Langsam wurde Masao wach und schlug die Augen auf. Er war in einem fremden Zimmer. Sein Kopf war schwer und pochte vor Schmerz. Er hatte keine Ahnung, wie lange er bewußtlos gewesen war. Er blieb ganz ruhig liegen und zwang sich, nicht in Panik zu geraten. Er versuchte sich zu erinnern, wie er hierhergeraten war. Er hatte mit dem Polizisten gesprochen, mit Lieutenant Brannigan; sein Onkel und Higashi waren gekommen und hatten ihn ins Auto gezerrt; sie hatten ihm eine Betäubungsspritze verpaßt. Und dann? Masao setzte sich auf dem schmalen Bett auf, und in seinem Kopf begann alles zu kreisen. Er wartete, bis er wieder klar wurde. Vorsichtig stand er auf und schaute sich um, untersuchte das Zimmer. Es hatte keine Fenster, und nach der schrägen Decke zu urteilen, befand er sich auf dem Dachboden der Jagdhütte. Er ging zu der schweren Eichentür und rüttelte an der Klinke. Die Tür war von außen verschlossen. Es gab keinen Ausweg. Und nun merkte Masao auch, daß er nur eine Turnhose und ein T-Shirt anhatte. Sie hatten ihm seine Kleider weggenommen!
So kann ich nirgends hingehen, dachte Masao. Dann kam ihm ein neuer Gedanke, und ein kaltes Frösteln überlief ihn. Seine Kleider lagen wahrscheinlich in einem ordentlichen Häufchen am Ufer des Sees, wo die Polizei sie finden würde – zusammen mit einem gefälschten Abschiedsbrief. Teruo überließ nichts dem Zufall. Mein armer Neffe, er konnte sich nicht mit dem Tod seiner Eltern abfinden …
Masaos Gedanken wurden durch ein Geräusch draußen auf dem Korridor unterbrochen. Irgend jemand näherte sich. Es war bestimmt Higashi, der kam, um ihn zu holen, und Masao wußte, er hatte keine Chance gegen den riesigen, starken Mann. Er sah sich nach einer Waffe um, irgend etwas, womit er sich verteidigen könnte, aber er fand nichts. Er fragte sich, wieviel Teruo dem Chauffeur wohl bezahlte, dafür, daß er ihn umbrachte. Wahrscheinlich ein Vermögen. Aber das war ja eine Kleinigkeit für Teruo. Wenn Masao tot war, würde Teruo unermeßlich reich sein. Die Schritte kamen näher. Masao hörte einen Schlüssel im Schloß drehen und sah, wie die Tür aufschwang. Higashi trat ein. Einen Augenblick dachte Masao daran, sich auf ihn zu stürzen, aber der Chauffeur war viel größer als er und mindestens hundert Pfund schwerer.
»Komm«, knurrte Higashi. »Wir wollen eine kleine Bootsfahrt machen.«
Also hatte er recht gehabt. Mit allem. Und er hatte genau erraten, was sein Onkel plante. Sie würden ihn mitten im See ins Wasser werfen, in die bodenlose Tiefe. Vielleicht würde sein Leichnam niemals gefunden.
Higashi trat auf ihn zu und packte seinen Arm. Ein Griff wie ein Schraubstock. »Geh’n wir.«
Higashi führte den Jungen über den verlassenen Korridor. Sie befanden sich im vierten Stock, unter dem Dach der Jagdhütte. Higashis Finger waren hart wie Stahl, sie drückten sich in Masaos Arm, daß es schmerzte.
»Hören Sie«, sagte Masao verzweifelt. »Wenn Sie mich laufen lassen, will ich Ihnen mehr bezahlen als mein Onkel. Wenn ich wieder in Tokyo bin …«
»Schnauze«, knurrte Higashi.
»Ich kann …«
Higashi packte noch fester zu und stieß den Jungen vor sich her die Treppe hinunter.
Jetzt waren sie im dritten Stock angelangt, und über die Brüstung des Balkons sah Masao in der Ferne den See. Er erschien plötzlich so finster und bedrohlich. In wenigen Minuten, dachte Masao, würde er ein Teil dieses Wassers sein, ertrunken, für immer verloren. Nein, er konnte es nicht zulassen!
Die Zweige einer hohen schlanken Tanne streiften das Balkongeländer, und als Masao das sah, packte ihn eine wilde, verzweifelte Hoffnung. Es gab eine Chance! Es war eine verzweifelt kleine Chance, aber sie war alles, was er hatte. Wenn es mißlang, mußte er sterben. Aber sterben mußte er sowieso.
