Ein Rückblick. Der Alte auf Fatuhiva. Wind und Strömung. Auf der Jagd nach Tiki. Woher kamen die Polynesier? Rätsel der Südsee. Theorien und Tatsachen. Legenden um Kon-Tiki und die weiße Rasse. Kriegsausbruch.
Ein Mensch kann sich manchmal in merkwürdigen Situationen wiederfinden. Er kann geradewegs und auf die natürlichste Weise hineingeraten sein. Aber wenn er dann drinsteckt, wundert er sich plötzlich sehr und fragt sich, wie er das nur fertiggebracht hat.
Es soll zum Beispiel vorkommen, daß einer auf einem Floß in See sticht mit einem Papagei und fünf Kameraden an Bord. Da ist es dann unausbleiblich, daß er - früher oder später - eines schönen Morgens draußen auf dem Meer erwacht, vielleicht ein wenig besser ausgeruht als gewöhnlich, und nachzudenken beginnt.
So saß ich an einem solchen Morgen und schrieb in ein durchfeuchtetes Logbuch:
»17. Mai. Schwere See. Guter Wind. Heute bin ich Koch und fand sieben fliegende Fische auf Deck, einen Tintenfisch auf dem Dach und einen unbekannten Fisch in Torsteins Schlafsack . . .«
Da stockte der Bleistift, und der Gedanke schlich sich ein: Es ist im Grunde ein komischer 17. Mai, ja, im ganzen genommen auch ein höchst eigenartiges Dasein - nichts als Himmel und Meer rundum. Wie fing das eigentlich an?
Wenn ich mich nach links wendete, hatte ich freien Ausblick auf die mächtige blaue See mit ihren schäumenden Wogen, die sich in endlosem Lauf vorbeiwälzten, einem ewig weichenden Horizonte nach. Wenn ich mich nach rechts drehte, sah ich in das Innere einer dämmrigen Hütte, die seit Wochen unsere Heimstatt war. Dort lag ein bärtiges Individuum auf dem Rücken, las Goethe und grub seine bloßen Zehen nachdenklich zwischen die Querleisten des niedrigen Bambusdaches.
»Bengt«, sagte ich und verjagte den grünen Papagei, der es auf mein Logbuch abgesehen hatte, »kannst du mir, zum Teufel, sagen, wie wir auf dies verfallen sind?«
Goethe versank unter dem rotblonden Bart.
»Verdammt noch mal, das mußt du ja wohl selbst am besten wissen, das war ja deine blöde Idee. Aber mir gefällt sie ganz ausgezeichnet!«
Er schob seine Zehen drei Sprossen weiter hinauf und wandte sich wieder Goethe zu. Vor der Hütte arbeiteten drei andere Kerle in der prallen Sonne auf dem Bambusdeck. Sie waren halbnackt, braungebrannt und bärtig, mit Salzkrusten über dem Rücken und mit einer Miene, als hätten sie nie etwas anderes getan, als den Pazifik auf einem Floß überquert. Da zwängte sich Erich durch die Türöffnung herein mit seinem Sextanten und einem Bündel Papier in der Hand:
»Neunundachtzig Grad und sechsundfünfzig Minuten West, acht Grad und zehn Minuten Süd. Gute Fahrt in den letzten Tagen, Jungens!«
Er packte meinen Bleistift und zeichnete einen winzigen Kreis auf eine Karte, die an der Bambuswand hing, einen winzigen Kreis am Ende einer Kette von neunzehn anderen, die sich von der Hafenstadt Callao an der peruanischen Küste zu unserem Standpunkt herüberschwang. Hermann, Knut und Torstein kamen ebenfalls eifrig hereingekrochen, um den neuen kleinen Kreis zu bewundern, der uns um gute vierzig Meilen näher an die Südseeinseln heranbrachte als der vorige.
»Jungens, seht her!« rief Hermann stolz, »damit sind wir 1570 Kilometer von der peruanischen Küste weg!«
»Und haben nur mehr 6430 Kilometer bis zur nächsten Insel vor uns«, setzte Knut vorsichtig hinzu.
»Und um ganz genau zu sein«, sagte Torstein, »5000 Meter über dem Meeresgrund und etliche Faden unter dem Mond!«
Damit wußten wir nun alle zur Genüge, wo wir waren, und ich konnte fortfahren, über das Warum nachzudenken.
