraft schenken. Er konnte sie gebrauchen. Unausgesprochen hing die Möglichkeit in der Luft, daß Bent mit dem Jungen bereits das getan hatte, was er mit George Hazards Frau gemacht hatte.
»Komm zu mir zurück, Charles. Ich werde einen Platz für uns finden.«
Er antwortete nicht, sondern schwang sich in den Sattel und schaute sie einen Moment lang auf eine seltsame, traurige Art und Weise an. Mit seiner linken Hand berührte er ihre Wange. Dann drückte er Satan die Absätze in die Flanken, und Mann und Pferd schossen aus dem Stall in Nebel und Dunkelheit hinein und waren verschwunden. Mit leerem Blick starrte sie ihnen nach.
Sie blies die Laterne aus, schloß das Tor und ging die acht Blocks zu ihrem Hotel zurück, ohne auf mögliche Gefahren zu achten. Ein Gedanke kreiste in ihrem Kopf, wie eine dieser Dialogzeilen, über die ein Schauspieler endlos nachdachte, weil sie so schwierig zu sprechen oder zu interpretieren waren.
Warum hatte er nicht gesagt, daß er zurückkommen würde?
Schuldgefühle und ein Nervenzusammenbruch hatten Maureen ins Bett gezwungen. Eine Opiumtinktur hielt sie in einem benebelten Zustand. Charles konnte sie durch die offene Tür sehen, während er Rühreier mit einem Biskuit in sich hineinschaufelte. Duncan, der Uniformhosen mit Hosenträgern über einem langen Unterhemd trug, hatte die Rühreier zu lange auf dem Herd gelassen, so daß sie eine braune Kruste bekommen hatten. Charles bemerkte es gar nicht.
Sie waren die Geschichte unzählige Male durchgegangen, aber Duncan schien entschlossen, es noch einmal zu tun, als suche er immer noch nach einer Erklärung.
»Nur ein Verrückter kann auf die Idee kommen, ein Kind am helllichten Tag aus einem belebten Militärposten zu entführen.«
»Ich sagte dir ja schon, genau das ist er. Damals in Camp Cooper machten die anderen Offiziere der Zweiten Kavallerie Witze darüber, daß Bent sich für einen neuen Napoleon hält. Haben Napoleons Feinde ihn nicht ebenfalls als verrückt bezeichnet? Als Teufel? Ein gewöhnlicher Mann würde und könnte nicht tun, was er getan hat. Ich unterschätze ihn nicht.«
Duncan spannte seinen Hosenträger mit dem linken Daumen. Das graue Haar fiel ihm in die Stirn. Er wandte sich dem Schlafzimmer zu; Maureen hatte in ihrem unruhigen Schlaf aufgeschrien. Es war wenige Minuten vor Mitternacht.
»Ich muß schon sagen, du nimmst das alles recht gelassen.« Duncan war erschöpft, was seine Stimme schärfer als beabsichtigt klingen ließ. »Es geht um deinen Sohn, nicht um irgendeine befestigte Hügelstellung, die verlorengegangen ist.«
Charles riß an der Unterseite des Tisches ein Streichholz an und hielt es an den Zigarrenstummel zwischen seinen Zähnen. »Was soll ich deiner Meinung nach tun, Jack? Herumtoben? Das hilft mir nicht bei der Suche nach Gus.«
»Du hast wirklich vor, Bent selber aufzuspüren?«
»Glaubst du, ich sitze hier rum und warte darauf, daß er mir einen Brief schreibt und mitteilt, was er Gus angetan hat? Ich glaube, er will so viele Hazards und Mains leiden lassen, wie er nur kann. Ich muß ihn finden.«
»Wie? Er kann sich auf Tausenden von Quadratmeilen verstecken.«
»Ich weiß nicht, wie ich es anstellen werde - ich werde es schaffen.«
»Ich glaube, es ist einfach nur vernünftig, die - die Möglichkeit in Erwägung zu ziehen, daß Bent vielleicht bereits ...«
»Sei still, Jack.« Charles war weiß. »Ich weigere mich, an diese Möglichkeit auch nur zu denken. Gus lebt.«
Duncans Blick irrte ab, voller Elend, voller Zweifel.
»Ja, er hat mir den Wagen und das Maultier verkauft«, sagte Steinfeld, ein lebhafter kleiner Mann, dem einer der Mietställe in Leavenworth City gehörte. »Das heißt, nach einigem Gefeilsche einigten wir uns auf ein Tauschgeschäft. Zwei Pferde, Kavallerieersatz, aber stark und ausdauernd, gegen seinen Wagen und sein erschöpftes Maultier. Die Blechtöpfe gab er noch dazu. Ich habe sie meiner Frau geschenkt. Er hatte nicht viel, nur das, was am Kutschbock hing.«
»Ich nehme an, mehr brauchte er auch nicht«, sagte Charles. »War der Junge bei ihm?« Steinfeld nickte. »Was haben Sie sonst noch bemerkt?«
»Er war sehr höflich. Ein gebildeter Mann. Er schien irgendwie schief zu sein.« Steinfeld senkte leicht seine linke Schulter. »Das heißt verkrüppelt. Vielleicht eine Kriegsverletzung? Außerdem fiel mir sein umfassender Wortschatz auf und der Perlenohrring, den er trug. Sehr eigenartig für einen Mann, solch einen Schmuck zu tragen, finden Sie nicht auch?«
»Nicht, wenn er Sie damit von anderen Dingen ablenken wollte. Ich danke Ihnen, Mr. Steinfeld.«
Steinfeld trat einen Schritt zurück, fort von einem Zorn, der so kalt war, daß er zu brennen schien.
Von Steinfeld kaufte Charles ein Ersatzpferd, eine rotbraune Fuchsstute, drei Jahre alt. Steinfeld versicherte, daß sie die nötige Ausdauer für lange Ritte besitze.
Charles packte Lebensmittel und Munition zusammen und verließ Leavenworth in einem heftigen Schneesturm. Er schlug die logische Richtung nach Westen ein und stoppte in Secon-dine, Tiblow, Fall Leaf, Lawrence. Überall stellte er Fragen. Bent war gesichtet worden, doch niemand hatte den Ohrring bemerkt. Zwei Leute erinnerten sich an einen Jungen mit lockigem, dunkelblondem Haar. Ein Cafébesitzer in Lawrence, der Bent ein Büffelsteak serviert hatte, sagte, der Junge habe erschöpft ausgesehen und kein Wort gesprochen. Er habe auch nichts gegessen; das heißt, Bent habe ihm nichts gegeben.
Charles, der abwechselnd Satan und die Fuchsstute ritt, stieß durch die von dem Sturm zurückgelassenen Schneewehen weiter nach Westen vor. Er überholte einen Zug mit Schneepflug, der zu beiden Seiten der Lokomotive gewaltige weiße Fächer aufschleuderte. Buck Creek, Grantville, Topeka, Silver Lade, St. Mary's.
Nichts.
Wamego, St. George, Manhatten, Junction City.
Nichts.
Doch in Junction City hörte er, daß Colonel Grierson in Fort Riley überwinterte. Abteilungen des Zehnten Regiments verteilten sich auf Städte und Dörfer entlang der Eisenbahnlinie, die sich nun über mehr als vierhundert Meilen bis nach Sheridan hinzog, einem winzigen Örtchen nahe der Grenze zu Colorado. Im Spätsommer waren die Arbeiten eingestellt worden; alle Arbeiter waren ausbezahlt und entlassen worden, bis die Bahnlinie eine Geldinfusion in Form einer neuen Regierungssubvention erhielt. Aller Ruhm und Glanz konzentrierte sich nun auf die Union Pacific und die Central Pacific, die irgendwo westlich von Denver aufeinanderstoßen würden, sobald sich das Wetter gebessert hatte.
Charles ritt weiter. Der Schnee ging in Eisregen und dann in Regen über. Er schlief unter freiem Himmel oder in der Ecke eines Stalles, wenn er nichts dafür bezahlen mußte. Kansas Falls, Chapman Creek, Detroit, Abilene. Die Viehstadt hatte im Winter so gut wie dichtgemacht, doch stieß er dort wieder auf die Fährte. Ein Mann, auf den Bents Beschreibung paßte, hatte in Asher's General Store Mehl, Speck und Zwieback gekauft.
Asher war zufällig auch noch gelegentlich Hilfssheriff. Ein Bericht über die Entführung war an jeden Sheriff im Staat durch-gegeben worden. Als Asher Bent bedient hatte, war von einem Kind nichts zu sehen gewesen, doch Bent war ihm entsprechend der Beschreibung sofort aufgefallen. Asher hatte seinen Revolver unter dem Ladentisch hervorgeholt und ihn verhaftet. Bent hatte die Hände gehoben. Als Asher hinter dem Ladentisch hervortrat, packte Bent einen Spaten und schlug ihm die Schaufel über den Kopf. Die einzigen anderen Leute im Laden waren zwei schachspielende Männer, die nicht reagierten. Bent war hinausgerannt und in Abilene nicht mehr gesehen worden.
»Knappe Sache«, sagte Asher zu Charles.
»Knapp ist nicht gut genug. Niemand hat meinen Jungen gesehen?«
Asher schüttelte den Kopf.
Solomon, Donmeyer, Salina, Bavaria, Brookville, Rockville, Elm Creek. Wenn er ungeduldig wurde, brauchte Charles nur daran zu denken, was er zu Beginn dieses Rittes beschlossen hatte. Es war besser, langsam und methodisch vorzugehen und Bent zu erwischen, als in der Eile etwas zu übersehen und ihn so zu verlieren.
Aber auch so schaffte er es selten, mehr als zwei Stunden pro Nacht zu schlafen. Entweder die Nerven rissen ihn aus dem Schlaf oder dann Alpträume oder das brodelnde Fieber, das die häufige Unterkühlung mit sich gebracht hatte. Bald schon zitterte er am ganzen Leib und stolperte wie ein Halbtoter durch die Gegend; sein bis auf Brustmitte gewachsener Bart war voll von Zwiebackkrümeln und winzigen Fetzen der grünen Außenblätter seiner billigen Zigarren. Seine Augen schienen in seinem Schädel verschwunden zu sein und hatten statt dessen nur die Illusion von zwei dunklen Löchern zurückgelassen. Er roch so übel und sah so schlimm aus, daß anständige Leute ihm in den Städten, die er besuchte, um seine Fragen zu stellen, aus dem Weg gingen.
Und immer wieder die gleichen Antworten, die ihn langsam wahnsinnig machten.
»Nein, niemand, auf den die Beschreibung paßt, ist hier durchgekommen.«
»Nein, hab' ich nicht gesehen.«
»Nein, tut mir leid.«
Es war Anfang März, als er nach Ellsworth kam. Dort nahm er die Fährte wieder auf, als wäre es ihm vorbestimmt.
»Er hat hier übernachtet, ebenso wie sein Neffe, ein hübsches Kind, aber vollkommen erschöpft und halb krank, das kleine Lämmchen.« Sie war eine gewaltige, warmherzige Frau mit großen rosa Schinken als Unterarme, freundlichen Augen und dem Akzent der English Midlands. »Ich habe ihnen mein kleinstes Zimmer gegeben, und am nächsten Morgen hat er zusammen mit meinen Pensionsgästen gefrühstückt. Ich erinnere mich daran, weil er unhöflicherweise seinen Zylinder am Tisch aufbehielt. Er wiederholte mehrmals, daß er ins Indianerterritorium gehen würde. Der Junge blieb oben. Der Mann sagte, er sei zu krank, um was zu essen, aber er sah mir nicht danach aus. Der Mann kam mir reichlich komisch vor. Ich hatte das Gefühl, er wolle auffallen. Ein paar Stunden nach seinem Aufbruch bin ich zum Marshall gegangen, und der Marshall sagte mir, der Mann werde gesucht, weil er den Jungen entführt hat. Der verdammte Bösewicht!«
Ein Junge, den Charles am Fluß traf, bestätigte ihre Geschichte. Charles ritt weitere zwanzig Meilen nach Süden, bevor er anhielt. Er blieb auf der Fuchsstute sitzen, in der Mitte eines kleinen Baches, der wegen der Schneeschmelze über seine Ufer getreten war. Die Pferde tranken durstig. Es regnete leicht; weit im Westen tauchte blauer Himmel zwischen den Wolken auf.
Charles dachte über die Situation nach. Jenseits des Cimar-ron, wo das Indianerterritorium begann, lagen Tausende von Quadratmeilen unerforschter Wildnis. Ein Mann riskierte sein Leben, wenn er sich allein da hineinwagte. Ein weiterer Beweis für Bents Wahnsinn, daß er da mit einem Kind eindringen wollte.
Natürlich konnte Bent in der Pension seine Geschichte auch nur aus Gründen der Täuschung erzählt haben. Vielleicht hatte er den Smoky Hill überquert und war dann gleich wieder zurückgekehrt. Aber irgendwie glaubte Charles das nicht. Bent hätte gleich nach Verlassen von Leavenworth untertauchen können, wenn er das vorgehabt hätte. Statt dessen hatte er stets gerade genug Spuren hinterlassen, um Charles auf seiner Fährte zu halten.
Vielleicht hatte Bent in Ellsworth mit seinem Ziel in der Annahme geprahlt, Charles würde jede weitere Verfolgung als zu gefährlich aufgeben. Vielleicht hatte Bent den Faden nur deshalb so lange abgespult, um ihn jetzt zu durchschneiden und lachend davonzureiten. Wenn er damit rechnete, dann hatte er sich getäuscht. Charles würde weiterreiten.
Allerdings nicht allein.
»Vergeltung auf Kosten eines Kindes?« sagte Benjamin Grierson. »Das ist unvorstellbar.«
»Das paßt genau zu Bent.« Charles saß auf einem harten Stuhl im Büro des Hauptquartiers des Zehnten Regiments in Fort Riley. Alle Knochen taten ihm weh. Er war zu krank, um viel mehr als eine leichte Sentimentalität über diese Art von Heimkehr zu empfinden.
Colonel Grierson sah hagerer und grauer aus; die Anstrengungen des Präriedienstes machten sich bemerkbar. Doch Charles war noch nicht ganz eingetreten, da hatte er schon gesagt, daß das Regiment seine Erwartungen erfüllt und sogar übertroffen hatte. Jetzt sagte er: »Was für Hilfe benötigen Sie? Jeder Mann in Barnes Truppe würde gern für Sie eintreten wegen dem, was man mit Ihnen gemacht hat. Ich ebenfalls. Wir haben nicht so viele gute Offiziere. Sie waren einer der besten.«
»Danke, Colonel.«
»Sie haben von Präsident Johnsons Weihnachtsamnestie gehört? Sie sind jetzt kein Rebell mehr, Charlie. Sie könnten zurückkommen.«
»Niemals.«
Darin lag eine derart grimmige Endgültigkeit, daß Grierson sofort sagte: »Also, was für Hilfe brauchen Sie?«
»Zwei Männer, die bereit sind, mir beim Spurensuchen zu helfen. Um fair zu sein, Colonel, ich würde mit ihnen nach Süden gehen.«
»Wie weit? Südlich vom Arkansas?«
»Falls Bent dahin geht.«
»Bei Medicine Lodge hat die Regierung versprochen, unautorisierte weiße Personen vom Territorium fernzuhalten. Wilde Landvermesser, Whiskyhändler - die Armee sorgt dafür, daß dieses Versprechen eingehalten wird.«
»Ich weiß. Dieses Verbot könnte der Grund sein, daß Bent sich im Territorium verstecken möchte.«
»Sie sind auf sich allein gestellt, wenn Sie dort erwischt werden.«
»Selbstverständlich.«
»Wen immer Sie mitnehmen, Sie müssen ihnen zuerst sagen, wohin Sie gehen.«
»Einverstanden.«
»Sind Sie sicher, daß Bent dort ist?«
»So sicher man bei einem Mann mit derart verrückten Impulsen sein kann. Ich vermute, daß Bent sich bei den Cheyenne und Arapahoe und den abtrünnigen Händlern verstecken will, weil sich dort niemand um ihn kümmert, außer sie bringen ihn um.«
»Was durchaus der Fall sein kann. Eure verfluchte Expedition zum Washita hat alles in Aufruhr versetzt. Sheridan hat den ganzen Winter daran gearbeitet, die Stämme so weit einzuschüchtern, daß sie vor der Regierung kapitulieren. Jetzt hat er die eine Hälfte der Indianer soweit, daß sie am Verhungern sind und auf seine Bedingungen eingehen wollen, während die andere Hälfte vollends blutdürstig geworden ist. Carr und Evans sind noch draußen im Einsatz. Custer ebenfalls. Er operiert von Camp Wichita aus.«
Charles mußte das erst einmal verdauen. Das Camp lag östlich der Berge gleichen Namens, tief im Territorium.
»Als Folge davon kann niemand sicher sein, wo sich die Hundekrieger verborgen haben. Sie bleiben in Bewegung, um den Truppen auszuweichen. Westlich der Berge sind sie sogar bis nach Texas vorgedrungen, wie wir gehört haben. Weder Sie noch die Armee können wissen, wo sie wieder auftauchen werden.«
»Ich werde daran denken.« Charles betastete das Messingkreuz, das an einem Lederriemen über seinem Zigeunermantel hing. Das Wetter hatte das Messing fast schwarz werden lassen; er hatte sich nicht die Mühe gemacht, Grierson über den eigenartigen Schmuck aufzuklären. Charles machte nicht den Eindruck eines Mannes, der plötzlich religiös geworden war, doch seine Finger spielten weiter mit dem Kreuz. »Noch eins, Colonel. Am Washita, das war nicht meine Expedition.«
»Sie meinen, Sie haben sie nicht geplant.«
»Ich bedaure, daß ich dort war. Ich habe die Zeitungen gesehen. Ich habe gelesen, was General Sheridan über Schwarzer Kessel gesagt hat. Eine verbrauchte alte Null. Der Anführer aller Mörder und Vergewaltiger. Eine dreckige Lüge. Ich weiß Bescheid.«
Grierson machte keine Einwände. »Wen möchten Sie?«
»Corporal Magee, wenn er möchte. Graue Eule, wenn Sie auf ihn verzichten können.«
»Nehmen Sie die beiden mit«, sagte Grierson.
Fort Hays war ein primitiver Posten geblieben, einer der ärmlichsten in Kansas. Ike Barnes hatte hier in scheußlichen Quartieren überwintert, Hütten mit Steinkaminen, von denen der Mörtel bröckelte. In Magees Sechs-Mann-Schuppen war das Grasdach so schwach, daß er und die anderen eine Ersatzzeltbahn daruntergespannt hatten, um herabfallenden Dreck, schmelzenden Schnee und gelegentlich eine Klapperschlange aufzufangen.
Eines späten Abends, nachdem die Lichter gelöscht worden waren, saß Magee auf seinem schmalen Feldbett inmitten des allgemeinen Geschnarches. Mit einem Lumpen rieb er Rostflecken vom Lauf einer alten deutschen Steinschloßpistole vom Kaliber .35. Er hatte die Pistole für drei Dollar gekauft, nachdem er lange eine derartige Waffe gesucht hatte. Aus Lederfetzen hatte er einen Pulverbeutel genäht, der nun neben ihm auf der Decke lag, zusammen mit fünf runden, bleifarbenen Kugeln, die genau in die Pistolenmündung paßten.
Er polierte so eifrig, daß er kaum darauf achtete, wie die Tür aufging; zusammen mit einem Regenschauer kam First Sergeant Williams in tropfendem Poncho herein.
Einer der Schläfer richtete sich auf. »Schließ die verfluchte Tür! Oh, Sarge, 'Tschuldigung.« Er legte sich wieder hin.
Die heruntergeschraubte Lampe ließ Williams Brille aufblitzen. »Das Licht sollte aus sein, Magee. Was machst du mit dieser alten Pistole?«
»Ja. Neue Pistole. Alter Trick.« Weitere Erklärungen gab er nicht ab.
»Na schön, komm mit raus«, sagte Williams. »Du wirst die Farbe des weißen Mannes annehmen, wenn du siehst, wer wieder da ist.«
Magee zitterte in seiner Unterwäsche im Windschatten einer Hütte; Captain Barnes, der sich klugerweise einen Regenmantel umgehängt hatte, hielt eine Laterne hoch, um den Besucher zu beleuchten. »Wie ein Gespenst aus der Finsternis aufgetaucht, Magic. Ist er nicht ein Anblick, den man im Gedächtnis behält?«
Der Alte hatte das als Kompliment gedacht, und Magic Ma-gees Gesicht blühte zu diesem strahlenden, einmaligen Lächeln auf. Dann sah er Charles' fiebernde Augenhöhlen und dessen schmutzige Hände und hielt sein Lächeln zurück. Charles sagte: »Hallo, Magic.«
»Cheyenne Charlie. Ich werde verrückt.«
»Ziehen Sie Ihre Sachen an, Magic«, sagte Barnes. »Ich habe Lovetta geweckt, und sie hat Kaffee gemacht. Charles sagte, er braucht Hilfe. Er wird es Ihnen erzählen.«
»Sicher«, sagte Magee. »Du bist zum richtigen Mann gekommen, Charlie. Du hast immer noch was gut bei mir.«
Nachdem sich die Männer unterhalten hatten, bekam Charles von Lovetta Barnes eine reichliche Mahlzeit vorgesetzt, und sie bereitete ihm ein Lager neben dem Feuer. Er schlief sechzehn Stunden durch und ließ sich auch vom Kommen und Gehen des Alten und dessen Frau nicht stören. Magic Magee hatte keine Sekunde gezögert, ins Indianerterritorium aufzubrechen. Graue Eule ebensowenig. Beide Männer sahen so aus wie früher, obwohl sie mehr und tiefere Falten im Gesicht zu haben schienen. Charles vermutete, daß man das auch von ihm sagen konnte.
Sie versorgten sich beim Marketender mit Proviant, und Charles kaufte noch zwei weitere Ersatzpferde. Am 15. März brachen sie bei strahlend schönem Wetter auf; von Texas und vom Golf her wehte ein warmer Wind, als die Fährtensucher den Smoky Hill durchquerten und nach Süden ritten. In ihrer ersten Nacht unter freiem Himmel schlief Charles schlecht. Er hatte einen Alptraum: Sie ritten zu dritt auf der Milchstraße quer über den Himmel. Ihre Gesichter waren blutverschmiert, Tote auf dem Weg ins Jenseits.
INAUGURATION
Beginn einer neuen Ära des Friedens und des Wohlstands.
Ulysses S. Grant offiziell in das Amt als Präsident eingeführt.
Er hält eine kurze, charakteristische Rede. Eine auf Vertrauen basierende Eintreibung der Steuergelder gefordert.
Zeremonien gekennzeichnet von bisher unübertroffener Begeisterung.
Sonderberichte an die New York Times, Washington, Donnerstag, 4. März 1869
Die Zeremonien zur Inauguration von Gen. ulysses s. grant als achtzehnter Präsident der Vereinigten Staaten wurden heute mit einer derartigen Perfektion durchgeführt und zu einem solch brillanten Erfolg, daß man es als glückverheißendes Vorzeichen für die Regierung werten kann, die jetzt in so ernsthafte und patriotische Hände übergegangen ist.
MADELINES JOURNAL
März 1869. Grant ist Präsident. Die Feindseligkeit, die ihm hier entgegenschlägt, ist verständlich, doch die nationale Stimmung ist optimistisch. Da er militärische Feldzüge so erfolgreich organisiert hat und so häufig von der Notwendigkeit des Friedens nach vier bitteren Jahren spricht, sind die Erwartungen in seine Präsidentschaft sehr hoch gespannt ...
Am 4. März, noch vor der Morgendämmerung, wurde die Hauptstadt von dem Ausläufer eines Schneesturms aus Nordosten betroffen. Stanley Hazard stand am Fenster seines Schlafzimmers im Herrenhaus in der I Street, kratzte sich an seinem beträchtlichen Bauch und betrachtete das Schneegestöber, die Schlammpfützen, den kriechenden Nebel. Was konnte sonst noch alles schiefgehen?
Andrew Johnson würde bei der Vereidigung nicht anwesend sein. Grant hatte Johnsons vorsichtige Friedensangebote im Kielwasser des Stanton-Streites verächtlich zurückgewiesen und verkündet, daß er weder mit Mr. Johnson in einer Kutsche fahren noch mit ihm sprechen würde. Das Kabinett zauderte. Sollte es zwei Kutschen geben? Zwei getrennte Prozessionen? Die Angelegenheit regelte sich von selbst, als sich Mr. Johnson entschloß, während der Zeremonie in seinem Büro zu bleiben, um dort einige letzte Dokumente zu unterschreiben und sich von den Kabinettsmitgliedern zu verabschieden.
Stanleys Elend war jedoch auf eine eher persönliche Ursache zurückzuführen. Den geschickten Manövern seiner Frau, die noch in ihrem Bett schnarchte, hatte er es zu verdanken, daß er in das prestigeträchtige Komitee für den Inaugurationsball berufen worden war. Das war gesellschaftlich gesehen ein gewaltiger Coup, und ein paar Tage lang hatte sich Stanley einfältigerweise auch darüber gefreut. Dann entdeckte er, daß die Organisation des Balles dem Bau einer Pyramide gleichkam.
Das Komitee konnte sich weder auf einen Veranstaltungsort einigen noch ein Anwesen finden, das groß genug gewesen wäre, um die zu erwartende Menschenmenge zu fassen. In wachsender Verzweiflung hatten sich die Komiteemitglieder schließlich an den Kongreß gewandt und um Erlaubnis gebeten, den Rundbau des Kapitols benützen zu dürfen. Das Repräsentantenhaus sprach sich dafür aus, doch der Senat entschied sich nach viel leerem Gerede dagegen. Der gewählte Präsident schickte eine Note, in der es hieß, das sei in Ordnung, es störe ihn nicht, wenn ihn niemand mit einem Ball ehre. Isabels Reaktion war typisch:
»Er gehört einfach zum Pöbel. Wofür hält er sich eigentlich, uns den besten Abend des Jahres rauben zu wollen?«
Unter dem Zwang, diesen besten Abend zustande zu bringen, hatten Stanley und seine Kollegen stundenlang hitzig debattiert. Sollte man es Ball oder Empfang nennen? Letzteres. Sollte der Eintritt zehn Dollar kosten (für einen Gentleman in Begleitung zweier Damen, für Essen und Tanzen) oder bescheidenere acht Dollar? Ersteres. Sollte Mr. Johnson trotz seines Streites mit Grant über die Stanton-Sache eingeladen werden? Er wurde nicht eingeladen.
Der Veranstaltungsort, der endlich gefunden wurde, war groß genug - es handelte sich um den Nordflügel des Finanzministeriums -, aber nicht ideal, da er noch nicht fertig war. Stanley hatte den größten Teil der vergangenen achtundvierzig Stunden dort verbracht. Sein feiner Anzug war mit Mörtelstaub und Farbflecken bedeckt, weil er Dutzende von Arbeitern beaufsichtigt hatte, die mit der Dekoration und Einrichtung der Partyräume beschäftigt gewesen waren.
Er hatte gerade etwas über zwei Stunden geschlafen, und jetzt - noch ganz benommen vor lauter Erschöpfung - hatte er dieses katastrophale Wetter vor Augen. Er war dem Selbstmord nah.
Er taumelte in sein Büro und griff nach den Eintrittskarten für den Ball. Sie waren so groß wie die Seiten eines Handelsal-manachs, verziert mit der Lithographie einer heroischen Büste, in der die Gesichtszüge von Präsident Grant und von seinem Vizepräsidenten Colfax miteinander vereinigt sein sollten. Die Büste besaß weder Ähnlichkeit mit dem einen noch mit dem anderen. »Abscheulich«, hatte Isabel dazu gesagt. Stanley hatte sie zwanzig Minuten lang jammernd zu überzeugen gesucht, daß er damit nichts zu tun gehabt hatte.
Er schwang seinen Kopf zum Fenster herum wie ein gewaltiger Ochse im Joch. Er lauschte dem Nieselregen und wünschte, er würde sich in einen Sturzbach verwandeln, der die Ereignisse des Tages und sein schlafendes Weib wegspülte.
Die Prozession zum Kapitol begann zehn Minuten vor elf. General Grant, ein kleiner, untersetzter Mann von siebenundvierzig Jahren, trug, wie alle anderen anwesenden Gentlemen auch, nüchternes amerikanisches Schwarz. Er fuhr in einer offenen Kutsche. Ungestüme Menschen, die die Polizeiabsperrung durchbrochen hatten, stürzten auf die schlammige Straße und griffen in die Kutsche, um ihn zu berühren. Er schien nichts dagegen zu haben.
Seine Eskorte bestand aus acht Divisionen. Die Washington Grays Artillery aus Philadelphia, achtundvierzig Geschütze, marschierten. Die Philadelphia Fire Zouaves marschierten mit ihrer 22-Mann-Kapelle. Die Eagle Zouaves von Buffalo marschierten, ebenso wie die Lincoln Zouaves aus Washington, die Butler Zouaves aus Georgetown und die Lincoln Zouaves (farbig) aus Baltimore. Die letzteren waren strahlend gekleidet in weißen Leggings und blauen Flanelljacken mit gelbem Besatz.
Die Hibernia Engine Company marschierte, zusammen mit der Naval Academy Band und der Regierungsfeuerwehr. Der Oberste Gerichtshof marschierte, ebenso wie das republikanische Exekutivkomitee aus Philadelphia, die Lancaster-Miliz und Ermentrout's City Band. Die Grant Invincibles von Kalifornien marschierten, zusammen mit der Territorialdelegation von Montana und dem Sechsten Bezirk des Republikanischen Clubs.
Das ganze Spektakel schien dem gewählten Präsidenten Grant zu gefallen. Über Präsident Johnsons Reaktion läßt sich nichts sagen; er befand sich immer noch im Weißen Haus und unterzeichnete Dokumente.
Zwischen zerfetzten Wolkenrändern tauchte gelegentlich blauer Himmel auf. Stanley brachte seine Frau zu ihren reservierten Plätzen, die sich direkt vor der über den Stufen an der Ostfront des Kapitols errichteten Plattform befanden. Die Plattform war mit Stuhlreihen bestückt und mit Flaggen und Immergrün festlich geschmückt.
»Wohin gehst du?« erkundigte sich Isabel. Ihre Jacke und ihr Rock waren pfirsichfarben. Dieses Jahr waren die Farben fröhlicher.
»Ich muß mich drinnen sehen lassen. Vielleicht kann ich dem General die Hand drücken.«
»Nimm mich mit.«
»Isabel, das ist viel zu gefährlich. Schau dir diesen zügellosen Mob an. Außerdem sind diese öffentlichen Rituale prinzipiell nur für Männer gedacht.«
Ihr Pferdegesicht zerknitterte. »Ebenso die Prozession, wie ich bemerkt habe.«
»Du klingst wie eine Suffragette.«
»Gott bewahre. Aber vergiß nur nicht, wer Mercantile Enterprise zum Erfolg verholfen hat!« Stanley krümmte sich mit erhobenen Händen. »Und ein Auge auf die Bücher hatte, jede Expansion geleitet hat, darauf geachtet hat, daß unser geschätzter Gauner von Anwalt, dieser Dills, uns nicht alles gestohlen .«
»Bitte, Isabel, bitte«, flüsterte er, während sein gelbliches Gesicht weiß wurde. »Sag solche Sachen nicht, nicht mal unter Fremden. Erwähne die Firma nicht. Wir haben damit nichts zu tun, vergiß das nicht.«
Isabel wollte widersprechen, sah dann aber ein, daß er recht hatte, und sagte: »Gut. Aber du bleibst besser nicht lange weg.«
Mit der einen Hand seinen Hut, mit der anderen sein Spezialticket umklammernd, so drängte sich Stanley durch die gewaltige, ausgelassene Menschenmenge auf den Stehplätzen. Er kämpfte sich um berittene Marshalls herum und passierte einen Kordon der Capitol Police, die mit schweren Knüppeln ausgerüstet war. Die perlengraue Krawatte hing ihm aus der dazu passenden Weste, als er endlich den lärmenden Korridor hinter der Senatskammer erreichte.
Er eilte in den Senatssaal, konnte aber seinen Mentor, Ben Wade, nirgendwo erblicken. Die Galerien waren bereits mit Tausenden von Zuschauern vollgestopft. Er glaubte Virgilia zu erkennen, schaute aber schnell zur Seite. Er wollte keinen Kontakt mit ihr.
Er streifte zwischen den Würdenträgern umher und schüttelte Hände, wie es sich schließlich für einen angeblich bedeutenden Anhänger der Republikaner gehörte. Die Menge der Goldlitzen schüchterte ihn etwas ein - Sickles, Pleasonton, Dahlgren, Far-ragut, Thomas und Sherman waren bereits anwesend -, und er machte keinen Versuch, solch berühmte Männer zu begrüßen. Er gratulierte dem herrischen Mr. Sumner, der im Begriff stand, auf seine vierte Senatsperiode eingeschworen zu werden. Er begrüßte Senator Cameron, der nun wieder ins Amt und an die Macht zurückgekehrt war; der Boß benahm sich, als kenne er Stanley kaum.
Er ging zu Wades Büro und drückte sich an die geschlossene Tür heran. »Sorry, Sir«, sagte ein Türwächter, »Senator Wade hat sich mit General Grant bis zum Beginn der Zeremonie zurückgezogen.«
»Aber ich bin Mr. Stanley Hazard.«
»Ich weiß«, sagte der Türwächter. »Sie können nicht hinein.«
Grollend zog sich Stanley zurück.
