KAPITEL 13


Cordie kletterte auf einen umgestürzten Baumstamm. Sie hielt sich an einem abgestorbenen Ast fest, um sich zu stüt­zen, und ließ den Blick über die Umgebung wandern. In der Dunkelheit konnte sie lediglich weitere Bäume ausmachen.

Ben kletterte neben sie. »Wohin?«, fragte er.

»Ich schätze, das spielt keine Rolle. Ich meine, wir könn­ten überall sein.« Es gelang Cordie nicht, die Verzweiflung aus ihrer Stimme zu verbannen.

»Willst du zurückgehen?«

»Zurück wohin?«

»Versuchen, die anderen wiederzufinden.«

»Ach, und du weißt, wo sie sind?«

»Nicht genau, aber ...«

»Und wie sollen wir sie dann finden? Einfach umdrehen und loswandern? Tolle Idee.« Sie setzte sich auf den Baum­stamm und schob sich vorwärts, streckte die Beine dem

nicht zu erkennenden Boden zu. Dann stieß sie sich ab. Allerdings nicht kräftig genug. Ein vorstehender Aststumpf schabte über ihr Kreuz, als sie fiel. »Verdammt!« Sie stol­perte vorwärts und hielt sich den Rücken.

»Hast du dir wehgetan?«

»Ja! Scheiß, Scheiße, Scheiße!«

Ben sprang hinunter.

»Gottverdammte Scheiße!«

»Lass mal sehen.«

Cordie drehte sich um und hob den Rückenteil ihrer Bluse an. »Ist nur ein Kratzer.«

»Küss ihn und mach ihn heil. Aber vorsichtig.« Sie spürte die zarte Berührung seiner Lippen auf dem Rücken.

»Besser?«

»Ja. Danke.«

Er stellte sich neben sie und ergriff ihre Hand. Cordies Blick wanderte über die dunkle Wildnis. »Ich weiß nicht, Ben. Sie könnten überall sein.«

»Wir gehen einfach weiter.« Er zuckte mit den Schultern. »Sonst können wir ja nicht viel tun.«

»Wenn wir nur zu dieser Lichtung zurückfinden könnten ... Ich dachte, sie läge in dieser Richtung, aber ...« Sie schüt­telte den Kopf. »Hier sieht überhaupt nichts vertraut aus.«

»Ich glaube, wir sind noch nicht weit genug gegangen.«

»Kann sein.«

»Es war eine große Lichtung. Wahrscheinlich stoßen wir früher oder später unweigerlich darauf.«

»Ich würde sagen ...« Jäh verstummte sie und taumelte zurück, als ein nackter Junge hinter einem Baum hervor­sprang. Leicht geduckt, eine Hand vorgestreckt, versperrte er ihnen den Weg. In der Hand hielt er ein Messer.

Cordie und Ben wichen zurück. Der Junge bewegte sich vorwärts, folgte ihnen.

»Wegrennen?«, flüsterte Ben.

»Schnappen wir uns sein Messer. Er ist nur ein Kind.« Cordie senkte den Blick in der Hoffnung, etwas zu entde­cken, das sie als Waffe benutzen konnte. Der Boden erwies sich als zu dunkel. Dann stieß sie mit der Ferse gegen einen harten Gegenstand. Sie bückte sich und tastete danach. Ihre Fingerspitzen entdeckten eine feuchte Oberfläche aus Rinde. Sie griff zu, stellte fest, dass es sich um einen dicken Ast handelte, und hob ihn hoch. Er begann, sich vom Boden zu lösen, ein Ende jedoch blieb unten.

Das verdammte Ding war gut dreieinhalb Meter lang!

Als Cordie losließ, sprang der Junge vorwärts. Sein Mes­ser schnellte auf ihr Gesicht zu. Sie riss einen Arm hoch, um es abzuwehren. Die Klinge schlitzte ihr den Unterarm auf. Dann packte Ben den Jungen, zog ihn zurück und griff nach der Hand mit dem Messer. Er bekam es nicht zu fassen, aber Cordie schloss beide Hände um das Handgelenk und drehte es mit einem kräftigen Ruck. Der Arm gab ein Geräusch wie knackende Knorpel von sich. Der Junge schrie auf. Das Messer fiel ihm aus den Fingern.

Cordie ließ sich auf Hände und Knie fallen, während Ben versuchte, den sich windenden Jungen festzuhalten. Sie tastete auf dem feuchten Boden umher und fand das Messer, rappelte sich auf die Beine und nahm alle Kraft zusammen. »In Ordnung, halt ihn fest.«

Sie drückte die Spitze der Klinge an den Bauch des Jun­gen. Er hörte auf zu zappeln.

»Wo lebst du?«, fragte Cordie.

Der Junge knurrte. Seine Oberlippe kräuselte sich und entblößte die Zähne darunter.

»Ich glaube, er versteht dich nicht«, meinte Ben.

»Ja. Schon möglich.« Sie beugte sich dicht zu dem Jungen. »Sprichst du meine Sprache?«

Wieder knurrte der Junge.

»Das Kind ist ein Tier«, murmelte Ben.

»Junge. Ich suche meine Eltern, meine Mom und meinen Dad. Weißt du, wo sie sind? Wohin bringt ihr die Leute, die ihr fangt? Habt ihr ein Lager oder so?«

»Er kann nicht reden.«

»Was sollen wir mit ihm tun?«, fragte Cordie.