Der Papagei war es auch zufrieden und begann wieder an dem Logbuch zu ziehen. Und das Meer war so rund und himmelumkränzt, blau in blau, wie zuvor.
Vielleicht begann das Ganze im letzen Winter in der Direktion eines New Yorker Museums. Oder vielleicht begann es bereits vor zehn Jahren auf einer kleinen Insel der Marquesas-Gruppe mitten im Stillen Ozean. Vielleicht würden wir auf derselben Insel landen, wenn uns der Nordost nicht weiter nach Süden treiben sollte auf die Tahiti- und Tuamotu-Gruppe zu. Ich konnte die kleine Insel deutlich vor mir sehen mit den rostroten, kahlgefegten Bergspitzen, dem grünen Dschungel, der sich die Hänge herunterzog, und den schlanken Palmen am Strande, die sich ewig im Winde wiegten. Die Insel hieß Fatuhiva, und es lag kein Land zwischen ihr und der Stelle, an der wir jetzt im Meere trieben, aber sie war doch einige Tausende von Seemeilen entfernt. Ich konnte das schmale Oula-Tal vor mir sehen, wie es sich gegen das Meer öffnete, und weiß noch, wie wir an dem einsamen Strand saßen und Ausschau hielten über das endlose Meer, Abend für Abend. Ich war damals auf Hochzeitsreise, nicht unter bärtigen Seeräubern wie jetzt. Wir sammelten allerlei Tiere und Götterbilder und sonstige Erinnerungen einer ausgestorbenen Kultur. Ich erinnere mich so gut an einen bestimmten Abend. Die zivilisierte Welt war unendlich fern und unwirklich. Wir hatten als einzige Weiße fast ein Jahr auf der Insel gelebt und hatten die Errungenschaften der Zivilisation mit all ihren Segnungen und Übeln gleich gern über Bord geworfen. Wir wohnten in einer Art Pfahlbau, den wir uns unter den Palmen an der Küste errichtet hatten, und aßen, was der Tropenwald und der Ozean uns boten.
Wir gingen in eine harte, aber praktische Schule und bekamen Einblick in die vielen merkwürdigen Probleme des Pazifik. Ich glaube, daß wir sowohl seelisch als auch körperlich oft auf den Spuren der ersten primitiven Menschen wandelten, die diese Inseln von einer unbekannten Heimat her erreichten und deren polynesische Nachkommen frei über ihr Inselreich herrschten, bis unsere eigene Rasse kam, die Bibel in der einen Hand, Gewehr und Schnapsflasche in der anderen.
An jenem Abend nun saßen wir, wie schon so oft vorher, im Mondschein unten am Strand, das Meer zu unseren Füßen. Hellwach und erfüllt von unserer abenteuerlichen Umwelt, ließen wir uns keinen Eindruck entgehen. Wir sogen den starken Brodem des Dschungels ein, gemischt mit der würzigen Salzluft des Meeres. Wir horchten auf den Wind, der im Gefieder der Palmen und im dichten Laubwerk rauschte. Aber immer wieder wurde alles überdröhnt von der heranrollenden schweren Dünung, vom Donnern der Brecher, die sich am Geröll des Strandes in tausend schäumende Wirbel zerschlugen. Das war ein Tosen und Brausen und Versprühen in Millionen glitzernden Tropfen, bis sich die See wieder beruhigte und zurückzog, um sich aufs neue zu sammeln zum nächsten Angriff auf die nie bezwungene Küste.
»Merkwürdig«, meinte Liv, »auf der anderen Seite der Insel gibt es niemals solche Brandung.«
»Nein«, sagte ich, »hier ist ja auch die Windseite, da steht die See direkt drauf.«
Und so saßen wir wieder da und bewunderten das Meer, das anscheinend nicht aufhören wollte vorzuführen, woher es eigentlich kam, hereinrollend von Osten, von Osten, von Osten! Es war der ewige Ostwind, der Passat, der die Meeresfläche aufwühlte, sie vor sich herrollte über den östlichen Horizont herauf, hierher auf die Inseln zu, wo die Wogen sich endlich brachen zwischen Klippen und Riffen, während sich der Ostwind nur ein wenig höher hob und über die Küste, die Wälder und die Berge ungehindert seinen Weg nach Westen fortsetzte, von Insel zu Insel bis gegen Sonnenuntergang. So waren auch seit Anbeginn der Zeiten die leichten Wolkengebilde von Osten her über die Inseln hinweggezogen. Die ersten Menschen, die diese Inseln erreichten, wußten wohl genau, wie es sich damit verhielt, ebenso wußten es Vögel und Insekten. Auch die Vegetation der Eilande war vollständig von diesem Gesetz beherrscht. Es war uns wohl bewußt, daß weit, weit hinter dem Horizont dort im Osten, wo die Wolken aufstiegen, Südamerikas offene Küste lag. Es waren achttausend Kilometer bis dahin, achttausend Kilometer nichts als blanke See.