Bevor er wieder hinausging, holte er einen flachen Silberflakon aus seiner Innentasche und stärkte sich mit seinem fünften Drink an diesem Morgen. Zurück an seinem Platz, erzählte er Isabel, er hätte den gewählten Präsidenten getroffen. Er versprach, Isabel beim Ball vorzustellen.
»Das möchte ich dir auch geraten haben.«
Die Menge erstreckte sich nach beiden Seiten; Hüte wurden geworfen, es wurde gejohlt und gelegentlich aufgeschrien, wenn der Ast eines Baumes nachgab und die abwarf, unter deren Gewicht er gebrochen war. Gegen 12 Uhr 15 - ungefähr zu der Zeit sollte sich Andrew Johnson von seinem Kabinett verabschieden und mit der Kutsche vom Weißen Haus wegfahren tauchte die offizielle, für die Plattform bestimmte Gesellschaft aus dem Kapitol auf.
Grant machte in seinem schwarzen Anzug mit den strohfarbenen Handschuhen einen würdevollen Eindruck. Richter Chase sprach nervös den Eid vor. Grant legte ihn ab, beugte sich vor, um die Bibel zu küssen, und hielt dann eine kurze Ansprache. Isabels Kommentar zu dem ganzen Vorgang lautete: »Uninteressant. Langweilig.«
FRIEDEN
Das großartige Motto leuchtete im Dunkeln hoch über ihnen auf. Stanley stand da und bewunderte die Leistung des Komitees. Die spezielle Beleuchtung wurde von Gasströmen quer über die Front des Finanzministeriums erzeugt. Entwurf und Bau waren teuer gewesen, doch der Effekt war spektakulär. Hier konnten Washington und die ganze Welt sehen, wozu sich die Republikaner verpflichtet und was sie auf ihr Banner geschrieben hatten.
Während Stanley glotzte, beklagte sich Isabel über die Verzögerung. Sie hatten sich anderen formell gekleideten Paaren angeschlossen, die hineineilten.
Vom Balkon des gewaltigen Cash-Saales drangen die Klänge eines Streichorchesters. In der erhabenen Umgebung von Marmor aus Siena und Carrara war das allegorische Gemälde >Frie-den< ausgestellt. Eine große Menge drängte sich um die Staffelei. Stanley und Isabel stießen zufällig auf Mr. Stout, der gerade für eine volle Amtsperiode in den Senat zurückgekehrt war. An seinem Arm hing eine viel jüngere Frau mit harten Augen und einem Saphirdiadem im Haar. Sehr kühl sagte Stout zu ihnen:
»Ich glaube, Sie kennen meine Frau Jeannie?«
Isabel kochte vor Wut. Diese junge Frau war Stanleys Geliebte gewesen, bis Isabel dahintergekommen war und der Sache ein Ende bereitet hatte. Zu der Zeit war sie noch Jeannie Canary gewesen, eine Varietésängerin.
»Ah, ja«, verwirrt rückte Stanley seine Krawatte zurecht, »ich hatte das Vergnügen, ihre, äh, Darbietungen mehrfach zu genießen.«
Stout bekam nicht sofort die unbeabsichtigte Zweideutigkeit mit. Dann jedoch rötete sich sein Gesicht, als wollte er Stanley im nächsten Moment zu einem altmodischen Duell herausfordern. Jeannie sah gleichfalls pikiert drein. Isabel zog ihren Mann fort. Ihre Augen waren feucht. Stanley zeigte sich erstaunt; seine Frau weinte niemals.
»Du dreckiger Bastard«, flüsterte sie und blickte tränenblind geradeaus. Ausnahmsweise war Stanley zu verblüfft, um diesen Augenblick genießen zu können.
Danach weigerte sich Isabel, mit ihm zu sprechen. Essen und Trinken lehnte sie ebenso ab wie seine lahme Aufforderung zum Tanz. Sie folgte ihm, als Präsident Grant mit Mrs. Grant erschien und Stanley mit Dutzenden von anderen zur Begrüßung vorstürzte. Schändlicherweise befanden sich Stout und dessen Frau in Begleitung der Grants.
Schließlich waren Stanley und Isabel an der Reihe. Stanley murmelte ihre Namen, die Stout wiederholte. Isabel starrte ihren Mann feindselig an, während der Präsident Stanley die Hand gab.
»Ah ja, Mr. Hazard. Die Pennsylvania Hazards. Ich kenne Ihren Bruder George. Sie waren Verbindungsmann beim Büro für befreite Negersklaven, nicht wahr?«
»Jawohl, Herr Präsident, bis Ende '67. Dann zog ich mich zurück, um mich um meine geschäftlichen Angelegenheiten zu kümmern. Ich muß sagen, Sir, Ihr Wirtschaftsprogramm ist durch und durch gesund.«
»Besten Dank, Sir«, sagte Grant und wandte sich dem nächsten Paar zu.
Isabel war noch wütender als zuvor. »Du verlogenes Miststück. Du hast ihn heute morgen gar nicht getroffen.«
»Nein. Sie haben mich nicht in Wades Büro gelassen.«
»Für einen Abend hast du mich genügend gedemütigt, Stan-ley.« Außerdem hatte sie alle wichtigen Leute gesehen und war von allen gesehen worden. »Bring mich nach Hause.«
Vom Komitee der Manager war Stanley der erste, der ging.
Grant bemerkte es und sagte zu seiner Frau Julia: »Sehr sympathisch, dieser Hazard. Scheint mir ein intelligenter, vermögender Mann zu sein.«
Senator Stout bekam die Worte mit. Wenn Mr. Grant das glaubt, dachte er, dann haben wir einen naiven Tölpel in unserem höchsten Amt. Möge Gott der Republik gnädig sein.
Marie-Louise und Theo haben sich endlich in einem winzigen Häuschen auf Sullivan's Island niedergelassen, das der Mann für sie aufgetrieben hat, der Theo einen besseren Job angeboten hat, als er auf Mont Royal hätte bekommen können. Bei dem Mann handelt es sich um einen weiteren Yankee-Abenteurer.
Die Stadt ist größtenteils wieder aufgebaut worden, aber es bleibt noch viel zu tun. Naive Reisende, die den Pier betreten, werden immer noch gefragt: »Möchten Sie gern Mr. Calhouns Monument sehen?« Sagen sie ja, dann zeigt der Zyniker auf die Stadt.
Theos Arbeitgeber hat an dem langsamen Wiederaufbau mitgewirkt. Er kam im Herbst '65 an, erkannte, woran Bedarf bestand, und gründete eine Firma zum Bau von neuen Bürgersteigen mit Randbefestigung. Seine Mannschaften füllen und reparieren auch die zahlreichen Morast- und Granatlöcher.
Der Straßenbau des Yankee floriert. Er hat große, örtliche Stadtkontrakte erhalten, ebenso in Georgetown und Florence. Theo ersetzt den ersten Vorarbeiter des Yankee, der mit einer Mulattin nach Brasilien durchgebrannt ist. Theo arbeitet 12-14 Stunden täglich, 6 Tage pro Woche; er beaufsichtigt schwarze Arbeitstrupps und meint, daß er und M.-L. nun recht glücklich seien. Zuvor war das nicht der Fall. Nach ihrer Rückkehr von Sav. und Coopers Zurückweisung lebten sie einige Wochen lang hier auf der Plantage in einer ärmlichen Hütte. Nur der Job, den ich ihnen gab, erlaubte es ihnen, zu überleben. Theo war ein ausgezeichneter Aufseher, und ich habe ihn nicht gern gehen lassen, konnte es aber auch nicht verhindern.
Die Beziehung des jungen Paares zu C. hat sich jedoch nicht verbessert. C. will sie weder empfangen, noch erkennt er ihre Gegenwart in der Stadt an. Judith muß ihre Tochter heimlich besuchen, genau wie mich. Ich gebe zu, daß der Krieg viele Leben zerstört hat, aber irgendwo kommt der Punkt, wo das Mitleid der Ungeduld weichen muß. Cooper hat sich mit seiner neuen Politik und der Behandlung seiner Familie alle Sympathien verscherzt. Meine jedenfalls .
... Letzte Nacht fiel Sims Junge Grant, mittlerweile ein junger Mann, dem Klan an der Kreuzung in die Hände. Er und zwei Freunde von ihm wurden eine Stunde lang festgehalten; die Kapuzenmänner zwangen sie zu etwas, was sie Tanzwettbewerb nannten.
Die drei wurden mit Waffen bedroht und mußten mit Wassereimern auf dem Kopf tanzen. Das klingt alles so kindisch, doch Grant kam völlig verstört nach Hause. Wenigstens wurde er nicht verletzt. Letzte Woche wurde Joseph Steptoe von den gleichen Männern ausgepeitscht. Heftig blutend wurde er in ein mit gesalzenem Schweineschmalz beschmiertes Laken gewickelt und an der Straße liegengelassen. Er und seine Frau verschwanden am nächsten Tag aus ihrer Hütte neben der Episkopalkirche und wurden seitdem nicht mehr gesehen. Joseph S. war ein Corporal der farbigen Bezirksmiliz. Auch Grant ist Mitglied.
Ich weiß nicht, wie eine Bande Männer gleichzeitig lächerlich und bedrohlich wirken kann, aber genau das ist die verwirrende Art dieses >Klans<.
In C'ston gewesen, um Theo und M.-L. zu besuchen und noch mal mit Dawkins zu sprechen ...
»Nein«, sagte der fette Mann. Zwischen der Korrespondenz und den mit Zahlen bedeckten Blättern auf seinem Schreibtisch entdeckte Madeline ein billig gebundenes und gedrucktes Büchlein, >Deine Schwester Sally<. Sie hatte das Büchlein zuvor schon gesehen. Das Buch - ein Import von Mississippi - beschrieb in übertriebener, völlig überzogener Weise, wie die Weißen unter einer von Schwarzen dominierten Legislative dem Ruin entgegensehen würden. Gettys verkaufte das Buch in seinem Laden.
»Leverett«, sagte sie mit erzwungener Ruhe, »Mont Royal verdient Geld. Trotz des Wiederaufbaus des Hauses verfüge ich über genügend Geld, um die Hypothek in wesentlich höheren Jahresraten abzutragen. Ich hasse es, unnötigerweise soviel Zinsen zu zahlen.«
Das Büro war in dunklem Holz und dunkelgrünem Plüsch gehalten; Dawkins Spezialstuhl war mit diesem Material gepol-stert. »Ich kann nur die erklärte Politik der Bank wiederholen. Keine vorzeitigen Rückzahlungen.« Er leckte sich die Lippen. »Wenn Sie sich weigern, ein bißchen flexibel zu sein, dann tun wir das auch.«
»Flexibel.« Madeline sprach das Wort voller Bitterkeit aus. »Sie meinen, ich solle die Schule schließen. Sie waren einst ein liberaler Mann. Wieso sind Sie so gegen ...?«
»Weil diese Niggerschulen überhaupt keine Schulen sind. Das sind Zentren für politische Aktionen. Alle Konservativen sind dagegen.« Konservativ war das Etikett, das sich die antirepublikanische Koalition aus Demokraten und ehemaligen Nationalrepublikanern angeheftet hatte.
»Wade Hampton unterhält eine Schule auf seiner Plantage. Er ist ein überzeugter Konservativer.«
»Ja, aber gefärbt von einigen unglücklichen Ansichten. Es ist sinnlos, über General Hampton zu reden. Er ist ein einmaliger Fall.«
Er meint, er sei unangreifbar - was ich nicht bin.
»Leverett, ich wollte, ich könnte es verstehen. Warum sind Sie so absolut dagegen, den Menschen eine anständige Bildung zu geben?«
»Nicht Menschen. Niggern. Die Idee vergiftet South Carolina. Zuerst hatten wir diese Yankee-Weiber, die in St. Helena unterrichteten. Dann Ihre freie Schule. Jetzt haben wir die öffentlichen Schulen. Als Folge davon haben wir nicht nur rachsüchtige, minderwertige Nigger, die uns zu regieren versuchen, sondern wir haben auch eine bedrückende Finanzlast in Form von anrüchigen Schulsteuern zu tragen.«
»Also läuft es aufs Geld hinaus. Auf Habsucht.«
»Gerechtigkeit! Fairneß! Mit dem Absatz in der Staatsverfassung, der öffentliche Schulen verlangt, habe ich nichts zu tun. Mr. Cooper Main ebenfalls nicht. Erst letzte Woche haben wir zusammen bei mir zu Hause gespeist, und ich kenne seine Einstellung. Und die verschiedenen Umstände, die dafür verantwortlich sind«, fügte er hinzu und warf ihr einen scharfen Blick zu. Sie nahm an, daß sich die Bemerkung des Bankiers auf Marie-Louises Ehe bezog.
»Ihr Schwager und ich stimmen vollkommen überein, was die Schulen angeht«, fuhr Dawkins fort. »Da sie uns von der Bundesregierung aufgezwungen wurden, soll auch die Bundesregierung für sie bezahlen.«
»Ich bekomme kein Regierungsgeld, Leverett.«
»Aber soviel ich weiß, sind häufig Kleriker und Bürokraten der Yankees bei Ihnen zu Besuch, die Ihre Schule für ein Musterbeispiel an radikalem Unternehmungsgeist halten. Ich wundere mich, daß der Ku-Klux nicht noch mal zugeschlagen hat. Ich bin nicht für Gewalt, aber Sie werden sich schon selbst die Schuld geben müssen, wenn es dazu kommt.«
Das sind also unsere Aussichten. Manchmal bete ich zu Gott, er möge mir alles vom Leibe halten, was in irgendeiner Beziehung zu >dem Wiederaufbau steht!!
»Hübsch?« sagte Bent. »Hübsch, Gus?« Er griff sich ans linke Ohr und schüttelte den Tränenohrring.
Das kleine Feuer prasselte im Märzwind. Sie kampierten auf einem öden Hang in den Wichita Mountains, Granitgipfeln, die abrupt aus der Ebene emporstiegen. Vor zwei Tagen hatte Bent nördlich der Berge eine Kavalleriekolonne gesichtet, die von Osten nach Westen unterwegs war. Er hatte den kleinen Gus und den gesprenkelten Grauen zu Boden gezerrt, bis der Trupp verschwunden war. Erst heute abend hatte er es wieder gewagt, ein Feuer zu machen.
Er drehte dem Jungen seine linke Gesichtshälfte zu und klimperte erneut mit dem Ohrring. »Ist das nicht hübsch?«
In seinem seit Tagen ungewaschenen Gesicht leuchteten Gus' Augen wie polierte braune Steine. Bents Erziehungsmaßnahmen hatten ihre Spuren in diesen Augen hinterlassen, zusammen mit einer Schwellung an Gus' Kinn, seiner Stirn und einer Abschürfung an seinem rechten Auge. Bent hielt den Jungen in ständiger Angst und vollkommener Abhängigkeit; der Vierjährige war dankbar für jeden Brocken Fleisch und jeden Schluck schalen Wassers, die ihm sein Entführer bewilligte. Er hatte gelernt, daß der Zorn des Mannes schnell und ohne Grund aufflammen konnte.
Bent klimperte weiter mit dem Ohrring. Gus wußte nicht, was sein Entführer von ihm erwartete. Bent lächelte, und der Junge dachte, er solle den Ohrring berühren. Vorsichtig hob er die Hand, streckte sie aus.
Bent schlug ihn so hart, daß er umfiel. Er riß Gus an den Haaren wieder hoch, schlug ihm zweimal ins Gesicht. »Böser Junge. Nicht anfassen. Wenn du ein böser Junge bist, wacht mein Freund auf.«
Aus der Tasche seines dreckigen Fracks holte er das Rasiermesser. Schnippte es auf. Mit offenem Mund zuckte Gus zurück. Er gab keinen Laut von sich; Bent schlug ihn, wenn er Lärm machte. Auch das Rasiermesser hatte er zuvor schon gesehen, war damit geritzt worden.
Im Schein des Lagerfeuers schoß die Klinge Silberblitze. Gus krümmte sich, rutschte auf seinem Hosenboden weiter zurück. Wieder lächelte Bent. »Du weißt, was mein Freund mit bösen Jungen macht, nicht wahr? Er tut ihnen weh.«
Bent kniete sich hin, sein Arm schoß blitzschnell über das Feuer. Die Schneide des Rasiermessers huschte auf Gus' Kehle zu. Gus schrie auf und fiel zur Seite, bedeckte sein Gesicht. Im letzten Moment hatte Bent den Stoß abgefangen und die Klinge wenige Zentimeter vom Hals des Jungen entfernt gestoppt.
Gus' Schrei war so durchdringend, daß er ihm irgendwie den ganzen Spaß verdarb. In Bents Kopf hallten merkwürdige Echos des Schreis wider. Er ließ das Rasiermesser fallen, rannte um das Feuer und schüttelte den Jungen an den Schultern. »Du bist wirklich ein böser Junge. Ich habe dir gesagt, du sollst keinen Lärm machen. Wenn du das nochmal tust, dann lass' ich dich von meinem Freund beißen. Du weißt, wie es ist, wenn er dich beißt.«
Gus begann zu wimmern. Bent nahm seinen Zylinder ab und wischte sich mit dem Ärmel über die glänzende Stirn; schmutzige Streifen blieben zurück. »Schon besser. Roll dich in die Decke, und schlaf, bevor ich meinen Freund bitte, dich zu beißen, weil du so bös warst.«
Leise und vorsichtig schlich Gus zu einer dreckigen Satteldecke. Längst schon waren die Läuse von der Decke auf seinen Körper und sein Haar übergewechselt. Er zog die Decke bis zu den Augen hoch. Mit dem Daumenballen wischte Bent etwas Schmutz von dem Rasiermesser. In einem bestimmten Winkel blitzte die Klinge im Feuerschein auf und blendete Gus. Nach dem drittenmal versteckte sich der Junge unter der Decke.
Es war sehr befriedigend, dem Jungen weh zu tun. Jedesmal hatte Bent dabei das Gefühl, auch Charles Main weh zu tun. Außerdem hatte das einen praktischen Vorteil: Es unterband jegliche Fluchtversuche. Gus war gründlich eingeschüchtert; er quatschte nicht, zeigte nicht die für einen Vierjährigen typische Energie. In wachem Zustand war er so schweigsam wie ein kranker alter Mann. Bent hatte ihn wie ein Pferd gebrochen. Er betrachtete das Bündel unter der Decke. »Gut«, sagte er leise. »Gut.«
Der angepflockte Graue hatte sich vor einer halben Stunde niedergelegt und immer noch nicht wieder erhoben. Das Pferd sah Bent mit Augen an, die ihn an die des Jungen erinnerten. Es war ausgelaugt. Die Rippen waren deutlich zu sehen, und das Maul war wund. In den nächsten Tagen würde Bent es erschießen müssen; dann ging es zu Fuß weiter. Zumindest konnten sie das Fleisch essen.
Er setzte seinen Hut auf, zog seinen Revolver und zerrte seine eigene Decke über seine Beine. Es war Zeit, sich ein paar Gedanken über die Zukunft zu machen. Er brauchte einen Unterschlupf für die Sommermonate. Die Nahrungsmittel gingen ihm aus, und er sah sich der ständigen Bedrohung gegenüber, von einer Armeepatrouille im Territorium erwischt zu werden, wo er nichts zu suchen hatte.
Eine Zeitlang hatte er quer durch Kansas absichtlich Spuren hinterlassen, um Gus' Vater zu quälen; da hatte er sich um seine persönliche Sicherheit keine Gedanken gemacht. Dann war er gezwungen gewesen, diesen Ladenbesitzer in Abilene niederzuschlagen, und kurz darauf hatte er den Verdacht dieser fetten Schlampe erregt, der Besitzerin der Pension in Ellsworth City. An diesem Punkt hatte er beschlossen, daß die Sache das Risiko nicht mehr wert war. Charles Main wußte, daß er den Jungen in seiner Gewalt hatte; das sollte einstweilen mal genügen. Er verwischte seine Fährte, indem er sich nach Süden wandte, dem Territorium zu, wo er sich beliebig lange sicher verstecken konnte. Er war überzeugt davon, daß Charles ihm wegen der damit verbundenen Gefahren niemals folgen würde.
Er starrte in dunkle Fernen und dachte daran, wie er zusammen mit Charles noch vor dem Krieg in der Zweiten Kavallerie gedient hatte. Charles war ein gutaussehender großer Bursche gewesen, mit den für Südstaatler typischen, schmierigen guten Manieren. Bent hatte ihn anziehend genug gefunden, um ihm ein Freundschaftsangebot zu machen, das Charles zurückgewiesen hatte. Bent haßte ihn deswegen um so mehr. Sein Blick irrte zu dem regungslosen Häuflein unter der Decke. Er war noch nicht fertig mit Gus - oder mit seinem Vater.
Am nächsten Tag erschoß er den Grauen und zerlegte ihn. Als er darauf bestand, daß Gus halbgares Pferdefleisch essen sollte, leistete der Junge Widerstand. Bent preßte ihm das Fleisch in den Mund, und Gus erbrach alles über Bents Stiefel. Er hatte schon die Klinge des Rasiermessers gegen Gus' Kehle gedrückt, ehe die Vernunft wieder die Oberhand gewann. Er brauchte den Jungen für seine späteren Pläne.
Er ließ den alten gestohlenen Sattel bei dem Pferdekadaver zurück und nahm nur die Satteltaschen mit. Er marschierte in westlicher Richtung los, weg von dem Berg, wo sie ihr Lager aufgeschlagen hatten; der kleine Gus folgte links von ihm einen Schritt zurück, wie ein gut dressierter junger Hund.
Vermilion Creek mündete in den Elm Fork, manchmal auch Middle Fork genannt. Es war eine einsame Gegend west-nordwestlich von Fort Cobb, nach Bents Schätzung nicht weit von der texanischen Grenze entfernt.
Es gab hier eine Menge Wild - Kaninchen, Präriehühner, sogar einen Hirsch, den Bent mit seinem Schuß verfehlte. Hunger mußten sie keinen leiden; für gewöhnlich war er ein ausgezeichneter Schütze.
Bent begann die belebende Wirkung des Frühlingswetters zu spüren, während sie am Vermilion Creek flußauf gingen. Der ständige Wind ließ die Felder mit wilden Veilchen wogen und trug einen rosa Blütenregen von Judasbäumen heran. Hoch über ihnen flogen Schwärme von Gänsen nach Norden.
Eben noch hatte Bent das Rascheln von Gus' aufgerissenen Schuhen auf dem Schiefergestein gehört, dann herrschte Stille. Er drehte sich um und wollte den Jungen schlagen, unterließ es dann aber. Gus schaute voraus, den Bach entlang. Einen Moment lang waren seine Augen frei von Furcht und voller Neugierde.
Bent wandte sich wieder um und hielt den Atem an. Ein hinter dem Horizont verborgenes Feuer sandte eine dünne, graue Rauchsäule in den klaren Himmel.
Indianer? Durchaus möglich. Es konnte aber auch das Camp von Büffeljägern sein. Bent stieß Gus in das knöcheltiefe Wasser. »Wasch dein Gesicht und deine Hände. Wir müssen anständig aussehen, falls wir auf weiße Männer treffen.«
Das Wasser, das durch Bents Finger floß, färbte sich vom Dreck dunkel. Gus machte ihm alles nach, ständig auf der Hut vor irgendwelchen Anzeichen von Mißfallen. Langsam verschwand der Schmutz aus dem Gesicht des Jungen, doch die Male der Schläge blieben.
Es war nicht bloß ein Camp, es war ein zivilisierter Außenposten am Ufer des Flüßchens. Das Hauptgebäude, aus dem der Rauch aufstieg, war rechteckig, aus Lehmziegeln erbaut. Bent, der sich hinter einigen Eichen verborgen hatte, starrte verblüfft die beiden Indianerponys an, die vor dem Eingang angebunden waren. Eine Seitentür führte in einen kleinen Pferch mit einem großen, dunkelbraunen Fuchs und zwei Maultieren. Dahinter war halb versteckt ein primitiver Stall zu sehen.
Plötzlich rief Gus: »Schau!« und zeigte mit dem Finger. Bent preßte eine Hand auf Gus' Mund und verdrehte den Kopf des Jungen, bis er einen schmerzerfüllten Laut hörte. Erst dann nahm Bent seine Hand wieder weg.
Das Tier, das Gus so in Aufregung versetzt hatte, erregte seine Neugier. Es war ein gut gefütterter Waschbär. Sein pelziger Bauch streifte den Boden, als er am Hauptgebäude vorbeitrottete. Hielt sich jemand den Bären als Schoßtierchen?
Bent streifte die Satteltaschen von seiner Schulter und knöpfte seinen alten Mantel auf. Er überprüfte seinen tiefgeschnallten Revolver und schnippte dann mit den Fingern. Sofort griff Gus nach seiner Hand.
Mann und Junge näherten sich dem Gebäude. Der Waschbär entdeckte sie und rannte auf den Stall zu. Bent hielt vor der Eingangstür an. Er hörte Stimmen. Da er nicht als Streuner erschossen werden wollte, schrie er: »Hallo, da drinnen!«
»Hallo. Wer da?«
Die Tür öffnete sich quietschend. Zuerst erschien die Mündung einer Schrotflinte. Dann tauchte der dazugehörige Mann auf. Er war ärmlich gekleidet, hatte einen Hängebauch und ein Gesicht, das Bent an einen erhitzten Weihnachtsmann erinnerte. Der Mann hatte sein Haar, mehr grau als weiß, in der Mitte gescheitelt und zu langen Zöpfen geflochten. Jede Flechte war am Ende mit einem Perlenband umwickelt. Kleine, in den rechten Zopf eingebundene Glöckchen klingelten.
»Mein Name ist Captain Dayton. Mein Neffe und ich haben uns verirrt. Wir sind nach Westen unterwegs.«
»Nicht durch das Indianerterritorium, wenn Sie das Gesetz kennen«, sagte der Mann, deutlich an Bents Worten zweifelnd.
»Wir sind nicht in Texas?«
»Da fehlen doch noch ein paar Meilen.« Der Mann suchte die Gegend hinter Bent ab, als hielte er Ausschau nach Soldaten. Wieder musterte er Bent. Er entschied, daß dieser Fremde mit dem Zylinderhut ebenso am Rande des Gesetzes stand wie er selbst.
Die Farbe kehrte wieder in die Hände des Mannes zurück, als sich sein Griff um die Schrotflinte lockerte. »Ich bin Septimus Glyn. Das hier ist meine Ranch.«
Nicht gerade die Welt, dachte Bent. »Was bauen Sie an, Glyn?«
»Nichts. Ich verkaufe das, was das Indianerbüro nicht verkauft.« Der Mann hatte eine anmaßende Art, schien jedoch nicht gefährlich zu sein. Das Gefühl seiner persönlichen Bedeutung verlieh ihm zusätzliche Energie. Wenn dieser ignorante Händler wüßte, daß er mit dem amerikanischen Bonaparte sprach? Das würde ihn ganz ordentlich in Erstaunen versetzen.
»Ich habe etwas Geld, Glyn. Verkaufen Sie Nahrungsmittel?«
Glyn dachte noch einmal über Bents überraschendes Auftauchen in dieser Wildnis nach. Er wußte nicht, worauf der Mann aus war, entschied aber, daß ein Profit ein kleines Risiko wert war. »Ja, hab' ich. Und Whisky, falls Sie durstig sind. Hab' sogar noch was, was Ihnen vielleicht auch gefällt.« Er trat beiseite. »Kommen Sie herein.«
Bent zog Gus mit sich. »Hübscher kleiner Bengel«, sagte Glyn. »Bißchen verschrammt.«
»Ist vom Pferd gefallen.«
Glyn stellte keine Fragen.
Die Möblierung überraschte Bent: zwei große, runde, mit Flecken übersäte Pinientische; Stühle; eine breite Planke, über Fässer gelegt, dahinter ein Bord mit einer Reihe von Flaschen ohne Etikett. Eine rote Decke hing als Vorhang vor einer Tür, die vielleicht zu den Wohnräumen führte.
An einem Tisch saßen zwei Indianer vor einer braunen Flasche. Beide waren in mittleren Jahren. Der eine war sehr fett. Sie musterten Bent und den Jungen aus verquollenen, mißtrauischen Augen. »Das sind Caddoes«, sagte Glyn und legte die Schrotflinte auf seine provisorische Bar. »Harmlos. Ich jage alle Comanchen weg, die Whisky wollen. Sind zu unberechenbar.«
Das also war eine dieser illegalen Whisky-Ranches. Bent hatte gehört, daß eine Anzahl von ihnen im Territorium operierten. Sie lieferten Waffen, Stoffe, hauptsächlich aber den Whisky, den die Regierung den Stämmen vorzuenthalten versuchte.
Die rote Decke hob sich, und Bent sah etwas, was ihn vor Verblüffung erstarren ließ. Da stand ein hellbraunes Indianermädchen; ihr Wildlederkleid war vom Essen und Trinken verschmutzt. Zuerst dachte er, sie sei über dreißig. Ihre Augen waren vom Schlaf noch ganz schmal, und ihr schwarzes Haar hing ihr ungekämmt und wirr herunter. Ihr Gesicht war mürrisch. Sie schob sich barfuß auf Glyn zu, strich ihr Haar vom rechten Auge zurück und musterte Bent ziemlich unverschämt. Er bemerkte ihre vollen Brüste unter dem Lederkleid und spürte ein unerwartetes Beben. Seit über einem Jahr hatte er keine Frau mehr gehabt oder gewollt.
Glyn schenkte eine klare Flüssigkeit aus einer Flasche ein. »Das ist meine Frau, Grünes Gras. Eine Cheyenne. Vor einem Jahr hab' ich sie aus ihrem Dorf mitgenommen. Sie wollte was von der Welt sehen, und ich hab' ihr gezeigt, wie die Welt aussieht, wenn man flach auf dem Rücken liegt. Sie zählt erst achtzehn Winter. Hat allerdings viel für Gin übrig. Hab' ich ihr beigebracht, und gewisse andere Sachen auch.« Glyn räusperte sich. »Was ich sagen will - sie ist auch zu verkaufen.«
Bent senkte den Kopf. Er hatte bereits entschieden, daß er sie wollte. Allerdings hatte er nicht die Absicht, dafür zu bezahlen.
Septimus Glyn stellte einige Scheiben kalten Wildbrets und Whisky auf den Tisch, der schmeckte, als wäre er mit Cayennepfeffer aufgemöbelt worden. Bents Lippen brannten wie Feuer. »Wo kriegen Sie das Zeug her?«
»Von drüben aus Texas. Dunn's Station. Gibt dort ein paar Ranger, aber denen geh' ich aus dem Weg. Einmal im Monat mach' ich eine Tour durch die Indianerdörfer. Sind nicht mehr viele übrig, seit die Armee eingedrungen ist. Die restliche Zeit schlag' ich mich hier durchs Leben. Sie haben mich aus dem Büro rausgeworfen, aber mir gefiel das Land, also blieb ich. Vor allem vögle ich gern Indianerfrauen. Sie riechen so schön nach Moschus. Für zwei Dollar können Sie's selber feststellen.«
»Vielleicht später. Gus, iß was.« Der kleine Junge riß Fleischfetzen ab und zwang sie sich in den Mund. Mit leidendem Gesicht kaute er.
Bent entschied, daß er seinen Unterschlupf gefunden hatte. »Wir wollen wirklich noch vor dem Winter nach Kalifornien. Aber wir könnten hier übernachten, wenn Sie nichts dagegen haben.«
Glyn schüttelte den Kopf. »Schlaft im Stall oder in meinem Wagen. Steht hinten. Kostet einen Dollar.«
»In Ordnung«, sagte Bent. Er kramte einen Dollarschein aus seinem Mantel und glättete ihn. Er gab ihn Glyn, ohne sich groß Gedanken darüber zu machen; der Transfer war schließlich nur vorübergehend.
Die alten Caddoes, heruntergekommene Männer, die bis kurz vor dem Umfallen tranken, brachen vor Sonnenuntergang auf. Bent und der kleine Gus brachten ihre Decken in den alten Planwagen, der sauberer war als der Schuppen, der als Stall diente. Bent fuhr sich öfter mit der Hand zwischen die Beine; den größten Teil des Nachmittags war er steif vor Erregung.
Er wartete mehrere Stunden, bis er es nicht mehr aushalten konnte, dann kroch er aus dem Wagen, ohne Gus zu wecken. Er öffnete die Eingangstür der Whisky-Ranch, die nur einmal kurz knarrte, was keine Rolle spielte, da hinter der roten Decke lautes Stöhnen und Grunzen ertönte. Bent zog seinen Revolver.
Er durchquerte den Hauptraum, geleitet von einem schwachen Glühen hinter dem Vorhang. Das Cheyenne-Mädchen stieß ein tiefes, lautes Stöhnen aus. Bent spähte um den Rand der Decke. Im kümmerlichen Schein einer Laterne sah er die schwitzende Rückseite des Mädchens; sie saß mit gegrätschten Beinen über dem Whiskyhändler und pumpte auf und nieder, den Kopf zurückgeworfen, die Augen geschlossen. Glyn rieb ihre Brüste. Seine beiden Hände waren sichtbar; die Schrotflinte lehnte außer Reichweite an der Wand. Gut. Jetzt kam es nur noch auf Geschwindigkeit an.
Bent riß die Decke beiseite und war mit drei Schritten neben dem Bett. Grünes Gras kreischte auf, und Glyn quollen die Augen aus dem Kopf. Er wollte nach seiner Schrotflinte greifen, gab es aber gleich wieder auf. »Was zum Teufel haben Sie hier zu suchen, Dayton?«
»Ich will diesen Platz«, sagte er lächelnd.