Ben zuckte mit den Schultern. »Ich weiß nicht, ob wir ihn gehen lassen sollen. Unmöglich abzuschätzen, was er tun könnte.«

»Tja, ich glaube nicht, dass ich dazu fähig bin, ihn einfach abzuschlachten. Du etwa?«

Ben seufzte. »Eher nicht.«

»He, lass uns deinen Gürtel nehmen. Den können wir ihm um den Hals schlingen, ihn wie eine Leine verwenden und sehen, wohin er uns führt.«

»Wir können es ja versuchen.«

Mit einem Arm um den Hals des Jungen öffnete Ben seinen Gürtel und zog ihn mit einem Ruck aus der Hose. Als er ihn Cordie entgegenhielt, reichte sie ihm das Messer.

Sie schob die breite Lederspitze durch die Schnalle und hob die Schlaufe über den Kopf des Jungen. Ben zerrte den Gürtel zu dem dürren Hals herunter und Cordie zog die Schlaufe stramm.

»Alles klar«, sagte sie. »Lass ihn los. Warten wir ab, was passiert.«

Ben tat, wie ihm geheißen.

Sofort sprang der Junge Cordie an. Sie wich ihm aus, zog kräftig am Gürtel und riss den Jungen von den Beinen. Er fiel ausgestreckt hin und röchelte. Seine Finger krallten sich um den Gürtel, aber Cordie stellte ein Bein auf seinen Rücken und hielt die Schlaufe straff gespannt. Der Junge rollte sich herum. Cordies Fuß rutschte von ihm ab und sie

verlor das Gleichgewicht. Im Fallen entglitt der Gürtel ihren Fingern.

Sie sah, wie Ben zutrat. Sein Schuh prallte in das Gesicht des Jungen, der jäh erschlaffte.

»Der ist ausgeschaltet«, murmelte Ben, nachdem er dem Körper einen Stoß versetzt hatte.

»Tot?«

»Nur bewusstlos, glaube ich.«

Sie nahmen sich die Zeit, Cordies verletzten Arm zu ver­binden. Ben schnitt mit dem Messer des Jungen einen Streifen von seinem Hemd ab und wickelte ihn um Cordies Wunde.

Danach kniete sich Cordie neben den Körper des Jungen. Sie lockerte den Gürtel. Als sie nach der Halsschlagader tastete, spürte sie einen Puls.

»Lassen wir ihn einfach zurück, solange er noch wegge­treten ist«, schlug sie vor.

»Einverstanden.«

Sie entfernten sich von dem Jungen und rannten zwischen die Bäume. Die beiden hatten noch kaum 50 Meter zurück­gelegt, als eine Stimme ein einziges Wort rief: »KRULL!«

Es war nicht die Stimme des Jungen.

Und sie ertönte von hinten. Cordie blieb stehen und drehte sich um.

Der Ruf schien immer noch durch den Wald zu hallen wie ein zorniger Donnerschlag des Hasses.

Ein beklommener Schauder lief Cordie über den Rücken. »Was war das?«, flüsterte sie.

»Ich habe keine ...«

Ein schriller, gellender Schrei des Jungen bohrte sich in ihre Ohren.

Ben packte Cordies Arm. »Komm.«

Sie rannten einige Schritte, dann löste sich Cordie von

Ben. »Warte.« Sie duckte sich hinter einen Baum und zog Ben neben sich. »Wie hat sich das angehört?«, flüsterte sie.

»Wie eine Stimme aus der Hölle.«

»Ich meine, klang es nicht so, als hätte jemand >Krull< gerufen und den Jungen dann vielleicht umgebracht?«

»Ja, so hat es sich angehört.«

»Vielleicht hilft uns derjenige.«

»Du bist verrückt.«

»Nein, wirklich. Wir sind schließlich keine Krulls. Vielleicht versucht der Unbekannte auch, von hier zu ver­schwinden. Genau wie wir.«

»Nicht wie wir. Um Himmels willen, du hast ihn doch gehört. Der klang kaum menschlich.«

»Es könnte ja ...« Die Worte blieben ihr in der Kehle stecken, als sie das laute Knacken von Unterholz vernahm.

Bens Hand verstärkte den Griff um die ihre.

Eine großgewachsene, breite Gestalt stapfte zwischen den Bäumen hindurch.

Cordie vernahm ein ersticktes Wimmern, das aus ihrer eigenen Kehle aufstieg.

Ben preschte los und zerrte an ihrer Hand. Sie riss sie zurück. Ben schaute zu ihr.

Die entsetzliche Stimme brüllte: »KRULL!«

Ben ergriff die Flucht.

Cordie sah, wie die massige Gestalt hinter ihm herhetzte. In einem Streifen Mondlicht erblickte sie flüchtig zottige Arme und dicke Beine.

Dann sah sie nur noch Wald. Sie hörte stampfende Schritte.

»Nicht! Bitte!«, kreischte Ben.

Cordie hielt sich die Ohren zu.

Bens letzter Schrei verstummte jäh.

Cordie rollte sich am Fuß des Baumstamms ein, schlang die Arme um die Knie und lauschte in den Wald.

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