Wieder verloren wir uns an die treibenden Wolken und an das vom Mondlicht überflutete Meer. Da begann der alte Eingeborene, der halbnackt vor uns hockte und in die sterbende Glut einer kleinen, ausgebrannten Feuerstelle starrte, zu sprechen:
»Tiki«, sagte der Alte geheimnisvoll, »war Gott und Häuptling zugleich. Tiki war es, der unsere Vorväter auf die Inseln gebracht hat, auf denen wir heute leben. Früher wohnten wir in einem großen Lande weit hinter dem Meer.«
Er stocherte mit einem Zweig in der Glut, um ihr Erlöschen zu verhindern. In sich zusammengesunken hockte er da und sann, ein uralter Mann, der noch in der Vorzeit lebte und ihr mit allen Fasern seines Wesens verhaftet war. Er verehrte seine Vorväter, wußte um ihr Schicksal bis in die Zeiten der Götter und wartete darauf, sich mit ihnen wieder zu vereinigen. Tei Tetua war der letzte Überlebende von all den ausgestorbenen Stämmen auf Fatuhivas Ostküste. Er wußte nicht, wie alt er war, aber seine runzlige, borkigbraune Haut sah aus, als hätten Sonne und Wind sie in hundert Jahren gegerbt. Er war sicher einer von den wenigen auf diesen Inseln, die sich noch an die Sagen um ihre Väter und Vorväter und den großen polynesischen Häuptlingsgott Tiki, den Sohn der Sonne, erinnerten und daran glaubten.
Als wir in dieser Nacht in unserem winzigen Pfahlbau in die Koje krochen, spukten die Erzählungen des alten Tei Tetua über die heilige Heimat jenseits des Meeres noch immer in meinem Hirn, in der Ferne begleitet vom dumpfen Getose der Wogen. Es klang wie eine Stimme aus der Urzeit, die uns da draußen in der Nacht etwas erzählen wollte. Ich konnte nicht schlafen. Es war, als ob die Zeit nicht mehr existierte und Tiki und seine seefahrenden Männer gerade an Land gehen wollten, da unten am Strand in der Brandung. Da stürzte plötzlich ein Gedanke auf mich ein:
»Liv, hast du eigentlich gemerkt, daß die riesigen Steinbilder von Tiki droben im Dschungel auffallend an die mächtigen Steinplastiken in Südamerika erinnern, an diese Reste längst ausgestorbener Kulturen?!«
Da hörte ich deutlich ein anerkennendes Murmeln von der Brandung herauf. Und dann wurde sie langsam ruhig. Ich schlief ein.
So fing es vielleicht an. Auf jeden Fall begann so eine Kette von Geschehnissen, die schließlich uns sechs samt einem grünen Papagei auf ein Floß vor Südamerikas Küste brachte.
Es ist mir heute noch schrecklich, wie ich meinen Vater verärgert und meine Mutter und meine Freunde vor den Kopf gestoßen habe, als ich nach Norwegen zurückkam und meine Sammlungen von Käfern und Fischen von Fatuhiva dem Zoologischen Museum der Universität übergab. Ich wollte meine Tierstudien abschließen und mich auf die Erforschung primitiver Volksstämme verlegen. Die ungelösten Rätsel der Südsee hatten mich in ihren Bann gezogen. Sie mußten eine vernünftige Lösung haben, und ich setzte mir zum Ziel, die Sagengestalt Tiki zu identifizieren.
In den folgenden Jahren waren Brandung und Dschungelruinen wie ein ferner und unwirklicher Traum, der hinter meinen Arbeiten über die Stämme der Südsee stand.
So sinnlos wie der Versuch, mit Bücherstudium und Museumsbesuchen die Gedanken und Handlungen eines Naturvolkes verstehen zu wollen, so sinnlos ist es aber auch für einen Forschungsreisenden der Gegenwart, all die Gegenden selbst aufzusuchen, die er in einem einzigen Band dargestellt finden kann.
