Elftes Kapitel



»Wir sind gleich in Los Angeles«, verkündete Al.

Masao konnte es kaum glauben, daß sie ihr Ziel wahrhaftig erreicht hatten.

Die Fahrt durch das Land war faszinierend gewesen. Es war, wie sein Vater ihm gesagt hatte: Amerika hatte fünfzig Staaten, und jeder Staat war ein Land für sich. Masao hatte die Häfen von New York gesehen, die reichen Farmen von Indiana und Illinois, die weiten Prärien von Texas und die unfruchtbare Wüste von Arizona. Als sie dann nach Kalifornien kamen, wurde das Land grün und farbenprächtig und reich an Früchten und Blumen, und es erinnerte Masao an seine Heimat. In den letzten zwei Stunden waren die Farmen und satten Weiden zuerst von vereinzelten Häusern und Fabriken, dann von Kleinstädten und Vororten abgelöst worden. Und jetzt sahen sie schon die Wolkenkratzer von Los Angeles selbst. Die Skyline war nicht so gewaltig wie die von Manhattan, aber Masao fand, daß sie sauberer und moderner wirkte.

Zum erstenmal, seit dieser unglaubliche Alptraum angefangen hatte, fühlte sich Masao in Sicherheit. Er hatte es geschafft, seinem Onkel und der Polizei von New York zu entkommen und nach Kalifornien zu fahren. Kunio Hidaka würde ihm helfen. Wenn Mr. Hidaka erst die ganze Geschichte erfuhr, würde er wissen, was zu tun war.

Während der sechstägigen Reise hatte Masao den Fahrer Al und seinen Gehilfen Pete besser kennengelernt. Er hatte von ihren Frauen und ihren Kindern gehört und erfahren, wie die amerikanischen Arbeiter denken. Sie waren freundlich und großzügig, offen und unkompliziert. Masao hatte das Gefühl, daß es gut war, solche Freunde zu haben – aber schlimm, sie zum Feind zu haben. Sie lachten über Masaos Aussprache gewisser schwieriger Wörter, aber es war kein unfreundliches Lachen. »Du mußt noch dein r verbessern«, ermahnte ihn Pete. »Wie du es aussprichst, klingt es eher wie l. Wenn du zum Beispiel Reis sagst, klingt es wie Läus. Reis ist etwas zum Essen, Läuse kämmt man sich aus den Haaren!«

Masao überlegte, wie sie sich anstellen würden, Japanisch zu sprechen, aber er bemühte sich, die Wörter sorgfältiger auszusprechen. Eine Sache, die Masao bei seinen neuen Freunden nicht verstand, war ihre Einstellung zur Gewerkschaft. Sie gehörten zur berühmten Teamster’s Union.

»Die mächtigste Gewerkschaft der Welt«, prahlte Al. »Wir könnten dieses Land binnen vierundzwanzig Stunden auf die Knie zwingen.«

»Aber warum wollt ihr das?« fragte Masao.

»Ach, das ist nur so eine Redensart. Ich meine – unsere Arbeitgeber müssen uns alles geben, was wir verlangen.«

Masao versuchte, ihnen die Einstellung der Arbeiter in Japan zu erklären. »Es ist wie eine große Familie. Der Arbeiter ist sein Leben lang gut versorgt. Er weiß, daß er nicht entlassen wird. Der Wohlstand des Unternehmens ist sein Wohlstand. Er ist sehr stolz auf seine Arbeit.«

»Andre Völker, andre Sitten«, sagte Pete.

Damit war das Gespräch beendet.


Als die Hochhäuser der City von Los Angeles vor ihnen aufragten, sagte Al: »Wir kommen genau nach Fahrplan.«

Der Lastzug verließ die Autobahn und bog in die San Pedro Street ein. Ein paar Minuten später rollten sie auf einen riesigen Verladehof. Al bremste den mächtigen Truck weich ab und schaltete den Motor aus.

Er drehte sich zu Masao um. »Kommst du jetzt klar, Junge?«

»Ja, vielen Dank. Ich komm jetzt alleine weiter.«

»Laß dich nicht erwischen«, sagte Pete.