»Du verdammter Narr, du, der ist nicht zu verkaufen.«
Bent langte am Unterarm des Indianermädchens vorbei und jagte ihm eine Kugel in den Kopf, knapp oberhalb der Augen. Er zerrte die Leiche in den anderen Raum, kam dann wieder zurück, knöpfte seine Hose auf und rollte sie auf den Rücken. Sie hatte viel zuviel Angst, um Widerstand zu leisten.
So übernahm Bent die Whisky-Ranch. Zwei Tage später tauchten drei andere Caddoes auf. In gebrochenem Englisch erkundigten sie sich nach Glyn, den Bent eine halbe Meile entfernt beerdigt hatte. »Weg. Er hat mir alles verkauft.« Die Caddoes stellten keine weiteren Fragen. Bevor sie wieder gingen, hatte er ihnen Whisky für vier Dollar verkauft.
Grünes Gras schien es egal zu sein, wer ihr Mann war, solange er ihr nur Gin gab. Den billigsten, süßesten Gin, wie Bent nach einem Schluck entdeckte, den er gleich wieder ausspuckte. Septimus Glyn mußte ein erstklassiger Verführer gewesen sein, um das Mädchen so total zu korrumpieren. Eines Morgens verweigerte Bent ihr den Gin, um zu sehen, was passierte. Sie bettelte. Er gab nicht nach. Sie weinte. Er blieb immer noch bei seinem Nein. Sie sank auf die Knie und riß an den Knöpfen seiner Hose. Verblüfft ließ er sich von ihr in seinem Glauben bestärken, daß alle Frauen verkommene Huren waren. Während sie sich noch an seinen Beinen festklammerte, stieß er ihren Kopf zurück und goß ihr Gin in den Mund. Den Jungen, der in der Tür stand und sich mit einer Hand an der roten Decke festhielt, sah er nicht. Seine Füße waren nackt, sein graues Arbeitshemd starrte vor Dreck, seine Augen waren riesig in dem ausdruckslosen Gesicht.
Gegen Sonnenuntergang des siebten Tages begann sich Bent allmählich zu Hause zu fühlen. Er hatte das ausgefranste, rissige Ölgemälde von Madeline Mains Mutter aufgehängt und das Haus gesäubert. Kurz bevor es dunkel wurde, trat er hinaus, den Arm um Grünes Gras gelegt. Ihre große, weiche Brust preßte sich gegen ihn, und ihre Hüfte rieb sich provozierend an der seinen.
Little Gus, der die meiste Zeit sich selbst überlassen blieb, hatte sich mit dem zahmen Waschbären angefreundet. In dem rötlichen Abendlicht jagte er ihn am Bach entlang. Der Bach glänzte wie fließendes Blut, und in der kühlen Abendluft vernahm er einen Laut, den er schon lange nicht mehr gehört hatte; Little Gus' fröhliches Lachen.
Nun, warum sollte er ihn nicht lachen lassen? Bald schon würde er keine Chance mehr dazu haben. Bent hatte nun seinen Plan gefaßt. Er würde noch einige Monate warten; vielleicht bis Herbst oder Anfang Winter. Bis dahin würde Charles Main versuchen, sich an den Gedanken zu gewöhnen, daß er seinen Sohn verloren hatte. Gerade dann, wenn er allmählich lernte, mit seinem Kummer umzugehen, würde Bent erneut zuschlagen und ihm Nachricht zukommen lassen, daß Gus noch fast ein ganzes Jahr gelebt hatte und erst vor kurzem getötet worden war. Es würde ein zweischneidiger Tod sein, bei dem sich Schmerz mit Schuldgefühlen mischte. Sein Lebtag lang würde Charles der Gedanke verfolgen, daß sein Sohn vielleicht noch leben könnte, wenn er die Suche nicht aufgegeben hätte, wovon Bent inzwischen überzeugt war. Natürlich mußte er Teile der Leiche des Jungen liefern, um zu beweisen, daß er tot war. Sein Rasiermesser würde ihm da eine große Hilfe sein.
Little Gus' Lachen klang durch die hereinbrechende Dunkelheit. Grünes Gras legte ihre Wange auf Bents rechte Schulter. Er war glücklich. Die Welt war gut.
Charles bog um die Ecke und drückte sich gegen die Vorderseite des Grasdachhauses. Seinen Revolver hielt er schußbereit in Brusthöhe. Eines der Pferde wieherte, ein ferner Laut. Graue Eule bewachte sie in einem Pappelwäldchen, ungefähr eine halbe Meile entfernt.
Charles roch kalte Asche. Ein Feuer war sorglos oder hastig zugeschüttet worden. Die Pferdeäpfel im Pferch waren mindestens einen Tag alt; beschlagene Pferde hatten den Boden aufgewühlt. Niemand würde hier eine Farm aufbauen, sagte sich Charles. Sie hatten die Basis einiger abtrünniger Händler gefunden.
Eine schlammige Stiefelspitze tauchte an der entfernten Hausecke auf. Magic Magee glitt um die Ecke und schob sich mit dem Rücken zur Wand voran. Das Nachmittagslicht verblaßte schnell und nahm eine seltsame grünlich-goldene Färbung an. Von Westen her schoben sich die Wolken eines gewaltigen Sturms auf das Haus zu, wie ein am Himmel ausgerollter Teppich. Magee beobachtete Charles, wartete auf ein Zeichen. Der schwarze Mann trug seine Melone mit der Truthahnfeder; nichts an seiner Kleidung wies auf einen Soldaten hin.
Charles lauschte an der Plankentür. Nur eine sehr laute Stimme hätte das Toben des Sturms übertönen können. Er hörte nichts. Der Wind trocknete den Schweiß, der sich in Charles' Bart sammelte. Magee kroch näher heran, zur anderen Seite der Tür. Charles hielt drei Finger hoch, zählte dann lautlos. Bei drei sprang er vor die Tür und trat sie mit dem Stiefel auf. Ein gewaltiges, schweres Ding sauste aus der Dunkelheit direkt auf sein Gesicht zu. Er feuerte zweimal.
Das Echo der Schüsse ging im Sturm unter. Magees Blick folgte dem Vogel, der dicht über Charles' Kopf gestrichen war. »Ein Helfer von Graue Eule.«
Die Eule verschwand in der dunklen Wolkenmasse. Mit schußbereitem Colt sprang Charles ins Haus. Er roch Tabakrauch neben dem stärkeren Aschegeruch. Jemand hatte Wasser über das Feuer geschüttet; er sah den Eimer. Alles deutete auf einen schnellen Aufbruch hin.
Er steckte den Revolver weg. »Sag Graue Eule, er soll die Pferde bringen. Wir können genausogut hier vor dem Sturm Schutz suchen.«
Magee nickte und ging. Es gab nichts zu sagen. Charles' Entmutigung war offensichtlich.
Der Regen fiel in hämmernden Sturzbächen. Sie zerkleinerten einen alten Stuhl und zündeten das Feuer wieder an. Es sorgte für etwas Licht, konnte aber die durchdringende Feuchtigkeit nicht vertreiben. Die Pferde wieherten. Die Blitze waren grell, der Donner ohrenbetäubend.
Graue Eule kauerte in einer Ecke, seine Decke um sich gezogen. Er sah älter aus. Vielleicht kam es Charles auch nur so vor, weil er sich selbst so fühlte. Er nagte an einem Stück Trockenfleisch und sah Magee zu, der mit einem alten Kartenspiel übte.
Seit zweieinhalb Wochen suchten sie nun schon. Sie hatten einen Bogen nach Südwesten geschlagen, um dem Versorgungslager auszuweichen, und schließlich dieses Haus hier am Wolf Creek entdeckt. Charles hatte gehofft, die Bewohner befragen zu können, aber wer immer sie auch gewesen sein mochten, sie waren ganz plötzlich aufgebrochen, was ihn nervös machte.
Der heftige Regen verstärkte noch seine Mutlosigkeit. Er fiel Stunde um Stunde und würde alle Spuren fortschwemmen, die ihnen vielleicht hätten weiterhelfen können.
Nachdem das Feuer erloschen war, lag Charles noch lange wach. Seine Phantasie gaukelte ihm Bilder seines Sohnes vor, dann wieder sah er Bent vor sich, der gerade George Hazards Frau ermordete und ihren Ohrring stahl. Dieses Detail erfüllte ihn, mehr als alles andere, mit großer Angst und Sorge. Vor Jahren in Texas war Bent wenigstens phasenweise geistig normal gewesen. Jetzt konnte man nicht einmal mehr das von ihm behaupten.
Am Morgen entdeckten sie, daß zwei der Pferde ihre Halterstricke zerrissen hatten und fortgelaufen waren.
Der Sturm hielt bis Mittag an und überflutete tiefergelegene Stellen. Sie bereiteten gerade ihren Aufbruch vor, da fiel Charles der Gesichtsausdruck von Magee auf. Der schwarze Mann sattelte mit düsterem Blick sein Pferd, was ihm gar nicht ähnlich sah.
Graue Eule näherte sich mit einer gewissen Ehrerbietigkeit. »Wie lange suchen wir noch?«
»Bis ich was anderes sage.«
»Es gibt keine Spur, der wir folgen können. Der Mann und der Junge können überallhin gegangen sein. Oder sie sind zurück.«
»Ich weiß, aber ich kann einfach nicht aufgeben. Kehr um, wenn du willst.« Groll schwang in seiner Stimme mit.
»Nein. Aber für Magee ist es nicht leicht, so lange fort zu sein.« Verwundert wartete Charles. »Er hat jetzt eine Squaw. Eine gute Delaware-Frau, deren Mann gestorben ist.«
»Bis er mir sagt, er will zurück, gehen wir weiter. Alle drei.«
Graue Eule empfand Schmerz für seinen Freund. Die Verfolgung war aussichtslos. Nicht einmal der geschickteste Fährtenleser konnte einen Mann und ein Kind aufspüren, wenn die Fährte so alt und das Land so gewaltig und voller Verstecke war.
Mit dem April kamen die Krähen und Kardinalvögel. Nach jedem Schauer gab es Kröten in Hülle und Fülle. Die süß duftende, blühende Fruchtbarkeit des Frühlings erbitterte Charles auf eine irrationale Art und Weise. Nachts versank er in schweren Schlaf mit zahllosen Träumen. Noch nie hatte er sich so erschöpft gefühlt, so ohne jede Hoffnung. Die Gespräche zwischen den Männern waren längst auf das äußerste Minimum reduziert worden und drehten sich nur noch um den Plan für den Tag.
Eines frühen Morgens entdeckten sie in der Ferne eine der südlichen Büffelherden, die mit dem warmen Wetter nach Norden zurückkehrten. Sie töteten eine Büffelkuh, stopften sich mit frisch gebratenem Fleisch voll und packten so viel ein, wie sie essen konnten, bevor es verdarb. Die Bussarde leisteten ihnen Gesellschaft, warteten auf ihren Aufbruch.
Der Zug der Büffel erinnerte Charles an die unendliche Weite des Territoriums. Ein ganzes Armeecorps konnte hier durchziehen, ohne daß sie es bemerkten. Er hatte sich eingeredet, daß man das Territorium absuchen konnte, wie man ein Zimmer absuchte. Er war verzweifelt; er mußte so denken. Jetzt erkannte er, wie lächerlich das gewesen war. Er dachte nun realistischer. Das gehörte sich so für einen Mann, der Partner bei der Jackson Trading Company gewesen war, doch es raubte ihm auch die Hoffnung.
Die Stimmung seiner Begleiter half ihm auch nicht. Magee war mürrisch wegen der Delaware-Frau, und Graue Eule erging es nicht anders, weil er seine Begleiter nicht mit Erfolg führen konnte. Er versagte in dem Punkt, der den Sinn seines Lebens ausmachte.
Stundenlang ritten sie dahin, ohne zu sprechen, jeder in sich selbst versunken. Im Süden stiegen die Wichitas wie Monumente in einem flachen Feld empor. Sie hielten auf die tieferen Hänge der Westseite zu, wo sie Spuren im Überfluß fanden. Eine Menge Indianer hatten hier vor ungefähr einer Woche ihre Tipis aufgebaut. So viele Indianer - nach Charles' Schätzung mehrere hundert -, daß Zeit und Wetter die Spuren noch nicht völlig hatten verwischen können.
Nachdem sie die Nacht über kampiert hatten, machte sich Charles in dem taufunkelnden Morgen zu Fuß auf die Suche. Er entdeckte einen verrosteten Kessel; ein Druck mit dem Daumen machte sofort ein Loch in die dünne Rostschicht. Es mußte ein verarmtes Dorf gewesen sein, das hier gelagert hatte.
Graue Eule trottete heran. »Schau dir das an«, sagte er.
Charles folgte ihm zum Fuß des Berges, wo noch einige Spuren von Schleppstangen zu sehen waren. Er kniete nieder, um sie zu studieren. Zwischen den Stangenspuren sah er die Abdrücke von Mokassins. Er strich mit den Fingern leicht über einen Abdruck, verwischte ihn fast. Der Abdruck gehörte zu einer Frau, einer schwergewichtigen Frau; kein Mann würde Schleppstangen ziehen.
Charles schob seinen schwarzen Hut zurück und sprach das aus, was Graue Eule bereits wußte. »Es gibt keine Hunde mehr. Sie haben sie gegessen. Sie sind am Verhungern. Sie sind nicht aus freiem Willen aufgebrochen; sie sind auf der Flucht. Von hier könnten sie nach Süden ziehen. Oder nach Westen, nach Texas. Vielleicht den ganzen Weg bis in den Llano.«
Graue Eule kannte den Llano - die große Wüste; eine ungastliche Wildnis. »Westen«, nickte er.
Sie ritten mit etwas mehr Energie. Hier hatten sie endlich eine größere Menschengruppe vor sich, von denen einige vielleicht einen weißen Mann und einen Jungen gesehen hatten. Charles wußte, daß jede Wahrscheinlichkeit dagegen sprach, aber zumindest war es ein Krümelchen Hoffnung.
Sie konnten den Spuren eines so großen Zuges leicht folgen, bis zu der Nordgabelung des Red, dann anderthalb Tage weiter nach Nordwesten. Plötzlich stießen sie auf ein Gewirr von Fährten, die Überreste eines anderen Lagers und jenseits des Flusses von Hufen zertrampelte Erde, was darauf hindeutete, daß sich eine zweite große Indianergruppe der ersten angeschlossen hatte.
Graue Eule verließ sie für einen Tag und suchte im Norden und Osten nach Spuren. Er kehrte im Galopp zurück. »Von hier sind alle nach Osten«, sagte er. Trotz der Decke und des warmen Frühlingstages schwitzte er kein bißchen.
Magee kratzte mit dem Fingernagel Vogeldreck von seiner Melone. »Macht nicht viel Sinn. Im Osten liegen die Forts.«
»Egal, sie haben die Richtung eingeschlagen.«
Charles hatte eine Ahnung. »Reiten wir ein Stück den Fluß hoch. Mal sehen, ob wirklich alle nach Osten gegangen sind.«
Am nächsten Morgen fanden sie eine Stelle, wo vielleicht dreißig Hütten gestanden hatten. Am Tag danach fanden sie den Großvater.
Er ruhte in einem Pappelwäldchen; einige wenige Besitztümer aus seinem Medizinbeutel - Federn, eine Klaue, eine Pfeife -waren um ihn herum verstreut. Der Gestank eines entzündeten, fauligen Beines drang durch sein Büffelfell. Er war alt, sein Gesicht zerknittert wie braunes Packpapier. Er wußte, daß sein Tod unmittelbar bevorstand, und zeigte keine Angst vor dem merkwürdigen Trio. Graue Eule befragte ihn.
Sein Name war Starker Vogel. Er erklärte ihnen den Grund für die große Wanderung nach Osten. Ungefähr sechshundert Cheyenne unter den Häuptlingen Roter Bär, Graue Augen und Kleine Robe hatten sich entschlossen, sich lieber den Soldaten in Camp Wichita zu ergeben, als zu verhungern oder im Kugelhagel von General Schleichender Panther zu sterben, der das Territorium nach Widerstand leistenden Banden absuchte. Der Großvater gehörte zu einer Gruppe, die sich mit Roter Bär davongemacht hatte.
»Dreißig Zelte«, sagte er mit dünner Stimme, während sich seine Augenlider zitternd schlossen. »Sie essen jetzt ihre Pferde.«
»Wo, Großvater?« fragte Graue Eule.
»Sie wollten hoch nach Sweet Water. Ob sie's getan haben, weiß ich nicht. Ich kenne dein Gesicht, ja? Du gehörst zum Volk.«
Graue Eule schien eine schwere Last zu tragen. »Vor langer Zeit.«
»Das Alter hat mein Fleisch verrotten lassen. Ich konnte nicht mehr mithalten. Ich bat sie, mich zurückzulassen, ganz gleich, ob die Soldaten mich finden oder nicht. Helft ihr mir beim Sterben?«
Sie hackten Äste ab und bauten eine Beerdigungsplattform in einer der stärksten Pappeln. Charles schleppte den alten Mann hoch, während Magee ihn von unten stützte. Der Gestank war kaum zu ertragen, aber Charles schaffte es, den Großvater niederzubetten, umgeben von seinen wenigen Besitztümern; die warme Sonne schien auf sein altes Gesicht, das gefaßt wirkte und nun sogar ein schläfriges Lächeln zeigte.
Als sie weiterritten, sagte Graue Eule: »Es war edel, ihm auf die Straße in die ewigen Jagdgründe zu helfen. Das war nicht die Tat des Mannes, den sie Cheyenne Charlie nannten. Der Mann, der so viele töten wollte.«
»Ich will jetzt nur noch eines«, sagte Charles. »Ich glaube, jetzt haben wir Glück. Ich glaube, wir werden ihn finden.«
Wieder sprach die blinde Hoffnung aus ihm. Doch der Sonnenschein und der Frühling munterten ihn auf, ebenso wie die Möglichkeit, daß die Leute von Roter Bär vielleicht einen weißen Mann gesehen hatten. Graue Eule warnte Charles und Magee, daß Roter Bär, nun ein Dorfhäuptling, früher ein hitziger, wilder Gemeinschaftshäuptling des Roten Schildes gewesen war, was auch erklärte, warum er vor der Kapitulation zurückgeschreckt war.
Sie entdeckten das Dorf weit oben am rechten Ufer des Sweet Water. Die Cheyenne gaben sich keine Mühe, sich zu verstecken. Kochfeuer schickten ihre Rauchsäulen in den Mittagshimmel. Von einer Anhöhe aus sah Charles durch sein Fernglas mehrere Männer mit zerlumpten Tierfellen auf den Köpfen, die am Rande des Lagers in einem großen Kreis herumstampften. Der Wind trug die schwachen Laute einer von Hand geschlagenen Trommel heran.
Magee spähte durch das Fernglas. Ungewöhnlich scharf sagte er: »Was zum Teufel haben sie zu tanzen? Sind sie nicht am Verhungern?«
»Massaum«, sagte Graue Eule.
»Sprich englisch«, sagte Magee.
»Das ist der Name der Zeremonie«, erklärte Charles. »Sie legen einen bemalten Büffelschädel in einen Graben als Symbol für den Tag, an dem der Büffel auf die Erde kam, und die Tänzer tun so, als wären sie Hirsch und Elch und Wolf und Fuchs. Die Zeremonie ist eine Bitte um Nahrung. Der alte Mann sagte, sie seien am Verhungern.«
Magee fuhr sich mit der Zunge über die oberen Zähne. »Scheinen deswegen auch ganz schön außer sich zu sein.«
»Du mußt ja nicht mitkommen.«
»Oh, doch. Meinst du, ich habe bis hier durchgehalten, um jetzt den Feigling zu spielen, he? Irgend jemand hat mich nicht zu dieser Sorte Soldat ausgebildet.« Magee starrte in Charles' wilde, verstörte Augen, auf den langen Bart, der fast bis zum Bauch reichte, und stieß plötzlich einen bekümmerten Laut aus. »Tut mir leid, wenn ich mich mürrisch anhöre. Ich glaube lediglich, all das ist hoffnungslos. Dein Junge ist tot, Charlie.«
»Das ist er nicht«, sagte Charles. »Graue Eule? Kommst du mit, oder bleibst du hier?«
»Wir gehen.« Der Fährtensucher musterte mit unbehaglichem Gesichtsausdruck das Dorf. »Aber ladet zuerst die Gewehre.«
Es war ein herrlich milder Tag. Kein Tag für Tragödien, für einen verschwundenen Sohn oder einen hungernden Magen. Der Wind trieb flauschige Wolken über den Himmel, die majestätische, langsam dahinziehende Schatten warfen. Durch diese Schatten ritten sie hintereinander im Zickzackmuster, so wie Charles es von Jackson gelernt hatte.
Einer der mit einem Fell bekleideten Tänzer entdeckte sie zuerst. Er zeigte auf sie und stieß einen Schrei aus. Das Trommeln hörte auf. Männer, Frauen und Kinder stürzten auf die Seite des Camps, der sich die Fremden näherten. Die Männer waren in mittleren Jahren oder älter; die Krieger suchten zweifellos irgendwo nach Nahrung. Noch ein gutes Stück außer Rufweite sah Charles die Sonne auf Lanzenspitzen und Messerklingen blitzen. Nirgendwo sprangen Hunde herum. Die Tipis waren verwittert und zerrissen. Ein Hauch von Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit lag über dem Dorf.
Der Wind blies ihnen immer noch ins Gesicht. Charles roch Abfälle, Rauch und säuerliche Leiber. Die abgezehrten, zornigen Gesichter hinter den Tänzern gefielen ihm ganz und gar nicht, genausowenig wie der trotzige, wilde Ausdruck auf dem Gesicht des kräftigen alten Kriegers, der mit seiner acht Fuß langen, roten Lanze und seinem runden, roten Schild aus Büffelhaut auf sie zukam. Die Hörner seines Kopfschmucks waren rot, aber das Rot war verblaßt; er hatte sich in Kriegen ausgezeichnet, die viele Winter zurücklagen.
Charles streckte seine Hand mit der Handfläche nach oben aus und sprach den Indianer in dessen Sprache an.
»Wir kommen in Frieden.«
»Seid ihr Jäger?«
»Nein. Wir suchen nach einem kleinen Jungen, meinem Sohn.« Das löste Geflüster bei einigen Großmüttern aus. Auch Magee bekam es mit und zog eine Augenbraue hoch. Diese halb verhungerten alten Frauen mit ihren wäßrigen Augen reagierten so, als wüßten sie, wovon Charles sprach. »Dürfen wir für eine Weile ins Dorf kommen?«
Häuptling Roter Bär stieß seinen Schild vor. »Nein. Ich kenne den Mann neben dir. Er wandte sein Gesicht vom Volk ab, um den weißen Teufeln in den Forts zu helfen. Ich kenne dich, Graue Eule«, rief er und schüttelte Schild und Lanze. Einer der Tänzer mit einem Fellfetzen auf dem Kopf duckte sich; seine Messerspitze beschrieb kleine, provozierende Kreise.
»Ihr seid Soldaten«, sagte der Häuptling.
Der Häuptling deutete mit seiner Lanze auf den Fährtensucher und brüllte: »Soldaten! Holt Pfeifende Schlange aus dem Massaum-Zelt!«
Magee zog seine Spencer langsam vom Sattel hoch. »Nicht«, sagte Charles auf englisch. »Ein Schuß, und sie zerreißen uns.«
»Schaut so aus, als täten sie das so oder so.« Ein leichtes Zittern schwang in Magees Stimme mit; Charles fürchtete, daß er recht hatte. Mehr als hundert Menschen standen ihnen gegenüber. Was physische Kraft anbelangte, so konnte keiner der Cheyenne ihnen das Wasser reichen. Hunger und Alter hatten sie geschwächt. Zahlenmäßig jedoch hatten sie den Kampf schon gewonnen, noch bevor er begonnen hatte.
»Kennst du diese Pfeifende Schlange?« erkundigte sich Charles bei Graue Eule.
»Priester«, erwiderte Graue Eule fast unhörbar. »Häßliches Gesicht. Als junger Mann verbrannte er sich das Gesicht mit Feuer, um seine magischen Kräfte zu beweisen. Selbst Häuptlinge wie Roter Bär fürchten ihn. Das ist sehr übel.«
Kleine Jungs flitzten vor, um die Pferde zu streicheln. Die Tiere tänzelten nervös beiseite, ließen sich nur mühsam kontrollieren. Indianermütter kicherten und stießen sich gegenseitig an, musterten die Spurenleser, als wären sie eine Fleischlieferung laut Vertrag. Charles wußte nicht, was er tun sollte. Er hatte darauf gewettet, ein verdecktes As zu haben, und hatte dann eine Drei umgedreht.
Ein letzter Versuch. »Häuptling Roter Bär, ich wiederhole, wir wollen nur fragen, ob jemand in deinem Dorf einen weißen Mann gesehen hat, der mit einem kleinen ...«
Die Menge teilte sich wie unter einem Beilhieb. Ein ängstliches, ehrerbietiges Seufzen stieg auf. Der Blick des alten Häuptlings war merkwürdig spöttisch. Der Priester, Pfeifende Schlange, kam den mit menschlichem Abfall übersäten Weg entlang.
MADELINES JOURNAL
April 1869. Die Schule hat einen neuen Globus, eine Weltkarte für die Wand und acht Schülerpulte als Ersatz für die selbstgemachten. Eine Gruppe angesehener Erzieher aus Connecticut plant einen Besuch für den nächsten Monat. Prudence besteht darauf, daß wir die ganze Schule putzen und auf Hochglanz bringen.
Das Kreischen der Sägen und das Rattern der Minenkarren, das ich neben den lieblichen Geräuschen des Hausbaus höre, erinnern mich daran, daß wir uns jetzt auch Fenster für das Schulhaus leisten können anstelle der Läden. Andy wird sie einglasen. Prudence und ich und ein paar von den Jungen können die anderen Aufgaben abends erledigen. Die richtige Arbeit für einsame Frauen: anstrengend, ermüdend. Prudence, stark wie ein Fuhrknecht, wird jeden Monat ein bißchen kräftiger. Obwohl sie immer noch ihre Lieblingspassagen zitiert, entdecke ich jetzt eine gewisse Traurigkeit in ihren Augen. Ich glaube, sie weiß, daß sie eine Jungfer bleiben wird - so wie ich eine Witwe bleiben werde. Zu arbeiten, bis der ganze Körper schmerzt, scheint die beste Medizin gegen Einsamkeit.
Eine andere Art von Trauer teile ich mit Jane. Sie hat mir erzählt, daß sie trotz langjähriger Bemühungen kein Kind bekommen kann. Prudence, die Shermans, Orrys sinnloser Tod - all das scheint irgendwie miteinander verbunden. Legt es Zeugnis davon ab, daß uns nie ein glückliches Leben garantiert wird, sondern nur das Leben selbst?
Bin einem jungen, ärmlich gekleideten Mann auf einem weißen Pferd auf der Uferstraße begegnet. Er grüßte nicht, starrte mich aber an, als würde er mich kennen. Trotz seiner Jugend lag ein grausamer Zug in seinem Gesicht. Er ist kein gutherziger Nordstaatler, der unsere Schule inspizieren will, vermute ich ... Andy sah ihn heute morgen.
Bin ihm wieder begegnet. Grüßte ihn. Er trieb sein weißes Pferd auf mich zu, als wollte er mich niederreiten. Ich mußte mich seitlich ins Unkraut werfen. Einen Augenblick lang blitzte sein Gesicht über mir auf, eine Inkarnation des Hasses ...
... Seit zwei Tagen keine Spur von ihm. Ich hoffe, er ist weitergeritten, um andere zu terrorisieren .
Von dem kleinen Negerfriedhof außerhalb von Charleston hatte man einen schönen Ausblick auf den Ashley. Der Boden um die Grabhügel herum war ein modriger Teppich brauner, verfaulender Blätter. Sträuße verwelkter Sonnenblumen, sogar bräunlicher Löwenzahn lagen auf den Gräbern. Es war ein armseliger, verwahrloster Friedhof.
Des LaMotte betete kniend vor einem Holzkreuz, in das er eine kreisförmige Vertiefung geschnitzt und eine gesprungene Tafel eingepaßt hatte. Über der Platte hatte er eine Inschrift in das Holzkreuz geschnitzt.
JUBA
Du warst treu in wenigen Dingen, so werde ich dich zum Herrscher über viele Dinge machen.
Matt. 25, 21
Wo die Bäume den Blick auf das Wasser freigaben, leuchtete ein silberfarbener Himmel in seltsam drohendem Glanz. Vom Atlantik her wehte ein stärker werdender Nordostwind. Für die Frühlingszeit war es zu kalt. Vielleicht spürte Des auch nur die Auswirkungen der verstreichenden Zeit und der Armut und seiner merkwürdigen Unfähigkeit, mit seinem Feind abzurechnen. Nach der Mühsal des Krieges und den inzwischen verstrichenen Jahren sehnte er sich nicht mehr so wild und heftig nach Rache. Ehre war weniger wichtig als Brot oder das winzige Zim-merchen in der Stadt. >LaMotte-Ehre<, das hatte nun den komischen Klang eines Satzes in fremder Sprache, der sich unmöglich übersetzen ließ.
Seine alten Bindungen an die Vergangenheit waren dahin. Fer-ris Brixham, tot. Sallie Sue, tot. Mrs. Asia LaMotte, tot; vor anderthalb Jahren hatte der Krebs ihr Inneres aufgefressen. Und jetzt Juba; der letzte. Gegen Ende zu war er so verkrüppelt gewesen, daß er nicht mehr von seinem Lager hatte wegkriechen können. Des hatte ihn gefüttert und gebadet und gesäubert, als wäre er irgendein letztes, kostbares Relikt aus einem niedergerissenen Haus. Juba war im Schlaf gestorben, und Des hatte im Schein einer Kerze fast eine Stunde lang die Leiche angestarrt. Das Dahinscheiden seines Dieners erinnerte ihn daran, daß der menschliche Körper auch so schon vergänglich genug war, auch ohne daß man ihn absichtlich irgendwelchen Gefahren aussetzte. Der Heißsporn, der sich Cooper Main auf der Plankenbrücke gegenübergestellt hatte, erschien ihm nun wie ein alberner, ferner Verwandter, der keine Ahnung von den Realitäten des Lebens hatte und dessen Vorstellungen nicht länger Bestand hatten. Des war alt, er war krank; er hatte lange genug gekämpft.
Er machte sich daran, aufzustehen. Das bedurfte einer geistigen Vorbereitung, weil er wußte, daß seine Knie knirschen und schmerzen würden. Merkwürdig, daß die gleichen arthritischen Beschwerden, die Juba gequält hatten, nun auch ihn in viel jüngeren Jahren befielen. Er konnte keinen einzigen Tanzschritt mehr graziös ausführen. Das war ein weiterer Teil seines Lebens, der vorbei war. Die Abnutzungserscheinungen der Jahre zeigten sich in den traurigen Linien seines Gesichts sowie in seinem Karottenhaar, das von den weißen Strähnen nun wie von einem Dreizack durchzogen wurde.
Er wollte sich gerade erheben, da hörte er das Geräusch von Pferdehufen im Friedhof. Stöhnend stand er auf und drehte sich um. Er hatte mit irgendeinem schwarzen Siedler gerechnet und sah nun überrascht einen weißen Mann vor sich. Hinter dem Mann brodelten die Wolken wie schwarze Suppe in einem heißen Kessel.
Der Fremde war jung, kaum mehr als zwanzig. Er trug einen alten, schwarzen Mantel mit hochgestelltem Kragen. Er hatte sich sorgfältig rasiert, aber sein schwarzer Bart schimmerte durch. Die Sonne hatte ihm Nase, Backenknochen und Hände verbrannt. Als der junge Mann von seinem weißlichen Pferd stieg, sah Des seinen Nacken. Rot von der Feldarbeit.
Während der junge Mann auf Des zukam, nahm dieser weitere Einzelheiten wahr. Etwas stimmte nicht mit dem linken Auge des Fremden; es hatte den starren Ausdruck der Blindheit. Das Pferd ließ Des an die Offenbarung denken: Und der Name, den sie ihm gaben, lautete Tod.
»Sie sind Desmond LaMotte?«
»Das bin ich, Sir.«
»Man sagte mir, ich würde Sie hier finden.«
Des wartete. Der Fremde strahlte eine unterdrückte, wilde Grausamkeit aus. Irgendwie paßte das zu seinem rohen, roten Gesicht, den roten Händen, dem roten Nacken, dem gespenstisch starrenden Auge. Der Anblick machte Des angst.
Er sah keine Waffe, doch seine langen Beine begannen zu zittern, als der Fremde die zahlreichen Taschen seines fadenscheinigen Mantels zu durchsuchen begann. »Ich bin Benjamin Ryan Tillman vom York County, Sir. Ich bin auf Anweisung hergeritten, um mit Ihnen zu sprechen.«
»York County.« Das war ein weiter Weg; noch über Columbia hinaus, nahe der Grenze zu North Carolina. »Ich kenne niemanden im York County.«
»Oh doch«, sagte Tillmann und streckte ihm das entgegen, was er endlich in seinen Taschen gefunden hatte - einen bereits vergilbten Zeitungsausschnitt. Die Überschrift verblüffte Des.