Wissenschaftliche Werke, Darstellungen aus den Tagen der Entdeckungen und endlose Sammlungen in den Museen Europas und Amerikas boten mir eine Überfülle an Material für das Puzzlespiel, das ich zusammenzusetzen versuchte.
Seit die Südseeinseln nach der Entdeckung Amerikas von Europäern erreicht wurden, haben Forscher verschiedenster Wissensgebiete einen nahezu unübersehbaren Berg von Nachrichten über die Polynesier und ihre Nachbarn zusammengetragen. Aber es gab nie eine Einigung über die Herkunft dieses isolierten Menschenschlages oder über die Ursache, warum er sich gerade auf die einsamen Inseln des östlichen Pazifiks beschränkt.
Als die ersten Europäer sich auf dieses größte aller Weltmeere hinausgewagt hatten, entdeckten sie zu ihrem Erstaunen mitten darin eine Menge kleiner gebirgiger Inseln und flacher Korallenriffe, getrennt voneinander und der übrigen Welt durch unendliche Seestrecken. Und jede einzelne dieser Inseln war bereits von Menschen bewohnt, die viel früher hierhergekommen waren. Schön und hochgewachsen, liefen sie ihnen am Strande mit Hunden, Schweinen und Hühnern entgegen. Woher waren sie gekommen? Sie redeten eine Sprache, die kein anderes Volk verstand, und unsere Rasse, die sich keck Entdecker der Inseln nannte, fand hier wohlbestelltes Land und Dörfer mit Tempeln und Hütten auf jedem kleinsten bewohnbaren Eiland. Ja, auf manchen Inseln gab es sogar uralte Pyramiden, gepflasterte Straßen und steinerne Statuen in den Ausmaßen eines vierstöckigen Hauses.
Aber die Klärung des Geheimnisses blieb aus. Wer waren diese Leute, und woher kamen sie?
Man kann ruhig sagen, daß die Antworten auf diese Rätsel ebenso zahlreich sind wie die Bücher, die sich damit befassen. Die Spezialisten der verschiedenen Kulturbereiche haben auch verschiedene Lösungen ausgeheckt, aber ihre Behauptungen wurden stets widerlegt durch logische Beweise der Fachleute, die in anderer Richtung arbeiteten. Die malaiischen Inseln, Indien, China, Japan, Arabien, Ägypten, der Kaukasus, Atlantis, ja sogar Deutschland und Norwegen wurden für die Herkunft der Polynesier verantwortlich gemacht, aber immer ergab sich irgendein entscheidender Haken, der wieder die ganze Theorie in der Luft schweben ließ.
Wo aber die Wissenschaft stehenbleiben mußte, hatte die Phantasie freies Spiel. Die geheimnisvollen Riesenpfeiler aus Stein auf der Osterinsel und all die anderen Kulturreste unbekannten Ursprungs auf diesem winzigen offenen Eiland, das so mutterseelenallein genau in der Mitte zwischen der nächsten Insel und der Küste Südamerikas liegt, verleiteten geradezu zu den verschiedensten Spekulationen. Viele wollten in den Funden auf der Osterinsel offenkundige Überreste von Südamerikas prähistorischen Kulturen sehen. Vielleicht waren die Osterinsel und all die anderen Südseeinseln, die entsprechende Denkmäler besaßen, Reste eines versunkenen Kontinents, die noch über die Meeresfläche ragten?
Das wäre nun eine brauchbare Theorie und eine annehmbare Erklärung gewesen, aber sie war weder bei Geologen noch anderen Forschern geschätzt. Im Gegenteil! Die Zoologie bewies ganz scharf an Hand der Untersuchung von Insekten und Schnecken auf den Südseeinseln, daß diese in der ganzen Menschheitsgeschichte vollständig isoliert voneinander und von den umgebenden Kontinenten waren, genauso, wie sie es auch heute noch sind.