Masao schaute ihn erschrocken an. »Mich erwischen lassen?«

»Du weißt schon. Zurück in die Schule.«

»Oh«, stotterte Masao. »Ich … ich werd schon aufpassen.« Er hatte die Story ganz vergessen, die er ihnen erzählt hatte.

Er kletterte aus der Führerkanzel. »Ich möchte euch beiden vielmals danken. Ich werde euch immer dankbar sein.«

Er meinte es aufrichtiger, als sie ahnen konnten. Sie hatten ihm wahrscheinlich das Leben gerettet. Masao wollte irgendwie tiefe Dankbarkeit zeigen. »Falls ihr jemals nach Tokyo kommt«, sagte er, »wäre es mir eine Ehre, euch zu bewirten.«

Die beiden Männer grinsten über die Idee, daß dieses Kerlchen sie bewirten wollte.

»Wirklich nett von dir«, sagte Al. »Wir stecken’s uns an den Hut.«

»An den Hut?«

»Yeah. Ich meine, wir heben’s uns für ein andermal auf. Paß gut auf dich auf!«

»Ich will mein Bestes tun«, versprach Masao. Jetzt war es ja nicht mehr schwer. Er hatte es geschafft.


Zehn Meter weiter stapelte ein japanischer Arbeiter Matsumoto-Fernsehgeräte in einen Lieferwagen. Er unterbrach seine Arbeit und beobachtete, wie Masao aus der Führerkanzel kletterte. Er starrte lange hinüber, dann griff er in seine Tasche und holte ein Foto heraus. Noch einmal musterte er Masao, um sicherzugehen, daß er keinen Irrtum beging. Dann eilte der Arbeiter über den Platz zu einer Telefonzelle.

Er wählte die Fernsprechvermittlung und sagte: »Ich möchte ein Direkt-Gespräch nach New York anmelden, mit Mr. Teruo Sato …«


Hollywood war ganz anders, als Masao es sich vorgestellt hatte. Er hatte immer gemeint, es sei der Gipfel von Ruhm und Glanz, das Land von John Wayne und Humphrey Bogart und James Cagney und Gary Grant und Charlie Chaplin.

Die Wirklichkeit war enttäuschend. Sicher, da waren die Namen der berühmten Film-Stars – in die Bürgersteige der Stadt eingelassen. Die Namen von Marilyn Monroe und Greta Garbo und Clint Eastwood und Bruce Lee. Aber der Hollywood Boulevard war schmutzig und verwahrlost. Er war von kleinen Arkaden und Pizzerias und Astrologenbuden und schäbigen Bars eingesäumt. Es war wie eine billige Version der Ginza von Tokyo. Aber zumindest, dachte Masao, wird mich hier niemand suchen.

Er ging in ein Drugstore, wo es eine Telefonzelle gab.

»Entschuldigung«, sagte Masao zu dem Mädchen hinter der Theke. »Ich möchte eine Telefonnummer finden. Wie macht man das?«

»Einfach die Auskunft anrufen. 411.«

Ach so. Es war genau wie in New York. »Vielen Dank.«

Masao trat in die Telefonzelle und wählte die Nummer. Eine Stimme sagte: »Hier Auskunft. Kann ich Ihnen behilflich sein?«

»Ja, danke«, antwortete Masao. »Ich suche die Telefonnummer der Matsumoto-Fabrik. Sie muß in North-Hollywood liegen.«

»Buchstabieren Sie bitte den Namen.«

Masao buchstabierte. Ein paar Sekunden später hatte Masao die Nummer. Er drückte kurz den Hörer auf die Gabel und wählte erneut.

Eine fröhliche Stimme sagte: »Guten Morgen, hier Matsumoto Industries.«

Masao spürte, wie sein Herz schneller schlug. »Ich möchte mit Mr. Kunio Hidaka sprechen, bitte.«

»Moment. Ich verbinde.«

Gleich darauf sagte eine andere Stimme: »Hier Büro von Mr. Hidaka.«

Masao konnte es kaum erwarten: »Bitte, kann ich mit Mr. Hidaka sprechen?«

»Tut mir leid. Mr. Hidaka ist nicht in der Stadt. Kann ich Ihnen helfen?«

Masaos Herz setzte beinahe aus. »Ich …« Er zögerte. Er mußte Mr. Hidaka alles selbst erklären. »Wann kommt er denn wieder?«

