KAPITEL 22

Lander Dills kauerte auf einem Baum, wo er die letzten Stunden unruhig geschlafen hatte. Er öffnete die Augen. Tageslicht hatte den Wald geflutet.

Vorsichtig rückte er vom Stamm weg, hielt sich an einem höheren Ast fest und urinierte in die Luft. Sein Strahl glitzerte im Sonnenlicht silbrig.

Der Anblick brachte ihn zum Lachen, doch dann musste er an Ruth denken und das Gelächter erstarb in seiner Kehle.

Keine Ruth.

Verloren.

O verloren und vom Winde betrauert.

Wolfe. Thomas Wolfe.

Nach Hause kannst du nicht zurück. Du hast kein Zuhause mehr. Keine Ruth, keine Cordelia.

Nur noch ich bin übrig.

In mir ist ein Wolf.


Er löste das Beil aus dem Ast, in den er es geschlagen hatte, und ließ es zu Boden fallen. Dann kletterte er vom Baum und achtete darauf, sich nicht an der rauen Rinde aufzuschürfen.

Unten angekommen, streckte er sich. Sein Körper schmerzte, als hätte sich jeder Muskel in Stein verwandelt. Blaue Flecken übersäten seine Arme und Beine. Dutzende Kratzer bedeckten seine Haut. Überall stieß er auf kleine Erhebungen, wahrscheinlich Insektenstiche. Sein gesamter Körper juckte. Behutsam kratzte er einen Mückenstich seitlich an seinem Penis.

Er brauchte ein Bad. Im Bach.

Nach wenigen Minuten flotten Marsches erreichte er das Wasser. Er legte sein Beil beiseite und stieg hinein. Das kühle Nass fühlte sich gut auf seiner gereizten Haut an. Das Jucken hörte auf. In der Mitte des Bachs richtete er sich auf. Er schälte sich aus der Weste, drehte sie herum und betrach­tete sie im morgendlichen Sonnenlicht.

Die Haut war dunkel und glatt, die Tätowierung ver­blüffend.

»Verblüffend«, sagte Lander.

Die nackte Frau der Tätowierung stand mit weit ge­spreizten Beinen da. Ihr rotes Schamhaar wies die Form eines Valentinsherzens auf. Die üppigen Brüste besaßen rote Nippel. Ihre aus dem Mund ragende Zunge war gespalten wie die einer Schlange, und auf ihrem Kopf wanden sich Nattern.

Medusa!

Auf jeder Handfläche hielt sie einen dunklen Nippel des Mannes, der sie auf der Brust getragen hatte.

Und es nun nicht mehr tat.

Nun, auf der Brust hatte er sie streng genommen noch immer.

»Allerdings habe ich jetzt die Weste«, murmelte Lander. Er zog sie an. Die klamme Berührung auf dem Rücken ließ ihn schaudern.

Plötzlich hörte er eine Stimme. Entfernt zwar, trotzdem zu nah für seinen Geschmack. Aus der Richtung seines Baums. Reglos stand er da und lauschte. Das Gurgeln des Bachs war laut, überlagerte alles bis auf besonders auffällige Geräusche. Gut, dass jemand gesprochen hatte.

Gesegnet sei, wer da spricht, denn er wird Lander warnen.

Sein Blick wanderte das Ufer entlang, doch er sah nie­manden.

Er schaute stromabwärts. Etwa 20 Meter entfernt kam eine Biegung. Wenn er es bis dorthin schaffte, wäre er außer Sicht.

Allerdings könnte er umgekehrt nicht sehen, wer sich in der Nähe befand.

Lander wollte denjenigen sehen. Oder diejenigen.

Freiwild.

Leise schwamm er ein Stück mit der Strömung. Auf halbem Weg zur Biegung bahnte er sich den Weg zum Ufer. Die Böschung an der Stelle war hoch und steil. Dicke Wur­zeln eines nahen Baums ragten aus der Erde und ins Wasser. Lander zwängte sich dazwischen und hockte sich hin, sodass nur sein Kopf über der Wasseroberfläche blieb.

Gleich daraufhörte er ein Platschen. Er schaute durch das Wurzelgeflecht flussaufwärts. Wo er noch vor einer Minute gestanden hatte, schwamm ein Mädchen durch das Wasser.

Allem Anschein nach ein pummeliges junges Ding. Sie schwamm noch ein Stück, dann watete sie hinaus. Die Haut glänzte, der Hintern waberte. Am anderen Ufer drehte sie sich um. Tatsächlich ein Fettklops. Mit winzigen, glänzenden Brüsten. Und einer Reservehand, die über ihre unbehaarte Scheide hing.

Als sich die Dicke hinsetzte und die Beine übereinander- schlug, geriet die Hand außer Sicht.

Sie rief etwas, benutzte dabei Lander unbekannte Worte.

Männliche Stimmen riefen etwas zurück.

Dann erblickte Lander im Bach drei Jungen, die Arme und Beine trugen. Allesamt Teenager. Im tiefen Abschnitt schwammen sie unbeholfen mit ihrer Last. Als sie an Land gingen, zählte Lander die abgetrennten Gliedmaßen. Vier Arme, aber nur drei Beine.

Vielleicht hatten sie einen Einbeinigen gefangen.

Oder sie hatten das fehlende Bein bereits gefressen.

