KAPITEL 11

Cordie blickte auf die roten Zahlen ihrer Armbanduhr. »Also gut, es ist 10:40. Ihr brecht jetzt auf, richtig?«

»Hat keinen Sinn, noch länger zu warten«, gab Robbins zurück.

»Du hast recht.« Cordie holte tief und zittrig Luft. »Was habt ihr vor? Versucht ihr, es zu einer Straße zu schaffen?«

»Letzten Endes schon. Wir gehen Richtung Osten und versuchen, das Territorium der Krulls hinter uns zu lassen.«

»Tja, dann viel Glück. Dir auch, Ben.«

»Cordie?«

Sie wischte sich die verschwitzten Hände an ihrer Jeans ab und schaute weg. Ben trat einen Schritt auf sie zu. »Nein. Nicht, Ben. Du gehst mit den anderen.«

Damit drehte sie sich um und rannte los. Sie hörte rasche Schritte und wusste, dass Ben ihr folgte. Cordie lief schnel­ler. Verdammt, er sollte nicht mitkommen.


»Geh mit ihnen!«, rief sie zurück.

Ben streckte einen Arm aus, packte ihre Schulter und brachte sie zum Stehen.

Die anderen befanden sich bereits außer Sichtweite.

»Was hast du vor?«, fragte Ben. »Willst du umgebracht werden?«

»Ich kann nicht weg. Mom und Dad sind da draußen. Ich muss sie finden.«

»Dann komme ich mit.«

»Nein.«

»Ich habe keine andere Wahl, oder?«

»Geh mit den anderen. Sie verschwinden von hier. Und sie haben eine Waffe.«

»Ich kann nicht.«

»Ben, bitte.«

»Ich kann dich nicht zurücklassen. Aus demselben Grund, warum du deine Eltern nicht zurücklassen kannst. Ich schätze, ich liebe dich.«

»O Ben.« Sie zog ihn dicht an sich und küsste ihn auf den Mund. Dann erfasste sie einen Schopf seiner Haare und zog seinen Kopf sanft zurück. »Ich hoffe, das wirst du nicht bereuen«, murmelte sie.

»Werd ich nicht.«

»Suchen wir meine Leute, und dann nichts wie weg von hier.«

»Hier lang«, sagte Robbins.

»Sollten wir ihnen nicht folgen?«, fragte Neala.

»Sie haben ihre Wahl getroffen.«

»Ohne sie sind wir besser dran«, meinte Sherri.

»Kommt jetzt.«

Neala, die immer noch mit dem Rücken an dem Baum stand, spähte mit verkniffenen Augen an die Stelle in der

Dunkelheit, die sie seit geraumer Zeit mit Beklommenheit erfüllte. Sie rührte sich nicht.

»Neala?«

»Nein, da ... Dort drüben. Jemand versteckt sich dort.«

»Ich sehe nach.«

»Nicht!«

»Keine Sorge.« Langsam ging er auf die Stelle zu, löste sein Gewehr von der Schulter und brachte es in Anschlag.

»Nein! Nicht, Johnny! Verschwinden wir einfach.«

Er schaute zu ihr zurück. Sie vermeinte, ein Lächeln in seinem Gesicht zu erkennen.

»Verschwinden wir einfach«, wiederholte sie leiser.

»Na schön.« Er wandte sich von der Stelle ab, vor der sich Neala fürchtete, und ging auf sie zu.

Neala blickte hinter ihn. Ihr Herz setzte einen Schlag aus, als sie eine flüchtige Bewegung wahrnahm. Etwas Bleiches. Ein Gesicht? Was immer sie gesehen hatte, es verschwand im Bruchteil einer Sekunde.

Johnny, der ihr Erschrecken bemerkte, drehte sich um.

»Es ist nichts«, sagte Neala.

»Bist du sicher?«

Sherri trat neben Johnny und versperrte Neala die Sicht. »Was stehen wir hier noch rum?«

Neala schüttelte den Kopf.

»Ich bilde die Nachhut«, sagte Johnny. »Wir gehen nach Osten.« Er deutete in die Richtung, in die sie gelaufen waren, bevor sie anhielten. »Da lang. In der Gegend gibt es nicht viel Zivilisation, aber sobald wir das Territorium der Krulls hinter uns haben, sollte uns nichts mehr pas­sieren.«

»Wie weit ist das?«, fragte Sherri.

»Etwa 20 Meilen.«

»O Scheiße.«

Neala stieß sich von dem Baum ab. Sie schaute hinter Johnny und Sherri, sah jedoch in der Dunkelheit nichts.

Sie ging voraus. Sherri folgte dicht hinter ihr und Johnny bildete hinter Sherri das Schlusslicht. Anfangs rannte Neala zu schnell für das Terrain. Sie stolperte und Sherri prallte mit ihr zusammen, trat ihr aufs Bein.

»Alles in Ordnung?«, fragte Sherri und half ihr behutsam auf.

»Ich werd's überleben.«

»Verlass dich besser nicht darauf.«

»Herzlichen Dank.«

Sherri klopfte ihr auf den Hintern. »Gern geschehen.«

Diesmal übernahm Sherri die Spitze, als sie sich wieder in Bewegung setzten. Neala lief langsamer als zuvor. Sie versuchte, darauf zu achten, wo ihre Füße landeten, die Dunkelheit gewährte ihr jedoch nur flüchtige Blicke auf den Boden.

Als sie das zweite Mal stolperte, sah sie, worüber.

Eine Hand.

Sie stieß einen spitzen Schrei aus, als sie vorwärtsstürzte. Der Aufprall auf den Boden presste ihr die Luft aus den Lungen. Raue Hände drehten sie um, und eine knochige, weißhäutige Kreatur krabbelte auf ihren Körper.

Ein Mann. Ein unbehaarter Mann mit dem ausgemergel­ten Gesicht eines Totenschädels. Er biss ihr in den Mund und lachte. Feuchtigkeit tropfte aus seinen Augen.

Neala hörte ein grausiges, dumpfes Geräusch. Der Kopf zuckte von ihr weg. Der Mann fiel von ihr und landete auf dem Rücken. Sie starrte auf seine Erektion, die wie eine ekelhafte, steife, bleiche Schlange anmutete. Dann ver­sperrte ihr Johnny die Sicht. Der Gewehrkolben stieß in das grauenhafte Gesicht und zerschmetterte es.

»Ist alles gut«, flüsterte Johnny und half ihr auf die Beine.

Neala schüttelte den Kopf. Sie wischte sich Tränen aus den Augen. Ihre Bluse hing offen, entblößte ihre rechte Brust. Hastig zog Neala sie zu. Dabei bemerkte sie die Fingernagelkratzer. Sie fühlten sich wie Brandwunden auf der zarten Haut an.

»Hat er dich verletzt?«, fragte Johnny.

»Ein wenig. Aber ich glaube, es ist alles in Ordnung.«

»Dieses dreckige Schwein«, murmelte Sherri. Sie trat dicht an den Leichnam. »Großer Gott, seht ihn euch an.«

Neala tat es nicht.

»Ein verfluchter Albino.«

Neala versuchte, ihre Bluse zu verschließen. Die Knöpfe fehlten, also schlug sie die Enden übereinander und steckte sie in ihre Hose.

»Scheiße«, sagte Sherri, die immer noch die Leiche betrachtete.

»Wir sollten weiter«, mahnte Johnny.

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