KAPITEL 9

Nealas Füße pochten vor Schmerz. Dutzende Male ver­fluchte sie diesen kleinen Scheißer Timmy dafür, dass er ihr die Schuhe gestohlen hatte. Die Schmerzen und die Wut halfen ihr, an der Realität festzuhalten, als sie dem Mann namens Robbins zu dessen Auto folgte, das Fahrzeug voll mit Krulls vorfand wie eine seltsame Familie bei Urlaubs­antritt, dabei zusah, wie er zwei davon erschoss, und um ihr Leben von dem Wagen wegrannte.

Anfangs hatte sie Erleichterung darüber verspürt, wieder mit der anderen Gruppe vereint zu sein. Gemeinsam waren sie stärker. Allerdings hielt der Mann, Lander, nichts davon, sich leise zu verhalten und zu verstecken. Er wollte nur seine Frau finden, selbst wenn der Rest von ihnen dabei draufginge.

»Wir finden sie nie«, sagte Robbins, nachdem sie 10 Minuten durch den dichten Wald geirrt waren. »Wir sollten


es besser aufgeben und versuchen, uns zur Hauptstraße durchzuschlagen.«

»Nur zu«, herrschte Lander ihn an. »Wer braucht dich schon?«

»So bringen Sie noch ihre Kinder um.«

»Ich muss meine Frau finden.«

»Verdammt, wahrscheinlich ist sie schon tot.«

»Nein.«

»Wie sollen wir sie je finden?«, fragte das Mädchen und hörte sich dabei verzweifelt, den Tränen nahe an.

»Wenn wir es nicht versuchen, gar nicht«, antwortete Lander. »Wenn wir nichts tun und nur im Gebüsch kauern wie geprügelte Hunde, dann gar nicht.«

»Das ist unsere einzige Chance«, beharrte Robbins.

»>Der Feige stirbt schon vielmal, eh er stirbt, die Tapfern kosten einmal nur den Tod.<«

»Ich gebe Mr. Dills recht«, meldete sich der Junge zu Wort. »Wir müssen sie retten, auch wenn es ein zusätzliches Risiko ist.«

»Drauf geschissen«, fauchte Sherri. »Ich setze meinen Arsch nicht dafür aufs Spiel, eine ...«

Lander schrie auf, als eine bleiche Gestalt von einem Baum herabfiel. Die Knie erwischten seine Schultern und schleuderten ihn zu Boden. Neala erblickte ein Messer in einer erhobenen Hand. Robbins feuerte. Ein Loch erschien zwischen den kleinen Brüsten. Das Mädchen kippte vor­wärts und landete mit dem Gesicht auf dem Boden.

»Verdammte Scheiße!«, stieß Sherri hervor.

Neala starrte auf die Leiche hinab. Das Mädchen war nackt. Blut schoss aus einem unregelmäßigen Loch im Rücken.

»Weg hier«, zischte Robbins. »Der Schuss lockt sie im Laufschritt an.«

Er ergriff Nealas Hand.

Sie rannten los und liefen eine weite Strecke. Nealas Füße brannten vor Schmerz, während sie mit Robbins Schritt hielt, aber sie beklagte sich nicht und wurde auch nicht lang­samer. Zum ersten Mal seit ihrer Gefangennahme in dem Restaurant verspürte sie so etwas wie Hoffnung. Sie war niemandes Gefangene mehr, Robbins schien fest entschlos­sen zu sein, sie zu retten, und die Knills waren außer Sicht verschwunden. Vielleicht würde sie die Nacht doch über­leben.

Als sie letztlich glaubte, nicht mehr weiterzukönnen, hielt Robbins an.

»Wir ... schnaufen nur kurz durch«, erklärte er keuchend.

Neala nickte.

Sherri, die ein wenig hinter ihnen gelaufen war, schloss zu ihnen auf. Sie sackte gegen einen Baumstamm.

»Wo sind die anderen?«, fragte Robbins.

»Kommen gleich.« Sherri deutete mit einem Arm zur Seite. »Irgendwo da hinten. Heilige Scheiße!«

Neala hörte die knirschenden Geräusche rennender Füße. Von links. »Hier -« Robbins presste ihr eine Hand vor den Mund.

