Zehntes Kapitel



Er war in einem schönen Restaurant in Kyoto, er saß an einem Tisch mit herrlichem weißen Leinen und goldenen Eßstäbchen. Das Restaurant war groß, aber er war der einzige Gast. Es war friedlich und still, das einzige Geräusch war das Klingeln der Windharfe draußen vor der Tür. Ein Kellner kam an seinen Tisch und brachte eine Platte, und auf der Platte lag ein Fisch.

Dies wurde extra für dich gekocht, sagte der Kellner. Der Fisch sah köstlich aus, und er war hungrig. Er nahm die Eßstäbchen in die Hand und gabelte ein Stück Fisch auf und steckte es in den Mund. Im selben Moment wußte er, daß der Fisch ein giftiger Fugu war. Er blickte auf und erkannte, daß der Kellner sein Onkel Teruo war, der ihn angrinste.

Er stand auf und rannte aus dem Lokal und befand sich im Moosgarten des Kokedera-Tempels.

In der Ferne läutete eine Glocke, und Masao sagte, es ist Essenszeit. Wir können ins Dorf gehen und essen.

Nein, nein, warnte Masaos Vater. Das Dorf ist gefährlich für dich. Es ist besser, du bleibst hier und hungerst.

Aber, Vater, ich bin hungrig und durstig.

Masaos Mutter hielt etwas mit beiden Händen empor und sagte, trink das, und es war Schnee. Masao schaute sich um und sah, daß sie sich in den japanischen Alpen befanden; der Boden war schneebedeckt, und er zitterte vor Kälte.

Masao erwachte im kalten Laderaum des Lastzugs, seine Zähne klapperten, und er erinnerte sich an seinen Traum. Er war hungrig und durstig. Aber wenigstens, dachte Masao; bin ich auf dem Weg in die Sicherheit. Es machte ihm nichts aus, daß er fror und Hunger hatte. Er konnte es ertragen. Er würde alles ertragen, um Teruo Sato zu besiegen.

Gegen Hunger und Durst konnte Masao nichts ausrichten, wohl aber gegen die Kälte. Er kroch in der Finsternis umher, bis er eine schwere Wolldecke fand, die über einen Tisch gebreitet lag. Er zog die Decke zu sich heran und wickelte sich ein. Er fragte sich, wie lange er wohl geschlafen hatte, wie weit der Truck inzwischen gefahren war und wo sie sich jetzt befanden. Er hatte keine Ahnung, ob es Tag oder Nacht war. Er versuchte sich zu erinnern, was er über die Geographie Amerikas gelesen hatte. Westlich von New York lag Pennsylvania; dann kamen Ohio, Indiana und Illinois. Und Illinois – das war erst ein Drittel des Weges bis zur Westküste der Vereinigten Staaten.

Wenn er schon jetzt solchen Hunger und Durst hatte, wie sollte er den Rest der Fahrt überstehen? Er mußte es schaffen, denn die Ladeklappe des Lastwagens würde nicht geöffnet werden, bis er sein Ziel erreichte – dreitausend Meilen vom Ausgangspunkt entfernt. Bis dahin war er eingesperrt, und niemand konnte ihn finden.

Das gemächliche, rhythmische Schaukeln des Trucks wiegte Masao schließlich wieder in den Schlaf. Er kuschelte sich in seine Decke und träumte.

Er träumte, daß er daheim im Sommerhaus der Familie in Karuizawa war und nach seinem Vater und seiner Mutter suchte … dann war er im Kinkakuji in Kyoto, aber sie waren nicht da. Er suchte sie in der großen Halle des Asakusa-Tempels in Tokyo, und dann lag er in einem Fischerboot vor der Insel Yoron, und das Boot war voll von Sardinen und Barschen und Thunfisch und Tintenfischen und Gelbschwanz und Krabben …

Er träumte von Sanae. Sie stand am Ufer, in der Finsternis, und rief ihm zu: Der Feind ist hier. Laß dich nicht erwischen, sonst wird er dich töten. Und dann wurde sie zur Seite gerissen, und ein strahlender Scheinwerfer leuchtete Masao ins Gesicht, und eine Männerstimme brüllte: »Steh auf! Wir wissen, daß du da bist!«

Masao versuchte, sich noch tiefer im Fischerboot zu verkriechen, aber die Stimme brüllte weiter, und der Lichtstrahl blendete ihn. Masao schlug die Augen auf und wußte, daß dies kein Traum war.