Keine Köpfe.

Wie sollte er unterscheiden, was zu wem gehörte?

Auch keine Rümpfe.

Eindringlich starrte er auf die Beine. Sie sahen wie Jungenbeine aus, oder? Eines davon auf jeden Fall. Es war größer als die beiden anderen, zudem behaart.

Musste einem großen Burschen wie Ben gehört haben.

Sein Blick wanderte zu den anderen Beinen. Sie waren kleiner, dünner, wirkten fast feminin.

Ah, aber die Haut war zu dunkel.

Viel zu dunkel. Nicht die Beine seiner hellhäutigen Cordelia.

Das pummelige Mädchen sagte etwas. Sie hob einen Arm und deutete in Landers Richtung.

Die Jungen drehten sich um. Alle starrten ihn direkt an. Einer zog ein Messer von seinem Gürtel.

Ohne den Blick von der Gruppe zu lösen, kämpfte sich Lander mit rasendem Herzen durch die Wurzeln und bewegte sich auf die Mitte des Bachs zu.

Ein Junge rief ihm etwas hinterher.

Lander hob beide Arme mit geballten Fäusten über den Kopf und brüllte.

»Schnappt ihn euch!«, rief eine Stimme von hinten.

Lander wirbelte herum, erhaschte einen flüchtigen Blick auf zwei verwilderte Mädchen und tauchte unter.

Er schwamm unter Wasser. Sein Herz donnerte. Seine Lungen begannen zu brennen. Er erreichte den Grund des Bachs und zog sich vorwärts, indem er an den glitschigen Steinen Halt suchte. Als er glaubte, seine Lungen würden jeden Moment bersten, tauchte er auf. Sein Kopf brach durch die Oberfläche. Er wirbelte herum und schaute zurück.

Niemand zu sehen.

Er hatte die Biegung passiert.

Aber sie würden ihn wahrscheinlich verfolgen.

Lander hastete an Land, kletterte auf seiner Seite des Bachs die Böschung hinauf und rannte los. Er wich Bäumen aus, preschte durch Büsche hindurch, stürzte in eine Rinne und kroch deren Boden entlang, bis er zu einem abgestorbe­nen Baum gelangte, der quer darübergefallen war. Lander schob sich unter den alten, rindenlosen Stamm.

Er starrte auf das gräuliche Holz, das sich weniger als fünf Zentimeter über seinem Gesicht befand. Jedes Mal, wenn er Luft in seine schmerzenden Lungen sog, spürte er, wie seine Brust gegen den Stamm drückte.

Hier finden sie mich nie, dachte er.

Der gerissene Fuchs ist untergetaucht.

Die Zeit verging und er hörte keine Verfolger. In dieser Hinsicht hatte er anscheinend nichts zu befürchten.

Dennoch fühlte sich Lander unbehaglich. Im Bach hatte er etwas gesehen — etwas ungemein Wichtiges. Nur wusste er nicht, was.

Eine hässliche gelbe Spinne krabbelte unmittelbar über seinem Gesicht über den Baumstamm. Er beobachtete sie und hoffte, sie würde sich nicht fallen lassen. Als sie sich außer Sichtweite befand, versuchte er, sich zu konzentrieren.

Was hatte er beim Bach gesehen?

Mädchen, Jungen und Leichenteile.

Arme und Beine.

Beine.

Die Mädchen hatten lange, zierliche Beine gehabt. Nicht die Pummelige - ihre waren kurz und dick gewesen. Die beiden anderen, die später aufgetaucht waren. Die zwei, von denen er nur einen flüchtigen Blick erhascht hatte.

Plötzlich erinnerte er sich, dass eine davon verständlich gesprochen hatte.

»Schnappt ihn euch!«

War es das, was ihn beunruhigte? Dass sie nicht dieses Kauderwelsch benutzt hatte?

Nein, es lag an ihren Beinen.

Oder an denen des anderen Mädchens.

Beine.

Lander versuchte, sich die Mädchen ins Gedächtnis zu rufen. Beide nackt und verdreckt. Blutig. Eines größer als das andere.

Hübsche Titten.

Schamhaar wie eine Pfeilspitze, die abwärts zu dunklen Geheimnissen zeigte.

Ach, was hätte er die beiden gern getickt, diese Titten geknetet, in ihre verborgenen Spalten gestoßen.

Die Eichel seines anschwellenden Glieds stieß gegen das Holz über ihm.

Er vergaß das Unbehagen, das er zu ergründen versucht hatte. Ein neues Unbehagen hatte ihn beschlichen, ein Ver­langen, das zu heilen nicht schwierig wäre.

Er brauchte nur eine Frau dafür.

Ein Mädchen.

Lander schob sich unter dem Baumstamm hervor und stand auf. Er atmete tief durch.

Die vormittägliche Luft roch wie Parfüm. Das Parfüm einer bezaubernden Frau.

Vergangene Nacht hätte er sich eine nehmen können. Viele sogar. Es wäre so einfach gewesen, als er sie in der Dunkelheit verfolgt hatte. Wenn er nur nicht so befangen gewesen wäre ... »Du kleine Maus, du graue Maus«, murmelte er. Er blickte auf seine Erektion hinab und kicherte. Gar nicht mehr so klein. Und auch nicht mehr befangen.

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