DER KU-KLUX Die Überreste von Detective Barmore entdeckt
Des' Furcht verstärkte sich. Der Nordostwind riß an der Ecke des Zeitungsartikels, der aus irgendeiner Zeitung in Nashville stammte. »Ich verstehe das nicht, Sir«, fing er an.
»Ich bin hier, um es Ihnen zu erklären. In dem Bericht heißt es, daß die Leiche des Mannes in einem Wäldchen gefunden wurde, zusammen mit einem leeren Notizbuch und einem Teil seiner K.-K.-K.-Ausrüstung.«
»Was hat das mit mir zu tun?«
»Ich bin hier, um Ihnen auch das zu erklären. Dieser weiße Mann, Barmore, hat drüben in Tennessee einen Befehl des Großen Drachen nicht ausgeführt.« Tillman nahm den Zeitungsausschnitt aus Des' blasser Hand. »Der Große Drache von Carolina wollte Ihnen zeigen, daß das Unsichtbare Reich keinen Ungehorsam duldet.«
Des spürte plötzlich den heftigen Drang, Wasser zu lassen. Das gute Auge des Fremden glitzerte fanatisch. Der Wind, mittlerweile fast schon ein Sturm, fegte Blätter in wirbelnden Wolken an ihnen vorbei. Alte Äste knirschten und ächzten. Einer brach ab und segelte davon.
»Ich habe nie einen Befehl verweigert«, protestierte Des.
»Und Sie werden auch den nicht verweigern, den ich Ihnen jetzt erteilen werde. Ihre Gruppe kontrolliert den Bezirk nicht so, wie es sich gehört. Jedermann im Staat weiß Bescheid über diese Frau auf Mont Royal, die links und rechts Geld scheffelt mit ihrer Sägemühle und ihrem Phosphat, während sie diese Niggerschule unterhält.«
Des' Magen schmerzte. »Wir haben versucht, die Schule niederzubrennen.«
»Versucht«, sagte Tillman; er spuckte das Wort so heftig aus, daß Des' Gesicht von kleinen Speicheltropfen übersprüht wurde. »Ein Versuch ist nicht gut genug. Ihr habt es verpatzt. Jetzt kommen die verdammten Yankee-Politiker und Bibelwälzer runter, schauen sich die Schule an und loben sie. Das ist ein Gestank in der Nase gottesfürchtiger weißer Männer. Sie müssen das beseitigen, LaMotte. Wenn nicht, dann werden Sie so enden wie Barmore in Tennessee.«
»Wissen Sie überhaupt, wen Sie vor sich haben?« brüllte Des. »Ich habe im ganzen Krieg bei den Palmetto Rifles gekämpft. Ein Eliteregiment. Was haben Sie getan? Zu Hause gesessen mit den anderen rotnackigen Farmerjungen?«
»Sie Scheißkerl von einem Charleston-Snob!« Wieder spuckte er; etwas ungemein Primitives und Gefährliches strahlte von ihm aus. »Zwei Jahre lag ich krank darnieder, versuchte gesund genug zu werden, um in die Armee einzutreten. Ich habe das Licht meines einen Auges verloren, zwei meiner Brüder sind an ihren Kriegsverletzungen gestorben, ein weiterer am Lagerfieber. Ich stehe unerschütterlich für den Süden und die weiße Rasse ein, und dafür habe ich getötet. Ich reite für den Klan im York County, und ich gebe Ihnen nur eine Warnung. Der Große Drache und Carolina wollen hier unten Blut sehen. Niggerblut. Diese Main. Holen Sie Ihre Gruppe zusammen, erledigen Sie die Schule, erledigen Sie dieses Weib. Kapiert?«
»Ja-jawohl.«
»Das gilt auch für den Rest Ihrer Gruppe.«
»Glauben Sie mir, Tillman, ich will doch dasselbe wie Sie. Was der Klan will. Aber letztes Mal trafen wir auf Widerstand, und jetzt wird der Widerstand noch größer sein. Es gibt eine Negermiliz auf Mont Royal.«
»Niemand schert sich darum, ob sämtliche Erzengel mit ihren Harfen und Heiligenscheinen auf Wache stehen«, sagte Tillman. »Entweder das Weib ist in dreißig Tagen erledigt, oder Sie sind erledigt. Ich werde mit Vergnügen zurückkommen, um das Urteil zu vollstrecken.«
Er starrte Des an, bis dieser wegschaute. Dann stopfte er mit einem höhnischen Kichern den Zeitungsausschnitt in die Tasche von Des' Mantel, ging auf sein Pferd zu und schwang sich in den Sattel. »Guten Tag, Sir«, sagte er und ritt vom Friedhof; sein schwarzer Mantel hatte die gleiche Farbe wie der Himmel vor ihm.
Erschöpft lehnte sich Des gegen einen Baum. Er las die Barmore-Story einmal, zweimal. Er bezweifelte nicht die Ernsthaftigkeit der Warnung seines Besuchers. Dieser Fremde, Benjamin Ryan Tillman aus dem York County, gehörte zu den einschüch-terndsten menschlichen Wesen, denen er je begegnet war. Bei seinem Anblick mußte Des an Römer denken, die Christen niedermetzelten, und an spanische Inquisitoren. Carolina würde von diesem jungen Kerl noch hören, falls ihn die Neger nicht zuvor umbrachten, um sich selbst zu retten.
In dem heulenden Wind ritt er auf Jubas Maultier zurück nach Charleston.
Bei Einbruch der Dunkelheit machte er sich auf den Weg zum Dixie-Laden in Summerton. Dort befahl er Gettys, Sprengstoff zu kaufen. Gettys stotterte, das sei zu gefährlich. Des sagte ihm, er solle nach Savannah oder, falls notwendig, nach Augusta reiten. Er sagte ihm, es handle sich um einen Befehl des Klans. Er teilte ihm das Urteil des Klans mit, falls sie versagten. Danach machte Gettys keine weiteren Einwände.
Obwohl Pfeifende Schlange mindestens siebzig Winter zählte, bewegte er sich mit der Energie eines jungen Mannes. Nacken und Unterarme wirkten straff und sehnig. Sein schlohweißes Haar war ganz schlicht in der Mitte geteilt und ohne jeden Schmuck zu Zöpfen geflochten. Er trug einen Lederkittel, den die Jahre stumpfgolden gefärbt hatten. Ein schlichter Ledergürtel hielt den Kittel in der Taille zusammen. In Brusthöhe hielt er in der rechten Hand einen Fächer aus goldenen Adlerfedern, zwei Fuß von Spitze zu Spitze.
Charles konnte sich nicht entsinnen, je einen alten Mann mit einer derartigen Aura von Stärke und Kraft gesehen zu haben. Oder menschliche Augen, die so arrogant und unangenehm dreinblickten. Die rechte Iris war hinter aufgeworfenem, gefälteltem Fleisch nur teilweise sichtbar. Narbengesicht hatte eine glatte Haut im Vergleich zu Pfeifende Schlange, der aussah, als wäre sein Fleisch von der Schläfe bis zum Kiefer geschmolzen und anschließend zu harten Kanten und schroffen Furchen zusammengeschoben worden. Einkerbungen wie große, verheilte Nagelwunden zerrissen die Fleischkanten. Der Mann sah abscheulich aus, was ihn um so stärker wirken ließ.
»Sie sagen, sie suchen seinen Sohn«, erklärte Roter Bär dem Priester mit einem Nicken in Richtung Charles.
Pfeifende Schlange betrachtete ihn, fächelte sich dabei mit einer kleinen Drehung seines knochigen Handgelenks Luft zu. Ein rundliches, kleines, nacktes Kind schwankte auf ihn zu, wollte nach ihm greifen. Mit ängstlichen Augen riß seine Mutter es zurück.
Der Priester wedelte mit dem Fächer in Richtung Magee. »Büffelsoldat. Tötet sie.«
»Zum Teufel mit dir«, sagte Charles. »Es gibt auch noch andere schwarze Männer in der Prärie außer Büffelsoldaten. Das ist mein Freund. Er kommt in Frieden. Ich auch. Wir suchen meinen kleinen Jungen. Ein anderer weißer Mann hat ihn gestohlen. Ein großer Mann. Er trägt vielleicht Weibertand. Hier.«
Er zog an seinem Ohrläppchen. Ein älterer Cheyenne bedeckte seinen Mund, während seine Augen hervorquollen. Charles hörte das aufgeregte Gemurmel der Frauen, bevor Roter Bär sie mit einem Blick zum Schweigen brachte. Charles Magen verknotete sich. Sie hatten Bent gesehen.
Der Priester fächelte sich. »Tötet sie.« Die braune Iris verschob sich in dem Narbengewebe. »Zuerst den dort, den Verräter an dem Volk.«
Das Pony von Graue Eule begann zu tänzeln, als strömten unsichtbare Kräfte von dem Priester auf seine Feinde über. Das Pony wieherte. Graue Eule konnte es nur mit Mühe kontrollieren. Sein Gesicht zeigte ein für ihn ungewöhnliches Gefühl: Furcht.
Magee flüsterte auf englisch aus dem Mundwinkel: »Was sagt dieser alte Bastard?«
»Er hat ihnen befohlen, uns zu töten.«
Magee schluckte. »Das lassen sie besser bleiben. Ich möchte hier mit der Wolle auf meinem Kopf wieder rauskommen. Ich möchte Schöne Augen wiedersehen.« Die Squaw, vermutete Charles. »Ich werde hier nicht ins Gras beißen. Ich bin von niggerhassendem Saloonabschaum verprügelt ...«
Der Priester winkte mit seinem Fächer, rief in Cheyenne: »Schluß mit dieser fremden Zunge.«
»Ich bin von weißen Soldaten runtergemacht worden, die es nicht mal wert waren, die Stiefel eines echten Mannes zu putzen. Ich werde mich doch nicht von einem alten, fächerwedelnden Indianer so einfach von der Erde fegen lassen!« Ein seltsamer, aus der Furcht geborener Zorn trieb Magee an. Er wedelte mit seiner Melone, so wie Pfeifende Schlange mit seinem Fächer gewedelt hatte. »Sag ihm, er soll es nicht wagen, einen Zauberer anzurühren.«
»Einen was?« Charles war so verblüfft, daß er den Rest nicht mehr herausbrachte.
»Der größte, gemeinste aller schwarzen Zauberer dieses Universums. Das bin ich!« Magee warf die Arme wie ein Prediger in die Luft; er befand sich wieder in Chicago, eingekreist, und nur sein Witz und seine Geistesgegenwart konnten verhindern, daß er verprügelt wurde.
Roter Bär wich vor ihm zurück. Ein fetter Großvater legte schützend einen Arm um seine Frau. Magee wirkte unheilvoll, wie er da brüllend mit erhobenen Armen auf seinem Pferd saß. »Ich werde dieses Dorf mit Wind, Hagel und Feuer dem Erdboden gleichmachen, wenn sie uns anrühren oder uns nicht das sagen, was wir wissen wollen.« Ein Augenblick des Schweigens. Dann brüllte er Charles wie ein Hauptfeldwebel an: »Sag's ihnen, Charlie!«
Charles übersetzte. Wo er zögerte, beispielsweise bei dem Wort für Hagel, sprang Graue Eule helfend ein. Pfeifende Schlange fächelte schneller. Roter Bär beobachtete den Priester, wartete auf dessen Reaktion; momentan hatte Pfeifende Schlange das Kommando. »Er ist ein großer Zauberer?« fragte Pfeifende Schlange.
»Der größte, den ich kenne«, sagte Charles und fragte sich, ob er verrückt geworden war. Doch was hatten sie für eine Alternative? Höchstens den sofortigen Tod.
»Ich bin der größte Zauberer«, sagte der Priester. Charles übersetzte. Magee, mittlerweile ruhiger, schnaubte.
»Alter Angeber.«
»Nein«, sagte Charles und deutete auf Magee. »Er ist der Größte.«
Zum erstenmal lächelte Pfeifende Schlange. Er besaß nur noch vier weit auseinanderstehende Zähne im Oberkiefer. Sie sahen aus wie Fangzähne, so als hätte er sie zurechtgefeilt.
»Bringt sie ins Dorf«, sagte er zu Roter Bär. »Gebt ihnen zu essen. Nach Sonnenuntergang werden wir sehen, wer der größte Zauberer ist. Danach werden wir sie töten.«
Über den Rand seines Federfächers musterte er Magee. Er lachte auf, ein trockenes Kichern. Dann wandte er sich ab und marschierte majestätisch ins Dorf zurück.
Magee schaute benommen drein. »Mein Gott, ich hätte nie gedacht, daß er darauf eingehen würde.«
»Kannst du ihm was vorführen?« flüsterte Charles.
»Ein paar Sachen hab' ich dabei, wie immer. Aber das ist nur Kleinkram. Dieser alte Indianer, der hat was an sich. So als würde der Teufel in seinem Ohr singen.«
»Er ist nur ein Mensch«, sagte Charles.
Graue Eule schüttelte den Kopf. »Er ist mehr als das. Er steht mit dem allmächtigen Geist in Verbindung.«
»Lord«, sagte Magee. »Und ich habe nichts weiter als ein paar Saloontricks.«
Der Sonnenglanz über der Prärie wirkte plötzlich kostbar und wertvoll; dieser Morgen mochte der letzte sein, den sie je sehen würden.
Die Cheyenne brachten die drei in ein stinkendes Tipi und stellten ein paar alte Männer als Wachposten davor. Eine Frau brachte Schüsseln mit kaltem, ungenießbarem Stew. Kurz vor Einbruch der Dunkelheit entzündeten die Dorfbewohner ein riesiges Feuer; Flöte und Handtrommel machten Musik.
Eine Stunde ging mit Gesängen und Tänzen vorbei. Charles kaute auf seiner letzten Zigarre herum, hegte und pflegte die abergläubische Gewißheit, daß sie hier nicht lebend herauskommen würden, wenn er sie rauchte. Graue Eule saß in seine Decke gewickelt da, als würde er schlafen. Magee öffnete seine Satteltaschen, wühlte darin herum, machte Bestandsaufnahme, schloß sie wieder; zehn Minuten später fing er damit wieder von vorn an. Das Trommeln wurde lauter. Charles schätzte, daß ungefähr zwei Stunden vergangen sein mochten, als Magee aufsprang und gegen seine Satteltaschen trat. »Wie lange wollen sie uns noch auf die Folter spannen?«
Graue Eule hob den Kopf. Seine Augenlider hoben sich. »Der Priester will, daß du dich so fühlst. Er kann dann ein anderes, ruhiges Gesicht zeigen.«
Magee blies die Backen auf. Charles sagte: »Ich wollte, ich hätte uns nicht in diese Situation .«
»Das hab' ich getan«, sagte Magee fast knurrend. »Ich habe uns in diese Situation gebracht. Ich werd' uns auch wieder rausbringen. Selbst wenn ich bloß ein Niggerzauberer aus dem Saloon bin.«
Ein paar Minuten später wurden sie von den Wachen hinausgeführt. Schweigen senkte sich über den Menschenring um das Feuer herum. Die Männer saßen. Frauen und Kinder standen hinter ihnen.
Es war ein windstiller Abend. Die Flammen stiegen senkrecht empor, Funken schossen zu den Sternen hoch. Pfeifende Schlange saß neben Häuptling Roter Bär. Letzterer zeigte ein verwaschenes Lächeln, als hätte er getrunken. Pfeifende Schlange war gefaßt, wie Graue Eule es vorausgesagt hatte. Sein Fächer lag in seinem Schoß.
Für Charles wurde ein Sitzplatz freigemacht. Roter Bär bedeutete ihm, sich zu setzen. Graue Eule wurde grob zu den Frauen gezerrt, eine weitere Strafe für seinen Verrat. Der Großvater links neben Charles zog ein Messer aus seinem Gürtel und prüfte die Klinge, während er Charles starr ansah. Charles kaute auf seiner kalten Zigarre herum.
Roter Bär sagte: »Anfangen.«
Magee legte seine Satteltaschen flach auf den Boden. Charles betrachtete den Kreis um das Lagerfeuer wie eine Uhr. Magee befand sich auf zwölf Uhr, Pfeifende Schlange auf neun Uhr, er selbst saß auf drei Uhr und Graue Eule hinter ihm zwischen vier und fünf.
Magee räusperte sich, blies in seine Hände, griff nach seiner Melone und ließ sie über die ganze Länge seines Armes in seine Hand rollen. Ein alter Großvater lachte und klatschte. Pfeifende Schlange schoß ihm einen Blick zu. Er hörte auf zu klatschen.
Magee, bereits schweißglänzend, zog ein blaues Seidentuch aus einer Satteltasche und stopfte es in seine geschlossene Faust. Er sang dazu: »Kolonne rechts, Kolonne links, im Laufschritt, Hokuspokus.«
Roter Bär zeigte ein leichtes, neugieriges Stirnrunzeln. Pfeifende Schlange fächelte. Charles' Magen wog mindestens zwanzig Pfund. Sie waren dem Untergang geweiht.
Magee zog ein schwarzes Tuch aus seiner Faust und öffnete sie dann, um zu zeigen, daß sie leer war. Er wedelte mit dem Tuch wie ein Stierkämpfer, führte beide Seiten vor und setzte sich wieder. Pfeifende Schlange ließ sich herab, Charles einen Blick zuzuwerfen. Die vier gefeilten Zähne blitzten in überlegener Verachtung auf.
Pfeifende Schlange übergab Roter Bär feierlich seinen Fächer. Er erhob sich. Unter seiner Robe holte er einen Beutel aus rotem Flanell hervor. Er drehte ihn um, zeigte beide Seiten, ballte ihn wieder zusammen. Dann begann er plötzlich mit einem Singsang und hüpfte dazu tanzend im Kreis herum. Während er sang und tanzte, hielt er die oberen Ecken des Beutels mit Daumen und Zeigefinger jeder Hand.
Die Köpfe zweier Schlangen mit glitzernden Augen stiegen plötzlich aus dem Maul des Beutels. Die Leute japsten. Für einen Augenblick war Charles verblüfft. Dann, als die Schlangen wieder in den Beutel zurücksanken, fiel ihm ihre mangelnde Beweglichkeit auf. Magee, der mit untergeschlagenen Beinen neben seinen Satteltaschen saß, warf ihm einen angewiderten Blick zu. Auch er hatte die Schlangen als das erkannt, was sie waren: Schlangenhaut, über Holz geklebt.
Die Cheyenne jedoch hielten es für einen beeindruckenden Trick. Singend und tanzend drehte Pfeifende Schlange eine ganze Runde um das Feuer und führte in jedem Viertel die sich aufbäumenden Schlangen vor. Er beendete die Runde und knüllte den Beutel zusammen, bevor er sich setzte. Mit offensichtlicher Befriedigung fächelte er sich Luft zu.
Die Gesichter der Cheyenne glänzten im Schein des Feuers. Die Atmosphäre eines beschwingten Wettkampfes war verschwunden. Pfeifende Schlange starrte den schwarzen Soldaten an, als wäre er ein Wild, das gekocht und verspeist werden sollte.
Magee förderte einen mit Stachelschweinborsten besetzten Beutel zutage. Dem Beutel entnahm er drei weiße Hühnerfedern. Er steckte zwei davon in seinen Ledergürtel und verwandelte die dritte in einen weißen Stein. Er hielt den Stein in seinem Mund, während er die beiden anderen Federn verwandelte. Nacheinander nahm er die drei Steine aus seinem Mund, fuhr mit einer Hand darüber und verwandelte die Steine wieder in Federn. Als er wieder drei Federn im Gürtel stecken hatte, verbarg er sie unter einer Hand und strich mit der anderen darüber. Er öffnete den Mund und holte drei Federn hervor. Er zeigte seine leeren Hände, griff hinter den Kopf eines sitzenden Mannes und produzierte drei weiße Steine.
Er musterte die Menge, wartete auf ein Zeichen der Verblüffung oder des Beifalls. Er schaute in harte, funkelnde Augen. Charles erkannte, daß Magee während des Tricks keine geheimnisvollen Worte oder irgendeinen Singsang von sich gegeben hatte. Mit niedergeschlagener Miene setzte sich der schwarze Soldat wieder hin.
Pfeifende Schlange erhob sich mit überlegener Arroganz. Wieder reichte er dem Dorfhäuptling seinen Fächer. Er zeigte der Menge seine Handflächen; Charles sah die kräftigen Muskeln an seinen Unterarmen. Singend trat der Priester mit zurückgeworfenem Kopf dicht an das Feuer heran und hielt seine rechte Handfläche direkt in die Flamme.
Langsam senkte er die linke Hand ab, bis sie sich neben der rechten befand. Sein Gesicht zeigte kein Anzeichen von Schmerz. Seine Stimme schwankte nicht. Magee saß steif wie ein Pfosten da; in seinen Augen lagen Neugier und Bewunderung. Momentan hatte er vergessen, daß der Cheyenne ihn töten, ihm seine Wolle nehmen und in seinem Zelt aufhängen wollte. Der Zauber hatte ihn gepackt.
Ein großes Seufzen - »ah! ah!« - lief durch den Kreis, gefolgt von Lächeln, Grunzen und verächtlichen Blicken in Richtung der drei Eindringlinge. Langsam nahm Pfeifende Schlange seine linke Hand aus dem Feuer. Dann seine rechte Hand. Die weißen Härchen auf seinem Unterarm kringelten sich, winzige Rauchwölkchen stiegen auf. Seine Handflächen zeigten keine Blasen, hatten sich nicht einmal verfärbt.
Charles schaute Graue Eule an, dessen Gesicht soviel Ausdruck zeigte wie die Granitfelsen der Wichitas. Zweifellos versuchte er das zu verbergen, was sie alle ohnehin wußten. Magee warf Charles einen weiteren, fast schon entschuldigenden Blick zu. Charles lächelte, als wollte er ihm sagen, er solle sich keine Sorgen machen. Magee stand mit bedrücktem Gesichtsausdruck auf. Charles griff sich einen Zweig aus dem Feuer und zündete mit dem glühenden Ende seine letzte Zigarre an.
Aus einer Satteltasche holte Magee einen Lederbeutel, den er vorsichtig auf den Boden legte. Dann nahm er ein kleines, handgeschnitztes Holzkistchen heraus, das er öffnete und zur Schau stellte. Das Kistchen enthielt vier bleifarbene Kugeln, wie sie Charles seit Jahren nicht mehr gesehen hatte. Magee griff nach einer Kugel und plazierte sie sorgfältig zwischen seine Zähne. Danach schloß er die Kiste und stellte sie beiseite. Mit einer flüssigen Handbewegung riß er einen Revolver aus der Satteltasche.
Mehrere Cheyenne sprangen auf, hielten ihre Messer und Lanzen bereit. Magee machte schnell das Friedenszeichen. Er balancierte den Revolver auf seiner Handfläche und drehte sich langsam im Kreis, damit ihn alle sehen konnten. Wo hatte er nur einen alten Steinschloßrevolver aufgetrieben, wunderte sich Charles. Der Lauf wies keinen Rost auf. Magee hatte ihn sehr sorgfältig geputzt.
Mit langsamen, feierlichen Bewegungen öffnete Magee den Lederbeutel, drehte ihn um und ließ Pulver in den Lauf rinnen. Plötzlich stampfte er zweimal mit dem rechten Fuß auf, als hätte ihn ein Insekt gestochen. Genau wie die anderen schaute Charles nach unten und konnte nichts erkennen.
Magee stoppte den Fluß des Pulvers und warf den Beutel beiseite. Er entdeckte einen Flicken in seiner Tasche und wickelte ihn um die Kugel, die er zwischen den Zähnen gehabt hatte. Er ließ Kugel und Flicken in den Lauf gleiten, löste den darunter festgeklemmten Ladestock und stopfte mit sorgfältig drehenden Bewegungen die Kugel fest. Dann bestreute er die Zündpfanne.
Über Magees Backen liefen dicke Schweißtropfen. Er wischte sich die Hände an seinen Hosen ab. Dann gab er Charles ein Zeichen, sich zu erheben.
Verblüfft folgte Charles dem Signal. Magee warf Roter Bär einen Blick zu. Die Aufmerksamkeit des Häuptlings konzentrierte sich auf ihn. Pfeifende Schlange bemerkte es und runzelte die Stirn. Sein Fächer bewegte sich schneller.
»Was ich zuvor gezeigt habe, war nur Spielerei«, sagte Magee. »Ich werde vor ihren Augen König Tod töten. Übersetz es ihnen.«
»Magic, ich verstehe nicht, was ...«
»Sag's ihnen, Charlie.«
Er übersetzte. Hände fuhren hoch und bedeckten Münder. Das Feuer krachte und rauchte. Wenn Schweigen Gewicht hatte, dann war dies erdrückend.
Magee machte eine präzise militärische Kehrtwendung. Mit seinen Händen vollführte er eine teilende Bewegung. Die vor ihm Sitzenden sprangen auf und schoben sich beiseite, bis ein Weg von einem Meter Breite frei war. Magee winkte Charles mit gekrümmtem Finger heran. Er reichte Charles die Steinschloßpistole und sah ihm fest und ernst in die Augen.
»Wenn ich es sage, dann erschießt du mich.«
»Was?«
Magee brachte seinen Mund dicht an Charles' Ohr: »Du willst doch hier raus, oder? Dann tu's.« Er gab einen schmatzenden Laut von sich, als hätte er dem weißen Mann einen Kuß gegeben. Einige Cheyenne kicherten über die merkwürdigen Sitten der Eindringlinge.
Magee drückte die Krempe seiner Melone nach unten; der Schatten teilte seine Nase. In dem Schatten glänzten seine Augen wie Elfenbeinscheiben. Er machte zehn lange, schnelle Schritte den geräumten Weg entlang, in der Haltung des perfekten Soldaten. Er hielt an, knallte die Hacken zusammen. Machte eine exakte Kehrtwendung. Er stand einen Fuß von einem Tipi mit einem großen, gezackten Loch in der Seite entfernt.
»Richte die Pistole auf mich, Charlie.«
Mein Gott, wie konnte er das?
»Charlie! Ziel auf meine Brust. Genau in die Mitte.«
Charles spürte, wie der Schweiß in seinen Bart lief. Pfeifende Schlange sprang auf; sein Fächer zuckte hin und her. Auch Roter Bär erhob sich. Charles spannte den Hahn. Magees Hemd saß straff über Rippen und Bauch. Charles' Arm zitterte, als er ihn ausstreckte. Er konnte nicht - er würde nicht ...
Magic Magee sagte: »Jetzt.«
Er sagte es laut, ein Befehl. Charles reagierte auf den Tonfall ebenso wie auf das Wort. Er feuerte. Funken sprühten, trafen die Zündpfanne, die Pistole knallte und ruckte nach oben.
Charles sah eine kleine Staubwolke aufsteigen, als hätte irgend etwas Magees Brust einige Zentimeter unterhalb des Brustbeins getroffen. Magee taumelte einen langen Schritt zurück, schloß die Augen, spreizte die Hände; seine Finger bebten, als wären sie vom Blitz getroffen worden. Dann fielen seine Arme schlaff herunter. Er schlug die Augen auf. Der Fächer von Pfeifende Schlange hing leblos an seiner Seite.
»Wo ist die Kugel?« kreischte Pfeifende Schlange. »Wo hat sie getroffen?«
Mit Exerzierplatzstimme sagte Magee: »König Tod ist tot. Ihr werdet unsere Fragen beantworten und uns ohne Harm ziehen lassen, oder ich werde König Tod zurückholen, der auf den Winden des Hagels und des Feuers reitet und dieses Dorf vernichten wird.« Er brüllte: »Sag's ihnen!«
Charles übersetzte schnell. Die Wachen von Graue Eule hatten sich von ihm zurückgezogen, von der gleichen tiefen Ehrfurcht ergriffen wie er selbst. Während Charles die Worte ausspuckte, sich bemühte, sie ebenso wild und grimmig wie bei Magee klingen zu lassen, musterte er das Hemd. Nirgendwo war ein Riß zu sehen. Magee bürstete sein Hemd ab, als hätte ihn dort irgendwas gekitzelt.
Roter Bär lauschte den Drohungen und sagte sofort: »So sei es.« Pfeifende Schlange kreischte protestierend auf. Der Laut zerbrach den Zauber. Die Cheyenne stürmten vorwärts, drängten sich um Magee, berührten ihn, tätschelten ihn, betasteten seine schwarzen Locken. König Tod war tot, und inmitten der drängenden, lachenden Menge blitzte das Banner seines Besiegers auf; das vertraute, gewaltige Lächeln von Magee, dem Zauberer.
Roter Bär machte eine Pfeife zurecht, während sich Graue Eule um die Pferde kümmerte. Charles wollte nicht das Risiko eingehen, daß die nachgiebige Stimmung dahinschwand, er wollte keine Zeit und womöglich das Leben verlieren. Doch das Zeremoniell erforderte, daß er sich mit Roter Bär ans Feuer setzte. Magee saß rechts von ihm. Der Dorfhäuptling und mehrere der Stammesältesten ließen die Pfeife herumgehen.
Roter Bär hatte Pfeifende Schlange gezwungen, sich der Gruppe anzuschließen. Als die Reihe an ihm war, reichte er die Pfeife weiter, ohne zu rauchen. Er griff sich eine Handvoll Asche vom Rand des Feuers und schleuderte sie auf Charles' gekreuzte Beine. Das graue Pulver bestäubte Charles' Hosen und Stiefel. Roter Bär stieß einen Ruf aus und beschimpfte den Priester, der lediglich seine Hände abstaubte und die Arme verschränkte. Roter Bär schaute peinlich berührt, Graue Eule empört drein.
Da die Asche keinen Schaden angerichtet hatte, vergaß Charles die Sache. Da er seine Zigarre schon aufgeraucht hatte, war er dankbar für einen tiefen Lungenzug aus der Pfeife, obwohl die unbekannte Gräsermixtur, die die Cheyenne rauchten, ihn wie immer leicht benommen und euphorisch machte - in einer Situation wie der ihren nicht unbedingt empfehlenswert.
Roter Bär verhielt sich nicht nur höflich, sondern auch respektvoll. Er bat Charles, noch einmal den weißen Mann zu beschreiben, den er suchte, und sagte dann: »Ja, wir haben diesen Mann gesehen, zusammen mit einem Jungen. Auf der WhiskyRanch von Glyn, dem Händler, am Vermilion Creek. Glyn ist verschwunden, und sie wohnen dort. Ich werde euch den Weg erklären.«
Er deutete nach Süden. Charles war vor lauter Erleichterung so benommen, daß seine Augen tränten.
Schweigend bildeten die Dorfbewohner eine lange Gasse, durch die sie davontrabten. Charles schaute zurück, überzeugt davon, daß das Glück sich jeden Moment von ihnen abwenden könnte. Hinter sich hörte er Graue Eule lachen, ein tiefes, kehliges Lachen. Eine einsame Gestalt blieb, getrennt von den anderen, am Lagerfeuer zurück. Charles sah, wie Pfeifende Schlange seinen goldenen Federfächer hob und verächtlich davonmarschierte.
Sie ritten die ganze Nacht durch, bevor Charles einen Stopp erlaubte. In der kühlen Morgendämmerung ruhten die erschöpften Männer neben den erschöpften Pferden. Charles kniete neben seinem schwarzen Freund.
»Okay, ich weiß, daß du deine Geheimnisse nicht ausplauderst, aber diesmal wirst du's tun. Also, wie hast du das gemacht?«
Magee kicherte und holte das handgeschnitzte Holzkistchen hervor. Er entnahm ihm eine der runden, grauen Kugeln und hielt sie knapp außerhalb von Charles' Reichweite. »Ein alter Magier auf der Durchreise hat mir in Chicago den Trick beigebracht. Wollte ihn schon immer einem Publikum vorführen, aber bis zu diesem Winter konnte ich mir die dazu nötige Pistole nicht leisten. Habe mein Gehalt dafür gespart. Zuerst hielt ich das Pulver knapp. Hat keiner gesehen, weil alle nach unten schauten, als ich so tat, als hätte mich was gestochen. Ein kleines Ablenkungsmanöver. Aber das ist nur die eine Hälfte, ohne die der Trick nicht funktioniert.«
»Das hier ist eine solide Bleikugel.«
Magee grub seinen Fingernagel in die Pistolenkugel, deren Oberfläche sofort nachgab. »Nein, das ist keine solide Kugel, das ist ein anderes Material, das ich kurz in geschmolzenes Blei getaucht habe.«
Er nahm die Kugel zwischen seine Handflächen und rieb sie kräftig. Dann zeigte er ihnen die zerbröselten Überreste, bräunlichen Staub. »Der Rest ist nichts weiter als guter, alter Schlamm aus Kansas. Hart genug, um ein Haus zu bauen, aber nicht annähernd hart genug, um einen Mann zu töten.«
Er blies auf seine Handfläche. Der Staub blitzte gegen die Sonne auf und verteilte sich auf dem Boden. Er lachte.
»Was hältst du davon, wenn wir jetzt losreiten und deinen Jungen holen?«
Eine Stunde später fiel Charles ein, daß er sich nach der Bedeutung der Asche auf seinen Stiefeln hatte erkundigen wollen. Sofort verlor Graue Eule seine gute Laune. Mit bekümmertem Gesichtsausdruck ritt er dahin, bevor er nach einer Weile antwortete.
»Es ist ein Fluch. Wen die Asche berührt, den wird auch Mißerfolg und Tod berühren.«
Diesmal kamen sie von der Uferstraße her angaloppiert. Ihnen lag mehr an Überraschung als an Lautlosigkeit. Ein Dutzend Schwarze, die zur Bezirksmiliz gehörten, wohnten über das ganze Gebiet verteilt in Holzhütten oder kleinen gekalkten Häuschen. Je weniger Zeit ihnen blieb, um mit ihren alten Musketen oder Flinten angerannt zu kommen, desto besser.