Da stand ein Mann auf der Ladepritsche des Lastwagens und leuchtete Masao mit einer Taschenlampe ins Gesicht. »Steh auf, du! Raus aus dem Wagen!«

Masao blinzelte und setzte sich auf. Die Ladeklappe des Lastwagens stand offen, und der Lastwagen rollte nicht mehr. Natürlich konnten sie noch nicht in Kalifornien angekommen sein. War etwas schiefgelaufen? Wie konnte jemand wissen, daß er hier war? Er hatte sich doch so gut versteckt! Vielleicht hatte ihn jemand beobachtet, wie er in den Lastwagen schlüpfte, und die Polizei oder seinen Onkel informiert. Diesmal, das wußte Masao, war Flucht ausgeschlossen. Langsam stand er auf und tastete sich zum Ausgang vor. Seine Glieder waren steif und schmerzten. Er erkannte den Mann auf der Ladepritsche. Es war der Fernfahrer.

Masao sprang von der Pritsche ab und schaute sich um. Sie standen auf einer Wiegebühne am Rand des Highways. Neben dem Wiegehäuschen parkte ein Streifenwagen.

»Woher wußten Sie, daß ich mich im Lastwagen verstecke?« fragte Masao.

Der Fahrer lachte. »Mathematik, mein Junge. Diese Lastwagen werden bei der Abfahrt auf dem Frachthof gewogen. Wir müssen immer wieder an den staatlichen Wiegestationen am Rande der Autobahn anhalten, um sicherzustellen, daß wir nicht zuviel Ladung transportieren.« Er deutete auf die riesige Wiegebühne, auf der der Lastwagen parkte. »Diese Ladung wiegt 150 Pfund mehr als beim Start in New Jersey.«

So eine blöde Geschichte war ihm also zum Verhängnis geworden! Masao kniff die Augen zusammen. Er fühlte sich einer Ohnmacht nahe, er hatte Hunger und Durst. Er schaute zum Streifenwagen hinüber. »Was werden Sie mit mir machen?«

Er merkte, wie er auf seinen Beinen schwankte.

Der Fahrer musterte ihn. »Heh! Bist du in Ordnung?«

»Ja, Sir.«

»Wann hast du zuletzt etwas gegessen?«

»Ich … ich weiß nicht«, sagte Masao aufrichtig.

»Ich glaube, wir werden dir erst mal etwas zu essen geben und dann entscheiden, was wir mit dir machen sollen. Du warst zwei Tage lang da drin eingesperrt.« Er streckte die Hand aus. »Ich bin Al.«

Masao schüttelte ihm die Hand. »Ich bin Masao.«

Der Fahrer deutete auf den Beifahrer. »Das ist Pete.«

»Guten Tag, Sir.«

»Los, mach dich erst mal sauber«, sagte Al.

Sie marschierten auf eine große Cafeteria neben der Wiegestation los, und Masao war überrascht, wie schwach er sich fühlte. Er stolperte, und Al schob ihm eine Hand unter den Arm, um ihn zu stützen. Selbst wenn er’s gewollt hätte, war Masao zu schwach, um zu fliehen.

»Du weißt ja, daß das gesetzlich verboten ist«, sagte Al.

»Ja, Sir.«

Masao überlegte, was der Fahrer denken würde, wenn er wüßte, daß er wegen Mordes gesucht wurde und daß auf seine Ergreifung wahrscheinlich eine hohe Belohnung ausgesetzt war. Er dachte an die Polizeistreife, die auf der anderen Straßenseite parkte, und ein Frösteln lief ihm über den Rücken.

»Ist dir kalt?«

»Nein, Sir.« Die Sonnenstrahlen brannten wunderbar auf der Haut. Er hatte ja keine Ahnung gehabt, wie schrecklich es sein würde, in der Finsternis eingesperrt zu sein – wie ein wildes Tier.

Das Café war voll von Fernfahrern, die tüchtig aßen und schwatzten und ihre Erfahrungen von unterwegs austauschten.

Al führte Masao in den Waschraum. Masao schaute in den Spiegel und erkannte sich kaum wieder. Er war staubverschmiert, und sein Gesicht sah abgehärmt und gespenstisch aus. Nachdem Masao sich gewaschen hatte, führte ihn Al an einen Tisch im Restaurant. Der Essensduft machte ihn ganz schwindlig.