»Wir erwarten ihn am Freitag zurück.«

Drei ganze Tage! »Könnten Sie mir, bitte, seine private Telefonnummer geben? Es ist sehr wichtig.«

»Tut mir leid. Solche Auskünfte darf ich Ihnen nicht geben. Wollen Sie eine Nachricht hinterlassen?«

»Nein. Ich werde … ich werde wieder anrufen.«

Mutlos verließ Masao die Telefonzelle. Noch drei Tage Warten! Nach all der Spannung kam es ihm vor wie lebenslänglich. Wie hatte er sich darauf gefreut, Mr. Hidaka zu sehen, ihm alles zu erklären, was passiert war, und diesem Alptraum ein Ende zu bereiten. Na ja, er konnte nichts anderes tun, als zu warten. Er mußte sich zwingen, geduldig zu sein. Wenigstens war er einstweilen in Sicherheit, hier in Los Angeles. Teruo suchte ihn wahrscheinlich noch immer in New York. Er würde irgendwo ein kleines Hotel finden und sich die Sehenswürdigkeiten der Stadt anschauen, bis er Mr. Hidaka besuchen konnte.

Zwei Dinge vor allem wollte er sehen: Disneyland und die Universal-Studios.


Dreitausend Meilen entfernt, in New York, sprach Teruo Sato ins Telefon. Seine Stimme war kalt. »Ich habe soeben einen Anruf erhalten. Der Junge hält sich in Los Angeles auf. Heuern Sie so viele Männer an, wie Sie brauchen. Es gibt drei Orte, auf die Sie die Suche konzentrieren müssen: Kleine, abgelegene Hotels, Disneyland und die Universal-Studios.«

Teruo hätte noch eine dritte Adresse erwähnen können, aber er tat es nicht. Um diese Sache wollte er sich selber kümmern. Es gab nur einen Menschen in Kalifornien, den Masao aufsuchen konnte: Kunio Hidaka.

Teruo würde als erster dort sein.


Am Abend fand Masao ein kleines Hotel in Hollywood, in einer Nebenstraße des Cahuenga Boulevard, wo er die Nacht verbringen wollte.

»Wie lange werden Sie bleiben?« fragte der Portier.

»Eine Woche.«

Am nächsten Morgen verließ Masao zeitig das Hotel. Fünf Minuten nachdem er gegangen war, kamen zwei Privatdetektive in die Lobby, legten dem Portier Masaos Foto vor und fragten, ob er ihn identifizieren könnte.

»Klar«, sagte der Portier. »Sie haben ihn um ein Haar verpaßt.« Er blätterte in seiner Kartei. »Er heißt Masao Harada. Er will eine Woche bleiben.«

Die beiden Privatdetektive wechselten einen zufriedenen Blick.

»Wir werden warten«, sagten sie.

Sie setzten sich in den Hintergrund der Lobby, wo sie vom Eingang her nicht zu sehen waren.

Sie würden lange warten müssen. Masao wußte nicht, daß er jetzt auch in Kalifornien gejagt wurde, aber sein Instinkt sollte ihn retten. Er hatte gar nicht die Absicht, in dieses Hotel zurückzukehren. Er hatte vor, jede Nacht in einem anderen Hotel zu schlafen, damit niemand seine Spur aufnehmen konnte.

Er kaufte sich ein Paar Unterhosen, Jeans und ein T-Shirt, ein Taschentuch und frische Socken, aber er ließ die alten Klamotten gleich in der Umkleidekabine des Kaufhauses liegen. Er hatte sowieso genug mit sich herumzuschleppen.

Er frühstückte in einer Crêperie am Sunset Boulevard und erkundigte sich, wie man nach Disneyland kam. Er hatte drei Tage vor sich, und er war entschlossen, sich die Zeit so gut wie möglich zu vertreiben. Es hatte ja keinen Zweck, im Hotel zu sitzen und zu grübeln.

Dreißig Minuten später saß er im Bus nach Disneyland.


Hollywood war zwar eine Enttäuschung, aber Disneyland übertraf Masaos tollste Erwartungen. Es war ein dreißig Hektar großes Märchenland, eine verzauberte Welt aus lauter verzauberten Welten.