Über diese Strategie waren sich die Klansmänner einig, nachdem sie sich an der Kreuzung getroffen hatten.
Zaumzeug klirrte, Sättel knirschten, und Hufe scharrten über die sandige Straße, als sie sich dem weißgetünchten Haus näherten, neben dem sich ein viel größerer, zweistöckiger Bau mit Balken und Sparren erhob. Die Dachbalken zeichneten sich als schräge schwarze Linien gegen die Sterne und das Viertel des Mondes ab. Unter den wuchtigen Bäumen trabten die Klansmänner die Straße zu den alten Sklavenquartieren entlang. Im silbernen Licht des Himmels glänzten ihre Roben und Kapuzen. Ein kurzes Stück rechts vor ihnen sahen sie die erleuchteten Fenster der Schule, hinter denen sich Menschen bewegten. Um so besser.
Des LaMotte, der neben Gettys an der Spitze der Kolonne ritt, spürte, wie sich eine segensreiche Ruhe über ihn senkte. Das war wie eine Heimkehr; wie das Anlegen eines Schiffes nach einer langen, ungewissen Seereise. In dieser Nacht würde alles ein Ende finden.
Die anderen Klansmänner waren genauso zuversichtlich. Einer machte einen Scherz, und ein anderer lachte.
Revolver wurden unter den Roben hervorgeholt. Hähne gespannt. Ein Gewehrlauf schimmerte im Mondlicht. Des hielt sich beide Hände frei. Er führte das Kommando, und er hatte das Privileg, die Lunte zu dem Dynamit anzuzünden.
»Sind die Ladys allmählich fertig?« fragte Andy; es war mehr ein Gähnen. »Muß bald elf sein.« Er saß an einem kleinen Pult mit eisernen Beinen, das zusammen mit anderen in einer Ecke stand. Mit dem Rücken lehnte er sich gegen die neue Tafel. Ein Band der >Kommentare< von Kent lag in seinem Schoß; einzelne Zeilen hatte er leicht mit einem Bleistift unterstrichen.
Vor fünfzehn Minuten war er von ihrem Häuschen herübergekommen, um Jane abzuholen. Sie, Prudence, Madeline und ein magerer, goldfarbener Elfjähriger namens Esau hatten den Abend damit zugebracht, die Schule zu putzen - einschließlich der glänzenden neuen Fensterscheiben, die Andy am Abend zuvor eingesetzt hatte.
»Mir kommt's viel später vor.« Madeline richtete sich steif und verfroren auf. Der Saum ihres weinfarbenen Rockes war feucht. Sie ließ ihren Putzlumpen in einen Holzeimer fallen. In den Fenstern spiegelten sich zwei auf Stühlen stehende Lampen. »Machen wir Schluß. Die Möbel können wir morgen wieder hinstellen.«
»Esau, es war sehr nett von dir, uns zu helfen«, sagte Jane und strich ihm über den Kopf. »Aber ein Junge in deinem Alter sollte jetzt längst im Bett liegen. Andy und ich werden dich heimbringen.«
»Ich wollte helfen«, sagte der Junge. »Es ist meine Schule.«
Madeline lächelte und schob eine graue Haarsträhne aus ihrer Stirn. Sie war erschöpft, aber es war kein unangenehmes Gefühl. Den ganzen Abend hindurch hatten sie entspannt und locker zusammengearbeitet, und nun erstrahlte die Schule in neuem Glanz - bereit für die Besucher aus Connecticut.
Sie bückte sich nach dem Eimer. Ihr Blick fiel durch das vordere Fenster. Hinter den Reflektionen der Lampen schimmerte etwas Rotes. Sofort wußte sie, wer sich da draußen befand.
Sie konnte gerade noch sagen: »Sie sind da.« Ein Schuß aus einer Schrotflinte zerschmetterte das vordere Fenster. Eine Schrotkugel zupfte an Madelines Ärmel, als sie sich neben der Eingangstür gegen die Wand warf. Eine herumfliegende Glasscherbe riß dem verstörten Esau die Wange auf.
Madeline hörte Pferde und Männer, die das Wort »Nigger« brüllten, und sie wußte, daß das Gefühl des Friedens sie getäuscht hatte. Sie hörten einen Mann rufen: »Zünd das Dynamit!«
»Oh mein Gott«, sagte Jane.
Andy schleuderte sein Buch beiseite. »Jemand muß die Männer von der Miliz wecken. Ich übernehme das. Miss Madeline, bringen Sie die anderen hinten raus.«
Mit brechender Stimme sagte Jane: »Nein, das wirst du nicht tun. Sie sind direkt vor der Tür.«
»Ich renne zwischen den Bäumen neben der Straße entlang. Schluß mit dem Gerede! Bewegt euch!« Er gab ihnen einen leichten Stoß, zuerst Madeline, dann Prudence, die von der Arbeit immer noch außer Atem war; sie war zu kräftig, um weit rennen zu können. Madeline zog Esau an sich, umklammerte seinen Kopf mit einer Hand.
»Kommt raus, Nigger. Wenn ihr drin bleibt, werdet ihr sterben.«
Madeline erkannte die Stimme von Gettys. Andy schleuderte den Globus durch das Seitenfenster. Das Ablenkungsmanöver löste eine Salve auf dieser Stelle des Gebäudes aus. Andy nutzte den Krawall aus und zerbrach mit seinem Gesetzbuch das hintere Fenster. Wieder stieß er Madeline voran. »Beeilt euch!«
Jane blieb zurück; Tränen strömten über ihre Wangen. Sie wußte, was passieren konnte, wenn er Hilfe holte. Ihre dunklen Augen waren in lautloser Bitte auf ihn gerichtet. Sein Blick sagte nein. Er gab ihr einen schnellen Kuß auf die Wange und murmelte zum Abschied: »Vergiß nicht, daß ich dich liebe. Und jetzt los.«
Madeline kletterte durch das Fenster. Dann hob Prudence Esau durch die zackige Öffnung, und Madeline half ihm auf den Boden. Andy sprang durch das Seitenfenster und rannte in die Dunkelheit hinein.
Ein Klansmann schrie: »Da rennt einer.« Pferde wieherten. Mindestens zwei Reiter machten sich an die Verfolgung. Der Donner von drei Gewehrschüssen hallte durch die Nacht, kam als Echo zurück. Jane war gerade eben hinter Prudence auf den Boden gesprungen. Sie stieß einen schrecklichen, abgehackten Schrei aus, in dem sich Kummer und Schmerz mischten. Sie wußte, er war tot.
»Das Dynamit!« brüllte jemand vorne.
»Brennt!« schrie ein anderer. Etwas klatschte drinnen auf und rollte über den Boden.
Madeline stieß Prudence vor sich her und zerrte Esau mit. »Weg von dem Gebäude! Rennt!«
»Wohin?« japste Prudence.
»Geradeaus«, sagte Madeline. Direkt vor ihnen lag ein dichter Gürtel Wassereichen, zwischen denen stacheliger Yucca wuchs. Wenn sie diesen Gürtel durchbrechen konnten, hatten sie den Sumpf erreicht. Der Pfad durch den Sumpf war fest, aber schmal und selbst in hellem Tageslicht schwierig zu finden. Für eine erfolgreiche Flucht brauchten sie Glück und den hellen Mondenschein.
»Faßt euch an den Händen«, sagte sie und tastete nach Prudences plumpen Fingern, die vor Angst kalt und feucht waren. Mit der anderen Hand zog sie Esau in die Finsternis hinein, die sich wie eine Wand hinter der Schule auftürmte.
Niedrige Yuccas bohren ihre Stacheln in Madelines Beine. Spanisches Moos strich über ihr Gesicht, wie drohende Hände. Sie konnte nichts erkennen. Sie hatte vergessen, wie dicht und tief der Wald hier war.
Esau fing an zu weinen. Hinter ihnen brach eine feurige Hölle auf und überschüttete die Nacht mit rotem Licht. Sie spürten die Erschütterung, als das Dynamit die Schule in die Luft jagte. Madeline sah ein halbes Pult durch den grellen Schein segeln, als wäre es ein Luftballon. Sie rannten weiter, hörten hinter sich das Triumphgeschrei der Klansmänner.
Madeline rannte schneller. Schmerz durchflutete ihre Brust, als ihr Atem immer mühsamer ging. Die Schule war dahin. Andy war tot. Prudence weinte. »Ich kann nicht schneller, ich kann nicht.«
»Dann sterben wir alle.« Mit großer Willensanstrengung rannte Madeline durch ein Klettengesträuch, das ihr den Saum zerriß und ihre Knöchel zerkratzte. Aber sie waren durch die Bäume durch - und standen im flachen Wasser, vor ihnen der mondhelle Salzsumpf.
Sie suchte mit ihren Blicken den Sumpf ab, versuchte den Pfad nach Summerton zu erkennen. Sie war ihn oft gegangen, aber stets nur bei Tageslicht, und in ihrer Panik schien ihre Erinnerung sie nun im Stich zu lassen. Der sich im Wasser spiegelnde Mond und die Unkrautbüsche verwirrten sie noch mehr.
»Sie kommen«, flüsterte Jane. Madeline hörte es.
»Hier entlang.« Sie marschierte über eine schlammige Fläche, insgeheim betend, ihre Erinnerung möge sie nicht täuschen.
Zwei Klansmänner zu Fuß zerrten Andys Leiche aus der Dunkelheit in den Feuerschein. Sein Hinterkopf fehlte, und sein Hemd war dunkelrot getränkt vom Kragen bis zur Taille. Des betrachtete die Leiche, dann riß er sich die Kapuze herunter und rannte um die brennenden Überreste der Schule herum.
»Ich habe gesehen, wie sie zu den Bäumen rannten.« Mit seinem alten Walker-Colt wedelte er in diese Richtung.
»Ich komme mit dir«, sagte Gettys unter seiner Kapuze hervor.
»Du bleibst hier und übernimmst das Kommando über die anderen. Vielleicht tauchen ein paar Jungs von dieser Niggermiliz auf. Dann zieht ihr euch zurück und zerstreut euch.«
»Des«, Gettys jammerte wie ein Kind, dem ein Spielzeug verwehrt wurde, »ich habe genauso lange wie du darauf gewartet, endlich dieses Bastardweib erledigen zu können. Ich habe genauso viele Rechte ...«
Des rammte ihm die Mündung des alten Colts unter das Kinn. »Du hast überhaupt keine Rechte. Ich führe das Kommando.« Er mußte sich beeilen. Er durfte sich jetzt nicht mehr um den Erfolg bringen lassen. Und da war immer noch Till-mans Warnung.
Gettys blieb stur. Wieder wollte er protestieren. Mit der Revolverhand schlug Des so hart auf Gettys' Kapuze, daß der Ladenbesitzer beinahe gestürzt wäre. Gettys sah den irren Glanz in Des' Augen. Mit dem blassen Dreizack in seinem Karottenhaar sah er wie eine Art Teufel aus.
»Schon gut. Sie gehören dir.«
Madeline spürte, wie die anderen zögerten; auch sie war unschlüssig. Sie befanden sich in knöcheltiefem Wasser, kämpften sich über schlammigen Grund, der sie saugend festzuhalten versuchte. Die Spiegelungen des Mondes auf dem Wasser täuschten das Auge. Irgendwo mußte sie von dem schmalen Pfad abgewichen sein. Und Prudence stand kurz vor dem Zusammenbruch. Schluchzend stolperte sie dahin.
»Oh, Herr Jesus.« Das war Jane, die sich auf ein plötzliches Geräusch hin umgedreht hatte. Madeline, die Esaus Hand fest umklammert hielt, blieb stehen.
Zuerst hörte sie das Planschen ihres Verfolgers. Er gab sich keine Mühe, leise zu sein. Dann sah sie ihn, eine große, unbeholfene Gestalt mit riesigen Händen. Eine dieser Hände hielt einen Revolver.
»Euch Nigger hol' ich mir.« Die klare, kräftige Stimme rollte über den Sumpf. Ein erschrockener Reiher stieg aus dem Unkraut auf und flatterte davon. »Heute nacht werdet ihr sterben, alle werdet ihr sterben.«
Prudence stöhnte auf. Mitten im Wasser sank sie auf die Knie, die Hände gefaltet, den Kopf gesenkt, und begann ein Gebet zu murmeln.
»Wirst du gleich aufstehen?« Wütend beugte sich Madeline über die Lehrerin. Nur das rettete sie, als Des in diesem Moment zwei Schüsse abfeuerte. Esau fing wieder an zu weinen.
Madeline schüttelte Prudence. »Wenn du nicht aufstehst, dann tötet er uns. Wir müssen weiter.«
Er kam auf sie zu, eine seltsame, schreckliche Vogelscheuche, die mit drohend erhobener Waffe durch den Sumpf tanzte. Die drei Frauen und der Junge fingen an zu rennen. Madelines Kummer wurde fast unerträglich; heute nacht ging alles zu Ende. Die Schule, Andy, ihr eigenes Leben. Diese lächerlichen Kapuzenmänner besaßen immer noch die Macht zu zerstören.
Sie fand den Pfad. Zehn Meter folgte sie ihm, dann stolperte sie und verdrehte sich arg den Knöchel. Prudence war schon wieder außer Atem, wollte aufgeben. Jane riß an Prudences Arm, wie wenn es sich um das Zugseil eines widerspenstigen Maultiers gehandelt hätte. Die Nacht war friedlich bis auf den schweren Atem der Fliehenden und das gleichmäßige Planschen von LaMotte, der immer näher kam. Näher. Noch näher.
Er gab einen dritten Schuß ab. Prudence warf die Arme über den Kopf, dann stürzte sie und verschwand unter der Wasseroberfläche.
Jane bückte sich, tastete im Wasser herum. »Ich kann sie nicht finden. Ich kann nicht - doch, ich hab' sie.« Stöhnend zerrte sie Kopf und Schultern der Lehrerin aus dem Wasser. Prudences Augen waren ohne jedes Leben. Madeline biß auf ihre Fingerknöchel; Prudences Hoffnungen waren vergeblich gewesen.
Esau schnüffelte, mühte sich, nicht zu weinen. Madeline packte seine Hand und zog ihn weiter. Sie weigerte sich, ihre eigene Exekution widerstandslos hinzunehmen, auch wenn sie wußte, daß sie am Ende waren. Janes vom Mond erhelltes Gesicht zeigte, daß sie es ebenfalls wußte. Mit Esau in der Mitte marschierten sie weiter, ein letzter trotziger Akt vor dem Untergang.
Zwischen dem Verfolger und der Stelle, wo Prudence gefallen war, schwamm der große Alligator lautlos unter Wasser. Von der Schnauze bis zur Schwanzspitze maß er sechzehn Fuß und wog sechshundert Pfund. Seine dunklen Halbkugelaugen durchbrachen die Wasseroberfläche. Es gab viel Unruhe im Wasser; direkt vor ihm lauerte etwas Bedrohliches. Die Schnauze des Alligators schob sich aus dem Wasser, als sich seine Kiefer öffneten.
Des wußte, daß sie ihm nicht mehr entrinnen konnten. Sie rannten nicht mehr, sondern liefen in einem Tempo, bei dem er sie in ein paar Minuten einholen würde. Er war klitschnaß und schlammverschmiert, fühlte sich aber gleichzeitig merkwürdig beschwingt und heiter; er schien durch das Wasser zu tanzen, wie er viele Jahre lang über die polierten Tanzböden der großen Häuser getanzt hatte, die von den Yankees zerstört worden waren, zusammen mit allem anderen, was im Süden gut und schön gewesen war. Das weiße Licht blitzte in seinem Kopf auf, scharfe Strahlen schossen von beiden Seiten heran und trafen sich hinter seinen Augen. Er fühlte sich ekstatisch, gleichzeitig erfaßte ihn Sorge. Er schickte ein lautloses Gebet gen Himmel, diese Besorgnis zu beschwichtigen. »Oh Gott, halte das Licht zurück, bis ich sie erwischt habe. Gott, wenn Du mich je als Mitglied der von Dir auserwählten Rasse gesehen hast, dann schenke mir noch einige wenige Momente!«
Das weiße Licht zischte und flackerte, verschlang die Dunkelheit in seinem Kopf. Er roch den Rauch von Kanonen. Er hörte das Pfeifen von Granaten. Kreischend rannte er durch das Wasser, vergaß, daß sich die Frauen nur knapp fünfzig Fuß vor ihm befanden. Seine Schreie steckten voller Inbrunst, voller Freude: »Palmetto Rifles, vorwärts! Feuer! Ruhm und Glorie für die Konföderation!«
Etwas wie eine Keule traf ihn; der peitschende Schwanz eines riesigen Alligators. Des jagte eine Kugel in Richtung Mond, als er stürzte. Dann, als sich die Kiefer des Alligators über seinem Leib schlossen, hatte er das Gefühl, als würden Dutzende von großen Nägeln in sein Fleisch getrieben. Der Alligator tötete ihn in gewohnter Weise, hielt ihn im Schraubstock seiner Kiefer, bis er ertrunken war.
Erst dann durfte der Körper wieder frei im Wasser treiben. Inmitten des Blutes, das sich im Sumpfwasser auszubreiten begann, fing der Alligator mit seiner Mahlzeit an, indem er Des' linkes Bein abbiß.
Rufe und Schüsse überraschten die Klansmänner, die auf Des bei den rotglühenden Überresten der Schule warteten, von denen ein dumpfes Licht und eine gewaltige Hitze ausgingen. Gettys hörte, wie ihnen jemand befahl, die Waffen wegzuwerfen. »Zur Straße!« rief er und bohrte seinem Pferd die Hacken in die Seiten.
Weil er als erster die Flucht ergriff, hatte einer der Schwarzen mit seinem Milizgewehr freies Schußfeld. Als Gettys im Galopp in die Auffahrt einbog, traf ihn die Kugel in die Schulter und schleuderte ihn zur Seite. Er befreite seine Füße aus den Steigbügeln, entsetzt von dem Gedanken, mitgeschleift zu werden. Er fiel in ein dorniges Yucca-Gestrüpp, während die anderen Klansmänner mit flatternden Roben vorbeigaloppierten. Gettys flehte: »Laßt mich nicht zurück«, als die letzten Pferde vorbei waren.
Barfüßige Männer näherten sich ihm. Eine schwarze Hand riß ihm die scharlachrote Kapuze herunter. Durch angelaufene Brillengläser starrte Gettys in sechs schwarze Gesichter und sechs Waffenmündungen und wurde ohnmächtig.
»Ist ja gut, Esau«, sagte Madeline, bemüht, den weinenden Jungen zu beruhigen. Es fiel ihr schwer, denn sie selbst war den Tränen nahe. Andy war tot, Prudence war tot - oh Gott, welch einen Preis mußten sie zahlen.
Plötzlich sah sie hinter sich ganz deutlich im Mondlicht das brodelnde, aufspritzende Wasser, dann blitzte ein Schuppenleib auf. Ganz kurz reckte sich ein Arm gen Himmel und versank wieder.
Jane drückte ihre Wange gegen Madelines Gesicht und weinte.
Mit absoluter Klarheit sah sie Des LaMottes abgetrennte Hand die Wasseroberfläche durchbrechen und wie eine glänzend weiße Makrele dahintreiben. Irgend etwas schnappte danach, die Hand verschwand, und der Sumpf lag wieder glatt und still da.
Ein Wäldchen windgezauster Pecanobäume beschattete die ^Krümmung des Vermilion Creek. Magee lehnte an einem Baum, seine Melone auf dem Boden vor seinen ausgestreckten Beinen. Mit einem harten Schnappen seines Handgelenks ließ er Karte um Karte in den Hut segeln. Keine Karte verfehlte ihr Ziel.
Satan und die beiden anderen Pferde waren an einen tiefhängenden Ast angebunden; Graue Eule hatte sein Pony zurückgelassen und den Braunen genommen. Charles hatte es sich nahe den Bäumen am Ufer des plätschernden Baches gemütlich gemacht. Die Sonne stand im Zenit. Es war ein milder Frühlingstag, und er schwitzte unter seinem Hemd und dem Zigeunermantel.
Über ihm ragte ein blattloser Ast über das Flüßchen. Er studierte den Ast, schätzte seine Stärke ab. Der Aprilwind streichelte sein Gesicht und seinen Bart. Für Angst und Tod war es ein viel zu schöner Tag.
»Paß auf, Charlie!«
Magee nahm seine Karten aus der Melone und setzte den Hut auf, während er sich erhob. Sie hörten Hufe durch das flache Wasser spritzen. Charles zog seinen Armeecolt. Graue Eule kam hinter einem dichten Weidengebüsch hervorgetrabt, tief in seine Decke gewickelt. Der Braune schnaufte und glänzte vor Schweiß; einen so schweren Reiter war er nicht gewohnt.
Charles steckte seinen Revolver weg und rannte dem Spurenleser entgegen. »Hast du's gefunden?« Graue Eule nickte. »Wie weit entfernt?«
»Eine Meile, nicht weiter.« Der Cheyenne machte ein betont mürrisches Gesicht. »Ich sah einen kleinen Jungen.«
Die Mittagssonne schien in Charles' Augen zu explodieren. Er fühlte sich schwindelig. »Ist er in Ordnung?«
Graue Eule zeigte deutlich, daß er nicht antworten wollte. Er kaute auf seiner Unterlippe herum. »Ich sah ihn vor dem Haus sitzen und einen Waschbären füttern. Sein Gesicht ...« Graue Eule berührte seine linke Wange. »Da sind Spuren. Jemand hat ihn geschlagen.«
Charles wischte sich über den Mund.
Magee stieß einen Stiefel in den Schiefer. »Ist sonst noch jemand da?«
»Ich sah einen alten Kiowa-Comanchen mit einem Whiskykrug rauskommen, auf sein Pony steigen und davonreiten. Dann sah ich eine Cheyenne-Frau zu einem kleinen Schuppen gehen, wo ich Hühnergegacker hörte. Sie kam mit zwei Eiern zurück.«
»Er hat eine Squaw?« fragte Charles.
»Ja.« In den Augen des Fährtensuchers lag Trauer. »Eine junge Frau. Sehr schmutzig und traurig.«
»Hast du Bent gesehen?« Graue Eule schüttelte den Kopf. »Und dich hat niemand gesehen - weder der Junge noch die Squaw?« Wieder schüttelte der Fährtensucher den Kopf. »Bist du sicher?«
»Ja. In der Nähe stehen ein paar Pfahleichen. Ein gutes Versteck.«
Magee rieb sich die Hände, versuchte die ganze Sache wie eine ganz gewöhnliche Feldübung zu betrachten. »Wir können von drei verschiedenen Seiten kommen.«
»Ich gehe allein«, sagte Charles.
»Das ist verdammter Blödsinn.«
»Allein«, sagte Charles mit einem Blick, der jeden weiteren Protest im Keim erstickte.
Er kehrte zu den Bäumen zurück, wo er seinen Zigeunermantel auszog, ihn zusammenfaltete und auf den Boden legte. Er nahm die Spencer, überprüfte das Magazin, stülpte sich den schwarzen Hut tief in die Augen und ging zu Magee und dem Fährtensucher zurück.
»Ich passe schon auf mich auf, nur keine Sorge. Wenn Ihr Schüsse hört, dann kommt schnell. Ansonsten bleibt ihr hier.«
Er sagte es im Kommandoton eines Offiziers, begleitet von einem herausfordernden Blick. Magee kochte. Graue Eule starrte voll düsterer Vorahnungen auf das glänzende Wasser.
Er wird mich nicht erkennen, dachte Charles, während er am Ufer entlang marschierte. Er dachte dabei an Gus, aber es traf auch auf Elkanah Bent zu. Er konnte sich nicht vorstellen, wie Bent nach zehn Jahren aussehen mochte. Es war auch unwesentlich. Er wollte lediglich den Jungen in Sicherheit bringen. Das allein zählte: der Junge.
Die Frühlingsluft war so sanft wie die Hand einer Frau. Sie erinnerte ihn an ähnliche Tage im Norden Virginias, als Hunderte von armen Jungs auf sonnigen Wiesen gestorben waren. Diese Gedanken, zusammen mit dem, was Graue Eule über Gus' Aussehen gesagt hatte, gaben seiner Besorgnis neue Nahrung.
Ein Stück voraus sah er die Pfahleichen. Dahinter entdeckte er einen Schlammziegelbau. Aus dem Kamin trieb Rauch. Charles glaubte, eine Kinderstimme zu hören. Seine Hand an der Spencer wurde weiß.
Er versuchte die Furcht abzuschütteln. Unmöglich. Sein Herz hämmerte so laut, daß es in seinen Ohren wie eine Indianertrommel klang. Er wußte, daß er höchstwahrscheinlich nur eine Chance bekommen würde, nicht mehr.
Er duckte sich hinter einer Pfahleiche zusammen. Beim Anblick seines Sohnes, der auf dem Boden saß und den Waschbären mit Maiskolben fütterte, wären ihm beinahe die Tränen gekommen. Der Waschbär nahm einen Kolben zwischen die Vorderpfoten und richtete sich auf den Hinterbeinen auf, wie ein dicker kleiner Mann mit einer Gesichtsmaske, während er den Kolben fraß. Dann watschelte er hinüber zu Gus, um sich den nächsten zu holen. Der Junge fütterte ihn ohne eine Spur von Freude in seinem traurigen Gesicht.
Selbst aus der Entfernung konnte Charles die vergrindeten Risse und Abschürfungen in Gus' Gesicht sehen. Die Füße des Jungen waren so schmutzig, daß Charles im ersten Moment dachte, er trage graue Socken. Gus saß im Dreck in der Nähe der Eingangstür der Whisky-Ranch. Die Tür war geschlossen.
Charles sah einen gutgebauten Braunen und zwei Maultiere in dem Pferch am Ende des Gebäudes. Er sah den Stall, aus dem die Squaw die Eier geholt hatte, und hörte ein Huhn flattern und gackern. Das lauteste Geräusch war das Gurgeln des Vermilion Creek.
Vor lauter Angst, einen Fehler zu machen, wagte er sich fast nicht mehr zu bewegen. Er versuchte zu vergessen, was auf dem Spiel stand, und bemühte sich, die Situation als abstraktes Problem zu betrachten. Es half ein bißchen. Er zählte bis fünf und trat dann hinter der Eiche hervor, so daß sein Sohn ihn sehen konnte.
Gus sah ihn und riß den Mund auf. Charles fürchtete, er könnte schreien, und legte einen Finger an die Lippen.
Er wußte nicht, ob der Junge ihn erkannte, einen Fremden mit Bart und tief eingesunkenen Augen, der plötzlich in der Wildnis auftauchte. Er blieb vollkommen still sitzen.
Gus ließ die Maiskörner zu Boden rieseln, gab keinen Laut von sich.
Der Waschbär schob sich vor und begann zu fressen. Mit allen Sinnen lauschte Charles nach anderen Geräuschen - einer Stimme, dem Quietschen einer Tür. Er hörte nur das Murmeln des Wassers. Er machte drei lange Schritte auf seinen Sohn zu und winkte mit einer Handbewegung: Komm her!
Gus starrte den Fremden ängstlich an. Charles wollte losschreien, wollte ihm sagen, wer er war. Er wagte es nicht. Wieder winkte er. Und noch einmal.
Gus stand auf.
Charles jubelte innerlich. Dann wich der Junge langsam zum Gebäude zurück, den Blick auf den Fremden gerichtet.
Oh Gott, er hat Angst. Er kennt mich immer noch nicht.
Gus machte einen Schritt zur Seite, bereit, ins Haus zu flitzen. Verzweifelt duckte sich Charles und legte die Spencer zu Boden. Dann breitete er die Arme aus. Die Muskeln waren so angespannt, daß seine Arme von der Schulter bis zum Handgelenk zitterten.
Irgendwie beruhigten die einladend ausgestreckten Arme den Jungen. Sein Gesichtsausdruck änderte sich, zeigte ein zögerndes Lächeln. Er hielt den Kopf leicht schief.
In lautem Flüsterton sagte Charles: »Gus, ich bin's, dein Pa.«
Verwunderung zeichnete sich im Gesicht des Jungen ab. Er begann auf Charles zuzugehen.
Die Vordertür der Whisky-Ranch knallte auf.
Bent trat gähnend hinaus. Er trug einen alten Zylinder; an seinem linken Ohr hing Constance Hazards Ohrring. Sein Frack glänzte, als hätte man mit einem Messer Fett aufgetragen. Er war älter, dicker, mit Falten im Gesicht und buschigen Augenbrauen; dichtes, ungekämmtes Haar verbarg seinen Nacken. Seine linke Schulter hing tiefer als die rechte.
Bent sah Charles, erkannte ihn aber nicht. Charles riß die Spencer hoch und richtete sie auf Bents schmierige Weste, die von einem Knopf zusammengehalten wurde. »Hände gut sichtbar halten«, sagte er laut.
Bent spreizte seine Hände ab und betrachtete blinzelnd den wilden Mann mit dem Gewehr. Charles ging mit langsamen, vorsichtigen Schritten auf ihn zu. Bents zottige Augenbrauen schossen nach oben.
»Charles Main?«
»Richtig, du Bastard.«
»Charles Main. Ich hätte nie gedacht, du würdest mir ins Territorium folgen.«
»Dein Fehler.« Charles verkürzte die Entfernung zwischen der Pfahleiche und dem Haus, stoppte dann. »Ich weiß, was du mit George Hazards Frau gemacht hast.« Bent reagierte, trat überrascht zurück. »Ich kann sehen, was du Gus angetan hast. Ich brauche kaum noch einen Vorwand, um dein Gehirn in der Gegend zu verspritzen. Also hol nicht mal tief Luft. Gus, komm her zu Pa. Jetzt!«
Er behielt mehr Bent als seinen Sohn im Auge. Der Junge konnte seine plötzliche Befreiung noch nicht fassen. Er machte probeweise einen Schritt auf seinen Vater zu. Zwei Schritte. Drei.
Eine Indianerfrau in einem schmutzigen Hirschlederkittel kam mit einem Nachttopf zur Tür hinaus. Ihr Gesicht zeigte einen schläfrigen, mürrischen Ausdruck. Charles dachte, sie besitze eine gewisse Ähnlichkeit mit jemandem, dem er während seiner Zeit mit Jackson begegnet war. Dann erkannte er mit Verblüffung, daß es Grünes Gras war.
Sie sah ihn, erkannte ihn, ließ den Nachttopf fallen und schrie auf. Gus wirbelte erschrocken herum. Bent machte einen Satz und hatte den Jungen.
Charles wollte nicht glauben, was er vor sich sah. Bent lächelte, das alte, tückische Lächeln, an das sich Charles voller Abscheu erinnerte. Bents schmierige Hand schloß sich um Gus' Hals. Seine andere Hand holte ein Rasiermesser aus seiner Tasche. Er ließ es aufschnappen und drückte die schimmernde Klinge gegen Gus' Wange.
»Die Waffen weg, Main.« Charles starrte ihn an; hinter seiner Stirn hämmerte ein dumpfer Schmerz. Bent drehte die Klinge. Die Kante preßte sich in Gus' Wange. Der Junge schrie auf.
Bent hielt ihn fest. »Weg damit, oder ich schneide ihm die Kehle durch.«
Charles legte die Spencer vor sich zu Boden, dann seinen Armeecolt. »Jetzt das Messer.« Das Bowiemesser landete daneben. Bent genoß den Anblick des unbewaffneten Charles. Sein schmieriges Grinsen wurde breiter, fast herzlich. Sein Versagen lastete wie ein schwerer Granitblock auf Charles.
»Heb die Sachen auf, du Miststück. Main, zur Seite mit dir! Weiter - noch weiter!«
Grünes Gras eilte in einer Art Kriechgang auf die Waffen zu. Während sie sie aufsammelte, warf sie Charles einen bittenden Blick zu und sagte auf englisch zu ihm: »Er sagte, es sei der Junge von einem Händler, einem bösen Händler.«
Charles zuckte hoffnungslos mit den Schultern. »Was tust du hier?«
»Sie gehörte zu dem Besitzer dieser Ranch«, sagte Bent. »Ich verkaufe sie. Für Gin bespringt sie Mensch oder Tier, aber du wirst das Vergnügen nicht haben. Mit dir hab' ich anderes im Sinn.« Sein Gesicht verzerrte sich. Charles erinnerte sich, wie wahnsinnig er war. »Du Miststück, beeil dich!«
Bent betrachtete Charles und kicherte. »Und jetzt, Main, jetzt werden wir diese unerwartete Wiedervereinigung feiern. Ich werde die Befehle geben. Du befolgst sie ganz genau, wenn du nicht willst, daß dieses Kind vor deinen Augen verblutet. Wenn ich sage: >Vorwärts marsch!<, dann gehst du hier lang und machst zwei Schritte durch die Tür. Nicht einen oder drei, sondern zwei! Die ganze Zeit behältst du die Hände oben. Irgendein Fehler, irgendein Anzeichen von Ungehorsam, und ich schlitze ihn auf.«
Bent konnte seine gute Laune kaum unter Kontrolle halten. »Also gut. Vorwärts - marsch!«
Mit erhobenen Händen ging Charles auf das Haus zu.
Magee entfernte sich von den Pecanobäumen, sein Gewehr in der Armbeuge.
Graue Eule rief: »Er sagte warten.«
»Er ist schon zu lange weg.« Magee marschierte weiter.
