Vorwort zur Ausgabe 1985

Manche Menschen glauben an das Schicksal, andere nicht. Ich glaube daran und auch wieder nicht. Manchmal hat man das Gefühl, wie Marionetten, von Fäden an unsichtbaren Händen, bewegt zu werden. Dazu sind wir aber sicherlich nicht geboren. Wir können die Fäden selbst in die Hand nehmen und die Richtung unseres Weges an jedem Scheideweg selbst bestimmen oder wenigstens jede Spur, einem unbekannten Ziel entgegen, verfolgen.

Die folgenden Seiten erzählen die Geschichte eines jungen Mannes, der wie an eine Wand gedrückt zu sein schien, bis er seine Schicksalsfäden selbst in die Hand nahm. Wenn ich heute diese Geschichte, die ich damals geschrieben habe, lese, weiß ich, daß es der entscheidendste Augenblick meines Lebens war, als ich - eine eingefleischte Landratte, aufgewachsen voller Angst vor dem Wasser, wenn es höher als bis zu meinem Hals reichte - sämtliche Fäden und Bindungen zum Festland ein für allemal zerriß, um die größten und tiefsten Gewässer der Welt anzusteuern. Mein ganzes Leben veränderte sich, nachdem ich endlich fremden Abenteuern und einer unbekannten Zukunft entgegensegelte. Von da an bis zum heutigen Tag war mein Leben voll von Abenteuern, die man wie Perlen einer Kette aneinanderreihen könnte. Perlen fallen nur selten aus der Austernschale auf den Teller - man muß nach ihnen tauchen. Abenteuer nur um des Abenteuers willen war zwar nie mein Fall, doch ich gehe noch heute keinem Abenteuer aus dem Wege, das sich mir bietet.

Ich bin als ein wohlbehütetes Kind aufgewachsen - ein Träumer. Während meiner Universitätsjahre betrieb ich Studien über Mensch und Tier. Während ich an der Universität Oslo offiziell Zoologie studierte, galt meine Vorliebe schon sehr bald den Völkern des Stillen Ozeans, deren Geschichte ich in der Kroepelin-Bibliothek[1] - der Welt größten privaten Bibliothek über Polynesien - eifrig studierte. Und ich - ein Bücherwurm, der nicht schwimmen konnte - ging nach Polynesien und lebte dort ein Jahr lang auf einer Dschungelinsel, vollkommen von der Außenwelt abgeschnitten. Die Abenteuer auf Fatu-Hiva werden auf den folgenden Seiten nur kurz erwähnt, da ich sie an anderer Stelle näher beschrieben habe.[2]

Ich ging nach Polynesien, um herauszufinden, wie Tiere mit Wind und Strömung auf die Ozeaninseln gekommen waren. Ich kam nach Hause mit einer umstrittenen Theorie darüber, wie Menschen diese Inseln in der vorgeschichtlichen Zeit erreichen konnten. Es gab zwei mögliche Seewege nach Polynesien: von Asien über Nordwestamerika und von Südamerika direkt nach Polynesien.

Dieses Buch erzählt die Geschichte einer Reise von sechs jungen Männern, die - allen Voraussagen von Wissenschaftlern und Seefahrern trotzend - bewiesen haben, daß eine solche Reise in vorgeschichtlicher Zeit möglich gewesen ist. Das südamerikanische Balsaholzfloß, von dem Gelehrte behaupteten, es müsse sinken, wenn es nicht regelmäßig an Land getrocknet würde, blieb unsinkbar wie ein Korken. Und Polynesien, das man vom alten Amerika aus mit einem Wasserfahrzeug für unerreichbar hielt, erwies sich als ein durchaus erreichbares Ziel für die Ureinwohner Perus. Das Kon-Tiki-Floß wurde zurück nach Oslo gebracht, wo es ein ganzes Jahr lang im Hafen herumschwamm. Dann wurde es an Land gezogen und als Hauptsehenswürdigkeit im Kon-Tiki-Museum aufgestellt, das unter der Leitung von Knut Haugland, der mit auf der Reise war, erbaut worden ist.

