KAPITEL 28

Ein Riese jagte Cordie über eine kahle, gleißende Dünen­landschaft. Sie wimmerte, während sie rannte.

Oh, wenn er sie erwischte!

Sein Schatten fiel über ihren Körper, sperrte die Sonne aus. Ein so kalter Schatten. Sie versuchte, schneller zu ren­nen, doch der Sand sog an ihren Füßen, verlangsamte sie.

Die Arme des Schattens streckten sich.

Eine grässliche Hand umfasste ihre Schulter. Die Finger fühlten sich knochentrocken an.

Sie biss den kleinen Finger ab.

Der Riese brüllte vor Schmerz und ließ sie los. Sie rannte weiter, weg von dem kalten Schatten. Der Riese blieb weit hinter ihr zurück. Aber sie hatte sich verirrt, und die Dünen wirkten seltsam. Nach Einbruch der Dunkelheit wollte sie hier nicht mehr sein.

Wo steckten Mom und Dad?


Sie mussten in der Nähe sein. An einem so schrecklichen Ort würden sie Cordie niemals allein lassen.

Sie versuchte zu rufen, doch der Finger des Riesen befand sich noch in ihrem Mund. Cordie zog ihn heraus.

Wie merkwürdig! Er hatte genau die Größe ihres kleinen Fingers.

Sie steckte den Finger des Riesen auf ihren Stumpf. Er passte perfekt.

Cordie rannte weiter, aber der Finger fiel ab und ver­schwand im Sand. Sie sank auf die Knie und begann, mit den Händen im Sand zu wühlen, versuchte, den Finger zu finden.

Ah, da ist er ja!

Sie zog daran, doch er steckte fest. Cordie zog kräftiger. Eine gesamte Hand löste sich aus dem Sand!

Von plötzlicher Angst erfüllt taumelte sie zurück.

Jemand, der unter dem Sand vergraben war, erhob sich daraus!

Die Gestalt setzte sich auf und grinste sie an. Sand rieselte von dem Körper. »Hallo, Cordie.«

»Ben? Ich dachte, du wärst tot.«

»Nicht ich«, gab er zurück und wischte sich Sand aus den Haaren.

Nein, keinen Sand. Ameisen.

»Ben!«

Er wischte heftiger. Sein Kopf löste sich und fiel in seinen Schoß. Cordie setzte sich schreiend auf.

Sie befand sich in der Hütte.

Lilly saß neben ihr. »Ein Albtraum?«, fragte das Mäd­chen.

Cordie hob die Hand. Sie war in einen blutigen Lumpen gewickelt und pulsierte vor Schmerz. »Mein Finger ...«, stammelte sie.

»Ja. Tja, du kannst von Glück reden, dass du nicht mehr verloren hast. Grar vertraut dir nicht besonders.«

»Ich habe ihm doch gesagt, dass ich es tun werde. Was will er denn noch? Herrgott, mein Finger/«

»Wir müssen los. Komm.«

Cordie kroch hinter Lilly her, wobei sie ihre verletzte Hand vom Boden fernhielt. Draußen schmerzte das grelle Sonnenlicht ihre Augen. Sie kniff sie zusammen und mühte sich auf die Beine.

Grar kam auf sie zu. Sein Schurz aus Haaren schlackerte um seine Beine. Er hielt ein Schwert. Für Cordie sah es nach einem Säbel aus einem Film über den Bürgerkrieg aus. Er reichte es Lilly und sagte etwas in der Sprache der Krulls.

Lilly nickte. Sie wandte sich an Cordie. »Also los. Da lang.«

Sie lief neben Lilly durch die Mitte des Dorfs auf ein großes Feuer am gegenüberliegenden Ende zu. Dort hingen Arme und Beine. Cordie senkte den Blick.

»Sag ihnen, dass du den Kopf willst.«

»Was?«

»Kigits Kopf. Du hast es versprochen. Wir holen ihn ab, wenn wir zurückkommen.«

Lilly führte sie zum Feuer. Zwei Frauen kauerten daneben und zerlegten eine Leiche.

»Sandy.«

Eine der beiden stand auf. Ihre Arme und ihr Rumpf waren blutig. Grinsend wischte sie sich Schweiß von der Stirn. Ihre linke Hand hinterließ eine rote Schliere.