»Warten. Das war sein Befehl.«
Magee zögerte. Er blieb stehen. Nach einem mürrischen Blick den Vermilion Creek hinunter drehte er um und marschierte langsam zu dem in seine Decke gewickelten Fährtensucher zurück.
Der Raum erinnerte Charles an eine Marketenderkneipe. Auf dem Erdboden zeichneten sich die Spuren von Stiefeln, Mokassins und nackten Füßen ab. Auf zwei Tischen standen die Überreste kalten Essens. Der Stuhl, auf den er sich auf Bents Befehl hinsetzen mußte, ächzte und schwankte unter seinem Gewicht.
Dann sah er das schief aufgehängte Porträt. Er starrte die Frau ungefähr zehn Sekunden lang an, bevor die Erkenntnis wie eine Granate in seinem Kopf explodierte.
»Dieses Bild!« Er hatte Schwierigkeiten, sich verständlich auszudrücken. Die Angst um Gus vernebelte seinen Verstand und verlangsamte seine Reaktionen. Der Anblick des Porträts schien ihn an irgendeinen unwirklichen Ort zu wirbeln, wo alles möglich und nichts mehr normal war.
Mit Mühe beendete er den Satz: »Wo hast du das Bild her?«
»Erkennst du es, ja?« Bent legte Messer, Spencer und Armeecolt auf die Tischplatte; das Rasiermesser behielt er in Griffweite.
»Die Frau meines Cousins Orry. Die Ähnlichkeit ist nicht besonders.«
»Weil es sich um ihre Mutter handelt. Eine Hure in New Orleans. Eine Terzeronin.« Bent holte ein schweres Seil aus einer Schachtel unter dem Flaschenbord. »Du scheinst gar nicht überrascht zu sein, daß sie eine Niggerin ist.«
»Ich weiß, daß Madeline schwarzes Blut hat. Aber ich hätte nie erwartet, solch ein Bild zu sehen.«
»Oder mich zu finden, wage ich zu behaupten.« Bent war voll von falscher Höflichkeit. »Hände zusammen und nach vorn strecken.«
Charles reagierte nicht. Bent schlug ihm die Faust ins Gesicht. Blut sickerte aus Charles' Nase. Er hob die Hände, und Bent schlang das Seil um die Handgelenke.
Charles' Verstand war immer noch wie betäubt, von Zorn überflutet gegen diesen Krüppel, der sich schwerfällig bewegte. Auch auf sich selbst war er wütend. Er hatte draußen versagt. Sein Fehler würde ihn das Leben kosten. Das sagte ihm das fiebrige Glänzen in Elkanah Bents Augen, während Bent das Seil ein drittes und ein viertes Mal um seine Handgelenke schlang.
Na schön, sein Leben war verwirkt. Aber da war immer noch Gus.
Bents Gesicht war stark gerötet. Constances Tränenohrring schwankte wie ein Pendel hin und her. Bent hatte sein Ohrläppchen durchstochen, damit der Ring hielt. Grünes Gras saß ver-dreckt und traurig da und betrachtete Charles mit unverhohlenem Mitleid. Bei dem Blick sträubten sich seine Nackenhaare. Sie wußte, was kommen würde. Sie hielt Gus an sich gedrückt, schützte ihn, solange sie konnte.
Der Junge schaute ihn mit so stumpfen Augen an, daß Charles am liebsten in Tränen ausgebrochen wäre. Die gleichen leblosen Augen hatte er bei jungen, verwundeten Männern in der Nacht nach Sharpsburg gesehen.
Doch Gus war noch keine fünf Jahre alt.
Bent zog das Seil an und verknotete es. Charles hatte alle Muskeln angespannt, doch Magees Trick schien ihm nicht viel Spielraum eingebracht zu haben. Eine weitere Niederlage.
»Hast du eine Ahnung, für wen ich mich halte?« erkundigte sich Bent freundlich.
Charles ließ seinem Haß freien Lauf: »Ja, Orry hat's mir erzählt. Für den neuen Napoleon.« Er spuckte auf den Boden.
Bent knallte seine Faust in Charles' Gesicht. Gus versteckte sich hinter der Hüfte von Grünes Gras.
Bent, laut schnaufend und nicht länger lächelnd, sagte: »Hat er auch erzählt, daß er und Hazard mich auf der Akademie und in Mexiko ruiniert haben? Meinen Ruf durch Lügen zerstört haben? Meine Vorgesetzten gegen mich aufgehetzt haben? Ich wurde dafür geboren, große Armeen zu führen. Wie Alexander der Große. Hannibal. Bonaparte. Deine Leute und die Hazards haben mich daran gehindert.«
Bent wischte sich den Speichel von der Lippe. Draußen vor der geschlossenen Tür hörte Charles Vogelgezwitscher. Von der kalten Asche im Herd ging ein vertrauter Holzgeruch aus.
Bent nahm das Rasiermesser und fuhr sich mit der Klinge leicht über die Daumenkuppe. Sein Lächeln kehrte zurück. Mit überzeugender, eindringlicher Stimme sagte er: »Ich halte mich für den amerikanischen Bonaparte, und das ist durchaus gerechtfertigt. Aber ich bin gezwungen, ständig auf der Hut zu sein, weil jeder große General von kleinen Männern belagert wird. Minderwertigen Männern, die eifersüchtig auf ihn sind und ihn in den Dreck ziehen wollen. Die seine Größe beschmutzen wollen. Die Mains sind so. Die Hazards sind so. Deshalb bin ich nicht nur der Kommandeur, sondern auch der Scharfrichter. Ich rotte die Verschwörer aus. Die Verräter. Den Feind. Hazards. Mains. Bis sie alle tot sind.«
»Laß meinen Jungen gehen, Bent. Er ist zu klein, um dir was tun zu können.«
»Oh nein, mein lieber Charles. Er ist ein Main. Ich habe stets beabsichtigt, ihn zu töten.« Grünes Gras stieß einen kleinen Laut aus und wandte den Kopf ab. »Ich hatte vor, mehrere Monate zu warten, bis du dich mit seinem Verlust abgefunden hättest. Dann, nachdem ich ihn getötet hätte ...«
»Sag das nicht vor ihm, verdammt noch mal.«
Bent riß an Charles' Bart, zerrte ihn nach oben, zwang seinen Kopf zurück. Er drückte das Rasiermesser gegen Charles' Kehle. »Ich sage, was mir gefällt. Ich führe hier das Kommando.« Der Druck des Rasiermessers wurde stärker. Charles spürte den Schmerz. Blut sickerte. Er schloß die Augen.
Bent kicherte und zog das Messer zurück. Er säuberte die Klinge am Ärmel seines Mantels.
Erneut freundlich und nett sagte er: »Nachdem ich ihn erledigt hätte, wollte ich dir gewisse - Teile schicken, damit du Bescheid weißt. Ein paar Finger. Zehen. Vielleicht noch ein paar intimere Teile.«
»Du verfluchter Irrer«, preßte Charles zwischen den Zähnen hervor; nicht fähig, sich länger zu beherrschen, fuhr er vom Stuhl hoch. Bent packte Gus an den Haaren. Der Junge schrie auf und schlug mit seinen kleinen Fäusten gegen Bents Bein. Bent schleuderte ihn mit einem Schlag zu Boden, trat ihm in die Rippen. Gus rollte zur Seite und umklammerte wimmernd seinen Bauch.
»Steh auf, Junge!« Bents Stimme dröhnte wie bei einem Priester der Wiederauferstehung. Wie viele Menschen lebten in diesem pervertierten Körper? Wie viele Stimmen sprachen aus diesem wahnsinnigen Hirn? »Steh auf! Das ist ein direkter Befehl!«
»Nicht«, sagte das Cheyenne-Mädchen, »oh, nicht. Er ist so klein.«
Er knallte ihr die Faust in den Magen. Sie fiel gegen die Wand, versuchte sich an den groben Stämmen festzukrallen; ihre Knie scharrten durch den Dreck. »Du wirst als nächste hingerichtet, wenn du noch ein Wort sagst.« Er schwenkte das Rasiermesser über seinem Kopf. »Hoch, Junge!«
Gus wimmerte wieder und schwankte hoch. Bent packte ihn, zog ihn gegen seine Beine, wobei er ihn gleichzeitig drehte. Er legte seine freie Hand unter Gus' Kinn und zerrte seinen Kopf mit einem Ruck zurecht, so daß sich Vater und Sohn ins Gesicht sehen konnten.
»Nach ihm und nach dir«, sagte Bent, »kommt die Familie von Hazards Bruder in Kalifornien dran. Ich lösche euch alle aus, bevor ich erledigt bin. Denk daran, lieber Charles.«
Sanft, fast streichelnd zog er die Klinge über Gus' rechte Wange. Gus schrie auf. Ein Blutfaden wand sich über die blasse Haut.
»Denk daran, während der Scharfrichter die Befehle des Generals ausführt.«
Magic Magee sagte: »Oh, Scheiße«, was Graue Eule überraschte, denn Magee fluchte für gewöhnlich nie. Er sprang auf. »Seine Befehle sind mir egal. Irgendwas stimmt nicht.«
Graue Eule wollte ihn zurückrufen. Magee ging mit langen Schritten los. Graue Eule zögerte nur einen Moment, bevor er hinter ihm her eilte.
Tränen strömten aus Gus' Augen und vermischten sich mit dem Blut auf seiner Wange. Eine Wut, die ihn krank und schwach machte, füllte Charles ganz und gar aus. Mit den Knien stemmte er seine Hände auseinander. Das Seil schürfte den Rücken seiner Handgelenke. Plötzlich rutschte die linke Hand ein Stückchen, wurde glitschig. Er blutete. Er zog die linke Hand an, doch der Teil knapp unterhalb der Knöchel wollte nicht durch das Seil rutschen. Sinnlos. Sinnlos.
Magee legte eine Hand auf das Geländer des Pferchs. Der Braune und die Maultiere witterten ihn und warfen die Köpfe hoch. »Ruhig, ruhig«, sagte er. »Regt euch nicht auf. Ich mein's ja gut.«
Er glitt zwischen zwei Stangen hindurch. Der Braune wieherte. »Laß das«, sagte Magee, der den verdammten Gaul am liebsten erschossen hätte. Er nickte Graue Eule heftig zu, der sein Gewehr umklammerte und auf die Eingangstür zuging. Magee hatte ihm gesagt, er solle warten, bis er ihn rief. Charles mußte im Haus sein. Er befand sich weder in dem Stall noch in dem verlassenen Händlerwagen.
Magee hatte keine Ahnung, was er hinter der Tür vom Pferch aus vorfinden würde, hoffte aber, die Tür würde nicht direkt in den Hauptraum führen. Er schwitzte wie im August. Gerade, als er nach dem Türhaken griff, kam ein fetter Waschbär um die Ecke geschossen und richtete sich vor der Tür auf.
»Verschwind«, flüsterte Magee. Er fuchtelte in der Luft herum. Der zahme Waschbär wich nicht. Er wollte sich drinnen wahrscheinlich Futter holen und würde Magee dabei verraten.
Verwirrt blieb Magee ungefähr fünfzehn Sekunden still stehen. Dann hörte er deutlich einen kleinen Jungen aufschreien. Mit düsterem Gesicht zog er sein Messer. »Tut mir leid, Mister.« Er stach zu und tötete den Waschbär mit einem Stich.
Gus blutete an der Wange. Charles hoffte, der Junge würde ohnmächtig werden, aber das war nicht der Fall. Glücklicherweise war Bents Kopf frei von Schmerzen und jenen merkwürdigen, quälenden Lichtern. Die Befehle des Generals waren richtig und gerecht, und die Pflichten des Scharfrichters waren eine reine Freude. Er konnte es allerdings nicht länger hinausziehen. Der Schnitt - direkt vor den Augen des an seinen Fesseln zer-renden, halb wahnsinnigen Vaters - hatte bei ihm eine riesige, schmerzende Erektion ausgelöst. Er drückte das Rasiermesser gegen Gus' Kehle.
Charles sah, wie sich der bläuliche Lauf zwischen Türrahmen und roter Decke hindurchschob. Aus diesem Teil des Hauses hatte er nicht einen einzigen Laut gehört. Magee sagte mit fester Stimme: »Mr. Bent! Sie drehen sich besser um und schauen sich mal diesen Revolver an.«
Einen endlosen, qualvollen Moment lang wußte Charles, daß Bent jetzt Gus die Kehle durchschneiden würde. Statt dessen gehorchte er wie ein Soldat der Kommandostimme. Er drehte sich um. Magee trat hinter der Decke hervor.
Charles warf sich aus dem Stuhl und schleuderte Gus zu Boden. Bent bellte dumpf auf, erkannte seinen Fehler. Charles stolperte über seinen Sohn und stürzte. Grünes Gras sprang Bent an und hämmerte mit ihren Fäusten auf ihn ein. Magee zielte, aber sie stand in der Schußlinie. Bent stieß sie von sich und riß das Rasiermesser nach unten; er fetzte ihren Rock und ihre Oberschenkel auf. Sie schrie auf. Ein zweiter Stoß warf sie zu Boden. Bent stürzte sich mit blitzender Klinge auf Charles.
Magee schoß. Die Kugel traf Bent von hinten in den linken Schenkel. Er drehte sich um die eigene Achse und fiel mit ausgestreckter Hand hin. Charles rollte sich, die Handgelenke immer noch gefesselt, über den Boden, zerrte das Rasiermesser aus Bents Hand und warf es weg. Magee brüllte etwas. Ein Lichtrechteck fiel über Charles und seinen Sohn. Graue Eule stand geduckt in der Tür, das Gewehr im Anschlag.
»Soll ich ihm den Rest geben?« fragte Magee. Bent starrte ihn an, merkte, daß er unbewaffnet in der Falle saß.
»Nicht vor dem Jungen. Schneid mich los.«
Magee befreite Charles mit seinem blutbefleckten Messer. Zitternd kniete Charles nieder.
»Gus, ich bin's, dein Papa. Ich weiß, ich schaue furchtbar aus, aber ich bin dein Papa, Papa«, wiederholte er, mit besonderer Betonung auf dem P, als könnte dadurch die Verbindung wiederhergestellt werden.
Der Junge wich zurück. Aus seinen Augen starrte ein verängstigtes, geistloses Tier. Charles breitete beide Arme aus, wie er es draußen vor der Tür getan hatte. »Papa.«
Plötzlich kamen die Tränen; heftige Schluchzer schüttelten den Jungen. Er wimmerte auf und rannte auf Charles zu. Charles nahm ihn in die Arme und hielt ihn fest. Er hielt Gus eine lange Zeit, bis der kleine Körper aufhörte zu zittern.
Das aufgeschlitzte Bein von Grünes Gras blutete stark. Nach ihrem Sturz hatte sie das Bewußtsein verloren. Magee streifte ihren Rock hoch und inspizierte die Wunde. Leidenschaftslos wie ein Arzt wischte er Blut von ihrem dichten Schamhaar. »Früher hab' ich Besoffene im Saloon verarztet, wenn sie mit Messern aufeinander losgegangen sind. Das hier kann ich abbinden. Eine Weile wird sie nur unter Schmerzen laufen können, aber ich denke, das kriegen wir wieder hin.«
Aus seinem Medizinbeutel holte Graue Eule einige Wurzeln, die er zerkrümelte und mit etwas Wasser mischte; draußen auf einem flachen Stein machte er eine Paste daraus. Dann suchte er das kleine Zimmer ab und fand ein Stück sauberes Tuch. Magee war damit beschäftigt, Bents Hände mit dem Seil zu fesseln, mit dem Charles gebunden gewesen war. Er drehte Bent die Arme auf den Rücken und achtete darauf, daß das Seil auch wirklich fest saß. Er ging nicht sonderlich sanft mit Bent um.
»Was ist mit seinem Bein?« erkundigte sich Charles.
»Ein Streifschuß, nicht mehr. Am besten, wir kümmern uns nicht drum. Geschieht ihm recht, wenn der Brand reinkommt.«
Graue Eule kniete neben dem erschöpften Jungen nieder. Seine braunen Hände waren unglaublich sanft, als er etwas von der graugrünen Paste in die Wunde an der Wange schmierte. »Er mag eine Narbe behalten, so wie die Cheyenne-Jungen Narben vom Sonnentanz.«
»Die Haken vom Sonnentanz gehen in die Brust, nicht ins Gesicht.«
»Ja«, sagte der Fährtensucher traurig. »Man kann nichts tun. Es wird heilen.«
»Selbst wenn es heilt, wird er für immer Narben davontragen«, sagte Charles.
Er steckte den Armeecolt in das Halfter, bandagierte sein vom Seil verbranntes Handgelenk und ging hinter die Bar, wo er ein weiteres Seil entdeckte. Er warf es sich über den linken Arm. Bent stand mit blutigem Hosenbein neben der Tür. Mit unterwürfigem Gesichtsausdruck blinzelte er in den Sonnenschein.
Charles nahm zwei Schlucke von dem üblen Whisky in der Hoffnung, den Schock zu dämpfen, der als unvermeidliche Folge des Kampfes kommen würde. Er ging hinüber zu Bent. Nur mit Mühe konnte er verhindern, daß er nicht einfach den Colt an Bents Kopf hielt und abdrückte.
»Magic, kommst du mit, ja? Bleib mit dem Jungen hier, Graue Eule.«
Bent krümmte sich im Türrahmen. Ein zitronenfarbener Schmetterling gaukelte um seinen Kopf und flog davon. »Wohin bringt ihr mich?«
Die Sonne ließ das Goldfiligran von Constances Ohrring aufleuchten. Charles konnte nicht anders, er griff nach dem Ohrring und riß ihn nach unten. Der Haken zerfetzte Bents Ohrläppchen. Er schrie auf und krachte gegen die Tür. Charles trat ihm in den Hintern, trieb ihn in das grelle Licht hinaus.
Die milde Luft konnte den Geschmack von Dreck und Schweiß und schlechtem Whisky nicht aus Charles' Mund vertreiben. Nie war dieses ausgebrannte Gefühl so stark gewesen. Es schmerzte wie Pfeffer und Salz in einer Wunde.
Die Hand auf sein blutendes Ohr gepreßt, fragte Bent kriecherisch: »Bitte - wohin?«
»Du weißer Abschaum«, sagt Magee, majestätisch in seinem Zorn. »Du fährst zur Hölle!«
»Wohin?«
Charles beugte sich dicht zu ihm. »Waterloo.«
KU-KLUX LÄUFT AMOK.
Eine Nacht des Terrors am Ashley.
Die Mont-Royal-Schule zum zweitenmal zerstört.
Zwei Tote.
Präsident Grant bringt seine Empörung zum Ausdruck.
Verwundetem Klansmann die Maske vom Gesicht gerissen.
Sonderbericht von unserem Charleston-Korrespondenten
MADELINES JOURNAL
Mai 1869. Haben heute Prudence Chaffee und Andy Sherman beerdigt. Auf meinen und Janes Wunsch hin liegen sie Seite an Seite. Ich habe die Bibel gelesen, Johannes 14.
Vater Lovewell hat den Bezirk fluchtartig verlassen. Von der Leiche von Des L. keine Spur. Ich empfinde für ihn eher Trauer denn Haß. Man hat mir erzählt, daß er die ganzen vier Jahre hindurch bei den Palmetto Rifles gedient hat. Danach kämpfte er für zwielichtigere Sachen. Die Erhaltung der Sklaverei in anderer Form. Die Überlegenheit der weißen Rasse. Die Ehre einer grausamen, arroganten Familie. Müssen Männer immer bösen Ideen zum Opfer fallen, die sie in den Mantel einer verführerischen Selbstgerechtigkeit hüllen? ...
Muß wieder an D.L. denken. Im Tode erregt er meine Neugier stärker als zu der Zeit, da er uns bedrohte. Wie so viele andere auf beiden Seiten hat der Krieg ihn verändert und letztendlich zerstört. Diese Art von Erfahrung könnte zum Mittelpunkt des Lebens für eine Generation oder länger werden. In Charleston reden die Leute immer noch darüber, wie der Krieg Cooper vernichtend geschlagen hat. Ich weiß, wie sehr dich Mexiko verwundet hat, mein Liebster. Hätte es nicht Sumter gegeben, die Sezession, Lee und all die anderen großen Ereignisse und Personen, die jetzt mit den falschen Farben der Romantik eingefärbt werden, dann wäre D.L. vielleicht nicht dazu getrieben worden, seinen letzten, schicksalsträchtigen Krieg gegen Mont Royal auszukämpfen.
Aber wie ich zuvor schon sagte, auch das Mitleid hat seine Grenzen. In der Angelegenheit des Klans will ich Gerechtigkeit. R. Gettys liegt immer noch halb bewußtlos im Hospital von Charleston, und die Behörden reagieren viel zu langsam. Ein guter Freund sagte, ich könne mich jederzeit hilfesuchend an ihn wenden. Morgen werde ich nach Columbia fahren und eine Pistole als Begleitung mitnehmen ...
Nichts war von Millwood oder Sand Hills übriggeblieben. Wade Hampton hatte seinen gesamten Landbesitz im Kielwasser des erzwungenen Bankrotts im vergangenen Dezember verloren. Steigende Steuern, sinkende Ernteerträge, Investitionen, wo man für den Dollar nur noch vierzig Cent bekam - all das kulminierte in einer einzigen katastrophalen Flutwelle. Über eine Million Dollar Schulden hatten ihn in die Knie gezwungen.
Hampton und seine Frau Mary lebten nun in stark eingeschränkten Verhältnissen. Er hatte es gerade noch geschafft, ein bescheidenes Häuschen auf einem Stückchen Land zu retten. Die Hamptons hießen Madeline willkommen und bestanden darauf, daß sie die Nacht bei ihnen auf einem improvisierten Lager in dem Zimmer verbrachte, das der General als Büro benutzte.
Hamptons Alter machte sich bemerkbar, aber er steckte noch immer voller Energie. Während Mary den Tee servierte, zog er mit seiner Angel los. Nach einer Stunde kam er mit vier Brassen zum Abendessen zurück. Mary machte sich daran, die Fische auszunehmen, und Hampton lud Madeline in sein Büro ein. Er machte auf dem mit Papieren übersäten Schreibtisch einen Platz für seine Tasse frei; dabei kam ihm ein Band mit Goldschrift in die Hand, den er ihr zeigte.
>Protokolle des Demokratischen Nationalkonvents vom letzten Juli.<
»Ich las, Sie seien Delegierter.«
Ohne Bitterkeit sagte er: »Die Republikaner bezeichneten es als den Rebellenkonvent. Bedford Forrest war ein Delegierter. Peter Sweeny, Vorstandsmitglied der Tammany-Gesellschaft ebenfalls - recht merkwürdige Bettgenossen, aber so ist nun mal die Demokratische Partei.«
»Ich wollte mit Ihnen über General Forrest und seinen Klan sprechen. Ich möchte, daß die Schuldigen bestraft werden.«
»Was haben die Behörden unternommen?«
»Bis jetzt noch nichts. Das ist nun über zwei Wochen her. Wenn zuviel Zeit vergeht, dann drängen sich andere Dinge in den Vordergrund, und alles gerät in Vergessenheit. Ich werde das nicht dulden. Meine Lehrerin und der freie Neger haben zumindest schlichte Gerechtigkeit als Andenken verdient.«
»Ich bin der gleichen Meinung. Ich werde Ihnen etwas über Forrest erzählen. Er ist bereit, seine Verbindung zum Klan zu leugnen und den Befehl zur Auflösung zu geben. Selbst für ihn ist die Sache zu weit gegangen.«
»Das ist kein Trost für Andys Witwe oder für die Brüder und Schwestern von Prudence Chaffee.«
»Ich verstehe Ihre Verbitterung. Grant verabscheut den Klan. Erlauben Sie mir, ihm zu schreiben. General Lee werde ich ebenfalls darum bitten. Wir haben eine gute Beziehung zueinander. Um der Investoren der kleinen Versicherungsgesellschaft willen, die ich in Atlanta organisiert habe, bat ich ihn, die Präsidentschaft zu übernehmen. Er lehnte ab. Er ist als Vorsitzender des College oben in Lexington glücklich und zufrieden. Doch wir sind Freunde, und sein Wort hat Gewicht.« Sie spürte seine Melancholie, als er sich den Backenbart strich und sinnierte: »Ab und zu hat es schon was Gutes, ein altes Schlachtroß zu sein, das überlebt hat.«
Als Randall Gettys seine Umgebung wieder bewußt wahrzunehmen begann, besuchte ihn Colonel Orpha C. Munro. Die Oberschwester warnte ihn, er dürfe nicht lange bleiben. Mit einem herben Lächeln versicherte er ihr, daß seine Mission nur wenig Zeit in Anspruch nehmen werde. »Ich bin auf Verlangen von Präsident Grant hier.«
Die Oberschwester baute einen Wandschirm auf, damit sie ungestört waren. Munro setzte sich neben das Bett. Gettys glich einem verschüchterten Kind. Das Bettlaken war unter seinem blassen Kinn festgestopft; seine plumpen Finger spielten nervös damit. Bei dem Kampf auf Mont Royal hatte er sich das rechte Brillenglas zerbrochen. Durch die Sprünge im Brillenglas schaute er seinen Besucher an.
Mit trügerischer Freundlichkeit sagte Munro: »Es ist meine Pflicht, Sie davon in Kenntnis zu setzen, daß die kleine Handpresse in Ihrem Dixie-Laden, mit der Sie Ihre Zeitung druckten, beschlagnahmt worden ist. Jetzt können Sie das Geschäft, Haß auszustreuen und zu verbreiten, nicht mehr betreiben, Mr. Gettys.«
Gettys wartete; er war sicher, daß noch Schlimmeres kommen würde.
»Ich würde Sie mit der Pferdepeitsche behandeln, wenn das erlaubt wäre. Ich würde das trotz Ihrer Verwundung machen, denn ich finde, daß Sie und Ihre Kumpanen es reichlich verdienen. Sie sind wie die dem Untergang geweihten Bourbonen von Frankreich - Könige, zu arrogant, um die Vergangenheit zu vergessen, und zu dumm, um daraus zu lernen.«
Munro atmete tief durch, zwang sich zur Beherrschung. »Diese Behandlung ist mir jedoch leider verwehrt. Vermutlich ist es so am besten. Der Einsatz einer Pferdepeitsche würde mich auf Ihre Ebene herabziehen. Lassen Sie mich Ihnen statt dessen eine Frage stellen.« Ein harter, fast sadistischer Ausdruck trat in seine Augen. »Kennen Sie die Dry Tortugas?«
»Kleine Inseln, nicht wahr? Vor der Küste Floridas.«
»Genau. Die Regierung schickt jetzt Carolina-Häftlinge auf die Dry Tortugas. Ein gottverlassenes Fleckchen Erde, vor allem in den Sommermonaten. Sengende Hitze. Insekten und Ratten und Ungeziefer. Die Wärter sind kaum weniger verkommen als die Gefangenen.« Munro glättete seine Handschuhe, die auf seinen Knien lagen. Er lächelte. »Neue Gefangene sind gewissen -äh - Einführungszeremonien unterworfen, während die Wärter wegschauen. Ohne gute Nerven und eine kräftige Konstitution überlebt manchmal ein Gefangener die Prüfung nicht, die, wie ich gehört habe, recht wild sein kann. Aber schließlich muß man sich ja nicht wundern, wenn Männer so zusammengepfercht sind, ohne Frauen.«
»Mein Gott, was hat das alles mit mir zu tun? Ich bin ein Gentleman.«
»Nichtsdestoweniger werden Sie auf die Dry Tortugas geschickt werden, wegen Mordes an Sherman und der Lehrerin Prudence Chaffee.«
»Ich habe sie nicht getötet«, rief Gettys; seine Stimme wurde schrill. »Sie können mich nicht an so einen - einen bestialischen Ort schicken.«
»Wir können und wir werden. Auch wenn Sie die Verbrechen nicht persönlich begangen haben, so gehörten Sie doch zu der gesetzlosen Verschwörergruppe, die dafür verantwortlich ist.«
Gettys' Hand schoß vor, umklammerte seinen mit Litzen besetzten Ärmel. »Ich gebe Ihnen die Namen der Mitglieder unserer Gruppe. Sämtliche Namen.«
»Nun ja.« Munro räusperte sich. »Als kooperativer Zeuge . das könnte die Sache in einem anderen Licht erscheinen lassen.« Er verbarg seine Erheiterung. Er hatte mit einer schnellen Kapitulation gerechnet. Er hatte sich ausführlich über Randall Gettys' Charakter informiert.
Gettys' gerötetes Gesicht schwitzte. »Wenn Sie mir das Gefängnis ersparen, verrate ich Ihnen noch etwas Wichtiges.«
Colonel Munro war verblüfft. Vorsichtig sagte er: »Ja?«
»Ich werde Ihnen von den Dixie-Läden erzählen. Die Leute denken, es handle sich um eine Südstaatengesellschaft. Ein paar alte Rebellen, die sich hinter einem Namen verstecken und Wucher betreiben. Nun .«
Gettys stemmte sich in den Kissen hoch, plapperte vor lauter Hast, seine Haut zu retten, einfach drauflos. »So ist es ganz und gar nicht. Die Eigentümer, die Leute, die diesen Staat aussaugen, sind vielleicht die gleichen Leute, die sich als hochherzige Yankee-Reformer präsentieren. Mein Laden und all die anderen Läden gehören einer Firma namens Mercantile Enterprises. Ich schicke meine Abrechnungen nicht nach Memphis oder Atlanta, ich schicke sie an einen Yankee-Anwalt nach Washington, D.C. Ich gebe Ihnen seinen Namen und seine Adresse. Ich übergebe Ihnen die Bücher. Reicht das, um mich vor den Dry Tor-tugas zu retten?«
Am Ende der Krankenstation rief ein junger Mann im Delirium nach seiner Nancy und nach Wasser. Colonel Orpha C. Munro faßte sich wieder. »Ich glaube, es könnte reichen, Mr. Gettys. Ich glaube es wirklich.«
Munro war kurz hier. Alle restlichen Mitglieder der Klansgruppe sind verhaftet. M. deutete an, daß er außerdem noch einem Skandal auf der Spur sei, in den dieser Bezirk und Personen aus dem Norden verwickelt sind.
Dent sagte: »Ihr wißt ja nicht, was ihr tut.«
Charles und Magee beachteten ihn nicht. Charles hielt die Zügel in der Hand, die er einem der Maultiere aus dem Pferch angelegt hatte. Magee saß auf dem tänzelnden Braunen und zog probeweise an dem Seil, das an dem über den Vermilion Creek ragenden Ast des Pecanobaumes hing. Ein paar strahlend weiße Wölkchen trieben über den blauen Himmel nach Nordwesten. Es war ein sommerlicher, wunderbarer Tag.
»Runter mit dem Kopf«, sagte Magee.
Bent weigerte sich. Tränen rollten ihm über die Wangen in die Bartstoppeln. »Das wäre kriminell.«
Charles hatte das Jammern und Toben des Mannes satt. Er warf Magee einen Blick zu, worauf dieser Bents Zylinder hinunterschlug. Er landete verkehrt herum in dem Flüßchen. Magee riß Bents Kopf an den Haaren herunter und streifte ihm die Schlinge über. Mit einem Ruck zog er die Schlinge straff.
Aus Bents zerrissenem Ohrläppchen sickerte immer noch Blut. Seine Wunde tränkte sein linkes Hosenbein. Er weinte nun, spuckte vor Wut und Selbstmitleid. »Ihr seid Abschaum, ignoranter Abschaum. Ihr raubt der Nation ihr größtes militärisches Genie, du und dieser verkommene Nigger.«
»Herr im Himmel«, sagte Magee. Er war zu verblüfft, um wütend zu werden.
Bent schüttelte heftig den Kopf, als könnte er so die Seilschlinge loswerden. »Das könnt ihr nicht tun. Ihr könnt die Welt nicht eines neuen Bonaparte berauben.« Seine Stimme schallte so laut, daß die Kardinalsvögel am Fluß erschreckt aufflatterten.
Charles zog seinen Colt und hielt die Mündung dicht vor Bents Mund. »Halt's Maul.« Er schaute in Richtung der Whisky-Ranch, hoffte, daß die Schreie nicht so weit tragen würden. Sein Sohn und das Cheyenne-Mädchen hatten genug gelitten. Bent sah die entschlossenen Augen hinter dem Revolver und kämpfte um seine Selbstbeherrschung. Er biß sich auf die Lippe, doch die Tränen strömten ihm weiter aus den Augen.
Der Pecanoast warf einen dunklen Schatten über Charles' Gesicht. Er wollte so nicht weitermachen. Er hatte das Töten so satt. Er erinnerte sich daran, daß Bent eine Verpflichtung darstellte, die über das Persönliche hinausging. Er schuldete das Orry und George; vor allem George. Er schuldete es Grünes Gras und Gott weiß wie vielen anderen, denen Bent während der vergangenen fünfundzwanzig Jahre Schlimmes angetan hatte.
Charles trat von dem Maultier zurück.
»Das könnt ihr nicht! Militärisches Genie ist eine seltene Gabe ...«
Charles steckte den Armeecolt weg und spreizte die Finger seiner rechten Hand. Zwei Kardinalsvögel, ein Männchen und ein Weibchen, flatterten aufgeregt über dem Flüßchen, von dem Geschrei erschreckt.