Masaos Herz schlug schneller. Er wartete, bis sie sich gegenüber dem Balkon befanden, dann tat er so, als würde er stolpern. Als er stürzte, bückte sich Higashi ganz automatisch, um ihn hochzureißen. In diesem Moment stemmte sich Masao mit aller Macht gegen ihn, der eiserne Griff lockerte sich, und Masao sprang auf und rannte auf den Balkon. Er spähte hinunter und sah, zehn Meter unter sich, festen Boden. Falls er stürzte, würde er auf der Stelle tot sein. Aber er hatte keine Wahl. Der Baum war der einzige Weg in die Sicherheit.
Er streckte die Hand aus und packte einen Ast der Tanne. Seine Finger glitten ab, und dann fand er festen Halt und schwang sich zum Stamm hinüber.
In diesem Augenblick spürte er, wie jemand ihn von hinten am Fuß packte und zurückriß. Masao strampelte, aber es hatte keinen Zweck. Higashis mächtiger Arm schlang sich um seinen Hals und würgte ihn. Mit einer letzten Kraftanstrengung warf sich Masao herum und entschlüpfte dem Griff. Keuchend rang er nach Luft. Aber der Chauffeur war schon wieder über ihm, das Gesicht vor Wut verzerrt.
»Dann werd ich dich eben hier umbringen«, zischte er.
Er breitete die Arme aus und tappte vorwärts, um Masao zu packen und zu erdrücken. Masao wich immer wieder aus. Er wußte, diese Arme waren stark genug, ihm das Genick zu brechen. Langsam glitt er nach rechts, weg von dem Baum, und als Higashi ihm folgte, hechtete Masao plötzlich in die entgegengesetzte Richtung, sprang auf die Brüstung und packte erneut den Tannenzweig. Es war sinnlos. Higashi war sofort wieder da, packte ihn wie ein Wilder und riß ihn zurück. Masao spürte, wie seine Finger von dem Ast abglitten. Jetzt war alles aus. Auch Higashi wußte es. Er hatte gesiegt. Aber im Eifer, sein Werk zu vollenden, sprang Higashi auf die Brüstung, neben Masao, um ihn besser packen zu können. Die Brüstung hielt das Gewicht des riesigen Mannes nicht aus und brach plötzlich unter seinen Füßen weg. Masao klammerte sich an den Ast und sah voll Entsetzen, wie Higashis Körper wirbelnd in die Tiefe stürzte. Higashi stieß einen schrillen Schrei aus, dann schlug er auf und lag reglos, den Kopf in unnatürlichem Winkel verrenkt.
Masao hielt inne. Verzweifelt klammerte er sich an den Ast und tat einen tiefen Atemzug, um sich zu beruhigen. Zwischen ihm und dem Grund in der Tiefe war – nichts. Ein Ausrutscher, und er war tot wie Higashi. Langsam und vorsichtig umfaßte Masao den Baumstamm und begann hinabzuklettern, immer Ast um Ast, obwohl alles in ihm zur Eile drängte. Sein Onkel konnte Higashis Schrei gehört haben und jede Sekunde auftauchen. Er war eine hilflose Zielscheibe, wie er da zwischen Himmel und Erde hing. Aber Masao zwang sich, vorsichtig weiterzuklettern. Jeden Ast prüfte er, bevor er sich ihm anvertraute. Endlich, es schien Jahrhunderte zu dauern, war der Boden nicht mehr weit, und er sprang ab. Dann lag er im Gras, unfähig, sich zu bewegen, nach Atem ringend. Jeder Muskel seines Körpers schmerzte. Am liebsten wäre er für immer auf der kühlen Erde liegengeblieben. Aber er wußte, er mußte fort, und zwar rasch.
Aber wohin? Er wußte nicht, wohin er gehen sollte. Zu Lieutenant Brannigan konnte er nicht zurück. Der würde nur wieder seinen Onkel anrufen, damit er kam und ihn holte. Und jetzt war da ein Toter. Sie würden ihm die Schuld geben.
Masao stand in der Dunkelheit, fröstelnd in seinem Unterhemd, und dachte nach. Er hatte kein Geld und keine Kleider, und sein Leben war in Gefahr. Plötzlich flammte oben im Haus ein Licht auf. Masao drehte sich um und rannte blindlings hinaus auf die Straße – nach nirgendwo.