Es gab beinahe sechstausend Angestellte, die diesen ewigen Jahrmarkt in Schwung hielten, und vierundfünfzig Attraktionen. Masao wußte nicht, wo er beginnen sollte. Er fing seine Besichtigungstour in der Main Street an, durch die er in einer mit Pferden bespannten Kutsche rollte. Es war eine andere Welt, in einem anderen Jahrhundert.

Er nahm an der Dschungel-Safari teil, wo Krokodile nach dem Boot schnappten, und kletterte in das Schweizer Familien-Baumhaus.

Auf dem New Orleans Square besuchte er das Geisterschloß und staunte, wie geschickt die unheimlichen Effekte ins Werk gesetzt waren.

Dann kam Fantasyland, und Masao fuhr mit dem Bobschlitten vom Matterhorn ab und schipperte mit dem Motorboot über den See und wanderte durch die zauberhafte Kleine Welt.

Dann fuhr er mit der Himmelsfähre ins Zukunftsland und machte eine Reise im Unterseeboot.

Als der Vergnügungspark seine Pforten schloß, war Masao erschöpft. Das Bärenland und das Grenzerland hatte er auslassen müssen, aber er würde ja eines Tages wiederkommen.

Masao ahnte gar nicht, was für ein Glück er gehabt hatte, denn im Disneyland-Park suchten ihn bereits ein Dutzend Männer, und er war ihnen nur durch Zufall im Gewimmel der Menschenmenge entgangen.

Morgen, dachte Masao, will ich die Tour durch die Universal-Studios machen.

Dabei hatte er, wie sich zeigen sollte, weniger Glück.


Mit dem Bus nach Hollywood zurückgekehrt, fand Masao ein kleines Hotel, nicht weit vom Sunset Strip. In Disneyland hatte er den ganzen Nachmittag genascht: Hot Dogs und Popcorn und Eiskrem. Jetzt aber hatte er richtigen Hunger. Masao setzte sich wieder in ein deutsches Bierlokal, wo ihn wahrscheinlich niemand suchen würde.

Gegenüber, auf der anderen Straßenseite des Sunset Strip, war das Whisky-a-Go-Go, eine Diskothek. Einer Eingebung folgend, ging Masao hinein. Es war wie ein Gang durch die Hölle. Stroboskop-Blitze zuckten durch den Saal, und über die Lautsprecher dröhnte der Disko-Beat so gewaltig, daß man keinen klaren Gedanken fassen konnte. Auf einer erhöhten Plattform wirbelten zwei halbnackte Mädchen umher, und auf der Tanzfläche davor übten ein Dutzend Pärchen die neuesten Schritte.

Ein attraktives japanisches Mädchen nickte Masao zu. »Magst du tanzen?«

Masao war in Versuchung, ja zu sagen, aber da gab es zwei Probleme: Erstens ging er gerne in Diskos, und das wußte Teruo wahrscheinlich. Und zweitens konnte auch dieses Mädchen eine Spionin sein, die ihm nachstellte. Darum sagte Masao höflich: »Nein, danke. Ich wollte sowieso gerade gehen.«

Er lief ein weites Stück durch die Straßen, bis er sicher war, daß niemand ihm folgte, und kehrte dann in sein Hotel zurück.

Erschöpft fiel er ins Bett, aber er konnte nicht einschlafen. Noch zwei Tage, bis Kunio Hidaka wiederkam. Ich werde morgen früh noch einmal anrufen, dachte Masao. Vielleicht können sie ihm inzwischen eine Nachricht von mir ausrichten.

Er dachte an Al und Pete und an die lange Fahrt quer durch die Vereinigten Staaten.

Er dachte an das Matterhorn und die Reise im Unterseeboot.

Er dachte an das japanische Mädchen in der Disko. War sie eine von ihnen?

Er dachte an Sanae.

Der Schlaf wollte nicht kommen.


Sanae konnte nicht einschlafen. Sie lag im Dunkel und warf sich hin und her. Und endlich, als sie es nicht mehr aushalten konnte, zog sie sich einen Bademantel an und ging in die Küche, sorgsam bedacht, Vater und Mutter nicht aufzuwecken. Sie kochte sich eine Tasse Kaffee, auf die sie gar keinen Durst hatte, und setzte sich an den Tisch, um ihn mit kleinen Schlucken zu trinken. Sie überlegte, was sie tun sollte. Am Nachmittag waren alle möglichen wilden Gerüchte durch die Fabrik geschwirrt.