»Das ist das Mädchen, das Kigit drangekriegt hat.«

»He, Glückwunsch. Wurde auch Zeit, dass die mal jemand aus dem Weg geräumt hat.«

»Sie will den Kopf.«

»Oh, sicher. Sie oder du?«

»Sag es ihr, Cordelia.«

»Ich will den Kopf.«

»Er gehört dir.«

»Wir kommen ihn später holen«, erklärte Lilly.

Sie gingen. »Sandy ist ein Miststück«, murmelte Lilly.

»Ist sie wie wir?«

»Eine Bekehrte? Ja. Bekehrte erkennt man leicht. Wir sind die Einzigen, die nicht nur die Krull-Sprache beherrschen.«

»Was ist mit Grar?«

»Er ist kein Bekehrter. Soll das ein Witz sein? Grar ist ein reinrassiger Krull.«

Cordie ging neben ihr in den Wald.

»Du solltest ihn mal hören, wenn er seine Ahnen herunter­rasselt. Bis zurück hinauf zu ihm.«

»Zu wem? Manfred?«

Knurrend ging Lilly auf Cordie los, stieß sie zu Boden und ließ den Säbel hinabsausen. Die Spitze ritzte Cordies Bauch auf. »Sprich nie wieder seinen Namen aus. Wenn du es doch tust, töte ich dich. Verstanden?«

Cordie nickte.

Lilly zog den Säbel zurück. »Na schön. Steh auf.«

Cordie gehorchte. Sie drückte eine Hand auf ihren Bauch. »Verdammt, du hast mich geschnitten.«

»Sei froh, dass ich nicht mehr getan habe. Seinen Namen auszusprechen, ist das schlimmste Vergehen überhaupt.«

»Hat mir niemand gesagt.«

»Ich hab's dir gerade gesagt.«

»Aber du hättest mich nicht schneiden müssen«, murrte sie. Cordie fühlte sich verängstigt und verraten. »Ich dachte, du magst mich.«

»Ja.« Lilly zuckte mit den Schultern, dann lächelte sie kurz. »Klar, du bist in Ordnung. Trotzdem kannst du nicht rumlaufen und seinen Namen sagen. Das bringt so was von Pech.«

»Du hast das getan, weil es Pech bringt?«

»Der übelsten Sorte. Manche behaupten, er hört es, wenn man seinen Namen ausspricht, und kommt einen dann holen.«

»Das ist doch Blödsinn.«

»Möglich. Solltest du besser hoffen. Sonst hast du uns gerade beide umgebracht.«

»Grar hat seinen Namen ausgesprochen.«

»Grar darf das. Er ist der Mang. So was wie ein Medizin­mann, verstehst du? Er hat besondere Kräfte.«

Sie erreichten den Bach und stiegen hinein. Das kühle Wasser umwirbelte Cordie. Es fühlte sich so gut an! Sie seufzte. Dann trank sie, bis sich ihr Bauch aufgebläht anfühlte. Sie hielt die verletzte Hand hoch und tauchte unter. Als sie sich aufrichtete, um Luft zu schnappen, hatte Lilly fast das gegenüberliegende Ufer erreicht.

Einen Moment lang spielte sie mit dem Gedanken an Flucht.

Dumm!

Selbst, wenn sie Lilly entkommen konnte, wäre sie immer noch in den Wäldern, fernab jeder Sicherheit. Wenn die Krulls sie in die Finger bekämen ... Nein, sie wagte es nicht.

Stattdessen schwamm sie los und folgte Lilly an Land.

Lange marschierten sie durch die Hitze des Waldes.

»Wie weit ist es noch?«, fragte Cordie schließlich.

Lilly zuckte mit den Achseln. »Wer weiß?«

»Weißt du denn gar nicht, wohin wir gehen?«

»Irgendwie schon. Aber ich war nur einmal dort. Das ist ein Ort, den man besser meidet. Mich würdest du dort nicht antreffen, außer für Grar. Weißt du, wenn er etwas will, dann tut man, was er sagt.«

»Hab ich schon festgestellt«, murmelte Cordie.

»Ja. Scheiße, hätte ich geahnt, dass ich in einen solchen

Schlamassel gerate ...« Sie schwang den Säbel auf einen nahen Jungbaum. Die Klinge durchschnitt den dünnen Stamm mühelos. Lilly schwang die Waffe erneut und hackte durch einen Busch. Plötzlich grinste sie.