Wie hat nun die Wissenschaft auf den erbrachten Beweis dafür, daß sie im Unrecht gewesen ist, reagiert? Unter den ersten, die nachgaben und die neue Theorie akzeptierten, war der weltweit führende Experte auf dem Gebiet vorgeschichtlicher Wasserfahrzeuge in Peru, Dr. S. K. Lothrop von der Harvard-Universität; er hatte ein falsches Urteil über Balsaholzflöße in der wissenschaftlichen Literatur verbreitet. Die Reaktion der Weltöffentlichkeit auf die Kon-Tiki-Fahrt jedoch wurde von all den Wissenschaftlern, die sich in ihren eigenen Arbeiten und Thesen auf Lothrop berufen hatten - aufgrund der Überzeugung, daß Balsaflöße sinken - als Hohn empfunden. In allen Teilen der Welt wurden die »wagemutigen Wikinger« angegriffen und eines PropagandaUnternehmens, ohne jeglichen wissenschaftlichen Wert, bezichtigt. Das allgemeine Interesse wuchs mit der Polemik; das Buch über die FloßExpedition wurde ein Bestseller, in 65 Sprachen übersetzt, und der Dokumentarfilm darüber wurde mit einem »Oscar« ausgezeichnet. Es folgte ein jahrelanger Streit, da sich die Wissenschaftler weigerten, die Argumente der »Kon-Tiki-Theorie« anzuhören. Die erste Herausforderung kam von der »Schwedischen Gesellschaft für Anthropologie und Geographie«, die mich aufforderte, dort meinen Standpunkt zu vertreten - mit dem Ergebnis, daß ich meine erste wissenschaftliche Auszeichnung erhielt. Weitere folgten, erst Schottland, dann Frankreich. 1952, fünf Jahre nach der Floßfahrt, war ich endlich in der Lage, mein 800 Seiten umfassendes Buch American Indians in the Pacific, The Theory Behind the Kon-Tiki-Expedition, zu veröffentlichen.

Im selben Jahr erfolgte eine noch größere Herausforderung seitens der Opposition: Eine Einladung, drei Vorlesungen auf dem 30. internationalen Amerikanistik-Kongreß an der Universität Cambridge zu halten. Die Opposition blieb stumm, und als der nächste Kongreß in Brasilien stattfand, nahm ich als Ehren-Vizepräsident daran teil. Aber die Auseinandersetzungen gingen weiter. Es wurde behauptet, die Galapagosinseln würden den Gegenbeweis zu der »Kon-Tiki-Theorie« liefern. Die Inseln liegen näher an Südamerika als irgendeine andere polynesische Insel. Warum waren sie nicht von Südamerikanern besiedelt worden, wenn diese schon den Mut gehabt hatten, den ganzen Weg bis Polynesien zu wagen? Eine neue Herausforderung, der neue Studien an Bibliotheken folgten.

Viele Gelehrte haben - seit Darwin - die Galapagos-Inseln besucht; Zoologen, Botaniker, Geologen, doch kein einziger Archäologe. Keiner hatte es für sinnvoll gehalten, auf Inseln, so weit vom Festland entfernt, nach frühen menschlichen Spuren zu suchen. Alle Besucher waren davon überzeugt, daß keine Menschenseele diese Inseln gesehen hatte, bevor die ersten Europäer 1535 hier landeten. Nachdem ich bewiesen hatte, daß die Balsaholzflöße der Inkas seetüchtig waren, brachte ich 1953 die ersten zwei Archäologen auf die Galapagos-Inseln: E. K. Reed (USA) und A. Skjölsvold (Norwegen). Sie untersuchten das Gelände an den wenigen Stellen, an denen eine Landung vorgeschichtlicher Flöße zwischen Lavaklippen und Felsen möglich gewesen wäre. Man entdeckte vier prähistorische Lagerplätze auf drei Inseln. Aus der trockenen Erde der Kaktuswälder scharrten die Wissenschaftler folgende Gegenstände hervor: eine vogelförmige Inka-Terrakotta-Flöte, drei schwarze Tonfrösche aus der Vor-Inka-Periode, einen primitiven Spinnwirtel aus Speckstein, Obsidiane, Feuersteine und Scherben von 131 zerbrochenen, aus der Urzeit stammenden Gefäßen, von denen 44 von Experten des Nationalmuseums in Washington als Gegenstände aus der Vor-Inka-Zeit identifiziert wurden. Zahlreiche Besucher aus dem vorkolumbianischen Peru und Equador hatten auf den unfruchtbaren Galapagos-Inseln kampiert, doch eine dauerhafte Besiedlung war nicht möglich gewesen, da - bedingt durch die wenigen Regenfälle - nur jährlich kurze Zeit Trinkwasser vorhanden war.

Die am nächsten gelegene bewohnbare Insel war die Osterinsel, auf halbem Weg zwischen Südamerika und Polynesien. Die kolossalen Statuen und Steinmauern unbekannten Ursprungs waren nach Aussagen der polynesischen Bevölkerung Überreste früherer Bewohner. Gelehrte glaubten, daß diese Insel keineswegs von Urvölkern hatte erreicht werden können, da sie am weitesten von Asien entfernt war. Wie aber, dachte ich mir, konnten die Urbewohner der Osterinsel Zeit gehabt haben, diese erstaunliche prähistorische Kultur zu entwickeln und sie später wieder vergessen; eine Kultur, die immerhin sämtliche Gelehrte in Erstaunen setzte, da sie so große Ähnlichkeit mit der Vor-Inka-Kultur und deren Überbleibsel aufweisen konnte?