»Ihr tötet Bonaparte!«
Er hob die Hand, um dem Maultier einen Schlag zu versetzen. Ein letzter Blick auf Bent, um sich zu vergewissern, daß alles Wirklichkeit war - dann bewegte sich seine Hand blitzschnell. Der Schlag klatschte laut. Der Braune warf den Kopf hoch, als das Maultier davonschoß. Das Seil summte unter der Spannung; Bents Gewicht ließ den Pecanoast ächzen.
Bent schien Charles von oben wütend anzufunkeln, doch sein Genick war bereits gebrochen. Der Schatten seines Leibes pendelte langsam über Charles' Gesicht. Charles konnte den Anblick nicht länger ertragen und wandte sich ab.
»Ich fange das Maultier ein.«
»Das mach' ich schon«, sagte Magee sanft. »Geh du zurück zu deinem Jungen.«
In dem staubigen, orangefarbenen Abendrot saß Charles auf einem Faß und schaute auf das Flüßchen. Er trank den letzten Schluck von dem Kaffee, den Magee gemacht hatte. Der Soldat hatte eines der Hühner zubereitet, doch Charles hatte keinen Appetit. Statt des Flüßchens sah er Bents Augen vor sich, kurz bevor das Seil die letzte Note anstimmte. Bents Augen wurden zu einem Spiegel seines eigenen Lebens. In dem rachsüchtigen Bent erkannte er sich selbst, ein demütigendes Bild. Er war kein bißchen besser. Er kippte den bitter schmeckenden Kaffee auf den Boden und ging hinein.
Er durchquerte das große Zimmer, schob die rote Decke beiseite und betrachtete seinen Jungen, der auf einer alten Strohmatratze im Schlafzimmer lag. Er ging zu der Matratze. Selbst im Schlaf zeigte Gus' Gesicht einen verkniffenen, ängstlichen Ausdruck. Charles berührte den nässenden Schnitt an der linken Wange. Der Junge stöhnte und drehte sich um. Von Schuldgefühlen geplagt, zog Charles seine Hand zurück. Er ging hinaus, ließ die rote Decke wieder fallen.
Graue Eule saß am Tisch, eingewickelt in seine Decke, den Blick auf etwas weit jenseits der narbigen Holzplatte gerichtet. Magee ruhte mit übereinandergeschlagenen Stiefeln auf einem Stuhl. Er kaute auf einem Zwieback herum; seine Übungskarten waren vor ihm ausgebreitet. Grünes Gras saß auf einem Fäß-chen, die Hände ineinander verschlungen und die Augen gesenkt. Sie sah alt und müde und verzweifelt aus. Als Charles von draußen hereingekommen war, hatte er sie mit einer Flasche von der Bar vorgefunden. Er hatte sie ihr weggenommen und draußen ausgeleert; mit den anderen Flaschen hatte er das gleiche getan.
Jetzt ging er zu ihr hinüber. Sie hob den Kopf, und für einen kurzen Moment sah er das junge, frische Mädchen vor sich, das Narbengesichts werbender Flöte mit der kessen Zuversicht gelauscht hatte, die Welt gehöre ihr, einschließlich eines jeden Mannes, den sie sich auserkor. Er erinnerte sich an die liebes-trunkenen Blicke, die sie ihm in jenem Winter in dem Dorf von Schwarzer Kessel zugeworfen hatte. Irgendwie tat die Erinnerung weh.
Er sprach sie auf Cheyenne an: »Wie bist du hierhergekommen?«
Sie schüttelte den Kopf und fing an zu weinen.
»Sag es mir, Grünes Gras.«
»Ich hörte auf Versprechungen. Auf die Lügen und Versprechungen eines weißen Mannes. Ich probierte das starke Getränk, das er mir gab, und wollte mehr davon.«
»Das war Bent?«
»Mister Glyn. Bent tötete ihn.«
Er erinnerte sich vage an einen schmierigen Händler namens Glyn. Er war ihm begegnet, als er noch mit Jackson geritten war. Zweifellos handelte es sich um denselben Mann.
»Laß mich den Verband sehen.«
In der Art, wie sie den Hirschlederrock nur ein kleines Stückchen hochzog, lag ein fernes Echo mädchenhafter Scheu. Die Bandage zeigte Blutflecken, würde aber bis morgen halten. Grünes Gras konnte mit dem verletzten Bein laufen, wenn auch nur unter Schmerzen. Das lenkte Charles Gedanken auf eine Verantwortung, die um so unvermeidlicher wurde, je länger er darüber nachdachte.
»Ich muß dich zu deinem Stamm zurückbringen.«
Graue Eule richtete sich besorgt auf. In den Augen des Mädchens leuchtete Furcht auf. »Nein. Sie würden mich verachten. Was ich getan habe, war schändlich.«
Charles schüttelte den Kopf. »Es gibt keinen Mann und keine Frau auf Gottes Erde, die nicht irgendeiner Sache wegen der Vergebung bedürfen. Das nächste Dorf ist das von Roter Bär. Ich bringe dich hin und rede mit ihm.«
Sie wollte protestieren, unterließ es dann aber. Auch Graue Eule protestierte nicht. Anscheinend war die Idee ganz vernünftig.
Magee raffte seine Karten zusammen. »Bin froh, daß wir hier verschwinden. Irgendwie ein übler Ort.«
»Graue Eule und ich werden das Mädchen hinbringen«, sagte Charles zu ihm. »Du setzt Gus auf eines dieser Maultiere und reitest mit ihm direkt zu Brigadier Jack Duncan in Fort Leavenworth. Wirst du das tun?«
Magee runzelte die Stirn. »Ich weiß nicht recht, Charlie. Ohne deinen Magier lasse ich dich ungern zurück zu diesen Indianern gehen. Pfeifende Schlange sinnt vielleicht auf Rache.«
»Es wird keinen Ärger mehr geben.« Es schwang mehr Hoffnung als Gewißheit in seiner Stimme mit. Die Aussicht, zu den Cheyenne zurückkehren zu müssen, beunruhigte ihn, aber es schien unvermeidlich zu sein. »In einer Stunde haben wir dort alles erledigt. Jetzt hör zu! Ich möchte, daß du in Leavenworth eine telegraphische Nachricht für mich aufgibst. Im Nebenzimmer habe ich Papier gesehen. Ich schreib's dir auf.«
»In Ordnung«, sagte Magee.
Das ausgebrannte Gefühl füllte Charles aus. Er ging zur Tür, riß sie auf, schaute zu den Tausenden von Sternen auf, die in der klaren Luft heller als gewöhnlich strahlten. Er dachte an die Straße in die ewigen Jagdgründe. Beinahe hätte er sie dieses Jahr betreten. Er fühlte sich so müde. »Gott, wenn ich nur eine Zigarre hätte«, sagte er.
Am Morgen schrieb er das Telegramm und schaute zu, wie Ma-gee es sicher in seiner Satteltasche verstaute, zusammen mit der Steinschloßpistole, dem Pulverbeutel und der falschen Munition. Charles zog die Nägel aus den Ecken des Ölporträts und rollte es zusammen. Es war trocken und spröde. Eine Ecke brach ab. Sorgfältig band er das Gemälde mit einem Lederriemen zusammen.
Aus einer Decke, die er gewaschen und über einer Stange zum Trocknen aufgehängt hatte, schnitt er ein großes Quadrat, schlitzte es in der Mitte auf und machte so einen kleinen Poncho für Gus, ähnlich seinem eigenen Zigeunerumhang. Er hob den Jungen auf die Pferdedecke, die er dem Maultier übergeworfen hatte.
Gus sah wie ein kleiner, alter Mann aus, vernarbt und blaß. »Umarm deinen Papa«, sagte Charles. Der Junge atmete tief durch. Er war auf der Hut. Schmerz flackerte in seinen Augen.
Statt dessen umarmte Charles ihn. »Ich sorge schon dafür, daß alles wieder gut wird, Gus. Ich komme bald zu Onkel Jack, und alles wird gut.«
Obwohl er sich da gar nicht so sicher war. Monate, vielleicht Jahre voller Aufmerksamkeit und Liebe würden nötig sein. Die verborgenen Narben würden vielleicht nie heilen. Er legte die Arme um den Jungen, drückte ihn heftig an sich.
Gus legte eine Hand auf den Kopf seines Vaters. Nach einem kurzen Moment zog er sie wieder weg. Sein Gesicht war nüchtern, ohne Emotion. Immerhin war die Berührung ein Anfang.
Zu Magee gewandt sagte er: »Paß auf ihn auf!«
»Darauf kannst du dich verlassen«, sagte Magee.
Charles und Graue Eule schauten dem Soldaten und dem Jungen nach, bis diese am dunstigen Horizont im Nordosten verschwunden waren.
Der Fährtensucher half Charles, zwei Stangen des Pferchs herunterzureißen und sie mit einer rostigen Axt zu kürzen. Sie bauten eine Stangenbahre für Grünes Gras. Es war ein weiterer sonniger Tag; eine leichte Brise ging. Das Cheyenne-Mädchen sagte nichts, als die beiden Männer es zu der Stangenbahre trugen.
Charles hatte Satan bereits gesattelt; gestern hatten sie noch die Pferde geholt. Dabei mußten sie an Bents Leiche vorbei. Die Bussarde hatten sich bereits an dem amerikanischen Bonaparte gütlich getan und seine Kleidung zu blutigen Fetzen gerissen.
»Dies ist ein böser Ort«, sagte Graue Eule, auf seinem Pony sitzend. »Ich bin froh, wegzukommen.«
»Bring die Stangenbahre ein Stückchen weiter den Fluß runter, bis zu diesen Pfahleichen. In ein paar Minuten komme ich nach.«
Graue Eule ritt los, das Maultier an der Leine. Grünes Gras stöhnte auf, als die Schleppbahre über einen scharfen Stein holperte. Graue Eule warf ihr einen entschuldigenden Blick zu. Sein Pony trabte weiter. Das Cheyenne-Mädchen umklammerte ihr bandagiertes Bein und schaute zum Himmel hoch.
Charles ging mit der rostigen Axt ins Haus. Er trat ein Fäß-chen um und zerhackte es. Dann demolierte er den Tisch und zwei Stühle. Er schlug hart zu, ließ den Schmerz durch den Griff in seine Arme hochschießen.
Er türmte das Holz auf und steckte es mit einem seiner letzten Streichhölzer an. Hinter ihm blieb die brennende WhiskyRanch zurück.
Es regnete in Strömen, als sie das Dorf von Roter Bär am Sweet Water erreichten. Niemand bedrohte Charles; die wenigen Leute, die hinausspähten, hielten sich in vorsichtiger Entfernung, weil ihnen dieser bärtige Weiße, der einen schwarzen Magier in seinen Diensten hatte, noch gut in Erinnerung war. Der schwarze Magier war jetzt nicht bei ihm, aber sicher seine Medizin.
Von Pfeifender Schlange sahen sie nichts. Charles übergab Grünes Gras der Obhut der stämmigen, zahnlosen Frau von Roter Bär. Grünes Gras stammte nicht aus dem Dorf von Roter Bär, aber der Häuptling wußte über sie Bescheid.
»Sie wird mit uns ins Fort der Weißen gehen«, sagte Roter Bär in seinem Tipi. Charles saß am Feuer und aß mit einem Knochenlöffel etwas Stew. Er machte sich längst keine Gedanken mehr über die Herkunft des Stew-Fleisches.
»Du ergibst dich den Soldaten?«
»Ja. Nach vielem Nachdenken und Beratungen mit anderen habe ich das beschlossen. Wenn wir nicht aufgeben, dann verhungern wir oder werden erschossen. Alle im Dorf haben zuge-stimmt bis auf acht Hundekrieger, die sich weigern, aufzugeben. Ich sagte, ich führe nicht Großväter und Kinder in den Tod, nur um die Ehre der Hundekrieger zu bewahren. Es verletzt meinen Stolz, zu den Soldaten zu gehen. Auch ich war einst tapfer. Aber ich habe gelernt, daß Tapferkeit und Weisheit manchmal nicht denselben Weg gehen können. Leben ist kostbarer als Stolz.«
Charles wischte sich das Stew vom Mund. Er sagte nichts.
Er hatte seit vierundzwanzig Stunden nicht mehr geschlafen, wollte sich aber auf den Weg machen. Roter Bär bestärkte ihn in diesem Wunsch. »Die Hundekrieger wissen, daß du hier bist. Sie sind zornig.«
Dann war es nur weise, das Dorf so schnell wie möglich zu verlassen. Feierlich bedankte er sich bei der freundlichen Frau und dem Häuptling für die Gastfreundschaft. Er sagte, er würde gern Grünes Gras auf Wiedersehen sagen. Die Frau des Häuptlings führte ihn zu einem nahen Tipi, wo sie es dem Mädchen bequem gemacht hatte. In ein Büffelfell gewickelt lag Grünes Gras neben einem kleinen Feuer, Kopf und Schulter durch eine geflochtene Rückenstütze erhöht. Charles nahm ihre Hand.
»Jetzt wird mit dir alles gut werden.«
Aus den verquollenen Augen schossen neue Tränen. »Kein Mann wird mich je haben wollen. Ich liebe dich so. Ich wünschte, du hättest dich einst neben mich gelegt.«
»Ich auch.« Er bückte sich, schob seinen Bart beiseite, während er sie leicht auf den Mund küßte. Sie weinte lautlos; er konnte fühlen, wie sie zitterte. Er streichelte ihr Gesicht, erhob sich dann und glitt durch das ovale Loch in den Regen hinaus.
Sterne tauchten zwischen den über den Himmel fegenden Wolken auf. Roter Bär begleitete sie bis an den Rand des Camps und kehrte dann um. Der frische Wind zerrte an Charles' Bart. Er tätschelte Satan, musterte den aufklarenden Himmel und fing dann an, die kleine Melodie zu summen, die ihn an zu Hause erinnerte.
Sie entdeckten einen einsamen Reiter, regungslos auf einem flachen Hügel vor ihnen, und dachten sich nichts dabei. Irgendein Junge, der die Pferde bewacht, vermutete Charles. Er hielt mit dem Schecken auf den Fluß zu, um nicht zu nahe an dem Wachposten vorbeizukommen. Plötzlich ritt der Indianer den Hang hinunter, um ihnen den Weg abzuschneiden.
»Was soll das?« wunderte sich Charles laut. Dann wurde sein Mund trocken. Der Cheyenne galoppierte auf sie zu, sein Pony antreibend. In einer Hand trug er eine Lanze, in der anderen einen mit langen Federn geschmückten Karabiner. Etwas an Kopf und Rumpf des Reiters erinnerte ihn an .
Graue Eule straffte die Zügel; Verzweiflung zeigte sich in seinen Augen.
»Mann-bereit-zum-Krieg«, sagte er.
Und so war es. Er war älter, sah aber immer noch gut aus, obwohl er irgendwie ausgehungert wirkte, wie auf der Flucht. Er trug seine Insignien und volle Kriegsbemalung. Um seinen Hals hing die Pfeife aus einem Flügelknochen und das geraubte Silberkreuz. Von der Schulter zur Hüfte zog sich eine breite Schärpe hin, gelb und rot bemalt und mit Stachelschweinborsten und Federn besetzt. Als Charles die Schärpe sah, fiel ihm ein, daß Narbengesicht zum Träger der Hundeschnur erwählt worden war.
Im Lichte des aufklarenden Himmels war die gewaltige weiße Narbe von der Augenbraue bis zum Kieferknochen deutlich sichtbar. Satan witterte das Cheyenne-Pony und schnaubte nervös.
»Andere erzählten mir, du seist hier«, sagte Narbengesicht.
»Wir haben keinen Streit mehr miteinander, Narbengesicht.«
»Doch. Das haben wir.«
»Zum Teufel mit dir, ich will nicht mit dir kämpfen.«
Der Wind bewegte die goldenen Adlerfedern, die an den Karabinerlauf gebunden waren. Narbengesicht rammte seine Lanzenspitze in die schlammige Erde. »Ich habe viele Winter auf dich gewartet. Ich erinnere mich, wie der Alte mir meine Männlichkeit abgerissen hat.«
»Und ich erinnere mich, wie du es ihm zurückgezahlt hast. Laß es dabei bewenden, Narbengesicht.«
»Nein. Ich werde meine Schärpe hier auf den Boden spießen. Dein Weg hier vorbei führt nur über die Straße in die ewigen Jagdgründe.«
Charles dachte einen Moment nach. Auf englisch sagte er zu Graue Eule: »Wir könnten flüchten und ihm davongaloppieren.«
In den düsteren alten Augen von Graue Eule zeichnete sich erneut Hoffnungslosigkeit ab. Er deutete auf den Hang. Im Licht der Sterne sahen sie vier Krieger, die dort aufgetaucht waren, um ihnen jede Flucht unmöglich zu machen.
Mit einem elenden Gefühl im Herzen schleuderte Charles seinen schwarzen Hut beiseite. Er zerrte sich den Zigeunerumhang über den Kopf und legte ihn über den Sattel. Dann stieg er ab, drückte Graue Eule Satans Zügel in die Hand, zog sein Bowiemesser aus dem Gürtel und wartete.
^rbengesicht ,eb seine Lanze durch den Schlitz am Ende
der Schärpe und nagelte sie so fest. Die Lanze vibrierte, als er sie losließ. Charles verstand, was die Schärpe ausdrückte: bis zum Tod.
Der Krieger der Hundegesellschaft begann zu murmeln und zu singen. Er löste die Axt mit Holzgriff, die mit einem Lederriemen um seine Taille gebunden war. Axt und Karabiner hob er in einem rituellen Gebet, das Charles nicht verstand, über seinen Kopf. Dann fuhr er mit der Schneide der Axt über den Lauf des Karabiners, vor und zurück. Funken sprühten.
Ich habe genug, dachte Charles. Texas, Virginia, Sharpsburg, Washita, Augusta, Constance, Bents Rasiermesser - nimmt es denn nie ein Ende?
Mit einem Grunzen warf Narbengesicht den Karabiner weg. Er sang lauter und schleuderte seine Mokassins von den Füßen. Er tänzelte nach rechts, bot Schulter und Unterarm an. Er zeigte die Axt, schwang sie in einem langsamen, spöttischen Kreis herum. Plötzlich schoß die Schneide waagrecht auf Charles zu.
Der Boden war aufgeweicht; nach dem Winterfrost war das Gras immer noch braun und spärlich. Charles rutschte mit einem Fuß weg, als er das Bowiemesser mit beiden Händen hob und den Axthieb abblockte, Schneide gegen Schneide. Die Wucht des Schlages ließ die Axt vom Messer abgleiten und an Charles' Ohr vorbeizischen. Charles stach nach dem auf ihn zustürzenden Körper, ein schwer zu treffendes Ziel in der nur vom Sternenlicht aufgehellten Finsternis. Er verfehlte es.
Narbengesichts Schärpe behinderte ihn in seinem Bewegungsspielraum; das war Charles' einziger Vorteil. Er wußte, daß sich die vier Reiter auf ihn stürzen würden, wenn er sich einfach aus Narbengesichts Reichweite entfernte. Also mußte er es hier beenden, mochte Gott ihm beistehen.
Wieder glitt Narbengesicht heran, ließ seine Axt rotieren. Er schwang sie, schlug zu. Charles duckte sich. Der nächste Schlag. Wieder duckte sich Charles, spürte aber, wie das Metall seine Haare streifte. Er riß seine Messerhand hoch, erwischte Narbengesichts linken Ärmel. Der Hundekrieger drehte sich wie ein Tänzer weg, um die um ihn gewickelte Schärpe zu entrollen.
Charles stand zusammengekrümmt da, beide Hände in der traditionellen Haltung des Messerkämpfers erhoben. Das Bowiemesser funkelte im Sternenschein. Beide Männer hatten bereits ihr Fleckchen Boden aufgewühlt. Der Schlamm saugte an Charles' Stiefeln, als er seitlich auswich in Erwartung des nächsten Schlages.
Narbengesicht wechselte die Axt in die linke Hand. Charles drehte sich, um die Bewegung zu kontern. Er wendete sich Narbengesichts linker Hand zu, was die linke Seite seines Körpers ungedeckt ließ. Ohne Vorwarnung warf Narbengesicht die Axt zurück; er stieß ein tiefes, aus seinem Bauch kommendes Lachen aus, während er mit der rechten Hand zuschlug.
Charles' Parade von rechts nach links riß Narbengesichts Unterarm innen auf. Narbengesicht reagierte darauf, indem er die Axt nach oben zog. Charles griff mit seiner linken Hand danach, und Narbengesicht trat mit seinem rechten Fuß nach ihm. Der harte Tritt traf ihn zwischen den Beinen. Er wirbelte herum, verlor im Schlamm die Balance und stürzte zu Boden.
Narbengesicht kreischte wie ein Junge auf, der ein Spiel gewonnen hatte. Er sprang mit beiden Knien auf Charles, rollte ihn dann von der Seite auf den Rücken. Er packte Charles'
Messerhand und drückte sie hinter seinem Kopf in den Schlamm. Die Axt schwang hoch, ein schwarzer Keil gegen den vertrauten milchigen Schleier der Sterne.
Die Axt sauste herab. Charles riß seinen Kopf zur Seite, spürte die Schneide in seinem Haar, bevor sie sich in den Matsch grub. Er drehte seine Messerhand und ritzte Narbengesichts Knöchel. Narbengesicht schrie auf, mehr überrascht als verletzt.
Charles versuchte seine Messerhand loszureißen. Narbengesicht hielt fest. Charles roch das ranzige Fett, mit dem Narbengesicht seinen Körper eingeschmiert hatte, bevor er sich bemalte. Narbengesicht schwang die schlammverschmierte Axt erneut nach unten, und wieder drehte Charles sich weg. Die Drehbewegung befreite seine Messerhand. Er stieß das Bowiemesser in Narbengesichts linken Oberarm.
Der Hundekrieger ließ die Axt fallen. Das stumpfe Ende der Schneide knallte gegen Charles' Schläfe. Narbengesicht atmete rauh, schmerzerfüllt. Charles krallte sich mit der linken Hand in Narbengesichts Kinn; das Messer in seiner rechten Hand steckte immer noch in dem blutenden linken Arm von Narbengesicht. Er spürte, wie das Kinn unter seiner linken Hand schlaff wurde. Der Blutverlust schwächte Narbengesicht schnell. Charles brauchte nur nach oben zu greifen und ihm die Kehle durchzuschneiden.
»Stich ihn ab«, sagte Graue Eule aus der Dunkelheit.
Charles' Messerhand begann zu zittern. Narbengesicht hing wie ein Mehlsack über ihm, den jemand auffüllte; er wurde schwerer und schwerer.
Stich zu.
Er konnte es nicht. Mit der linken Hand rollte er Narbengesicht von sich. Er hatte ihn besiegt. Das genügte.
Er spürte eine Hand an seinem rechten Oberschenkel, begriff nicht, was da vor sich ging. Graue Eule rannte vor, als Narben-gesicht sich aufrichtete und den Armeecolt in Anschlag brachte, den er Charles aus dem Halfter gerissen hatte. Die Waffe war mit Schlamm bedeckt, funktionierte aber trotzdem. Graue Eule warf sich vor Charles, um ihn mit seinem Leib zu schützen; die beiden Cheyenne feuerten. Die für Charles bestimmte Kugel traf den Fährtensucher.
Mit einem nassen Klatschen fiel Narbengesichts Kopf zurück in den Schlamm. Er war getroffen, ohne daß Charles hätte sagen können, wo. Oben am Hang wieherten die Pferde der vier Reiter und warfen die Köpfe hoch. Graue Eule sank auf die Knie und feuerte drei weitere Kugeln auf sie ab. In der Sprache der Cheyenne brüllte er ihnen zu, daß Narbengesicht tot war. Die Indianer formierten sich hastig zu einer Reihe und trabten außer Sicht.
Graue Eule atmete aus, ein müder, erschöpfter Laut. Charles kratzte sich den Schlamm aus den Augen und kroch auf den Fährtensucher zu. Im Dorf gab jemand Alarm.
Charles nahm Graue Eule in seine Arme. Das Hemd des Spurenlesers war glitschig von Schlamm und Blut. Das Sternenlicht ließ sein Gesicht, das bemerkenswert gefaßt wirkte, weiß aussehen.
»Ich habe den Weg für uns gefunden, mein Freund. Nun gehe ich weiter.«
»Graue Eule, Graue Eule«, sagte Charles mit gebrochener Stimme.
»Ich gehe, wie meine Vision es mir vorausgesagt hat. Ich gehe.«
»Graue Eule!«
»Da.« Mit zitternder Hand griff Graue Eule nach dem Schleier der Sterne. Der Weg in die ewigen Jagdgründe. Seine Hand fiel zurück auf seine Brust, und Charles spürte, wie ein Schauder durch seinen Körper lief, als er starb.
Er hielt die Leiche von Graue Eule in seinen Armen, während er Narbengesicht betrachtete, der regungslos mit dem Armeecolt in der Hand dalag. Er wußte, es gab etwas, was er tun mußte, doch Erschöpfung und Verwirrung ließen ihn noch einige Momente verharren. Dann fiel es ihm ein. Er sah eine Plattform hoch oben in einem Baum vor sich, dem Himmel näher. Graue Eule war ein guter Mann gewesen, und es war seine Pflicht, sie für ihn zu bauen. Er hatte geglaubt, die Götter wollten, daß er andere führte, selbst wenn dieser Weg ins Exil und in den Tod führte. Bis zum Ende war er seiner Vision treu geblieben. Charles wünschte, er hätte etwas, woran er ähnlich inbrünstig glauben könnte.
Aber er hatte doch etwas. Gus fiel ihm ein. Und Willa.
Sanft ließ er den Körper in das schlammige Gras gleiten. Zweimal rutschte er aus. Er hörte laute Stimmen hinter sich. Roter Bär und seine Leute. Sie würden ihm beim Bau von Graue Eules Ruhestätte behilflich sein. Er wandte sich ihnen zu, um auf sie zu warten.
Er lag im Sterben, aber er war noch nicht tot; Narbengesicht stemmte sich ein paar Zentimeter hoch und schoß Charles in den Rücken.
GEO HAZARD C/O HAZARDS LEHIGH STATION PENNSYLVANIA
DER KRIMINELLE BENT VERHAFTET UND HINGERICHTET IM INDIANERTERRITORIUM AM 27STEN.
ICH HABE DEN OHRRING.
CHARLES MAIN FT LEAVENWORTH KANS TELEGRAMM
MADELINES JOURNAL
Mai 1869. Die Presse hat einen neuen Skandal, den sie breittreten kann. Die Zeitungen von Charleston sind voll von Enthüllungen aus Washington über die Dixie-Läden. Unfaßbar für mich, daß der Name mit dem Skandal verbunden ist.
»Unglücklich«, sagte der Boß. »Höchst unglücklich, Stanley. Ich dachte, Sie würden für Ihren Bezirk einen ausgezeichneten Kongreßabgeordneten abgeben, wenn sich Muldoon gegen Ende der laufenden Amtszeit zurückzieht. Sie sind recht bekannt, Sie können sich einen Wahlkreis leisten, Sie werden von hochstehenden Prinzipien geleitet.«
Stanley wußte, was die letzte Bemerkung zu bedeuten hatte. Er gehorchte den Befehlen der Staatsmaschinerie, die sein Gast völlig unter Kontrolle hatte.
Die beiden saßen in der Nähe der Sokrates-Büste im Con-course, Stanleys Lieblingsclub. Stanleys Gesicht sah blaß und aufgedunsen aus. Er stand im Mittelpunkt der täglichen Zeitungsenthüllungen, wobei sich der >Star< besonders hervortat. Obwohl Stanley siebenundvierzig und sein Gast Simon Came-ron siebzig war, hatte Stanley das Gefühl, daß der Boß über wesentlich mehr Energie verfügte. Er war schlank geblieben. Sein Haar war voll, und in seinen Augen schimmerte kein Hauch der bevorstehenden Senilität, wie es Stanley bei Männern in Camerons Alter bemerkt hatte. Der Boß war 1867 in den Senat zurückgekehrt und hatte nie zuvor über soviel Macht verfügt. Das politische Intrigenspiel bekam ihm.
Nachdenklich nippte Cameron an seinem Kentucky-Whisky. Ein warmes Frühlingszwielicht vergoldete die Fenster neben ihnen. »Unter den gegebenen Umständen will ich Ihnen gegenüber ganz offen sein. Wucher mag nicht illegal sein, aber ganz sicher unpopulär. Und die Nordstaatler haben es allmählich satt, den Süden zu schlagen. Die Dixie-Affäre hat eine allgemeine Welle der Sympathie für die Opfer der Ausbeuter ausgelöst.« Er hob eine Hand, um seinen Gastgeber zu besänftigen. »Das ist eine Zeitungsformulierung, mein Junge, das stammt nicht von mir. Aber es ist bedauerlich, daß Dills sofort zusammenbrach, als er mit dem Geständnis des Klansmannes konfrontiert wurde.«
Stanley schnippte mit den Fingern, um einen Kellner herbeizurufen. Er bestellte so munter eine weitere Runde, daß Came-ron ganz verblüfft war. Stanley stand unter enormem Druck aufgrund der Geschichten, die ihn mit Mercantile Enterprises -Eigentümerin der über ganz South Carolina verteilten Dixie-Läden - in Verbindung brachten. Fast täglich dementierte Stanley öffentlich diese Beschuldigungen; er gab keine Erklärungen ab, sondern betonte lediglich seine Unschuld mit der gleichen Entschlossenheit, mit der der alte Stonewall dem Feind bei First Bull Run Widerstand geleistet hatte. In Anbetracht von Stanleys früherem Verhalten hatte Cameron erwartet, Stanley nicht nur total erschöpft, sondern auch vollkommen entnervt vorzufinden. Erschöpft war er, entnervt nicht. Bemerkenswert.
Stanley sagte: »Ich nehme an, Dills kooperierte in der Hoffnung, den Rest seiner Praxis zu behalten. In den letzten Jahren hat er sich immer stärker einschränken müssen. Kein Mensch kennt den Grund dafür. Beispielsweise mußte er aus seinem Club austreten. Er konnte es sich nicht mehr leisten.«
»Ich vermute, genau wie unser Freund Dills möchten Sie auch etwas behalten? Zum Beispiel Ihren guten Namen?« Die vertraute Strenge zeigte sich auf dem Gesicht des hageren alten Schotten. »Ohne das hat man keine politische Zukunft.«
»Ich habe nichts mit den Dixie-Läden zu tun, Simon. Gar nichts.« Schon wieder ein Anzeichen von Stanleys überraschender, neuer Selbstsicherheit. Vor kurzem noch hatte er es nicht gewagt, den Boß mit Vornamen anzusprechen. »Ich habe das wieder und wieder vor der Presse gesagt, und ich werde es weiterhin sagen, weil es der Wahrheit entspricht.«
Cameron spitzte die Lippen. »Nun ja, aber um offen zu sein, mein Junge, in der republikanischen Hierarchie glaubt man Ihnen nicht.«
Stanley seufzte. Der ältliche schwarze Kellner kam mit dem Silbertablett. Stanley nahm sein Glas, in dem sich die doppelte Menge Whisky befand wie in Camerons Glas. »Dann sollte ich vielleicht mit etwas Stärkerem aufwarten. Ich strebe einen Abgeordnetensitz an. Natürlich wird es hart, mich vollkommen reinzuwaschen. Emotional gesehen.«
Cameron, der in den meisten Männern wie in einem offenen Buch lesen konnte, war verwirrt. »Wovon reden Sie?«
Mit einem schnellen Blick vergewisserte sich Stanley, daß niemand in Hörweite war.
»Ich spreche von den Dixie-Läden. Ich gebe zu, daß sie mit Familiengeld errichtet wurden. Zu der Zeit wußte ich jedoch nichts davon. Ich war zu beschäftigt damit, General Howards Programm für das Büro durchzusetzen.« Seine normalerweise traurigen Hundeaugen funkelten jetzt geradezu. »Mr. Dills kann bestätigen, daß das gesamte Aktienkapital von Mercantile Enterprises auf den Namen meiner Frau Isabel eingetragen ist.«
Der Senator aus Lancaster hätte beinahe seinen Drink verschüttet.
»Wollen Sie damit sagen, sie betreibt die Läden?«
»Ja. Und sie hat damit aus eigener Initiative angefangen, nach einem Besuch in South Carolina. Natürlich bin ich nach und nach dahintergekommen, aber ich war nie über die Details informiert.«
Der ältere Mann brach in schallendes Gelächter aus. Stanley war beleidigt, unterdrückte es aber. Cameron wedelte mit einem Finger. »Wollen Sie mir erzählen, daß Sie jede Verbindung mit dem Dixie-Skandal leugnen?«
»Das tue ich.«
»Und Sie erwarten, daß die Partei und die Öffentlichkeit Ihnen Glauben schenken?«
»Wenn ich es oft genug wiederhole«, entgegnete Stanley ruhig, »dann werden sie es glauben. Jawohl. Ich wußte nichts. Isabel ist eine intelligente, ehrgeizige Frau. Die Aktien gehören ihr. Ich wußte nichts.«
Dieser ruhige, gelassene Stanley sollte identisch sein mit dem schüchternen, naiven Mann, dem Simon Cameron einst geraten hatte, sich zu Beginn des Krieges nach einem profitablen Armeekontrakt umzusehen? Stanley war durch den Verkauf minderwertiger Schuhe unglaublich reich geworden. Er hatte sich außerdem verändert, während Camerons Aufmerksamkeit auf andere Dinge gerichtet gewesen war. Der Boß konnte in dem neuen Stanley nichts mehr von dem alten entdecken.
