Entsetzt stand Masao draußen vor der Bibliothek. Er konnte nicht glauben, was er eben gehört hatte. Plante sein Onkel etwa, ihn aus dem Weg zu räumen? Einen Augenblick dachte Masao daran, hineinzulaufen und seinem Onkel gegenüberzutreten. Aber dann dachte er an Higashi, den riesigen Chauffeur, und wie sein Onkel gesagt hatte: Wir haben kein Personal hier oben. Unser Besuch kam ganz unerwartet. Aber in einem Haus wie diesem gab es doch das ganze Jahr hindurch Personal! fiel Masao ein. Sein Onkel hatte die Leute also fortgeschickt; er mußte von dem Testament gewußt haben. Und er hatte es so eingerichtet, daß Masao ihm hier allein ausgeliefert war. Der riesige Higashi war ein Teil dieses Plans …
Masaos Herz klopfte so laut, daß er fürchtete, die Tante und der Onkel könnten es hören. Leise schlich er sich von der Tür zur Bibliothek fort und eilte lautlos in sein Schlafzimmer hinauf. Er mußte nachdenken. Er durfte nicht hysterisch werden. Aber war er nicht das einzige Hindernis, das Onkel Teruo vom Besitz des großen Matsumoto-Imperiums trennte? Und sein Onkel bildete sich ein, er sei um diesen Besitz betrogen worden. Masao wußte, daß es nicht so war. Sein Vater war es, der die Firma gegründet und aufgebaut hatte. Er hatte seinen Schwager nur wegen Sachiko ins Geschäft genommen, und er hatte Teruo immer sehr gut behandelt. Und jetzt – plante Teruo, Masao zu ermorden?
Masaos Gedanken rasten. Wie konnte der Onkel ihn umbringen? Natürlich, es mußte wie ein Unfall oder noch besser wie ein Selbstmord aussehen. Und das Motiv für den Selbstmord lag auf der Hand. Masao hörte direkt, wie sein Onkel der Polizei erklärte: Der arme Junge war so verzweifelt über den tragischen Tod seiner Eltern, daß er seinem Leben ein Ende setzte.
Masao schaute über die Brüstung auf den dunklen, unheimlichen See hinunter, und plötzlich sah er alles vor sich. Sein Onkel würde ihn ertränken. Er würde ihn auf den See hinauslocken, in einem der Boote, die zu der Hütte gehörten, und dann würden er und Higashi …
Teruo hatte gesagt, sie würden am nächsten Morgen nach Japan zurückkehren. Das bedeutete, daß der Mord noch in dieser Nacht geschehen mußte. Er mußte verschwinden, und zwar rasch verschwinden. Aber wohin? An wen konnte er sich wenden? Er hatte kein Geld, und er kannte keine Menschenseele in den Vereinigten Staaten. Er war sich nicht einmal sicher, ob er überhaupt die Sprache verstand. Er mußte an die Szene auf dem Kennedy Airport denken, wo er kein Wort kapiert hatte von dem, was die Leute sagten.
Darüber kann ich mir später Sorgen machen, beschloß Masao. Die Hauptsache war jetzt, von hier zu verschwinden und Hilfe zu finden. Die Jagdhütte lag einsam, hoch in den Bergen, und er hatte keine anderen Häuser in der Nähe gesehen – keines, wo er anklopfen konnte. Plötzlich erinnerte sich Masao an die kleine Stadt, durch die sie auf der Fahrt hierher gekommen waren. Der Name blitzte vor seinem inneren Auge auf – Wellington. Dort mußte es ein Polizeirevier geben. Dort konnte er hingehen und erzählen, was sein Onkel vorhatte. Die Polizei würde ihn beschützen.
Aber zuerst mußte er von hier flüchten. Leise schlich sich Masao zur Schlafzimmertür und lauschte. Er hörte nichts. Er machte die Tür auf. Auf dem Flur war niemand. Er mußte aufpassen, daß er nicht mit Higashi zusammenstieß. Schaudernd erinnerte er sich an dessen gewaltige Arme.
Auf Zehenspitzen schlich Masao die Treppe hinunter, Schritt für Schritt, ängstlich bedacht, kein Geräusch zu machen. Er hörte noch immer Stimmen aus der Bibliothek. Aber jetzt waren es drei Stimmen. Teruo hatte Higashi hereingerufen. Masao brauchte gar nicht zu lauschen, um zu wissen, worüber sie sprachen. Er wandte sich in die andere Richtung, zur Küche. Die Tür war nicht verschlossen. Einen Augenblick später war er draußen im Park – in Sicherheit. Aber jetzt hieß es rennen, rennen ums nackte Leben.