Sie setzten sich und bestellten, und Al und Pete schauten verwundert zu, wie Masao futterte. Zuerst eine große Schüssel Hühnersuppe, dann ein Hamburger-Sandwich und einen Teller Pommes frites, danach ein Cheeseburger-Sandwich und noch einen Teller Pommes frites. Er beendete seine Mahlzeit mit einer Apfelpastete mit Eiskrem und einer Kanne Kaffee.

»Mein Gott«, rief Al bewundernd aus. »Und ich dachte immer, Fernfahrer sind tüchtige Esser!«

»Ich hab Geld genug, um das viele Essen zu bezahlen«, sagte Masao.

Al grinste. »Vergiß es. Jemand, der so viel essen kann, hat sich eine freie Mahlzeit verdient.«

Der Fernfahrer zündete sich eine Zigarette an und musterte Masao aufmerksam. Der Junge fühlte seine innere Anspannung steigen. Er wußte, was jetzt kam.

Al sagte ruhig: »Wovor läufst du davon, Junge?«

Masao schaute sich im Restaurant um, all die harten, kräftigen Fernfahrer, die hier saßen, und einen Augenblick lang hatte er die wilde Phantasie, mit der Wahrheit herauszuplatzen und Al die ganze Geschichte von Teruo und seinen gemeinen Machenschaften zu erzählen. Dann würde Al aufstehen und den anderen Fernfahrern die Sache erklären, und sie alle würden Masao beistehen und ihm helfen, seinen Onkel zu besiegen …

Statt dessen sagte Masao: »Ich … ich bin aus der Schule abgehauen. Ich will einen Freund in Los Angeles besuchen.«

Die beiden Männer beobachteten ihn und überlegten, was sie mit ihm anfangen sollten. Masao hockte vor ihnen und wagte kaum zu atmen. Wenn sie beschlossen, ihn der Polizei auszuliefern, dann war er verloren. Er würde am Ende doch seinem Onkel in die Hände fallen.

Plötzlich lachte Al auf und sagte: »Ich kann dir keinen Vorwurf machen, Junge. Auch ich bin aus der Schule abgehauen, als ich so alt war wie du. Zum Teufel, als Fernfahrer verdiene ich mehr Geld als die meisten Doktoren

Masaos Herz machte einen Luftsprung. »Dann … dann wollen Sie mich nach Kalifornien mitnehmen?«

»Warum nicht?«

Es war, als ob eine gewaltige Last von Masaos Schultern genommen wäre. »Vielen, vielen Dank«, sagte er. »Wo sind wir jetzt?«

»In Hoosier Country. Indiana. In drei Tagen werden wir in Los Angeles sein. Komm. Die Landstraße ruft!«


Am gleichen Nachmittag saß Lieutenant Matt Brannigan an seinem Schreibtisch in Wellington und studierte die Akten eines Einbruchsfalles, als ein Detektiv in sein Büro kam und sagte: »Haste ’ne Minute Zeit, Matt?«

Brannigan stand auf und reckte sich. Er hatte seit acht Uhr morgens Dienst und war müde. Er wollte nach Hause.

»Hat es nicht Zeit bis morgen, Jerry? Cathy schlägt mich tot, wenn ich schon wieder zu spät zum Essen komme.«

Der Detektiv zögerte. »Sicher. Ich geb’ dir gleich morgen früh den Bericht.« Er wandte sich zum Gehen.

»Wart mal ’n Moment«, sagte Matt Brannigan. »Worum handelt es sich?«

»Erinnerst du dich an jenen Silver Arrow Jet, der vor zwei Wochen hier in der Gegend abstürzte?«

Lieutenant Brannigan erinnerte sich nur zu gut. Vier Menschen waren dabei ums Leben gekommen. Yoneo Matsumoto, seine Frau und die beiden Piloten. »Yeah. Was ist los damit?«

»Scheint so, als wäre es kein Unfall gewesen.«

Brannigan starrte ihn an. »Was redest du da?«

»Wir haben gerade einen vorläufigen Bericht von der Bundes-Luftfahrtbehörde bekommen. Die Treibstofftanks waren voll Wasser. Diese Menschen sind ermordet worden!«

Matt Brannigan spürte, wie ihn ein Frösteln überlief. »Ist das eindeutig erwiesen?«

»Kein Zweifel. Irgend jemand hat Sabotage verübt. Wären die Treibstofftanks nicht frisiert gewesen, dann hätte der Pilot das Gewitter überfliegen können.«

Jerry fuhr fort, die Details des Berichts zu erläutern, aber Lieutenant Brannigan hörte nicht mehr zu. Er erinnerte sich an den jungen Masao, hörte noch seine Stimme: Meine Eltern wurden bei einem Flugzeugunglück getötet. Ich erbte die Firma meines Vaters. Mein Onkel versucht, sie mir wegzunehmen. Und dazu muß er mich töten.