»Wißt ihr schon«, hatte der Mann, der neben ihr arbeitete, gefragt, »daß der Junge, der hier war, angeblich Masao Matsumoto ist? Ich habe gehört, daß Mr. Sato der neue Besitzer sein soll.«

Sanae hatte einen gewaltigen Schrecken bekommen. Der Polizist hatte also die Wahrheit gesagt! Und wenn er in diesem Fall die Wahrheit gesagt hatte, dann war vielleicht auch alles andere, was er gesagt hatte, wahr – daß Masao in Lebensgefahr schwebte, daß Masao getötet werden würde, falls sein Onkel ihn vor der Polizei aufspürte. Und sie wäre schuld daran. Andererseits – wenn es ein Trick war? Wie, wenn Lieutenant Matt Brannigan die Absicht hatte, Masao wegen Mordes ins Gefängnis zu stecken?

Sanae starrte das Telefon an und wußte nicht, was sie tun sollte. Sie wußte nur, daß das Leben eines Menschen, den sie sehr gern hatte, in ihrer Hand lag. Sie betrachtete die Visitenkarte, die der Detektiv ihr gegeben hatte. Sollten Sie sich doch noch an etwas erinnern, rufen Sie mich bitte an. Zweimal streckte sie die Hand nach dem Telefonhörer aus, und zweimal zog sie die Hand wieder zurück. Sie wagte nicht, einen Fehler zu machen. Wer waren Masaos Freunde und wer waren seine Feinde?


Am Morgen verließ Masao sein Hotel und suchte eine Telefonzelle. Es gab ein Telefon in der Lobby, aber Telefone konnten abgehört werden. Er wählte die Nummer von Matsumoto Industries und wurde mit Kunio Hidakas Büro verbunden.

»Ich habe gestern schon einmal angerufen«, sagte Masao. »Ich muß ganz dringend Mr. Hidaka sprechen. Ich habe gehofft, er ist vielleicht früher zurückgekehrt.«

»Tut mir leid«, sagte die Sekretärin. »Er ist erst morgen wieder hier.«

Noch ein Tag verloren!

»Falls Sie ihm eine Nachricht hinterlassen wollen …«

»Vielen Dank. Ich rufe morgen früh wieder an.« Er mußte eine Möglichkeit finden, sich noch einmal einen Tag zu verstecken. In vierundzwanzig Stunden würde alles vorbei sein.

Er würde die Tour durch die Universal-Studios machen. Dort konnte er in der Menge untertauchen.

Sie warteten auf die Züge der Glamour-Tram, Hunderte von Touristen aus allen Teilen der Welt, und alle wollten die Universal-Filmstudios sehen. Da waren Deutsche und Italiener und Franzosen und Japaner und Schweden, und alle schwatzten in ihren Muttersprachen drauflos.

Masao stand inmitten der wartenden Menge. Er fühlte sich in Sicherheit.

Eine Fremdenführerin sagte: »Machen Sie sich bereit, Herrschaften. Steigen Sie ein in die Glamour-Tram und nehmen Sie Ihre Plätze ein. Das Abenteuer beginnt.«

Die Glamour-Tram bestand aus drei orange und weiß gestrichenen Waggons, die aneinandergekoppelt waren. Sie hatten gestreifte Baldachin-Dächer und offene Seiten. Als der Zug hielt, stieg Masao ein und suchte sich einen Sitzplatz. Verstohlen musterte er die anderen Passagiere, aber keiner schien sich besonders für ihn zu interessieren. Die Bahn ruckte an, und die Fremdenführerin, ein attraktives junges Mädchen, begann mit ihrer Ansprache.

