Sachiko schaute sich zufällig die Abendnachrichten im Fernsehen an, und so entdeckte sie Masao bei der Siegerehrung nach dem Volkslauf. Sie rief ihren Mann herbei, und beide beobachteten Masao auf dem Bildschirm.
Teruo erinnerte sich gleich, wie er morgens an den Läufern vorbeigefahren war. Also hatte sich Masao doch dort versteckt! So nahe war Teruo daran gewesen, ihn zu erwischen! Er hätte nicht gedacht, daß sich sein Neffe so lange vor ihm verbergen konnte. Immerhin war der Junge ohne Geld und ohne Kleider. Er hatte keine Freunde und wußte nicht, wohin er sich wenden sollte. Es war also nur eine Frage der Zeit, bis man ihn finden würde. Aber Teruo hatte keine Zeit zu verlieren. Er mußte Masao loswerden. Es war an der Zeit, Hilfe einzuschalten.
Da gab es einen Privatdetektiv, von dem Teruo Sato erfahren hatte. Ein schlauer, hartgesottener Profi namens Sam Collins, der für Geld alles machte. Er stand in dem Ruf, rücksichtslos vorzugehen und immer ans Ziel zu gelangen. Das war eine Kombination von Eigenschaften, die Teruo Sato imponierte. Er nahm den Telefonhörer ab und wählte Sam Collins’ Privatnummer.
Masao hatte geglaubt, er werde sich in Manhatten verloren fühlen, aber irgendwie, auf seltsame Art, kam ihm alles vertraut vor. Die großen Gebäude und der Lärm und die Menschenmenge und das Verkehrsgewühl – das alles erinnerte ihn an Tokyo. Und weil Masao viele amerikanische Filme gesehen hatte, erkannte er die Radio City Music Hall, das Empire State Building und das Rockefeller Center gleich wieder. Zum erstenmal, seit er vor seinem Onkel davongelaufen war, fühlte sich Masao ruhiger. Hier in der großen Stadt müßte es beinahe möglich sein, unentdeckt zu bleiben. Er verschwand in der treibenden Menge, zwischen all den Menschen, die durch die Straßen eilten – auf dem Weg zur Arbeit, zu Freunden, zur Untergrundbahn.
Masao schlenderte den Broadway entlang, er staunte über die großen Leuchtschriften an den Fassaden und bewunderte die Auslagen in den Schaufenstern. Er entdeckte, daß viele Geräte in den Schaufenstern aus Japan stammten – Transistorradios und Kameras, Fernseher und Kassettenrekorder. Und viele waren von Matsumoto Industries hergestellt. Das erfüllte Masao mit Stolz – und ein wenig mit Angst.
Er lauschte auf die Gespräche der Menschen um ihn her – und alle schienen sie verschiedene Sprachen zu sprechen. Er hatte gehört, daß Amerika ein Schmelztiegel der Völker sei, und das stimmte. Hierher kamen Menschen aus allen Teilen der Welt, und alle brachten sie ihre Sitten und Traditionen und ihre eigene Sprache mit. In den Schaufenstern hingen Werbetafeln in Spanisch und Französisch, in Deutsch, Italienisch und Japanisch.
Es wurde schon dunkel, und Masao wußte immer noch nicht, wo er die Nacht verbringen sollte. Er stellte sich in eine Toreinfahrt und zählte sein Geld. Er hatte noch sechzig Dollar. Er würde sehr sparsam mit seinem Geld umgehen müssen. Er mußte sich einen Job suchen und sein weiteres Vorgehen sorgfältig planen. Wen konnte er um Hilfe bitten?