Er lief durch die riesige Gartenpforte und bog auf die Straße ein, die zu der kleinen Stadt führte. Er blieb einen Moment stehen und horchte, ob im Haus Alarmzeichen laut wurden, aber es geschah nichts. Sie wußten noch nicht, daß er fort war.
Masao machte sich auf den langen Weg nach Wellington, immer bereit, sich zu verstecken, sobald er ein Auto kommen hörte. Aber die einzigen Laute, die er hörte, waren die Geräusche der Nacht: Die Grillen und Frösche und Heuschrecken, und das Seufzen des Windes in den Bäumen.
Masao fragte sich, was jetzt wohl droben in der Jagdhütte passierte. Vielleicht waren sie mit ihrer Beratung fertig. Sie würden einen Schock kriegen, wenn sie sahen, daß er verschwunden war und daß sie verloren hatten. Masao hatte im Fernsehen viele amerikanische Filme gesehen, und er wußte, wie tüchtig die Polizei war. Sie würde mit Teruo Sato fertig werden und ihn bestrafen.
Masao brauchte beinahe eine Stunde bis in die kleine Stadt. Wellington sah eigentlich eher wie ein Dorf aus. Es hatte einen kleinen Supermarkt, eine Gemüsehandlung, eine Wäscherei und ein Drug Store – alles nebeneinander an der Hauptstraße gelegen. Überall war geschlossen. Masao lief weiter, bis er ein kleines rotes Ziegelgebäude erreichte, an dem Polizeirevier stand.
Masaos Herz machte einen Luftsprung. Er hatte es geschafft. Er rannte die Treppe hinauf und fand sich in einer großen Schalterhalle wieder. Es roch nach altem Staub und Schimmel. Ein Polizist saß an seinem Schreibtisch und schrieb.
Als der Junge eintrat, blickte er auf.
»N’abendwaskannichfürdichtun ?«
Die Wörter gingen alle ineinander über und ergaben für Masao keinen Sinn. Er starrte den Polizisten verständnislos an.
»Waskannichfürdichtun?« Die Stimme des Polizisten klang ungeduldig.
Masao schluckte und sagte langsam: »Bitte, Sir, sprechen Sie nicht so schnell …«
Der Polizist nickte. »Okay. Was hast du für ein Problem?« Er sprach jetzt ganz langsam, und Masao verstand ihn.
»Mein Leben ist in Gefahr.«
Der Polizist murmelte irgend etwas, das sich anhörte wie: Alle Leute an die Wand, aber Masao wußte, das konnte nicht gemeint sein. Er beobachtete, wie der Polizist den Telefonhörer nahm und kurz in die Muschel sprach. Dann legte er auf und drehte sich zu Masao um. Ganz langsam sagte er: »Geh den Korridor hinunter, die erste Tür rechts. Der Lieutenant erwartet dich.«
Und auf einmal kapierte Masao, was er vorhin gesagt hatte: Ich hol mal den Lieutenant.
»Vielen Dank«, sagte Masao erleichtert. Er lief den Korridor hinunter. An der ersten Tür klopfte er und trat ein. Da saß ein grauhaariger Mann am Schreibtisch und füllte ein Formular aus. Er hatte ein zerknittertes Gesicht und trug einen zerknitterten Anzug. Er hatte den gehetzten Gesichtsausdruck eines Mannes, der dauernd überarbeitet ist.
»Nimmplatz«, sagte er ohne aufzublicken. Masao stand da wie bestellt und nicht abgeholt.
Der große Mann hob die Augen. »Verstehst du Englisch?«
»Ein bißchen, Sir.«
»Na«, sagte der Lieutenant. »Nimm Platz.«
Masao setzte sich. Er wußte, er konnte diese Amerikaner nur verstehen, wenn sie ganz langsam sprachen und nicht dauernd die Wörter aneinanderhängten.
Nach ein paar Minuten schob der Mann seine Papiere beiseite und betrachtete den Jungen aufmerksam. »Na also. Ich bin Lieutenant Matt Brannigan. Was hast du für ein Problem, mein Sohn?«
»Ich …« Masao wußte nicht, wo er anfangen sollte. Da war so vieles, was er erzählen mußte. »Es war ein Unfall. Mein Onkel versucht mich umzubringen.« Nein, das klang nicht richtig.