»Willkommen in den Universal-Studios. Bis zum heutigen Tag hatten wir 26 Millionen Besucher, und wir freuen uns, Sie heute begrüßen zu dürfen. Die Universal-Studios wurden im Jahr 1915 eröffnet, als Carl Laemmle …«

Masao hörte nicht weiter zu. Er beobachtete die unglaublichen Szenen, die sich draußen abspielten. Er sah Schauspieler, die in Ritterrüstungen einherschritten, Mädchen in Bikinis und Männer in Cowboy-Kostümen. Die Bahn kurvte um ein abgelegenes Gelände, wo ein altes Herrenhaus im Stil der Südstaaten stand. Die Vorderseite des Herrenhauses sah prächtig aus, aber als die Bahn um die Ecke bog, sah Masao, daß das ganze Gebäude nur eine Fassade aus Brettern und Balken war.

Dann ratterte der Zug über eine Holzbrücke, und als sie in der Mitte angelangt war, sank die Brücke in sich zusammen. Trotzdem erreichte die Tram sicher das andere Ufer, und jetzt richtete die Brücke sich ganz von selbst in ihre ursprüngliche Lage auf.

Sie kamen an einem friedlichen See mit einem kleinen Dorf im Hintergrund vorbei.

»Dies ist Amityville«, erklärte die Führerin. Sie deutete auf die Mitte der Wasserfläche. »Passen Sie auf!« Alle Augen wandten sich dem unbestimmten Etwas zu, das auf die Tram zugeschossen kam. »Es ist der Weiße Hai!« keuchten die Touristen, als der mechanische Haifisch neben der Bahn das Wasser peitschte. Dann tauchte er wieder unter und griff die Figur eines Fischers in seinem Ruderboot an, das er zum Kentern brachte. Masao hatte den Film Der Weiße Hai gesehen und konnte über das kleine Drama lachen.

Jetzt näherten sie sich einem anderen See, und die Tram ratterte direkt auf das Wasser zu. Die Passagiere wurden allmählich nervös.

»Dies ist das Rote Meer«, erklärte die Führerin, »und wir werden mitten hindurchfahren.« Als die Tram über die Uferböschung brauste, teilten sich wie durch Wunderkraft vor ihr die Wasser.

»Dies ist ein wahres elektronisches Wunderwerk, denn es werden 40 000 Gallonen Wasser in weniger als drei Minuten durch einen verborgenen Druckkanal aus einem See von 200 m Länge, 50 m Breite und 2 m Tiefe abgesaugt. Aber mit der Glamour-Tram ist die Fahrt durchs Rote Meer viel bequemer als in biblischen Zeiten.«

Später, im Lauf des Vormittags, sah Masao die Stuntmen aus brennenden Häusern springen; er geriet in den Krieg der Sterne, wo Roboter ihre Laserkanonen auf ihn und die anderen Touristen abfeuerten; er wurde beinah unter einer Gletscher-Lawine begraben – und er besichtigte Robert Wagners Garderobe.

Aber dann, im Visitors’ Entertainment Center, begannen die Schwierigkeiten. Masao bewunderte gerade eine Tierdressur mit Vögeln und Mäusen, als er spürte, daß er beobachtet wurde. Er drehte sich unauffällig um und begegnete dem Blick eines Mannes, der neben dem Eingang stand. Masao hatte in den letzten Tagen ein scharfes Gespür für die Gefahr entwickelt, und er wußte sofort, daß der Mann ein Detektiv war. Es standen noch zwei andere Männer bei ihm, und auf ein Zeichen des Detektivs gingen sie jetzt los, um auch die anderen Ausgänge des Saales zu besetzen. Der Detektiv drängte sich durch die Menge – zu der Stelle, wo Masao saß. Es gab keinen Ausweg mehr.

Der Dressur-Akt ging gerade zu Ende. Die Zuschauer standen auf und klatschten Beifall. Die Führerin sagte: »Alle bitte hier entlang.« Und die Touristen drängelten zu den Ausgängen.

Masao rannte in die entgegengesetzte Richtung, zur Bühne. Weit hinten sah er den Detektiv, der sich durch die Menschenmenge boxte, um ihn einzuholen. Masao hechtete auf die Bühne. Der Dompteur sagte: »Du hast dich wohl verlaufen. Dies ist …«

»Entschuldigen Sie, Sir.« Und schon fand sich Masao hinter der Bühne wieder, in einem Dschungel von Requisiten und zwischen Käfigen voller Tiere. Er rannte einen langen Korridor hinab und gelangte durch eine Tür wieder ins strahlende Sonnenlicht. Ein Blick über die Schulter zeigte ihm, daß auch der Detektiv durch die Tür gesprungen kam.