Endlich fiel ihm Kunio Hidaka ein, der Chef der Amerika-Filiale von Matsumoto Industries. Aber sein Büro befand sich in Los Angeles, Kalifornien, am anderen Ende des Kontinents. Masao mußte eine Möglichkeit finden, hinzufahren. Mr. Hidaka war ein Freund. Er würde ihm Glauben schenken und ihm helfen. Er hatte Masaos Vater geliebt und war der Familie Matsumoto treu ergeben. Schon der Gedanke an ihn bewirkte, daß sich Masao besser fühlte. Er würde in New York bleiben, bis er genug Geld verdient hatte, um nach Kalifornien zu fahren. Es konnte nicht schwer sein, einen Job zu finden, denn er war bereit, alles zu machen – Geschirr zu waschen, Botengänge zu erledigen, Fußböden zu scheuern. Das einzig Wichtige war jetzt, am Leben zu bleiben. Jeder Tag, der verging, brachte ihm neue Sicherheit. Irgendwann würde dann sein Onkel die Suche nach ihm als ergebnislos abbrechen.
Teruo Sato war ein Mann, der sich nicht so leicht geschlagen gab. Bedächtig wie ein Schachmeister hatte er jeden Zug seines Spiels geplant, und er war nicht bereit, dieses Spiel jetzt aufzugeben.
Teruo hatte eine Verabredung mit Sam Collins. Der Privatdetektiv erfüllte vollauf Teruos Erwartungen. Collins war ein breitschultriger, zielstrebig wirkender Mann mit flinken Knopfaugen und dem zermatschten Gesicht eines Ex-Boxers. Ein Ohr war total verunstaltet, und seine Nase war so oft gebrochen, daß die Ärzte es schließlich aufgegeben hatten, sie zu operieren.
»Sie sind mir bestens empfohlen worden«, sagte Teruo. »Ich brauche jemanden, der verschwiegen ist.«
»Das ist mein Geschäftsprinzip. Ich mach meinen Job und halte den Mund.«
»Ausgezeichnet. Sie sollen einen Jungen finden. Meinen Neffen. Er hatte einen Nervenzusammenbruch. Ich will, daß er gefunden und hierher gebracht wird.«
»Ist er ausgerissen?«
»Das geht Sie nichts an.«
»Ich dachte nur, es könnte nützlich sein, zu wissen
»Ich werde Ihnen dieses Foto überlassen. Er hat keine Freunde und kein Geld. Er kann nicht sehr weit gekommen sein.«
»Ein japanischer Junge, der durch die Straßen läuft, ist nicht schwer zu entdecken.«
Teruo musterte Sam Collins. »Machen Sie nicht den Fehler, seine Intelligenz zu unterschätzen. Er wird sich verstecken.«
»Okay. Vielleicht wird es etwas dauern. Falls er …«
»Nein. Ich will, daß er schnellstens gefunden wird. Ich werde Ihnen das doppelte Honorar zahlen, und außerdem eine Prämie von fünfzigtausend Dollar, wenn Sie den Jungen schnell finden.«
Der Detektiv schluckte. »Fünfzig …?«
»Ja. Und da ist noch eines, was Sie wissen sollten. Mein Neffe hat bereits einen Mann ermordet. Falls Sie ihn in Selbstverteidigung töten müßten …« Teruo machte eine Pause und setzte vorsichtig hinzu: »… wird niemand Ihnen einen Vorwurf machen. Die Prämie gehört Ihnen trotzdem.«
Sam Collins machte ein nachdenkliches Gesicht. »Ich werde tausend Dollar Vorschuß brauchen.«
»Natürlich. Nur, finden Sie ihn!«
»Vertrauen Sie mir.«
Aber Teruo vertraute niemandem. Nachdem der Privatdetektiv gegangen war, schloß Teruo Sato die Augen und blieb regungslos sitzen. Er plante seinen nächsten Zug. Er versetzte sich an die Stelle seines Neffen. Wo würde er sich verstecken? In Manhattan natürlich, mit seiner Zehn-Millionen-Bevölkerung. Dort mußte man den Jungen suchen. Ein einziger Privatdetektiv, auch wenn er clever war, konnte ihn wahrscheinlich nicht finden. Jedenfalls nicht schnell genug. Es mußte einen anderen Weg geben. Masao mußte Arbeit suchen. Natürlich! Die Versicherungskarte. Teruo war ein Meister des Schachspiels, und er dachte auch an diese Möglichkeit. Er lächelte. Es war ein wunderbarer Plan, einfach und narrensicher. Masao würde binnen weniger Stunden gefangen sein.