Er fing noch mal von vorne an. »Meine Eltern wurden bei einem Flugzeugunglück getötet. Ich erbte die Firma meines Vaters. Mein Onkel versucht, sie mir wegzunehmen. Und dazu muß er mich töten.« Jetzt sprudelten die Wörter wie ein Wasserfall: »Der Chauffeur wird ihm helfen. Sie haben den Plan, mich im See zu ertränken, damit es wie Selbstmord aussieht. Sie …«
Der Detektiv hob die Hand. »Halt mal, einen Augenblick! Fang noch mal von vorne an. Ich hab kein Wort verstanden.«
Und jetzt wurde Masao klar, daß es wieder die Sprachbarriere war, diesmal andersherum. Er zwang sich, ganz langsam und deutlich zu sprechen: »Ich brauche Ihre Hilfe. Mein Onkel versucht, mich zu töten.«
»Ich verstehe. Hat er dich bedroht?«
»Nein, aber ich habe gehört, wie er davon sprach. Er plant, mich zu ertränken, damit es wie ein Unfall aussieht.«
»Hörtest du, wie er das sagte?«
»Nein. Nicht direkt. Er …«
»Er sagte also nicht, daß er dich ertränken will?«
»Das sagte er nicht, aber ich weiß, daß er es vorhat.« Vor Aufregung fing Masao wieder an, schneller zu sprechen.
»Langsam«, sagte Lieutenant Brannigan. »Stellen wir einmal klar: Du glaubst, dein Onkel hat vor, dich zu töten, aber das hat er nicht gesagt.«
»Nicht direkt, Sir.«
»Was hat er denn wirklich gesagt?«
»Daß ich ihm im Wege bin.«
Der Detektiv musterte ihn. »Hat er das zu dir gesagt?«
»Nein. Zu meiner Tante, und danach sprach er mit dem Chauffeur.«
»Was sagte er zu dem Chauffeur?«
Masao zögerte. »Ich … ich weiß nicht.«
»Du hast das Gespräch nicht belauscht?«
»Nein, Sir. Aber ich weiß, sie sprachen darüber, mich zu ermorden. Darum bin ich weggelaufen.«
»Von wo bist du weggelaufen?«
»Von dem französischen Chalet dort oben, nördlich von hier.«
»Und dort ist dein Onkel jetzt?«
»Ja, Sir. Mit meiner Tante und Higashi, dem Chauffeur. Ich glaube nicht, daß er wirklich ein Chauffeur ist. Ich glaube, mein Onkel hat ihn angeheuert, damit er mich umbringt.«
»Du glaubst.«
»Ja, Sir.«
»Das ist eine sehr schwere Beschuldigung, die du aussprichst.«
»Ja, Sir. Ich brauche Schutz.«
»Wie alt bist du?«
Masao fand, das war eine seltsame Frage. »Achtzehn, Sir.«
Der Polizist nickte, als hätte die Antwort ihm eine Frage beantwortet. Er stand auf. »Na gut. Ich glaube, ich kann dir helfen. Wie heißt dein Onkel?«
»Sato. Teruo Sato.«
Der Detektiv schrieb irgend etwas auf einen Zettel. »Warte hier. Ich bin gleich wieder da. Möchtest du Kaffee?«
»Nein, Sir.« Masao wünschte sich nichts anderes, als daß dieser Alptraum zu Ende ging.
Lieutenant Brannigan blieb zehn Minuten fort, und als er wiederkam, sagte er: »Du brauchst dir keine Sorgen machen. Jetzt geht alles in Ordnung.«
Masao hatte auf einmal ein übermütiges Gefühl der Erleichterung. »Vielen, vielen Dank, Lieutenant. Und wenn Sie mir noch ein Flugticket nach Tokyo besorgen könnten. Ich werde auch dafür sorgen, daß Sie sofort ihr Geld zurückbekommen, sobald ich zu Hause bin.«
»Das wird nicht nötig sein«, sagte Lieutenant Brannigan. »Wir haben für solche Fälle eine Notkasse.«
»Was passiert mit meinem Onkel? Wird er gleich ins Gefängnis gesteckt?«
»Wir werden schon auf ihn aufpassen. Zuerst muß ein Prozeß stattfinden, weißt du.«
Das war Masao klar. Er hatte Perry Mason im Fernsehen gesehen. Das Gesetz war in Amerika mächtig. Masao wußte, daß er sich keine Sorgen zu machen brauchte. Er war in Sicherheit.
»Ja, Sir«, sagte Masao. »Ich weiß.«
Draußen auf dem Korridor wurden plötzlich Stimmen laut. Die Tür ging auf, und Teruo und Higashi stürzten in das Büro. Masao starrte sie ungläubig an.
Teruo sagte: »Masao! Deine Tante und ich haben uns solche Sorgen um dich gemacht! Wir dachten schon, dir sei etwas Furchtbares zugestoßen.« Er wandte sich an Lieutenant Brannigan: »Ich bin Ihnen dankbar, Lieutenant, daß Sie mich angerufen haben.«
Der Polizist hatte Masao also hereingelegt. Er hatte ihm seine Story nicht geglaubt. Er hatte ihn an der Nase herumgeführt und nur so getan, als stünde er auf seiner Seite.