Am Himmel stand ein strahlend heller Vollmond, und Masao nutzte sein Licht, um sich am Rand der Straße zu halten. Er fragte sich, was droben in der Hütte passiert sein mochte. Hatte Teruo bereits Higashis Leiche entdeckt? Suchte er schon nach Masao? Wie eine Antwort auf seine Fragen hörte er ein Auto brummen. Rasch suchte Masao hinter den Büschen Deckung. Eine Sekunde später rollte die vertraute Limousine langsam um die Kurve. Am Steuer saß Teruo; seine Augen suchten den Randstreifen zu beiden Seiten der Straße ab. Masao duckte sich tiefer ins Gebüsch und wartete, bis das Auto vorbei war. Erst als er das Surren des Motors nicht mehr hörte, verließ Masao sein Versteck und lief auf der Straße weiter. Zehn Minuten später hörte er das Motorengeräusch sich wieder nähern und sprang erneut in Deckung. Er beobachtete, wie sein Onkel in Richtung der Jagdhütte verschwand. Vielleicht glaubte er, daß Masao sich noch irgendwo im Park versteckte. Der Junge beschleunigte seine Schritte.
Als Masao das Städtchen Wellington erreichte, machte er einen Umweg, damit niemand ihn entdeckte. Den Fehler, zur Polizei zu gehen, würde er nicht wiederholen. Zum hundertstenmal überlegte er, wohin er gehen sollte. Das war schlimmer, als verirrt zu sein: er hatte überhaupt kein Ziel.
Der Kampf mit Higashi hatte ihn erschöpft, und Masao brauchte dringend eine Verschnaufpause. Aber er wußte, er mußte weiterlaufen. Wenn er eine Pause machte, konnten sie ihn erwischen, und er wußte, was das bedeutete. Es bedeutete den Tod. Also zwang er sich, weiterzulaufen, die ganze Nacht hindurch, immer einen Schritt nach dem anderen. Und jeder Schritt trug ihn weiter von seinem Onkel weg, entfernte ihn von der Gefahr.
Das lodernde Feuer, das Masao die Kraft gab weiterzulaufen, war seine Wut auf Teruo. Dem Onkel war es ganz egal, ob die Eltern ein angemessenes Begräbnis bekamen. Es ging ihm nur darum, die Firma an sich zu reißen, die Masao gehörte. Aber Masao war entschlossen, seinen Eltern das Begräbnis zu verschaffen, das sie verdienten. Irgendwie würde er ihre Asche nach Japan zurückbringen. Er wußte nicht, wie er es schaffen sollte. Er wußte nur, er würde es schaffen – oder sterben.
Die Nachtluft war kühl, und Masao begann in seinem T-Shirt zu frösteln. Es gab keine Möglichkeit, sich Kleider zu besorgen; keine Möglichkeit, sich aufzuwärmen. Er lief an verschlafenen Farmhäusern vorbei und dachte neidisch an die Menschen, die dort drinnen warm und gemütlich schliefen. Er fragte sich, wie lange er so weiterlaufen konnte. Die Zukunft lag finster vor ihm. Selbst wenn er jemanden fand, dem er seine Geschichte erzählen konnte, stand doch sein Wort gegen das Wort seines Onkels, und sein Onkel war ein Mann von hoher Stellung und großer Wichtigkeit. Sein Onkel hatte – wie sagte man gleich in Amerika? – Prestige. Lieutenant Brannigan hatte Masao nicht geglaubt. Niemand würde ihm glauben. Masao fühlte sich in einem Alptraum gefangen, aus dem es keinen Ausweg gab.
Ganz früh am nächsten Morgen fand sich Masao am Rand eines kleinen Städtchens wieder. Auf der Hauptstraße drängte sich eine Menschenmenge, und einen schrecklichen Augenblick dachte Masao, sie wären hinter ihm her. Aber die Menschen unterhielten sich nur und lachten. Irgendwie herrschte eine festliche Stimmung. Neugierig schlich sich Masao näher und blieb am Rand der Straße in Deckung, um zu beobachten, was da vor sich ging.
Es waren mindestens zwei Dutzend Männer, alle in Turnhose und T-Shirt gekleidet – genau wie er. Sie standen auf der Mitte der Straße, und andere Leute, alle in normaler Kleidung, drängten sich herbei. Verwundert starrte Masao hinüber, unfähig, sich vorzustellen, was da los sein mochte. Jetzt schob sich ein Mann durch die Menge und band den Männern Nummernschilder am Rücken fest – und jetzt begriff Masao endlich. Es war ein Volkslauf! Einen Moment hatte Masao Lust, mitzumachen. Er war genauso gekleidet wie die anderen, und es wäre eine perfekte Tarnung. Aber er wußte, daß er zu müde war. Er war völlig ausgepumpt, seelisch wie körperlich. Er war die ganze Nacht gelaufen und hatte einfach keine Kraft mehr. Er beschloß also zu warten, bis die Menschenmenge sich verlaufen hatte. Dann wollte er weitermarschieren.