Manhatten bei Nacht war faszinierend. Es funkelte mit Millionen Lichtern. Da waren die Lichter der Wolkenkratzer und die Leuchtreklamen, riesige Neonschriften und hell erleuchtete Schaufenster, und dazu die Scheinwerfer von abertausend Autos.
Masao schaute den Rollschuhläufern vor dem Rockefeller Center zu, er lief durch den Theater-Distrikt am Broadway, wo die großen Shows liefen. Er sah das berühmte Sardi, wo die Stars der Bühne zu Abend speisen, er bestaunte die Public Library, die größte Bibliothek der Welt, und die Steinlöwen auf dem Platz davor. Er bewunderte die Schaufenster teurer Modegeschäfte an der Fifth Avenue, bekannte Namen wie Lord & Taylor, Bergdorf-Goodman und Saks, und er mußte an seine Mutter denken, die viel Spaß daran gehabt hätte, hier einen Einkaufsbummel zu machen. Aber sie war für immer von ihm gegangen, genau wie sein Vater. Ein furchtbares Gefühl tiefster Verlassenheit überwältigte Masao. Er mußte am Leben bleiben. Wenn nicht seinetwegen, dann wenigstens ihretwegen.
Auf einmal bekam er Hunger, und erst jetzt merkte er, daß die normale Essenszeit längst vorbei war. Auf der langen Seventh Avenue gab es Hunderte von Restaurants, zwischen denen Masao wählen konnte. Er ging ins McDonald’s – mit dem goldenen ›M‹. Es war beinah wie zu Hause in Tokyo.
»Ich möchte einen Hamburger, bitte.«
»Wiewillst’nhaben?«
Es war nicht wie zu Hause in Tokyo.
Er starrte die Kellnerin an. »Wie bitte?«
»Wiewillst’nhaben? Leichtmittelscharf?«
Er hatte keine Ahnung, was sie sagte. Er sah zu einem kleinen Jungen hinüber, der neben ihm einen Hamburger verdrückte. »Ich … ich möchte so einen, bitte.«
»Gut.« Sie drehte sich um und rief dem Küchenchef zu: »Einen Burger, leicht.«
Aha! Sie hatte also gefragt, wie er seinen Hamburger gebraten haben wollte.
»Fritz?«
Wieder war Masao verwirrt. Was bedeutete ›Fritz‹? Jetzt wurde ein Teller voll Pommes frites vor den kleinen Jungen hingestellt. Masao ließ es auf einen Versuch ankommen: »Fritz«, sagte er.
Er hatte recht gehabt, wie sich zeigte. Er bestellte sich noch ein Sandwich und noch einmal Fritten und krönte sein Abendbrot mit einem Schoko-Milchshake.
»Entschuldigung«, sagte er zu der Kellnerin. »Ich suche ein Hotel. Nichts Teures. Könnten Sie mir vielleicht eins vorschlagen?«
»Achdagibts’nemenge …«
Masao unterbrach sie. »Entschuldigung. Könnten Sie etwas langsamer sprechen, bitte?«
»O ja, sicher. Es gibt eine Menge Hotels hier in der Gegend, aber manche sind ein bißchen gefährlich. Es wäre besser, wenn du zur East Side gehst.«
»Gut, vielen Dank.«
Masao ging und machte sich auf den Weg zur East Side. Es gab überall Bushaltestellen an den Straßen, aber er wollte lieber laufen. Es gab ja so viel zu sehen. Die Stadt war so faszinierend, daß Masao beinah die Gefahr vergaß, in der er schwebte. Man würde Jahre brauchen, dachte Masao, um wirklich ganz New York kennenzulernen. Morgen werde ich mich nach einem Job umsehen. Und bald wird Teruo mich vergessen haben. Ich werde einen Weg finden, ihn zu besiegen.
