KAPITEL 23


»Warum haben sie ihn nicht verfolgt?«, fragte Cordie.

»Weil sie Trottel sind«, antwortete Lilly. »Sie sind zu faul. Oder bloß feige. Solche Thaks können gefährlich sein, aber sie sind die Mühe wert. Man darf die ganze Leiche behalten und muss nicht teilen. Das ist wie eine Belohnung - ein Kopfgeld, verstehst du?«

»Was ist ein Thak?«

»So etwas wie ein Ausgestoßener. Wenn du Mist baust, wirst du aus dem Dorf verbannt. Dann bist du Freiwild. Die Wälder sind voll von Thaks.«

»Woher weißt du, dass der Mann einer war?«, hakte Cordie nach. Sie unterbrach das Schleppen der Leiche, um sich Schweiß aus den Augen zu wischen.

»Das merkt man«, erklärte Lilly. »Zum einen benehmen sie sich verrückt.«

Er hatte sich wirklich verrückt benommen. So zu brüllen.

Und Cordie nicht zu erkennen. Andererseits war es eigent­lich kein Wunder, so, wie sie aussah. Außerdem hatte er sie nur den Bruchteil einer Sekunde angeschaut.

Cordie war knapp davor gewesen, ihm zuzurufen. Im letz­ten Moment hatte sie sich zurückgehalten. Er hätte versucht, sie zu retten. Und die anderen hätten ihn mit Sicherheit getötet.

»Außerdem merkt man es daran, dass sie Fremde sind«, fuhr Lilly fort. »Wenn du hier in der Gegend einen Fremden siehst, kannst du davon ausgehen, dass es ein Thak ist. Vor denen solltest du dich hüten. Meine beste Freundin wurde von einem getötet. Die Scheiße, die er ihr angetan hat...«

Cordie fragte sich, was ein Mädchen wie Lilly noch scho­ckieren konnte. Doch sie erkundigte sich nicht danach. Sie wollte es gar nicht wissen.

»Einer kam erst vergangene Nacht ins Dorf. Hat ein halbes Dutzend von uns umgebracht. Diese Thaks sind übel. Echt übel. Die meisten von uns gehen nie allein irgend­wohin, falls wir einem über den Weg laufen.«

Sie schleiften Kigit weiter. Die Leiche wirkte schwerer als zuvor. »Wie weit ist es noch bis zu diesem Dorf?«

»Wir sind fast da.«

»Gott sei Dank.« Cordie mühte sich weiter. Im Wald herrschten Hitze und Stille vor. Keine Brise rührte sich.

Schweiß kullerte ihr über die Haut. Kigits Knöchel wurde in ihren nassen Händen schlüpfrig, und sie verlor mehrmals den Halt.

»Können wir uns nicht kurz ausruhen?«, fragte sie.

»Wir sind in einer Minute da.«

»Ich habe letzte Nacht einen Thak gesehen. Wenn wir uns ein wenig ausruhen, erzähle ich dir davon.«

»Na gut. Aber mach schnell.«

Cordie ließ das Bein fallen. Mit verschwitzten Händen

wischte sie sich nasse Haarsträhnen aus dem Gesicht. Alles an ihr triefte. Sie wünschte, sie hätte ein Handtuch. »Du hast also einen Thak gesehen?« Cordie nickte. »Ja. Er hat einen Jungen getötet. Und ...« Sie konnte sich nicht dazu überwinden, Bens Namen auszu­sprechen. »Und meinen Freund.«

»Du meinst sie?« Lilly nicktc zu den Jungen, die mit ihrer Last aus Armen und Beinen ein Stück vorausgingen. »Das ...«

»Das sind sie. Was hast du denn gedacht?« »Ich schätze, irgendwie wusste ich es wohl«, gestand Cordie.

»Gehen wir weiter«, schlug Lilly vor.

Sie hoben die Beine an und setzten sich in Bewegung.

»Das war kein Thak, den du gesehen hast.«

»Was?«

»Den beiden wurden die Köpfe abgerissen. Das war kein Thak. Wie hat er ausgesehen?«

»Er war riesig«, beschrieb Cordie. »Ich weiß nicht genau, vermutlich über zwei Meter. Mehr konnte ich nicht erkennen. Es war dunkel und ich habe ihn nur eine Sekunde lang ge­sehen. Aber ich konnte ihn hören. Mein Gott, er hatte eine Stimme wie ... Sie war schrecklich.« »Er hat >Krull< gebrüllt, stimmt's?« »Ja.« Cordie blinzelte sich Schweiß von den Wimpern. »Wer war er?« »Der Teufel.«

Im Dorf wurde Cordie ohne Umschweife in eine Hütte geführt. »Bleib hier«, forderte Lilly sie auf. »Grar muss dich sehen.«

Dann war sie allein. Sie saß mit untergeschlagenen Beinen in der Mitte der Hütte. Durch das Blätterdach fiel

Sonnenlicht unregelmäßig auf den Boden. Cordie seufzte. Es fühlte sich gut an, die Leiche los zu sein. Aber später ...

Sie wollte nicht über später nachdenken.

Zumindest vorläufig schien sie nicht in Gefahr zu schwe­ben.

Sie hatten sie akzeptiert.

Die Jungen hatten sie wundgefickt. Kigit hatte versucht, sie zu töten. Doch bisher hatte sie alles richtig gemacht. Sie gehörte fast zu ihnen.

Mit beiden Händen wischte sie sich den tropfenden Schweiß aus dem Gesicht, von den Schultern und von den Brüsten.

Sie wäre gern zu jenem Bach zurückgekehrt.

Und zu Dad.

Das Fell über dem Eingang der Hütte wurde zurück­geschlagen, und eine Kreatur schwang sich auf behaarten Armen herein. Cordie zuckte zusammen. Sie umklammerte ihre Oberschenkel, bohrte die Fingernägel in die feuchte Haut, kämpfte gegen den Drang an, zu fliehen oder zu schreien.

Sie erkannte, dass es sich bei der Kreatur um einen Mann handelte. Einen grauenhaft entstellten, aufgedunsenen Mann ohne Beine. Sein Mund verzog sich zum Abklatsch eines Grinsens.

»Grar?«

Das Monster schwang sich näher.

Cordie bohrte die Finger fester in die Oberschenkel. Die Nägel durchdrangen die Haut.

Zentimeter von ihren Knien entfernt hielt er inne. Sein Blick wanderte über ihren Körper.

Nein!

Nicht er!

Als sie seine verklebten Augen betrachtete, wurde ihr klar,

dass sie lieber sterben, als sich von ihm nehmen lassen wollte.

Sie verschränkte die Arme vor den Brüsten. Die Kreatur knurrte. »Nein«, flüsterte sie.

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