Aber im gleichen Moment passierte etwas, das Masao zwang, es sich anders zu überlegen. Dort hinten, auf der Straße, kam die Limousine seines Onkels herangeschlichen. Die Flucht war doch nicht geglückt! Jeden Augenblick konnte er entdeckt werden!
Mit einem Sprung schlüpfte Masao zwischen die Gruppe der Männer in Turnhosen und Unterhemden.
Der Funktionär, der die Nummern verteilte, schaute Masao scharf an und sagte: »Beinah wärst du zu spät gekommen. Wir sind längst startbereit.«
Im nächsten Moment hatte auch Masao eine Nummer auf dem Rücken. Die Läufer nahmen Aufstellung, bereit für den Startschuß. Masao schob sich noch mehr in die Mitte, um sich zu verstecken. Er hatte gar nicht die Absicht, sich an dem Rennen zu beteiligen. Er wollte nur in der Menge Schutz suchen, bis sein Onkel fort war. Aber als der Starter jetzt die Pistole in die Luft hob, um das Startzeichen zu geben, sah Masao die schwarze Limousine direkt auf die Gruppe der Läufer zufahren. Dann kam der scharfe Knall der Pistole, und Masao rannte mit den anderen los – immer schön in der Mitte.
Als die Limousine an den Läufern vorbeischnurrte, zog Masao den Kopf ein. Langsam rollte die Limousine weiter. Masao war noch erschöpft von der langen Nacht, aber er hatte Angst, aus dem Feld der Läufer auszuscheren, weil sein Onkel jeden Moment zurückkehren konnte. Seine einzige Sicherheit bestand darin, die anderen als Tarnung zu benutzen. Und so machte sich Masao auf einen langen Wettlauf gefaßt. Er lief mit weit ausgreifenden, leichten Schritten, und weil er jung und kräftig war, fand er bald den richtigen Rhythmus. Dann begann er sich die anderen Konkurrenten anzusehen. Manche waren älter als er, aber viele waren ungefähr in seinem Alter. Masao fragte sich, was wohl der Anlaß dieses Laufes sein mochte, ob er jedes Jahr veranstaltet wurde und was hinterher passieren würde. Aber das alles war jetzt unwichtig. Das einzig Wichtige war: solange er mit den anderen lief, als einer unter vielen, war er in Sicherheit. Die anderen waren sein Schutz und seine Deckung.
Allmählich spürte er seine alte Kraft wieder, und seine Beine liefen wie von selbst. Er legte etwas Tempo vor und überholte den einen oder anderen Läufer. Er war sich nicht sicher, wie er seine Kräfte einteilen sollte, denn er wußte nicht, wie lang die Strecke war. Es konnten fünf Kilometer sein oder auch zehn. Aber darüber, fand Masao, konnte er sich später Sorgen machen. Unaufhaltsam schob er sich vor, und bald lag wieder eine ganze Gruppe von Läufern hinter ihm. Er fing an, die frische Morgenbrise in seinem heißen Gesicht und die freie, leichte Bewegung seines Körpers zu genießen. Er blickte auf und entdeckte, daß nur noch ein halbes Dutzend Läufer vor ihm lagen. Wieder legte er Tempo zu, und dann waren nur noch fünf vor ihm, dann vier … und drei … Und Masao zog mit den beiden Läufern an der Spitze gleich. Sie begannen ihr Tempo zu beschleunigen, und Masao mußte kämpfen, um mit ihnen Schritt zu halten. Sein Herz pochte und seine Lungen brannten. Er war sich nicht sicher, ob er durchhalten würde. Es gab keinen Grund, warum er dies Rennen gewinnen sollte, es bedeutete ihm nichts. Und doch – er wußte, er mußte weitermachen. Es war eine Frage des Stolzes. Nachdem er zum Wettlauf angetreten war, mußte er ihn auch gewinnen. Der Zweitbeste wollte er nicht sein.
Also begann Masao noch schneller zu laufen, seine Arme und Beine pumpten wie die Kolben einer Maschine. Und nach ein paar Sekunden hatte er die Spitze erobert. Jetzt machte die Straße eine Kurve, und dort vorne lag ein Dorf. Quer über die Hauptstraße war ein Transparent gespannt: ZIEL.