Jetzt sah er ihn.

»Stehenbleiben!« schrie er.

Masao fing an zu rennen. Er bog um die Ecke und stieß beinahe gegen ein Kamel.

»Paß doch auf, wohin du trampelst!« brüllte der Kameltreiber.

Dort vorne erhob sich ein Betonbau mit einer roten Blitzlaterne über dem Eingang. Masao riß die Tür auf und stand vor einer zweiten Tür. Er drückte sie auf und lief auf eine breite Theaterbühne hinaus. Nicht weit entfernt stand eine größere Menschenansammlung beisammen, und Masao mischte sich unter sie, um sich vor seinen Verfolgern zu verstecken. Gleich neben ihm stand eine alte Dame. Plötzlich schnappte ein schäbig gekleideter Mann ihre Handtasche und rannte davon.

»Haltet den Dieb!« kreischte die Frau.

Ohne Überlegung hechtete Masao dem Mann in die Kniekehlen und riß ihn zu Boden. Der Mann schaute Masao ungläubig an und rief: »Was fällt dir eigentlich ein? Das steht doch gar nicht im Drehbuch!«

Eine wütende Stimme schrie: »Klappe!« Und als Masao sich umdrehte, blickte er direkt in eine Filmkamera.

Der Regisseur brüllte: »Schafft den Kerl weg! Wir müssen wieder von vorn anfangen!«

Gehetzt rannte Masao von der Bühne.

Die Straßen zwischen den Studios waren voller Menschen, aber Masao fühlte sich nicht sicher. Seine Feinde wußten, er war hier. Und gerade, als er dies dachte, sah er den Detektiv um die nächste Ecke biegen.

Rasch schlüpfte Masao in ein großes Gebäude, das wie ein Lagerhaus aussah. Er fand sich in einem unheimlichen Museum wieder, bis unters Dach angefüllt mit Requisiten und Kulissenteilen. Da gab es alte Schwerter und moderne Laserkanonen, Feuerwehrautos und Flugzeugrümpfe. Und es gab alte Möbel aus allen Jahrhunderten und Kostüme aller Epochen. Masao duckte sich tief in den Schatten und horchte. Sein Herz klopfte laut. Er hörte Schritte am Eingang, dann tappten sie weiter. Der Detektiv ging wahrscheinlich Hilfe holen.

Ich muß hier raus, dachte Masao. Aber wie? In wenigen Minuten werden sie alle Ausgänge der Studios bewachen. Sie hatten ihn eingekesselt. Sie würden ihn schnappen, sobald er zu verschwinden versuchte. Er durfte es nicht zulassen! Er hatte doch eine Verabredung mit Kunio Hidaka.


Alle Ausgänge der Universal-Studios wurden scharf bewacht. Privatdetektive, jeder mit Masaos Foto bewaffnet, überprüften die Gesichter aller Besucher, die das Gelände verließen. Es war Mittagszeit, und viele Schauspieler schlenderten über die Straße zu den kleinen Restaurants im Umkreis der Universal-Studios. Der Detektiv, der Masao als erster entdeckt hatte, staunte über die Vielfalt der Kostüme. Er sah einen indischen Prinzen in prächtiger Robe durch die Pforte wandeln, und hinter ihm einen nubischen Sklaven; es kamen ein Riese und ein Lilliputaner; ein biblischer Patriarch und ein Clown mit bemaltem Gesicht. Der Detektiv achtete nicht auf den Clown, der durchs Tor hinausspazierte. Er war zu eifrig damit beschäftigt, nach Masao Ausschau zu halten.

In einer öffentlichen Toilette zog Masao das Clown-Kostüm aus und wusch sich die Schminke vom Gesicht. Er wußte jetzt, daß Teruos Männer überall waren und nach ihm fahndeten. Er mußte ein neues Hotel finden und durfte sich bis zum nächsten Morgen nicht aus dem Zimmer rühren – bis er Kunio Hidaka anrufen konnte. Sie würden ihn wahrscheinlich in der Umgebung von Hollywood suchen, darum nahm Masao einen Bus nach Glendale und fand dort in einem kleinen Hotel Zuflucht.

Er konnte den nächsten Morgen kaum erwarten.

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