Dr. H. Lavachery, der einzige Berufsarchäologe, der die Osterinsel besucht hatte, gab zu, keinerlei Ausgrabungen vorgenommen zu haben, da der Boden unfruchtbar und eine Besiedlung erst zu späterer Zeit denkbar gewesen sei.

Von 1955 bis 1956 charterte ich ein Expeditionsschiff, um ein Jahr lang die Osterinsel und das östliche Polynesien zu erforschen. In unserem Team waren fünf Berufsarchäologen: A. Skjölsvold (Norwegen), E. N. Ferdon, W. Mulloy, C. S. Smith (USA) und G. Figueroa (Chile). Die Ausgrabungen brachten zutage, daß die berühmten »Riesenköpfe« bis zum Hals eingegrabene Statuen waren, deren riesige Körper und Arme noch unter der Erde lagen. Ein Eingeborenen-Stamm auf der Insel, der behauptete, von den Herstellern dieser Statuen abzustammen, demonstrierte uns sehr anschaulich, wie die riesigen Steinfiguren aus Bruchstein gehauen, transportiert und letztlich aufgestellt worden waren. Die Archäologen entdeckten bisher unbekannte Typen von Statuen und Steinhäusern, die den Prototypen aus der Vor-Inka-Zeit in Südamerika ähnelten, und die Radiokarbon-Untersuchung ergab, daß die Insel mindestens 1000 Jahre früher als bisher angenommen bewohnt gewesen war.

Ein Wendepunkt der immer noch andauernden hitzigen Diskussionen trat 1961 ein, als rund 3000, mit den spezifischen Problemen des Stillen Ozeans beschäftigten Wissenschaftler sich zum 10. Kongreß der »Pacific Science« in Honolulu versammelten. Die Ergebnisse unserer Galapagos-und Osterinsel-Expeditionen wurden in Seminaren über Archäologie, physiologische Anthropologie, Botanik und auf einem speziellen Symposium der Galapagos-Gruppe besprochen. Eine Resolution wurde einstimmig angenommen und in dem Kongreßbericht veröffentlicht, der bestätigte, daß »Südostasien mit den angrenzenden Inseln und Südamerika die wichtigsten Ausgangspunkte für die Erforschung der pazifischen Inselvölker und deren Kultur sind«.

Es folgte, an allen Fronten, eine Periode fanatischer Kämpfe, die gelegentlich in scharfe Angriffe ausarteten. Kein Sturm auf See kann einem Mann mehr zusetzen als die Angriffe eines Haufens international anerkannter Autoritäten. Die einzige Waffe gegen solch einen Sturm von Beschuldigungen, die des öfteren sowohl persönlich als auch unfair waren, ist die ehrliche Überzeugung, das Recht auf seiner Seite zu haben. Und doch sind es ja gerade Meinungsverschiedenheiten und Kontroversen, die die Wissenschaft vorantreiben. Kritikloses Einverständnis und schnelle Billigung regen kaum zu Experimenten und Fortschritt an. Zu dieser Zeit ermöglichten mir Einladungen von Universitäten und wissenschaftlichen Akademien, meinen Standpunkt ohne Vorbehalt vorzutragen und zu verteidigen. Die heftigsten Angriffe kamen von Wissenschaftlern aus den Ländern, in denen die Öffentlichkeit größtes Interesse an der Kontroverse gezeigt hatte: mein Heimatland Norwegen, England, die USA, die UdSSR und Mexiko. Durch diese Länder habe ich später reichlich Anerkennung erfahren. Ehrenprofessuren und Doktorate, wissenschaftliche Auszeichnungen und die Mitgliedschaft an den Akademien der Wissenschaften von New York bis Moskau waren ein Zeichen dafür, daß der Wind sich gedreht hatte.