Masao spürte, daß die beiden anderen Läufer aufholten, aber er rang sich noch einen letzten Spurt ab – und überquerte die Ziellinie vor ihnen. Auf einmal war er von einer Menschenmenge umringt, und alles war ein einziges aufgeregtes Durcheinander. Die Leute schüttelten ihm die Hand und gratulierten ihm, aber sie sprachen so schnell, daß er nicht verstand, was sie sagten.
»Schau her!« rief eine Stimme. Masao hob den Kopf und blickte in die Kameralinse eines Reporters, der ihn fürs Fernsehen filmte.
Es war unwirklich, wie ein Traum. Die Leute klopfen ihm den Rücken, legten ihm die Hand auf die Schulter.
»Du könntest bei der Olympiade starten …«
»Ich wette, du hast ’n Rekord gebrochen …«
»Bist du hier aus der Gegend …?«
Sie behandelten ihn alle, als wäre er so was wie ein Held. Anscheinend war es ein wichtiges Rennen für sie. Na, immerhin war es auch für ihn wichtig gewesen. Es hatte ihm das Leben gerettet. Er wünschte nur, die Leute würden etwas langsamer sprechen, damit er verstehen konnte, was sie sagten.
Ein würdig aussehender Mann kam zu Masao, riß seinen Arm in die Höhe und rief: »Ladies und Gentlemen! Ruhe, bitte!« Die Geräusche der Menge verstummten allmählich. »Dies ist ein großer Tag für uns alle. Unsere Gemeinde ist stolz darauf, das Fitneß-Programm des Präsidenten mitzugestalten. Dies ist schon das dritte Jahr, in dem ich diese Veranstaltung durchführe. Unsere Jugend von heute …«
Der Mann war vermutlich der Bürgermeister des Dorfes, überlegte Masao. Und er nutzte wohl den günstigen Augenblick, sich in der Aufmerksamkeit seiner Zuhörer zu sonnen. Masao hatte keine Ahnung, wovon der Mann redete. Aber er blieb höflich stehen und wartete, bis der Bürgermeister seine Ansprache beendete, bis er endlich fortgehen konnte.
Aber jetzt kam noch eine Überraschung. Als die Rede vorbei war, wandte sich der Bürgermeister Masao zu und sagte: »Und jetzt habe ich, im Namen unserer Bürger, das Vergnügen, dir zur Erinnerung an diesen ruhmreichen Tag einen Scheck zu überreichen.« Und er drückte Masao einen Scheck über hundert Dollar in die Hand. Die waren vom Himmel gesandt.
»Vielen Dank«, stammelte Masao. »Ich … ich …« Das Wörtchen erfreut wollte ihm nicht einfallen. »Ich bin sehr angenehm.« Aus der Menge stiegen Lachen und Beifall auf, und dann liefen die Leute langsam auseinander. Masao betrachtete den Scheck in seiner Hand. Das erste, was er sich kaufen mußte, waren Kleider. Er wandte sich an einen Jungen, etwa in seinem Alter, der Jeans und ein buntes Sporthemd trug.
Masao hielt den Scheck in die Luft und sprach ganz langsam: »Entschuldige, sag mir doch bitte, wo kann ich …«
Er unterbrach sich mitten im Satz, weil ihm das Wort einlösen nicht einfiel. Im stillen verfluchte er sich, daß er im Englisch-Unterricht nicht besser aufgepaßt hatte.
Aber Masao hatte Glück. Der Junge verstand ihn. »Du willst’n einlösen? Da drüben, gleich an der Ecke, ist ’ne Bank. Komm mit. Ich zeig’s dir.«
»Ja.«
»Wo kommst du her?«
»Tokyo.«
»Heh, das ist toll. Ich heiße Jim Dale. Und du?«
»Masao …« Er hielt inne. »Masao Harada.«
»Nett, dich kennenzulernen, Masao.«
Sie waren vor der Bank angekommen. Plötzlich fiel Masao ein, daß er keinen Paß bei sich hatte, überhaupt keine Papiere. Vielleicht würden sie ihm den Scheck nicht einlösen. Er war reich wie ein König, besaß ein Vermögen auf Bankkonten überall auf der Welt, aber er konnte keinen Cent davon lockermachen. Er war arm wie ein Bettler. Dieser Hundert-Dollar-Scheck war das einzige, woran er sich halten konnte.