Er lehnte sich entspannt in seinem Ledersessel zurück und stieß ein unfreiwillig anerkennendes Lachen aus. »Mein Junge, der Sitz im Kongreß ist vielleicht trotz allem noch nicht außer Reichweite. Sie klingen sehr überzeugend.«
»Ich danke Ihnen, Simon. Ich hatte ja auch einen Meister als Lehrer.«
Cameron nahm an, daß sich das auf ihn bezog. Er warf einen Blick auf die Uhr. »Wollen Sie mir beim Abendessen Gesellschaft leisten?«
Stanley überraschte Cameron erneut, als er sagte: »Besten Dank, aber ich kann leider nicht. Ich habe meinen Sohn hier zum Essen eingeladen.«
Laban Hazard, Esquire, gerade dreiundzwanzig, hatte bereits in Washington eine Kanzlei eröffnet, obwohl er Yale erst vor zwei Jahren verlassen hatte. Es war keine prestigeträchtige, dafür aber eine profitable Kanzlei. Labans Mandanten waren meist Mörder, Aktienbetrüger und des Ehebruchs angeklagte Männer. Laban war ein schmächtiger, geschäftiger junger Mann; früher hatte er recht gut ausgesehen, aber das schwand nun schnell durch zu wenig Sonnenschein und zu viel spanischen Sherry dahin.
Im Speisesaal des Clubs erklärte Stanley bei ausgezeichneten Lammkoteletts seine Zwangslage und begründete seine Entscheidung, weitere Details preisgeben zu müssen, um seine Unschuld zu beweisen. Laban hörte mit undeutbarem Gesichtsausdruck zu. Unter dem Gaslicht glich sein sorgfältig gekämmtes Haar dem Fell eines Otters, der gerade aus dem Fluß geglitten war.
Am Ende von Stanleys langem Monolog lächelte sein Sohn. »Du hast dich gut vorbereitet, Vater. Ich glaube, du wirst nicht mal einen Anwalt brauchen, wenn die Aktien so registriert sind, wie du gesagt hast. Ich werde dich jedoch gern vertreten, falls irgendwelche unvorhergesehenen Umstände eintreten sollten.«
»Ich danke dir, Laban.« Eine sirupgleiche Sentimentalität durchströmte Stanley. »Dein elender Bruder ist eine einzige Schande, aber du erfreust mein Herz. Ich bin froh, daß ich die Initiative zu diesem Treffen aufgebracht habe.«
»Ich auch«, sagte Laban. Er rülpste. »Pardon.« Laban hatte bereits einen Sherry zuviel getrunken.
»Nimmst du für mich Verbindung zum >Star< auf? Ich möchte ein geheimes Treffen mit ihrem besten Reporter, so bald wie möglich.«
»Ich kümmere mich gleich morgen früh darum.« Laban schwenkte sein Weinglas. Dann sagte er, dem Blick seines Vaters ausweichend. »Du weißt, daß ich schon immer Schwierigkeiten hatte, Zuneigung für meine Mutter zu empfinden.«
Er sagte das ganz monoton, im besten Anwaltsstil. Das persönliche Geständnis klang so ganz normal.
»Ich weiß, mein Junge«, murmelte Stanley. Triumphgefühl stieg in ihm auf; er würde überleben und sich zu neuen Höhen aufschwingen. »Aber wir dürfen nicht nachtragend sein. Sie wird unser Mitgefühl brauchen, wenn der Sturm losbricht.«
Drei Tage später, am Samstag, befand sich Stanley in dem Stall hinter dem Herrschaftshaus in der I Street. In Hemdsärmeln, bereits von zwei morgendlichen Whiskys gestärkt, bewunderte er seine Kutschenpferde in den harmonischen Brauntönen. Sie bereiteten ihm die größte Freude in seinem Leben; sie symbolisierten die Annehmlichkeiten des Reichtums.
»Stanley!«
Beim Klang ihrer scharfen Stimme wandte er sich dem Eingang zu.
Eine blasse Sonne versuchte den morgendlichen Dunst vom Potomac zu durchdringen. Im Stall roch es angenehm - nach Erde, Stroh und Pferdemist. Stanley entdeckte ein Exemplar vom >Star< in Isabels Hand.
»Bitte laß uns allein, Peter«, sagt er. Der junge schwarze Stallknecht rieb sich über die Augenbrauen und ging.
Isabel war aschfahl. Sie wedelte mit der Zeitung vor dem Gesicht ihres Mannes herum. »Du fetter, bösartiger Bastard. Wann hast du das getan?«
»Die Aktien zu transferieren? Schon vor einiger Zeit.«
»Damit wirst du nicht durchkommen.«
»Oh, ich glaube, ich bin bereits damit durchgekommen. Gestern gratulierte mir Ben Wade. Er hob meine Ehrlichkeit und meinen Mut angesichts einer derart harten Entscheidung hervor. Er pries meine Zukunft als Republikaner. Soweit ich weiß, betrachtet das Weiße Haus mich als reingewaschen.«
Isabel hörte die Gehässigkeit aus seinem süßlichen Tonfall heraus. Sie wollte ihn beschimpfen, überlegte es sich dann aber anders. Sie spürte die Last ihrer fast fünfzig Jahre; ganz plötzlich fürchtete sie sich vor diesem plumpen Mann in seinem zerknitterten Leinenanzug, den sie so lange verachtet hatte. Sie ging auf ihn zu.
»Was sollen wir tun, Stanley?«
Er wich vor ihrer ausgestreckten Hand zurück. »Ich werde die Scheidung beantragen. Laban hat sich bereit erklärt, die Sache in die Wege zu leiten. Ich kann die Art und Weise, wie du deine Carolina-Läden führst, nicht billigen.«
»Meine?«
»Ich muß an meine Zukunft denken«, fuhr er fort. Isabel sah vor lauter Ungläubigkeit ganz krank aus. »Ich habe jedoch Laban angewiesen, fünfhunderttausend Dollar auf dein Privatkonto zu transferieren. Betrachte es als eine Art Abschiedsgeschenk, auch wenn du mir eine schlechte Ehefrau gewesen bist.«
»Wie kannst du es wagen, so etwas zu sagen? Wie kannst du es wagen?«
Ganz plötzlich bebte Stanleys Stimme. »Weil es stimmt. Du hast mich ständig gedemütigt, hast mich vor meinen Söhnen heruntergemacht. Du hast mir die einzige Frau genommen, die mich je geliebt hat.«
»Diese Tanzhallenschlampe? Du Einfaltspinsel. Die war scharf auf dein Geld, nicht auf dein Geschlechtsteil.«
»Isabel! Das ist ja widerlich.« Tief in seinem Inneren lachte ein kleiner Gnom gehässig auf. Isabel hielt sich auf ihre Vornehmheit viel zugute. Endlich hatte er ihr das Rückgrat gebrochen.
Er fuhr fort: »Diese Bemerkung bestätigt nur meinen Entschluß. Trotzdem gebe ich dir das Geld, damit du den Skandal überstehst. Als Gegenleistung verlange ich lediglich, daß du dich von mir fernhältst. Für immer.«
Die edlen Braunen steckten aus ihren angrenzenden Stallboxen die Köpfe zusammen. Vom Heuboden fiel das heller werdende Sonnenlicht in breiten Streifen herein. Peter pfiff draußen ein Liedchen vor sich hin. Isabels Verblüffung verwandelte sich in Zorn.
»Ich habe dir zuviel beigebracht. Ich habe dir zuviel beigebracht.«
»Stimmt. Als Halbwüchsiger hielt ich nie sonderlich viel von mir oder meinen Fähigkeiten. Meine Mutter ebenfalls nicht. Auch nicht mein Bruder George. Du hast mich davon überzeugt, daß ich Erfolg haben könnte, wenn ich nur ein paar Skrupel über das Wie ablege.« Oh Gott, wie haßte er sie. Zum erstenmal benahm er sich ihr gegenüber richtig gemein. »In deinem fortgeschrittenen Alter kannst du stolz sein auf diese Leistung.«
»Ich habe viel zuviel für dich getan«, kreischte Isabel und stürzte sich mit fliegenden Fäusten auf ihn. Sie war schmächtig, kein Gegner für ihn, schwammig, wie er war. Stanley wollte sie gar nicht so kräftig fortstoßen. Sie knallte mit der Schulter gegen eine leere Stallbox, schrie auf und rutschte dann zu Boden.
Verwirrt starrte sie auf ihren Rock. Er war über und über mit Pferdemist beschmiert.
Der junge schwarze Stallknecht kam hereingestürzt. Stanley war von der Stärke seiner eigenen Stimme selbst überrascht.
»Alles in Ordnung, Peter. Kümmere dich wieder um deine Arbeit.«
»Ich war zu gut zu dir«, sagte Isabel; sie lehnte ihren Kopf gegen die Stallwand und weinte. »Zu gut.«
Blinzelnd sagte Stanley: »Ich bin geneigt, dir zuzustimmen, auch wenn ich mir nicht vorstellen kann, daß dies von deiner Seite her absichtlich geschah. Und als du zu gut zu mir warst, da hast du einen ernsten Fehler begangen, Isabel.« Er lächelte. »Bitte verlasse das Haus innerhalb von vierundzwanzig Stunden, sonst sehe ich mich gezwungen, dich hinauszuwerfen. Und jetzt entschuldige mich bitte. Ich bin durstig.«
Er marschierte in den Dunst hinaus; sie blieb zurück, auf den Dreck an ihrem Rock starrend.
Richard Morris Hunt hatte das Herrschaftshaus entworfen. Es beanspruchte den gesamten Block zwischen Nineteenth und Twentieth in der South State Street. Es war eine großartige Leistung gewesen, solch einen berühmten Architekten nach Chicago zu locken. Will Fenway hatte - wie bei den meisten anderen Dingen auch - festgestellt, daß er bekam, was er wollte, wenn er ein Drittel mehr als den üblichen Preis zahlte.
Die Extravaganz störte ihn nicht. Es war unmöglich, das Geld so schnell auszugeben, wie er es verdiente. Die Fenway-Fabrik war dreimal expandiert, ihre Lieferfristen lagen momentan bei zehn Monaten, und Ende 1869 hatte Wills Verkaufsdirektor, Le-Grand Villers, drei weitere Firmenvertreter in London, Paris und Berlin angeheuert. Allmählich begann Will zu glauben, daß es in der Welt bei weitem mehr Hurenhäuser als anständige christliche Heime gab.
Will Fenway war bereits achtundsechzig, als er Hunt engagierte. Er wußte, daß er höchstens noch ein Jahrzehnt vor sich hatte, und wollte das Leben genießen. Er hatte Hunt beauftragt, ihm das größte, protzigste Haus zu bauen, das man sich vorstellen konnte. Mr. Hunt hatte an der Ecole des Beaux Arts studiert und war ein Apostel der Architektur des Zweiten Französischen Kaiserreichs.
Hunt plante ein Granitschloß mit siebenundvierzig Räumen und Mansardendächern auf den drei Flügeln. Und überall Marmor: Marmorsäulen, Marmorböden und Marmorkamine. In Wills Billardzimmer hätte ein kleines Häuschen hineingepaßt; in Ashtons Ballsaal drei. Nur ein Vorfall störte den Hausbau. Auf jeder Mansarde saß oben ein gußeiserner Dachkamm. Eines Tages entdeckte Ashton, daß Hunt diese Einfassungen bei Ha-zards in Pittsburgh bestellt hatte. Sie bekam einen Wutanfall und schickte Hunt einen Entlassungsbrief. Als Reaktion darauf erhielt ihr Mann ein wütendes Telegramm von dem Architekten. Will sah sich gezwungen, die Fabrik zu verlassen, wo er von Montag bis Freitag mindestens zwölf Stunden pro Tag arbeitete, und den nächsten Zug nach Osten zu nehmen. Er bat und flehte mehrere Stunden lang, bis Hunt bereit war, den beleidigenden Brief zu übersehen.
Die Krise ging vorüber, und die Fenways bezogen ihr Haus im Frühsommer. Viele angenehme Stunden verbrachten sie damit, einen Namen für das Haus zu suchen. Jede bedeutende Residenz besaß einen Namen. Er wollte es Château Willard nennen. Ashton rebellierte. Anstatt sich an diesem Abend ohne jeden Gedanken an Sex in seine Arme zu schmiegen, begab sie sich in ihre eigene Drei-Zimmer-Suite. Dort blieb sie vier Tage und vier Nächte, bis er an ihre Tür klopfte, um sich zu entschuldigen. Sie ließ ihn ein unter der Bedingung, daß sie den Namen in Château Villard abänderten, mit der Betonung auf der zweiten Silbe. Er schien erleichtert und stimmte zu.
Das Jahr 1869 brachte den Eigentümern von Château Villard unglaublichen Reichtum ein. Will konnte es nicht fassen, was für Summen hereinströmten oder wie viele Fenway-Klaviere die Fabrik verließen. Ein herrlicher Fenway-Konzertflügel befand sich bereits im Planungsstadium; für dieses Instrument lagen sogar schon Bestellungen vor. Angesichts der Gesamtsituation erkannte Ashton, daß sie endlich nach Möglichkeiten suchen konnte, sich an ihrer Familie zu rächen. Als ersten Schritt bat sie Will um ein Privatkonto. Nach Rücksprache mit den Buchhaltern der Fenway Piano Company richtete er ihr ein Konto mit zweihunderttausend Dollar ein. Im Februar beschloß Ash-ton, South Carolina zu besuchen, sobald das Wetter und ihr Terminkalender es zuließen. Sie hatte keinen festen Plan, wie sie gegen ihren Bruder und Orrys Witwe vorgehen wollte; sie wollte lediglich nach Möglichkeiten Ausschau halten.
Das Hauspersonal von Château Villard wurde von drei auf zwölf Personen erweitert, einschließlich zweier Stallknechte. Ashton gab das Geld mit vollen Händen aus, kaufte kistenweise Gemälde, Skulpturen und Bücher.
Ashton versuchte mit den Bewohnern der Häuser oberhalb und unterhalb von Château Villard Kontakt aufzunehmen. Im Norden wohnte Hiram Buttworthy, ein Pferdegeschirr-Millionär und Baptist, ein Mann, der in jede Ecke eines jeden Raumes einen Spucknapf stellte und dessen Frau so häßlich war, daß man hätte glauben können, sie gehöre in eines seiner Pferdegeschirre. Mrs. Buttworthy, eine führende Dame der Gesellschaft, hatte nicht viel übrig für die pompöse Südstaatlerin, die ihren Mann ganz offensichtlich nicht wegen seiner Jugend, seines guten Aussehens oder seiner Aussicht auf ein langes Leben geheiratet hatte.
Im Süden von Château Villard lebte, anscheinend ohne Mann, eine Suffragette namens Sedgwick, deren unverblümte Ansichten und spitze Zunge Ashton an ihre Schwester erinnerten - was ausreichte, daß sie bei ihrem ersten und einzigen Treffen eine sofortige Abneigung gegen sie faßte. Doch Ashton fühlte sich durch ihre Unfähigkeit, mit ihren Nachbarn auszukommen, keineswegs entmutigt. Der Fehler lag bei ihren Nachbarn. Der Preis, den man für große physische Schönheit zahlen mußte, das war ihr schon vor langer Zeit klargeworden, war die Isolation durch eifersüchtige minderwertige Personen.
Will kaufte ein Sommerhäuschen in Long Branch, New Jersey. Er kaufte es ungesehen. Wenn der Kurort am Meer für Präsident Grant und dessen Frau gut genug war, dann war er auch gut genug für ihn. Er kaufte eine herrliche Jacht mit einer Länge von sechzig Fuß und einem Hilfsmotor, die an einem teuren Liegeplatz an der Mündung des Chicago River ankerte. Ashton taufte die Yacht auf den Namen >Euterpe<, nachdem sie die Muse der lyrischen Gesangskunst in einem ihrer selten aufgeschlagenen Bücher gefunden hatte. Sie hatte fast eine Stunde lang in dem Buch gelesen, was sie mürrisch machte und ihr Kopfschmerzen verursachte. Sie war jetzt dreiunddreißig, doch ihre Interessen hatten sich seit ihrer Mädchenzeit nicht geändert. Sie schätzte ihr Aussehen, Männer, Macht und Geld und fand alles andere lästig und störend.
Ashtons geplanter Besuch in South Carolina wurde durch eine Inspektionsreise zu dem möblierten Haus am Jersey-Strand hinausgezögert. Die Wohnzimmerwände waren mit bunten Aufnahmen der Rockies und der kalifornischen Küste dekoriert. Will bewunderte die billige Kunst und meinte, hier fühle er sich wohl.
Aber die Sommersaison hatte noch nicht begonnen, und Ashton schmollte und nörgelte, bis er mit ihr nach New York fuhr, wo sie Bryant's Minstrels sahen, Lydia Thompson and her British Blondes und Mr. Booth's Produktion von >Romeo und Ju-lia<. Letzteres war so gefragt, daß Will einem Halsabschneider hundertfünfundzwanzig Dollar pro Eintrittskarte zahlen mußte. Dann schlief er im zweiten Akt ein und begann zu schnarchen.
Ashton kaufte drei Schrankkoffer mit neuer Kleidung. Die Straßen der Städte waren in solch einem jämmerlichen Zustand, daß der Kleidersaum einer Dame schon nach kurzer Zeit völlig verschmutzt war. Ashton machte sich nie die Mühe, diese Kleidungsstücke säubern zu lassen; sie warf sie einfach weg. Gelegentlich entdeckte sie sie später bei ihrem Dienstpersonal wieder, die die Sachen aus der Mülltonne gerettet hatten.
Will hatte nichts dagegen. Er bewunderte die üppige Figur seiner Frau und liebte es, sie gut gekleidet zu sehen. Sie konnte all das Geld für ihre Kleidung ausgeben, das er an der seinen sparte. Er liebte es eher gemütlich, und zum Teufel mit dem, was die anderen dachten.
»Ich werde dich vermissen«, sagte Villers und fuhr mit seiner Hand langsam zwischen Ashtons Beinen nach oben.
»Ich bin doch nicht lange weg, Darling. Eine Woche oder zwei.«
»Achtundvierzig Stunden ohne das ist mittlerweile schon zuviel für mich.«
Sie lachte, nahm seine Hand, drückte sie auf ihre linke Brust und räkelte sich genüßlich.
LeGrand Villers war ein kräftiger, vitaler Mann mit dichtem, dunkelblondem Kraushaar. Er war Nordstaatler; früher hatte er sich seinen Lebensunterhalt mit Kartenspiel auf den Mississippischiffen verdient. Obwohl er nicht besonders aussah, wirkte er ungemein männlich und hatte etwas sehr Anziehendes an sich. Vor zwei Jahren war er in die Fenway-Büros marschiert gekommen und hatte vorübergehend Arbeit gesucht, um Spielschulden zurückzahlen zu können; seitdem hatte er sich vom einfachen Angestellten über den Verkäufer zum Verkaufsmanager hochgearbeitet, wobei er unterwegs auch noch Ashton verführt hatte. Villers war eindeutig der am besten bestückte Liebhaber, den Ashton je gekannt hatte. Deshalb war er auch in ihrem Kistchen mit zwei Knöpfen vertreten.
Durch ein Bullauge über der Koje fiel Sonnenschein auf Ash-tons Bauch und Oberschenkel. Die >Euterpe< schwankte leicht an ihrem Liegeplatz. Vor der Mittagszeit wurden der Kapitän und sein Maat niemals nüchtern, kamen also nie an Bord, weshalb die Jacht für Schäferstündchen geradezu ideal war.
»Nun, ich gebe zu, daß du mich auch verrückt machst, LeGrand.« Powell hatte besser ausgesehen, war aber nicht ganz so potent gewesen.
»Und du glaubst wirklich, Will weiß nach all diesen Monaten immer noch nicht über uns Bescheid?«
»Er weiß, daß ich Liebhaber habe, doch wir sprechen nicht darüber. Er versteht, daß ich eine junge Frau mit gewissen, äh, Bedürfnissen bin.«
»Eines dieser Bedürfnisse scheint zu sein, daß du nach Carolina mußt. Kann mir nicht vorstellen, warum. Ich habe einmal Georgia besucht. Nichts als Schwarze und hochmütige Mädels und nuschelnde Gauner, die >Ja, Sir< murmeln, während sie überlegen, wie sie dich übers Ohr hauen können.«
»LeGrand, dafür sollte ich dich aus meinem Bett werfen. Ich bin ein Stüdstaatenmädel.« Sie hatte es gerade mit dem schweren Akzent demonstriert, den sie während ihrer Jahre im Norden nach und nach unterdrückt hatte. Sie hatte sich an alles im Norden gewöhnt bis auf die heulenden weißen Winterstürme in Chicago, die eine Art von Fluch sein mußten, den Gott den Yankees auferlegt hatte.
»Ich möchte meine Familie besuchen«, fügte sie hinzu. Ihre Augen schimmerten wie blauschwarze Achate. »Ein freundschaftlicher Besuch.«
»Freundschaftlich?« Villers Hände begannen wieder, an ihr herumzuspielen. »Ich hab' noch nie gehört, daß du über diese Leute ein freundliches Wort verloren hättest.«
Sie strich ihr offenes Haar über die Schultern zurück und warf einen Blick auf die ganz in der Nähe tickende Uhr. Erst Viertel vor elf. Gut.
»Nun, ich habe mich geändert, LeGrand. Menschen ändern sich nun mal.«
Er kicherte. »Du hast gelernt zu verbergen, wie sehr du sie haßt. Meinst du das?«
Ashton strich über seinen kantigen Kiefer. »Ich wußte doch, daß du mir nicht nur wegen dem, was du in deinen Hosen hast, sympathisch warst. Verrat bloß nicht mein Geheimnis. Und jetzt komm her, und tu deine Pflicht.«
Ein Dockarbeiter, der fünf Minuten später am Pier vorüberkam, bemerkte, daß die >Euterpe< leicht im Wasser rollte -höchst ungewöhnlich für solch einen ruhigen Tag.
»Die Droschke ist da, um Sie zum Bahnhof zu bringen, Madam.«
»Laden Sie das Gepäck ein, Ramsey.«
Der Butler verbeugte sich und zog sich zurück. Trotz seiner gezierten englischen Sprechweise - aus diesem Grund hatte ihn Will den anderen Bewerbern vorgezogen - war er für Ashton nichts anderes als ein weiterer Sklave, gefesselt durch Lohngeld anstatt durch Ketten, doch berechtigte ihn das noch lange nicht zu besserer Behandlung. Dienstboten bereiteten einem deswegen soviel Freude, weil man hier menschliche Wesen zur Verfügung hatte, die vor jedem Wort zitterten, das man sagte.
Will kam aus seinem Billardzimmer geschlendert. Die Manschettenknöpfe aus Goldnuggets waren so groß, daß seine Hemdsärmel durchhingen. Obwohl er gealtert war, wirkte er viel gesünder und munterer als zu der Zeit, in der Ashton ihn in Santa Fe kennengelernt hatte. Der Erfolg bekam ihm sehr gut.
Seine lebhaften blauen Augen schauten seine Frau einen Moment lang bewundernd an. Dann tätschelte er ihre Wange, als wäre sie seine Lieblingskatze.
»Benimm dich anständig.«
Ashton spürte einen kleinen Riß. Sie konnte zwar nichts anderes als Wärme in seinem Blick entdecken, doch seine Bemerkung erinnerte sie an seine Warnung, nachdem sie grundlos den Schwager der Senora erschossen hatte. Nur Will konnte bei ihr den gleichen kleinen Angstschock auslösen, den sie so gern bei anderen erzeugte. »Aber ja doch, mein Schatz«, sagte sie.
Sie trug sich im Mills House als Mrs. W.P. Fenway, Chicago, ein. Die Aufmerksamkeit des Personals konzentrierte sich natürlich auf eine attraktive Frau, die ganz allein mit elf Gepäckstücken reiste. Doch niemand bekam sie deutlich zu sehen; sie ging stets stark verschleiert. Es hatte keinen Sinn zu enthüllen, daß sie eine Main war.
Ashton erkundete das liebliche Charleston, das noch immer unter den Zerstörungen des Krieges litt. Schwarze lungerten überall mit impertinenter Miene herum; dafür hätten sie zu ihrer Kinderzeit die Pferdepeitsche zu kosten bekommen. Es gab immer noch einige Yankees in blauer Uniform zu sehen.
Sie mietete sich eine geschlossene Kutsche für eine Rundfahrt. Die Battery brachte die Erinnerung an jene aufregenden Wochen zurück, als Sumter belagert wurde. Sie stand am Hafen, während ihr Fahrer in diskreter Entfernung wartete. Sie schaute aufs Meer hinaus, eine Frau mit einer wunderbaren Figur, deren Taille mit Fischbein eng geschnürt war. Sie trug Samt von der Farbe von altem Burgunder, viele Meter, die ihren Rock mit Tournüre aufbauschten. Es war höllisch heiß, aber die Wirkung war es wert. Spaziergänger machten sich so ihre Gedanken über die teuer gekleidete, ziemlich melancholische Frau, die da über das Wasser auf den Atlantik hinausstarrte. Waren ihre Gedanken romantischer Natur? Trauerte sie einer verlorenen Liebe nach?
Ich hasse dich, Billy Hazard. Alles wäre anders gekommen, wenn du mich statt meiner zimperlichen kleinen Schwester geliebt hättest.
Ashton gab nicht nur Billy, sondern auch Orry, Cooper und Madeline die Schuld an ihrem Exil und an den grauenhaften Monaten als Hure. Als sie daran dachte, was sie alles durch das selbstgerechte Verhalten ihrer eigenen Familie verloren hatte, fühlte sie, wie sich der alte Haß erneuerte. Sie schnüffelte, tupf-te sich die Augen mit ihrem Handschuh trocken, kehrte zur Kutsche zurück und befahl dem Fahrer, langsam zur East Bay zu fahren. Dort betrachtete sie sich das Haus, wo sie mit dem armen Huntoon gelebt hatte.
Als sie in der engen Tradd Street an Coopers Haus vorbeifuhr, drückte sie sich in die Kissen der Kutsche, als eine Frau aus dem Tor kam; Coopers schlichte, unscheinbare Frau, älter, aber immer noch mit Adlernase und ohne Busen. Trotz des Schleiers wandte Ashton ihr Gesicht ab. Sie rief dem Fahrer zu, schneller zu fahren. Es gab nicht den geringsten Zweifel - sie haßte sie alle.
In den nächsten Tagen erfuhr sie einige überraschende Dinge. Zum einen, daß Orry den Krieg nicht überlebt hatte. Nachdem er Ashton und Huntoon wegen ihrer Rolle bei der Powell-Ver-schwörung aus Richmond verjagt hatte, war er an die Front in Petersburg gegangen, wo ihn irgendein Yankee erschoß.
Ashton empfand weder Kummer noch Bedauern, sondern nur noch mehr Zorn auf ihren einarmigen Bruder. Sein Tod betrog sie um eine gute Chance zur Rache, und das gefiel ihr ganz und gar nicht.
Madeline lebte allein, wohlhabend, aber von allen verachtet wegen ihres republikanerfreundlichen Verhaltens. Ashton hörte von dem Klanüberfall auf Mont Royal und dem im Bau befindlichen neuen Haus. Von einem angetrunkenen Journalisten, mit dem sie flirtete, erfuhr sie dann noch etwas, was sie in echte Erregung versetzte. Jedermann in der Stadt wußte es. Mont Royal war hoch mit Hypotheken belastet.
»Es ist mir ein Vergnügen, Sie kennenzulernen«, sagte Leverett Dawkins, der auf seinem Spezialbürostuhl thronte. »Was kann die Palmetto Bank für Sie tun?«
Ashton saß in perfekter Haltung auf der Kante des Besucherstuhls. Sie zog die Schultern zurück, was die Linie ihres Busens noch betonte. Dies entging dem Bankier keineswegs. Sie beobachtete, wie sein Blick nach oben zu ihrem Gesicht wanderte -der arme Narr hatte wohl geglaubt, es sei ihr entgangen, worauf sich seine Aufmerksamkeit konzentrierte -, und wußte, daß sie sich im Vorteil befand. Sie war mit Dawkins' Namen vertraut, hatte ihn aber nie persönlich kennengelernt; er würde sie also niemals mit der Main-Familie in Verbindung bringen.
Äußerlich gefaßt, aber innerlich angespannt sagte sie: »Ich möchte mich über die Grundbesitzverhältnisse in diesem Bezirk erkundigen. Ich habe alte Familienbande in South Carolina. Ich schätze die Gegend um Charleston sehr und würde mir hier gern ein Zuhause schaffen.«
»Ich verstehe. Fahren Sie bitte fort.«
»Als ich vorgestern die Ashley River Road entlangfuhr, sah ich eine wunderbare Plantage, in die ich mich sofort verliebte. Ich habe sie mir seitdem noch zweimal angesehen, und mein Gefühl hat sich nur noch verstärkt. Ich hoffte, Sie könnten mir etwas über den Besitz sagen.«
»Auf welche Plantage beziehen Sie sich, Ma'am?«
»Man sagte mir, der Name sei Mont Royal.«
»Ah, die Main-Plantage«, sagte er und lehnte sich zurück. »Der Eigentümer ist Mr. Cooper Main. Er wohnt in dieser Stadt.«
Es verwirrte Ashton, den Namen ihres Bruders zu hören. Ihr schwerer, schwarzer Schleier verbarg das zum Glück. Sie faßte sich wieder und sagte leichthin: »Ich dachte, eine Frau hätte das alles unter sich.«
»Sie meinen Mrs. Orry Main, die Schwägerin des Besitzers.« Ashton bemerkte eine gewisse Abneigung in seinen Worten. »Sie lebt dort aufgrund einer Vereinbarung mit Mr. Main. Sie ist eine Art Managerin, verantwortlich für die Leitung von Mont Royal. Doch der Besitz liegt bei Mr. Main.«
Vorsichtig fragte sie: »Ist die Plantage eventuell zu kaufen?«
Er dachte darüber nach; da mußten Coopers Gefühle bezüglich der Negerschule berücksichtigt werden, auch sein Haß auf Madeline Main, weil sie Komplizin bei der Eheschließung seiner Tochter mit diesem Yankee gewesen war. Dawkins' Besucherin brachte eine neue, höchst interessante Möglichkeit ins Gespräch, die einen doppelten Vorteil bieten konnte. Zum einen den Profit, zum anderen konnte die Bank ein Kundenverhältnis beenden, das sich allmählich zum Ärgernis auswuchs.
»Mont Royal ist mit einer beträchtlichen Hypothek belastet«, sagte er, »die von dieser Bank gehalten wird.«
Das wußte sie bereits, ließ sich aber nichts anmerken. »Oh, welch ein Glück! Glauben Sie, der Besitzer, dieser Mister, äh ...«
»Main«, half er ihr.
»Würde er verkaufen, wenn die Hypothek als Teil der Transaktion beglichen würde?«
»Natürlich kann ich nicht für ihn sprechen, aber die Möglichkeit besteht selbstverständlich. Falls Sie an einem Angebot interessiert sind, würde unsere Bank gern für Sie tätig werden. Gegen ein gewisses Honorar, versteht sich.«
»Selbstverständlich. Darauf bestehe ich. Und auf einigen anderen Bedingungen. Mein Mann, Mr. Fenway, ist ein sehr reicher Mann. Kennen Sie die Fenway's Piano Company?«
»Wer kennt sie nicht? Und das ist Ihr Gatte? Sehr schön.«
»Wenn Mr. Main herausfindet, wer seine Plantage kaufen möchte, könnte er versuchen, den Preis unvernünftig hochzutreiben.«
»Wir können dafür sorgen, daß dies nicht geschieht. Wenn wir für Sie die Verhandlungen führen, können Sie vollständig anonym bleiben, bis der Kauf getätigt ist.« Er merkte, daß sie damit zufrieden war. »Sie erwähnten gewisse weitere Bedingungen.«
Ihr Herz schlug so schnell, daß sie fast zitterte. Es war in Griffweite die Chance für die perfekte Rache, von der sie seit Jahren geträumt hatte. Sie bemühte sich, die Anspannung aus ihrer Stimme herauszuhalten, als sie sagte: »Ich möchte, daß der Kauf sehr schnell abgewickelt wird. Innerhalb weniger Tage. Ich möchte den Verkauf abgewickelt sehen, bevor ich nach Chicago zurückkehre.«
Zum erstenmal runzelte er die Stirn. »Ihr Verlangen entspricht nicht den Regeln, Mrs. Fenway. Und ist schwierig zu bewerkstelligen.«
Sie lehnte sich zurück, als würde sie ihm ihre Freundlichkeit entziehen. »Nun, dann tut es mir leid.«
»Schwierig«, wiederholte er und hob schnell eine Hand. »Aber nicht unmöglich. Wir werden alles tun, was in unseren Kräften steht.«
»Ausgezeichnet«, sagte sie und entspannte sich wieder. »Das ist ausgezeichnet. Vielleicht könnten wir jetzt die Details besprechen? Ein Angebot? Bitte nennen Sie eine Zahl, aber im vernünftigen Rahmen, vergessen Sie das nicht. Allerdings hoch genug, damit das Angebot auf Mr. Cooper Main unwiderstehlich wirkt. Das ist das Zauberwort, Mr. Dawkins.«
Langsam hob sie den schwarzen Schleier und schenkte ihm ihr süßes Giftlächeln. Er war hingerissen vom feuchten Glanz ihrer Lippen und der ebenmäßigen weißen Schönheit ihrer Zähne, als sie ihm zuflüsterte: »Unwiderstehlich.«