Auf dem 10. Kongreß der »Pacific Science« wurde die Verantwortung für weitere archäologische Forschungsarbeiten im südöstlichen Polynesien dem Kon-Tiki-Museum übertragen, mit Zuschüssen aus Einnahmen durch eine wachsende - zahlende - Besucherzahl. Ich fühlte mich jetzt frei, mich ozeanischen Forschungen der anderen Seite Amerikas zu widmen. Die Passatwinde und Strömungen des tropischen Atlantiks verliefen ständig von Afrika nach Amerika mit demselben Kurs und derselben Stärke wie von der Pazifikseite Amerikas in Richtung Polynesien. Mit Holzplanken verkleidete Schiffe waren vor Kolumbus' Ankunft in Amerika unbekannt. Schilfboote jedoch waren typisch für die großen vorkolumbianischen Zivilisationen auf beiden Seiten des Atlantiks. Auf der Osterinsel hatten wir in den Rümpfen der Statuen eingeritzte Abbildungen von kleinen Schilfbooten gefunden, wie sie von den Insulanern noch immer gebaut wurden und die denen aus der frühen Inka-Zeit glichen. Diese wiederum ähnelten in erstaunlicher Weise den ältesten Schiffstypen der Entdecker der großen Zivilisationen der Alten Welt in Ägypten, Mesopotamien und am Indus. Ebenso wie von den Balsaflößen nahm man auch von den Schilfbooten an, daß diese nicht wasserdicht seien und sinken würden. 1970 gelang es sieben Wissenschaftlern aus sieben Nationen, von Marokko nach Barbados in Amerika zu segeln; es war unser zweiter Versuch, den Atlantik in einem Papyros-Schilfboot - wie es die alten Ägypter benutzt hatten - zu überqueren. 1977 und 1978 segelten elf Männer aus verschiedenen Nationen fünf Monate lang auf einem Schilfboot sumerischen Typs von Irak nach Oman, zum Indus und nach Afrika. Mit Mannschaften, die mit Schilfbooten und Balsaflößen ebenso wenig vertraut waren wie ich selbst, war es möglich gewesen, in der kurzen Zeit eines Menschenlebens, von Mesopotamien zum Indus, von Asien nach Afrika, von Afrika nach Amerika und von Amerika aus zweimal zur Osterinsel zu segeln. Warum sollte den mutigen Erbauern dieser seetüchtigen Segelboote, innerhalb mehrerer Jahrhunderte, in denen sie Pyramiden erbaut hatten, nicht dasselbe gelungen sein?

Anders als Pyramiden, sinken oder verrotten alte Boote. Mit unseren Ozeanüberquerungen hatten wir bewiesen, daß vorgeschichtliche Seefahrt möglich gewesen war, wenn auch die alten Spuren verwischt waren. Es gab immer noch Stimmen, die behaupteten, daß, auch wenn die Seetüchtigkeit der Wasserfahrzeuge bewiesen worden war, voreuropäische Seefahrer doch wohl vorgezogen hatten, nur in Sichtweite des Festlandes zu segeln.

Der Gegenbeweis wurde 1982 erbracht, als ich zum ersten Mal auf Entdeckungsreise zu den kleinen Malediveninseln, weit draußen im Indischen Ozean, kam. Während der letzten zehn Jahre wurde dieser Archipel vom Flug-Massentourismus überfallen, und da er so weit entfernt von jedem Festland liegt, konnte niemand ahnen, daß er ein archäologisches Paradies sei.

Die Geschichte der Malediven begann im Jahre 1153 mit der Ankunft moslemischer Araber, über drei Jahrhunderte vor Kolumbus' Zeiten. Jede Art von menschlichen Abbildungen war bei den moslemischen Arabern streng verboten. Ich wurde gebeten, mir eine große Steinstatue mit langen, aus der Erde hervorragenden Ohren, anzusehen, die ein paar Insulaner gefunden hatten. Ich eilte zu der Stelle, wo religiöse Fanatiker bereits alles - außer den Kopf - verwüstet hatten. Es war ein großer, schöner Buddha-Kopf. Die Buddhisten waren also schon vor den Arabern hier gewesen. Mit meinem Freund Skjölsvold und anderen Archäologen der Osloer Universität begann ich nun, diese Ozeaninseln zu erforschen. Wir fanden einen steinernen Kopf des rüsselnäsigen Wassergottes Makara, und die Insulaner selbst gruben Statuen aus, die die grinsende indische Teufelsgöttin Shiva, mit langen Ohren und aus dem Mund herausgestreckter Zunge und Raubtierzähnen, darstellten. Die Hindus waren hier also noch früher als die prähistorischen Buddhisten gewesen. Auf Gaaf-Gan, einer unbewohnten Dschungelinsel, genau auf der Höhe des Äquators gelegen, fanden wir einen quadratischen Pyramidentempel, der noch neun Meter aus der Erde herausragte. Er war von vorgeschichtlichen Sonnenanbetern errichtet worden und von allen vier Seiten von Rampen umgeben, die reichlich mit Sonnensymbolen geschmückt waren. Der Tempel war astronomisch exakt nach der Sonne ausgerichtet. Das Dekor enthielt Löwenskulpturen und das Relief eines Ochsen. Einen konkreteren Beweis für vorgeschichtliche Seefahrt hätten wir uns nicht wünschen können.

Die Kon-Tiki-Expedition hatte mir offenbart, was der Ozean wirklich ist. Er ist eine verbindende und keine trennende Macht. Der Ozean war des Menschen erster Verbindungsweg von den Tagen an, als es ihm gelungen war, die ersten Schiffe zu bauen - lange bevor er Pferde zähmte, Räder erfand und Wege durch den Dschungel schlug.

Thor Heyerdahl

April 1985


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