»Ich komm mit dir rein«, erbot sich Jim Dale.
Dem blonden Jungen machte es anscheinend Spaß, sich im Ruhm seines neuen Freundes zu baden. Sie marschierten in die Bank, und Jim Dale führte Masao zum Kassenschalter.
Er sagte zu der Frau am Schalter: »Hi, Miß Perkins. Mein Freund will einen Scheck einlösen.«
Die Kassiererin schaute Masao an und lächelte: »Ach, Siesindalso derjungederdasrennengewann.«
Masao starrte sie an. Wieder diese verdammte Sprache! »Wie … wie bitte?«
Sie wiederholte: »Siesindalso derjungederdasrennengewann.«
Auf einmal verstand Masao: Sie sind also der Junge, der das Rennen gewann. Er nickte. »Ja, Ma’am.«
Die Kassiererin nahm den Scheck und zählte fünf Zwanzigdollarscheine auf die Theke. Sie schob Masao das Geld zu. »Da haben Sie. Einhundert Dollar.«
Dankbar steckte er das Geld ein. »Vielen Dank.« Jetzt konnte er sich wenigstens Kleidung und Essen kaufen. Er drehte sich nach Jim Dale um. »Ich brauch was zum Anziehen. Weißt du …«
Jim nickte. »Kein Problem. Komm mit.«
Ein paar Minuten später betraten Masao und sein Freund einen Laden.
»Dies ist unser größtes Kaufhaus«, sagte Jim Dale stolz.
»Ist ja toll«, sagte Masao höflich. Es war winzig, verglichen mit den großen Kaufhäusern, die Masao von Japan gewöhnt war. Aber es würde seinen Zweck erfüllen. Jim führte Masao in die Kleider-Abteilung, wo eine Auswahl von Anzügen, Jeans und Hemden an den Stangen hingen. Masao suchte sich ein Paar Jeans und ein Sporthemd aus und probierte die Sachen gleich in der Kabine an. Sie paßten nicht gerade wie angegossen, aber es würde schon gehen. Wenigstens hatte er jetzt wieder etwas anzuziehen.
»Ich behalte sie gleich an«, sagte er zu dem Verkäufer.
Das nächste Problem war – etwas zu essen. »Gibt es eine Pizzeria hier in der Stadt?«
Jim Dale starrte ihn an. »Eine was?«
Masao dachte, er hätte das Wort vielleicht nicht richtig ausgesprochen. Er wiederholte es, ganz langsam. »Eine Piz-ze-ria.«
Der Junge errötete. »Klar. Wir haben ’ne ganz tolle. Bei Luigi. Ich hab nur gedacht … ich dachte … eßt ihr nicht japanisches Essen?«
Masao lachte. »Jeden Tag. Aber ich mag auch Hamburgers und Hot Dogs und Pizza.«
»Klasse, Mann. Komm mit!«
Bei Luigi war es voll und laut, schwatzende Oberschüler, die lachten und sich viel zu erzählen hatten. Masao kriegte Heimweh. Er war ein Fremder in einem fremden Land, und er hatte niemanden, mit dem er wirklich reden konnte.
Jim Dale sah ihn neugierig an. »Stimmt was nicht?«
Masao zwang sich ein Lächeln ab. »Doch. Alles in Ordnung. Die Pizza schmeckt herrlich.«
»Du kannst aber auch was wegstecken«, sagte der blonde Junge.
»Ich versteh dich nicht.«
»Ich meine, du hast ’n guten Appetit. Schätze, das kommt vom Wettrennen.«
Das Wort Rennen brachte Masao schlagartig in die Wirklichkeit zurück. Eine ganze Weile hatte er seine Probleme vergessen, aber jetzt stürzten sie wieder wie ein Wasserfall auf ihn nieder. Jim würde hinterher, nach dem Essen, nach Hause gehen – zu seiner Familie, wo er geschützt und sicher war. Für Masao gab es nirgendwo Sicherheit. Er mußte weiter fliehen. Je weiter er von der Jagdhütte und seinem Onkel fortkam, desto besser für ihn. Hier war es zu gefährlich für ihn. Es war ein kleines Städtchen, und als Fremder fiel er hier auf. Er mußte in eine große Stadt fahren, wo er in der Menge untertauchen konnte.
»Wie weit ist es bis nach New York City?« fragte Masao.
»Nur ein paar Stunden von hier, mit dem Zug.« Jim Dale schaute auf die Uhr. »In zwanzig Minuten fährt einer.«
Masao würde mitfahren, das stand fest.