»Pst.«

Seine Hand roch durchdringend nach Schießpulver.

»Vielleicht sind sie das nicht«, flüsterte er.

»He!«, rief eine Stimme. Die des Jungen. »Wo seid ihr alle hin?«

Robbins nickte und senkte die Hand.

»Hier drüben«, rief Neala zurück.

Kurz darauf stießen der Junge und das Mädchen zu ihnen.

»Tut mir leid«, sagte der Junge keuchend. »Sind etwas vom Weg abgekommen.«

»Dad?« Das Mädchen taumelte, als irre es durch einen

dunklen Raum. »Dad? Wo bist du?« Sie sah Robbins an. »Wo ist mein Dad?«

»Ich hab ihn nicht gesehen.«

Sie drehte sich dem Jungen zu. »O Gott, Ben, was sollen wir tun?«

»Er wird schon auftauchen. Wir warten einfach.«

»Fünf Minuten«, warf Robbins ein. »Wer hat eine Uhr?«

Das Mädchen hob die Hand. Neala erblickte ein goldenes Armband an ihrem Handgelenk. Einen Moment lang fragte sie sich, weshalb ihr die Uhr in der Ortschaft nicht gestohlen worden war. Dann erinnerte sie sich an Rosenblüte. Eigent­lich kein Wunder, dass sich die alte Hexe für Beute solcher Art nicht interessierte. Dafür war sie zu durchgeknallt. Für sie bestand der große Reiz darin, mit ihrem Hammer auf Schädel einzuschlagen. Und was ihren Sohn anging, diesen sadistischen ...

»Wie spät ist es?«, fragte Robbins.

Das Mädchen drückte einen Knopf. Rote Zahlen leuchte­ten an ihrem Handgelenk auf. »10:32.«

»Wir geben ihm bis 10:40.«

»Und was dann?«, wollte das Mädchen wissen.

»Dann verduften wir schleunigst.«

»Du vielleicht.«

»Wir geben ihm acht Minuten.« Robbins' Stimme ertönte als leises, ruhiges Flüstern. »Wenn er bis dahin nicht auf­kreuzt, dann wahrscheinlich gar nicht mehr, basta. Entweder hat er sich verirrt oder die Knills haben ihn erwischt. So oder so, wenn wir hier warten, bis die Krulls unsere Kno­chen abnagen, ist deinem Vater damit auch nicht geholfen.«

»Ich gehe jedenfalls nicht.«

»Das liegt ganz bei dir.«

»Vielleicht kommt er ja rechtzeitig«, meinte der Junge.

Dann verstummten alle. Und warteten.

Neala blickte zwischen die Bäume. Abgesehen von eini­gen wenigen Streifen Mondlicht präsentierte sich der Wald so finster wie ein geschlossener Schrank. Der Vater war irgendwo da draußen. Allerdings rechnete sie nicht damit, dass er auftauchen würde. Wenn jemand käme, dann nicht er.

Sie rieb sich die Arme, drehte sich um und starrte in die Dunkelheit.

Wenn jemand käme ...

Neala stellte sich dicht an einen Baum und lehnte sich an den Stamm. Die Rinde fühlte sich durch den Stoff ihrer Bluse rau an. Irgendwie gut.

So kann sich wenigstens niemand von hinten an mich anschleichen.

»10:35«, flüsterte das Mädchen.

Erst drei Minuten waren verstrichen.

Neala stöhnte und verschränkte die Arme vor der Brust. Ihre Nippel hatten sich aufgerichtet und schmerzten, als hätte sie eine Erkältung. Sie bedeckte sie mit den Händen, und der wohlige Druck linderte die Spannung.

Zu ihrer Rechten knackte ein Zweig.

Neala schaute in die Richtung. Sie sah nur Bäume, Gebüsch und Dunkelheit. Nichts rührte sich. Keine weiteren Geräusche folgten.

Trotzdem ließ sie den Blick auf diesen finsteren Bereich gerichtet. Sie wagte kaum zu atmen.

Weil jemand sie beobachtete.

Neala konnte es spüren. Sie konnte denjenigen beinahe sehen, aber nicht ganz.

Irgendjemand.

Irgendjemand, der nicht der Vater des Mädchens war.

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