Damals war sich Brannigan sicher gewesen, daß das ein wildes Märchen war; ein ausgerissener Teenager, der womöglich Drogen schluckte und Familienprobleme hatte, so was gab’s ja häufig genug. Er hatte mit dem Onkel des Jungen telefoniert und gesehen, wie dieser Onkel und sein Chauffeur Masao abholten. Der Junge hatte Brannigan leid getan. Er war so ein netter, ordentlicher Kerl gewesen.

Er erinnerte sich auch an seine Überraschung, als Teruo ihn später anrief und sagte: Mein Neffe hat unseren Chauffeur ermordet. Die Polizei muß ihn finden, bevor der Junge noch einen Mord begeht. Irgend etwas hatte damals nicht gestimmt! Lieutenant Brannigan hielt sich viel darauf zugute, ein guter Menschenkenner zu sein. Wie hatte er sich so in dem Jungen täuschen können? Aber er hatte seine Untersuchung abgeschlossen und Teruo Satos Geschichte geglaubt.

Diese letzte Nachricht aber änderte alles. Wenn jemand das Flugzeugunglück geplant hatte, mußte er ein Motiv haben. Und es gab kein stärkeres Motiv als das Riesen-Unternehmen Matsumoto Industries. Wie, wenn Masao die Wahrheit gesagt hatte?

Dann hatte Brannigan den Jungen in Lebensgefahr gebracht!

Der Detektiv hockte an seinem Tisch. Er nahm in Gedanken die Bruchstücke der Geschichte auseinander und setzte sie wieder zusammen. Er benötigte eine Menge Antworten, und er benötigte sie schnell.

Er blickte zu Jerry auf. »Du mußt sofort Matsumoto Industries überprüfen. Ich will wissen, wer der Hauptaktionär der Firma war, als Yoneo Matsumoto noch lebte, und wer es jetzt ist. Setz dich mit dem Anwalt der Firma in Verbindung. Ich will die Antworten morgen auf meinem Schreibtisch haben.«


Es war Nacht. Ein gelber Vollmond hing am Himmel über dem grauen Band des Highways, der sich unter den Reifen des riesigen Trucks abspulte. Masao hockte zwischen Al und Pete in der Fahrerkabine und beobachtete die Lichter vereinzelter Farmhäuser in der Ferne.

»Sind wir noch immer in Indiana?« fragte Masao.

»In Illinois.« Pete zog eine abgewetzte Landkarte aus dem Handschuhfach. »Hier sind wir«, sagte Pete und bezeichnete einen Punkt auf der Karte. »Wir fahren durch Missouri und Oklahoma, kreuzen diese Ecke von Texas, fahren nach Neu-Mexiko und dann nach Arizona, Nevada und Kalifornien. Es sind noch etwa 2000 Meilen.«

Masao starrte ihn ungläubig an: »Und das alles schaffen wir in drei Tagen?«

»Vergiß nicht, daß wir diesen Pott Tag und Nacht am Rollen halten. Darum sind wir auch zu zweit. Wir wechseln uns am Steuer ab.«

Wieder ließ Masao seinen Blick über die Landschaft gleiten. »Es ist so ein riesiges Land«, sagte er. »Viel größer als meine Heimat.« Aber wie schön ist mein Heimatland, dachte Masao. Schneebedeckte Berggipfel und glitzernde Seen, Flüsse und Wasserfälle. Er vermißte die Kirschblüten und die Menschen, die unter den Bäumen saßen und es sich gutgehen ließen. Er sehnte sich danach, mit seinen Freunden an einem der schönen Strande von Okinawa herumzutoben. Er wollte nach Hause, nach Japan.

Die einzige Frage war, ob er tot oder lebendig heimkehren würde. Er dachte an Teruo.