Ich muß wahnsinnig gewesen sein, anzunehmen, daß er mir glauben würde, dachte Masao. Teruo ist ein angesehener Geschäftsmann, Direktor einer bedeutenden Firma, und ich beschuldige ihn des versuchten Mordes. Nicht einmal Perry Mason hätte mir meine Story geglaubt.
Lieutenant Brannigan sagte: »Wir haben jeden Monat ein Dutzend von solchen Ausreißern. Schwere Zeiten heute für die jungen Leute.«
Teruo nickte verständnisvoll. »Ich weiß. Und Masao leidet noch unter dem Schock. Hat er ihnen vom Tod seiner Eltern erzählt?«
Lieutenant Brannigan nickte. »Yeah. Und er hat mir eine ganz wilde Geschichte erzählt, von einem Chauffeur, der ihn umbringen und ersäufen will.«
Teruo warf Masao einen betrübten Blick zu. »Armer Junge. Er braucht einen Arzt. Ich will ihn sofort hinbringen.« Er trat auf Masao zu.
»Faß mich nicht an!« Masaos Augen waren vor Angst geweitet. Er drehte sich zu Lieutenant Brannigan um. »Bitte, Lieutenant! Sie werden mich umbringen.«
Der Detektiv schüttelte den Kopf. »Niemand wird dich umbringen. Dein Onkel will nur auf dich aufpassen. Du wirst sehen, jetzt wird alles gut. Fahr nur mit nach Hause, wo du hingehörst.«
Der riesige Chauffeur kam heran und packte Masaos Arm. »Komm jetzt«, befahl Higashi.
Masao machte einen letzten Versuch. »Lieutenant«, bettelte er, »erlauben Sie nicht, daß sie mich mitnehmen. Schicken Sie mich nach Japan zurück.«
»Wir werden dich nach Japan zurückbringen«, sagte Teruo beschwichtigend, »wo du gute Pflege finden wirst.« Er schaute dem Lieutenant in die Augen: »Ich danke Ihnen für Ihre Hilfe.«
»Bitte, gern geschehen. Ich hoffe, dem Jungen geht’s bald wieder gut.«
»Ich werde schon auf ihn aufpassen«, sagte Teruo.
Matt Brannigan schaute den beiden Männern nach, die Masao aus dem Büro führten. Der Junge tat ihm leid. Sieht ordentlich aus, der Bursche. Scheint auch ganz normal zu sein, außer dieser Wahnidee, daß sein Onkel ihn umbringen will. Das sieht man doch auf den ersten Blick, daß Mr. Sato ein angesehener Geschäftsmann ist. Der Bursche hat wahrscheinlich Drogen geschluckt. Vielleicht LSD oder Hasch. Der Onkel ist nicht zu beneiden.
Draußen führten Teruo und Higashi Masao zur Limousine. Higashis riesige Hand preßte Masaos Arm, daß es schmerzte. Keine Chance, sich zu befreien.
»Du solltest dich schämen, uns so etwas anzutun«, sagte Teruo wütend.
Masao wurde auf den Vordersitz gestoßen, zwischen Higashi und seinen Onkel. In Masaos Kopf überstürzten sich die Gedanken. Er würde sich nicht einfach umbringen lassen. In dem Augenblick, wo das Auto vor der Jagdhütte anhielt, würde er ausbrechen. Er konnte den beiden mit Leichtigkeit davonlaufen. Sie würden ihn nie einholen, wenn er …
Plötzlich spürte Masao einen scharfen Stich an seinem Arm und schaute hinunter. Sein Onkel steckte rasch eine Spritze weg.
»Was hast du getan?« fragte Masao ängstlich.
»Ich hab dir ein kleines Mittel gegeben, zur Beruhigung«, sagte Teruo beschwichtigend. »Du bist krank, Masao. Ich mache mir echte Sorgen um dich. Echte Sorgen, wirklich. Deine Tante und ich, wir haben vorhin darüber gesprochen. Wir hatten Angst, du könntest Dummheiten machen …«
Auf einmal schienen die Worte wie aus weiter Ferne zu kommen, und das Gesicht des Onkels verschwamm vor Masaos Augen. Sein Kopf wurde immer schwerer. Sie hatten ihn hereingelegt. Ihn unter Drogen gesetzt. Sie gaben ihm keine Chance, zu entkommen. Sie würden ihn ermorden, während er bewußtlos war.
»Du …« aber seine Zunge war schwer, und er konnte kein Wort mehr hervorbringen. Masao fielen die Augen zu.
Dann war nichts mehr.