In einer Nebenstraße der Lexington Avenue fand er ein sauberes kleines Hotel und beschloß, einen Versuch zu wagen. Es gab ja Tausende von Hotels in Manhattan, und sein Onkel konnte sie nicht alle kontrollieren. Hier würde er in Sicherheit sein. Masao ging hinein. Die Lobby war beinah menschenleer. Am Empfang saß ein Japaner, und Masao war schon in Versuchung, zu fliehen. Wie, wenn Teruo ein ganzes Netz von Japanern beschäftigte, um seine Spur zu finden? Wahrscheinlich gab es in New York eine weitverzweigte japanische Kolonie, in der sich Nachrichten mit Windeseile herumsprachen. Ich leide schon an Verfolgungswahn, dachte Masao. Es ist doch nicht jeder mein Feind.
Er ging zur Rezeption. »Ich möchte ein Zimmer für eine Nacht, bitte.«
Er sprach Japanisch, und der Portier antwortete ihm auf japanisch, und erst jetzt wurde Masao klar, wie sehr er die Sprache seiner Heimat vermißte. Japanisch war eine so zivilisierte Sprache. Es war so leicht zu verstehen.
Masao trug sich unter falschem Namen ein – wozu unnötig Risiken eingehen? – und wurde in sein Zimmer geführt.
Das Zimmer war klein und eng, aber es war reinlich und billig. Masao legte sich aufs Bett und dachte an die Ereignisse der letzten Tage. Das Flugzeugunglück, bei dem seine Eltern den Tod fanden, die Reise nach Amerika, die schrecklichen Dinge, die in der Jagdhütte passiert waren und mit dem Tod des Chauffeurs Higashi endeten. Masao mußte daran denken, wie er im Unterhemd geflüchtet war, er dachte an den Volkslauf und an die Preisverleihung.
Bis jetzt hatte er Glück gehabt. Er fragte sich, wie lange das Glück ihm treu bleiben würde. Er schlief ein.
Als er erwachte, schien die Sonne durchs Fenster herein. Er schlug die Augen auf und fühlte sich frisch und ausgeruht. Er schaute auf die Uhr. Schon elf! Er hatte beinahe zwölf Stunden geschlafen! Er wusch sich unter der Dusche, am anderen Ende des Flurs, und zog die gleichen Sachen an, die er schon am Vortag getragen hatte. Sie waren alles, was er besaß. Wenn er erst einen Job gefunden hatte, würde er sich Kleider kaufen. Inzwischen war es Zeit fürs Frühstück.
Masao hatte Lust auf ein richtiges amerikanisches Frühstück. Mit Orangensaft und Speck mit Eiern und Pfannkuchen. Gestern abend hatte er, zwei Straßenecken vom Hotel entfernt, ein kleines Café entdeckt. Dorthin ging er jetzt. Vielleicht hatten sie sogar einen Job für ihn; er könnte am Tresen arbeiten.
Er kam an die Straßenecke und mußte warten, bis die Ampel umschaltete, fetzt kurvte ein Lieferwagen heran und hielt neben dem Zeitungskiosk an der Straßenecke. Ein Mann auf der Ladepritsche warf einen Packen Zeitungen auf den Bürgersteig. Die Ampel schaltete auf Grün, und die Fußgänger drängten zur anderen Straßenseite hinüber. Masao aber blieb wie angewurzelt stehen. Vom Titelblatt der Zeitung starrte ihm sein eigenes Foto entgegen. Die Schlagzeile verkündete: POLIZEI FAHNDET NACH JUGENDLICHEM MÖRDER.