Teruo dachte an Masao. Der Junge war ihm schon wieder entwischt. Es war inzwischen ein Katz-und-Maus-Spiel zwischen den beiden, ein Kampf mit den Waffen der List. Teruo wußte, daß es nur eine Frage der Zeit war. Am Ende würde er Masao erwischen, und er würde ihn hart bestrafen.

Teruo wandte sich an Nobuo Hayashi, den Sicherheits-Chef von Matsumoto Industries. »Der Junge kann sich doch nicht in Luft aufgelöst haben«, sagte Teruo Sato. »Er muß gefunden werden. Und zwar von uns. Ich will nicht, daß sich die Polizei dieses Landes einmischt. Es war ein Fehler von mir, sie einzuschalten. Dies ist eine Familienangelegenheit.«

»Ich verstehe, Sir.«

»Tun Sie, was getan werden muß. Heuern Sie noch mehr Männer an. Verdoppeln Sie die Belohnung. Sparen Sie weder Mühe noch Geld. Bringen Sie mir meinen Neffen.«

Teruos Gesicht war nur noch eine finstere Maske, seine Augen funkelten wie Eiskristalle. »Er ist gefährlich. Er hat bereits einen Mord begangen. Wenn er sich nicht lebendig fangen läßt … bringen Sie ihn mir tot.«


Lieutenant Matt Brannigan hatte eine unruhige Nacht. Weil er keinen Schlaf finden konnte, war er um drei Uhr morgens leise aus dem Bett geschlüpft. Er hatte versucht, seine Frau nicht zu wecken, aber sie hatte ihn gehört und die Nachttischlampe angeknipst. »Was ist los, Matt? Verdauungsbeschwerden?«

»Blödsinn. Ich habe vielleicht einen unschuldigen Jungen in den Tod geschickt.« Er fuhr sich mit den Fingern durch sein dichtes graues Haar. »Er wollte mit mir sprechen, aber ich habe nicht auf ihn gehört, Cathy. Ich habe ihn einem Mann in die Hände geliefert, der ihn umbringen will.«

»Bist du sicher?«

»Nein. Aber ich werd’s in ein paar Stunden wissen. Die Sache gefällt mir nicht. Vielleicht ist der Junge schon tot. Mit dieser Last werde ich dann weiterleben müssen.«

»Warum versuchst du nicht, noch ein wenig zu schlafen? Du kämpfst gegen Schatten.«

Aber die Schatten wollten nicht weichen.


Als Lieutenant Matt Brannigan in sein Büro kam, lag der Bericht, den er verlangt hatte, auf seinem Schreibtisch. Er las ihn zweimal – das erstemal rasch und das zweitemal ganz langsam, ohne ein Wort auszulassen. So unwahrscheinlich es schien, der Junge hatte die Wahrheit gesagt. Er hatte das riesige Matsumoto-Imperium geerbt. Und falls er starb, so besagte das Testament des Vaters, sollte sein Onkel alles besitzen. Matt Brannigan hatte schon Männer gekannt, die für zehn Dollar oder eine Flasche Whisky einen Mord begingen. Man brauchte nicht viel Phantasie, um sich auszumalen, was ein Mann tun mochte, um ein Wirtschaftsimperium von unschätzbarem Wert zu gewinnen. Teruo Sato mußte von Anfang an das Testament gekannt haben. Er hatte das Flugzeugunglück geplant – vermutlich in der Meinung, daß er, wenn er Yoneo Matsumoto aus dem Weg geräumt hatte, leicht auch den Sohn loswerden konnte. Mit Brannigans Hilfe war es ihm beinahe gelungen. Der Junge war zu ihm gekommen und hatte um Hilfe gefleht, und er hatte ihn seinem Feind ausgeliefert. Irgendwie mußte er Masao finden und ihn retten. Falls Masao noch am Leben war! Dies mußte er als erstes herausfinden.

Er nahm das Telefon und wählte den Zentralen Polizei-Computer in Manhattan. »Hier spricht Lieutenant Matt Brannigan. Da gab es eine Fahndung nach einem gewissen Masao Matsumoto, ein japanischer Junge, achtzehn Jahre alt. Stellen Sie bitte fest, ob die Fahndung noch immer läuft.«

»Bleiben Sie dran, Lieutenant«, sagte eine Stimme. Eine Minute später hörte er: »Sie ist noch in Kraft, Lieutenant.«

»Danke.« Matt Brannigan legte erleichtert den Hörer auf. Wenn der landesweite Fahndungsbefehl noch in Kraft war, so bedeutete dies, daß Masao noch in Freiheit war. Er mußte ihn finden, bevor Teruo Sato ihn fand. Es war ein Wettlauf gegen die Zeit.