Es war ein garstiges Grinsen, das Cordie einen kalten Schauer der Angst über den Rücken jagte.

»Weißt du, was ich tun könnte?«, fragte Lilly. Sie sah Cordie mit zu Schlitzen verengten Augen an. »Ich könnte dich erschlagen. Damit wäre das Problem gelöst.«

»Das ist nicht lustig.«

Lilly schwenkte den Säbel wild, hackte damit durch die Luft. »Ich könnte sagen, ein Thak hat es getan.«

»Grar! Er würde es herausfinden.«

»Nein, das glaube ich nicht.«

»Lilly!«

Der Blick des Mädchens wanderte über die Umgebung. »Ich sehe niemanden, der mich verraten könnte.«

»Kehr einfach um. Wenn du nicht zu seinem Zuhause willst, dann geh einfach. Oder bleib hier. Ich gehe den rest­lichen Weg allein.«

»Das wäre feige.«

»Nein, es ...«

»Außerdem funktioniert das nicht. Wenn du allein bist, bringen dich die Krulls um. Dann müsste ich mich vor Grar verantworten und er würde mir den Arsch aufreißen.« Sie trat einen Schritt auf Cordie zu.

Cordie schaute an Lillys Schulter vorbei und stieß hervor: »Da ist er!«

Lilly wirbelte herum.

Cordie ergriff die Flucht. Sie hörte ein wütendes Zischen, gefolgt von schnellen Schritten. Vor sich erblickte sie zwischen den Bäumen einen deutlichen Weg, der wie ein Tunnel anmutete. Sie rannte hinein und beschleunigte. Mit

gesenktem Kopf und fliegenden Armen zwang sie ihre Beine, sie voranzutragen, so schnell sie konnten.

Am Ende des offenen Bereichs sprang sie über einen umgestürzten Baumstamm. Sie schaute zurück. Lilly raste mit wehendem Haar auf sie zu, der Mund ein verzerrtes Loch, das Schwert hoch über dem Kopf.

Cordie preschte seitwärts, umrundete ein Dickicht, schrammte sich die Schulter an einem Baum auf, gegen den sie prallte.

Dann endeten die Bäume.

Sie brach auf eine Lichtung hervor.

Und blieb abrupt stehen.

Zwischen 20 und 30 Krulls drehten sich um und starrten sie an. Viele hoben Waffen auf.

Sie wirbelte herum. Lilly kam zwischen den Bäumen hervorgerannt, erblickte die Gruppe und senkte den Säbel. »So«, sagte sie. »Da sind wir.« Sie sprach laut mit den Krulls. Anscheinend erklärte sie Cordies Mission. Anschlie­ßend ergriff sie Cordies Arm. »Komm mit.«

Sie traten vor. Die Krulls teilten sich und Cordie erblickte das Meer der Kreuze und Köpfe. Mit einem Ruck befreite sie ihren Arm aus Lillys Griff.

»Deine Freunde sind in der Hütte.«

Cordie schüttelte den Kopf. Sie fühlte sich wie betäubt.

»Hier. Der ist für dich.« Lilly streckte ihr den Säbel mit dem Griff voraus entgegen. »Benutz ihn für den Kerl.«

Cordie hob den Arm und beobachtete, wie sich ihre eigene Hand um den Griff schloss. Das Gewicht des Schwerts zog ihren Arm wie ein Anker nach unten.

»Setz dich in Bewegung«, forderte Lilly sie auf. »Je schneller du es erledigst, desto schneller können wir von hier verschwinden.« Cordie erkannte Angst in Lillys Augen. »Wir wollen bestimmt nicht mehr hier sein, wenn er zurückkommt.«

Cordie konnte sich nicht rühren.

Lilly versetzte ihr einen Stoß und sie begann zu laufen. Die Köpfe schienen vor ihr zu nicken und zu wackeln. Ein Vogel flatterte herab. Ein schwarzer Vogel. Er hockte sich auf einen nahen Kopf und hackte auf die Stirn ein. Die Haut brach auf, aber es floss kein Blut. Irgendetwas wirkte vertraut... Dieses Gesicht. Ben!

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