Er klingelte nach seinem Assistenten. »Schaff mir alles herbei, was wir über den Fall Matsumoto in den Akten haben!«

Fünf Minuten später las er Hellers Protokoll über Sanae Doi.

Als er es durchgelesen hatte, sprang Lieutenant Matt Brannigan in seinen Wagen und machte sich auf den Weg zur Matsumoto-Fabrik.


Sanae hatte Masao nicht vergessen können. Sie wußte ganz sicher, daß Masao ihr nur einen Teil der Wahrheit erzählt hatte und daß er irgendwie in furchtbaren Schwierigkeiten steckte. Sie hätte alles getan, um ihm zu helfen, aber jetzt war er fort. Sie wußte nicht mal, ob er tot war oder noch lebte. Sie erinnerte sich, wie begeistert Masao beim Baseball-Spiel gewesen war, wie er gejubelt und beide Seiten angefeuert hatte. Sie dachte an sein Lächeln und an seine freundliche Art.

»Sanae!«

Die Stimme schreckte sie aus ihrem Tagtraum auf. Sie hob den Kopf und sah den Vorarbeiter, Mr. Heller, vor ihr stehen.

»Ja, Mr. Heller?«

»Mr. Watkins will Sie sehen. Sofort.«

»Ja, Sir.«

Sanae trat ins Büro des Personalchefs ein und überlegte sich, was dieser von ihr wollte. Es war noch ein zweiter Mann im Zimmer, jemand, den Sanae noch nie gesehen hatte. Instinktiv wußte sie, daß es ein Polizist war, und sie war sofort auf der Hut.

Watkins sagte: »Sanae, das ist Lieutenant Brannigan. Er möchte Ihnen ein paar Fragen stellen.« Watkins erhob sich. »Ich will Sie jetzt beide allein lassen.«

»Vielen Dank«, sagte Lieutenant Brannigan. Er drehte sich zu Sanae um. »Bitte, nehmen Sie Platz.«

Sie setzte sich und versuchte, ihre Nervosität zu verbergen.

»Soviel ich weiß, waren Sie und der junge Masao befreundet?«

»Nein, Sir.« Ihre Stimme war fest.

Matt Brannigan blickte sie skeptisch an. »Wirklich? Sie haben doch zusammen gearbeitet, nicht wahr?«

»Ja, Sir.«

»Und sprachen Sie nicht miteinander bei der Arbeit?«

»Nein, Sir.«

Der Detektiv beugte sich vor. »Aber Sie sprachen jeden Tag in der Mittagspause miteinander?«

Er wußte es also. Er hatte ihr nachspioniert!

»Ich weiß nichts über ihn«, sagte Sanae hartnäckig.

»Sanae, ich bin hier, um Masao zu helfen. Ich glaube, sein Leben ist in Gefahr.«

Ja, dachte Sanae. Durch dich!

»Wissen Sie, wo er ist?«

Sie schaute ihn an und konnte diesmal die volle Wahrheit sagen: »Nein, Sir, ich habe keine Ahnung.«

Matt Brannigan hatte die ganze Zeit das Gefühl gehabt, daß das Mädchen log. Jetzt aber sprach sie die Wahrheit. Und das beunruhigte ihn. Sie war seine einzige Spur. Wenn sie nicht wußte, wo Masao steckte, dann hatte er überhaupt keinen Anhaltspunkt. Teruo hatte gute Aussichten, den Jungen zu finden, bevor die Polizei ihn fand. Was das bedeutete, wollte der Detektiv sich nicht ausmalen.

Er mußte eine Möglichkeit finden, das Mädchen zu überzeugen, daß er auf Masaos Seite stand. »Sie haben ihm doch geholfen zu fliehen, nicht wahr, Sanae?«

»Nein, Sir.«

»Sie sagen mir nicht die Wahrheit. Der Kassierer drückte Ihnen ein Foto von ihm in die Hand, und Sie führten ihn hinaus, bevor jemand ihn identifizieren konnte. Sie brachten ihn zu sich nach Hause. Ein Privatdetektiv namens Sam Collins kam, um ihn zu suchen, und Sie verhalfen Masao zur Flucht.«

Sanae preßte ihre Lippen zusammen und sagte nichts.

Er musterte sie eine Weile. »Wissen Sie, wer Masao ist?«

Sanae nickte. »Er ist Masao Harada.«

Der Detektiv ließ sie bei ihrem Irrtum. »Wissen Sie auch, warum er auf der Flucht ist?«

»Ja, weil sein Vater ihn nach Japan zurückbringen will. Aber Masao will nicht.«

Das also war Masaos Story! Lieutenant Brannigan mußte eine rasche Entscheidung treffen. Er hatte keine festen Beweise für seine Vermutung in der Hand. Und doch wußte er, wenn er diese Vermutung nicht aussprach, gab es keine Möglichkeit, Sanae zu überzeugen.

»Hören Sie mir gut zu«, sagte er. »Masaos richtiger Name ist Masao Matsumoto. Diese Firma trägt den Namen seines Vaters.«

Sanae starrte ihn ungläubig an. »Wollen Sie damit sagen, er gehört zur Familie Matsumoto?«

»Er ist der Sohn.«

»Das glaube ich nicht …«

»Hören Sie mich zu Ende an. Masaos Vater wurde ermordet. Masao hat das Matsumoto-Imperium geerbt.«

Sanae beobachtete ihn mit mißtrauischem Blick und versuchte zu begreifen, was er gesagt hatte.

»Die Sache hat nur einen Haken. Wenn dem Jungen etwas passiert, wird der Onkel alles erben. Fünf Menschen wurden bereits ermordet. Ich glaube, Masaos Onkel wird versuchen, auch ihn zu ermorden.«

»Oh, mein Gott!« Jetzt war alle Farbe aus Sanaes Gesicht gewichen. Sie glaubte ihm. Er hatte keinen Grund, eine solche Geschichte zu erfinden. Sie erinnerte sich an den Tag, als Teruo Sato in die Fabrik gekommen war. Masao hatte sein Gesicht versteckt. Sind sie fort? hatte er gefragt. Und sie erinnerte sich, wie er sie aus dem Baseball-Stadion fortgezerrt hatte, bevor das Spiel zu Ende war, und wie die Polizei die Tribünen absuchte – und wie Masao in ihrer Wohnung vor dem Detektiv geflüchtet war. Ja, auf einmal ergab das alles einen Sinn!

»Sein Onkel hat eine ganze Armee von Männern in Marsch gesetzt, um ihn zu suchen«, sagte Lieutenant Brannigan. »Masao hat niemand, an den er sich wenden kann. Wenn sie ihn zuerst finden, ist er tot, Sanae. Diese Leute scheuen vor nichts zurück. Ich muß ihn finden, bevor sie ihn finden. Aber ich weiß nicht, wo ich ihn suchen soll. Ich weiß nicht, wohin er fahren will, oder …«

»Nach Kalifornien.« Sanae preßte sich die Hand auf den Mund. Sie hatte gar nicht gemerkt, daß sie etwas sagte.

»Wo in Kalifornien?« In seiner Stimme lag ein Drängen, das Sanae auf einmal mißtrauisch machte. Wie, wenn nur ein Teil seiner Geschichte stimmte? Wie, wenn er auf Teruos Seite stand und Masao suchte, um ihn seinem Onkel in die Hände zu liefern?

»Ich weiß nicht«, sagte Sanae. Sie sah die Enttäuschung im Gesicht des Detektivs.

»Hat er Ihnen denn keine Andeutung gemacht? Hat er denn keinen Namen erwähnt? Irgend jemand, den er um Hilfe bitten könnte?«

Er hatte einen Namen erwähnt. Seinen Freund Kunio Hidaka.

Sanae blickte dem Detektiv fest in die Augen und sagte: »Nein, er hat niemanden erwähnt.«

Sie würde sich von diesem Polizisten nicht durch einen Trick überlisten lassen, ihm zu helfen, damit er Masao fangen konnte.

Lieutenant Brannigan seufzte. »Schade. Nun, jedenfalls vielen Dank.« Er stand auf. »Sollten Sie sich doch noch an etwas erinnern, rufen Sie mich bitte an.« Er griff in seine Tasche. »Hier ist meine Visitenkarte.«

Sanae steckte die Karte ein, ohne sie anzusehen. Sie hatte nicht die Absicht, sie zu benutzen.

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