Wir wissen daher mit aller Bestimmtheit, daß die urpolynesische Rasse einmal treibend oder fahrend diese abgelegenen Inseln erreicht hat - mit oder gegen ihren eigenen Willen. Unterzieht man die Südseeinsulaner einer gründlicheren Untersuchung, so wird man entdecken, daß es nicht allzu viele Jahrhunderte her sein kann, daß sie an Land gingen. Denn obwohl die Polynesier über eine Meeresfläche verteilt leben, viermal so groß wie ganz Europa, so sind sie doch nicht so weit, wirklich verschiedene Sprachen auf den verschiedenen Inseln entwickelt zu haben. Von Hawaii im Norden nach Neuseeland im Süden, von Samoa im Westen zur Osterinsel im Osten sind es Tausende von Seemeilen, und trotzdem sprechen diese isolierten Stämme Dialekte einer Sprache, die wir Polynesisch nennen. Die Schrift ist auf all diesen Inseln unbekannt mit Ausnahme einiger Holzplatten mit unentzifferbaren Hieroglyphen, die die Eingeborenen auf der Osterinsel aufbewahrten, ohne daß sie selbst oder irgendein anderer sie lesen konnten. Aber Schulen hatten sie, und ein poetischer Geschichtsunterricht war ihr wichtigstes Fach, denn in Polynesien war Geschichte dasselbe wie Religion. Sie verehrten ihre Ahnen und pflegten die Erinnerung an die toten Häuptlinge bis in die fernen Zeiten Tikis, von dem sie zu berichten wußten, er sei der Sohn der Sonne gewesen.
Auf fast jeder einzelnen Insel konnten gelehrte Männer die Namen aller Häuptlinge auswendig bis zurück in die Zeit, in der die Eilande besiedelt wurden. Als Erinnerungshilfe verwendeten sie dabei oft ein verwickeltes System von verzweigten Knotenschnüren gleich dem, das die Inka-Indianer in Peru gebrauchten. Moderne Forscher haben alle diese lokalen Genealogien der verschiedenen Inseln verglichen und dabei herausgefunden, daß sie untereinander verblüffend genau übereinstimmen, sowohl in den Namen wie in der Anzahl der Generationen. Daraus konnte man errechnen, daß die Südseeinseln, wenn man eine durchschnittliche polynesische Generation von fünfundzwanzig Jahren annimmt, nicht vor etwa 500 n. Chr. bevölkert wurden. Eine neue Kulturwelle mit wieder einer neuen Häuptlingsreihe deutet auf eine andere und noch spätere Einwanderung, die dieselben Inseln erst um 1100 n. Chr. erreicht haben kann.
Aber woher konnte diese späte Einwanderungswelle kommen? Die wenigsten Forscher scheinen den entscheidenden Faktor in Betracht gezogen zu haben, daß es ein rein steinzeitliches Volk war, das die Inseln in so später Zeit erreichte. Trotz Intelligenz und erstaunlich hoher Kultur in allen anderen Bereichen brachten diese Seefahrer eine bestimmte Art von Steinbeilen mit sich und eine Reihe anderer charakteristischer steinzeitlicher Geräte, die sich auf den Inseln verbreiteten. Wir dürfen nicht vergessen, daß es, abgesehen von dem primitiven, isolierten Volk der Urwälder und gewissen tiefstehenden Stämmen, keine fortpflanzungsfähige Kultur in der Welt gab, die sich noch um 500 oder 1100 n. Chr. im Steinzeitalter befand, außer denen in der Neuen Welt. Dort war selbst den höchsten Indianerkulturen der Gebrauch des Eisens völlig unbekannt. Sie verwendeten Steinäxte und -Geräte derselben Typen, die auch auf den Südseeinseln bis zur Zeit der Entdeckung in Gebrauch waren.
Diese zahlreichen Indianerkulturen waren die nächsten Verwandten der Polynesier im Osten. Im Westen wohnten nur Australiens oder Melanesiens dunkelhäutige und primitive Naturvölker, entfernte Verwandte der Neger, und dahinter lagen wieder Indonesien und Asiens Küste, wo die Steinzeit weiter zurückliegt als vielleicht irgendwo anders in der Welt.
So richteten sich meine Aufmerksamkeit und meine Vermutungen immer mehr fort von der Alten Welt, wo schon so viele gesucht und noch keiner gefunden hatte, hinüber auf Amerikas bekannte und unbekannte Indianerkulturen, die bisher keiner in Erwägung gezogen hatte. Und gerade auf der nächsten Küste, genau ostwärts, wo die südamerikanische Republik Peru sich heute vom Stillen Ozean in die Berge hinauf erstreckt, fehlte es nicht an Spuren, wenn einer nur suchen wollte. Hier hat einmal ein unbekanntes Volk gelebt und eine der seltsamsten Kulturen der Welt begründet, bis es plötzlich in der Vorzeit wieder verschwand, wie vom Erdboden verschluckt. Es hinterließ ungeheure, menschenähnliche Steinstatuen, die an die von Pitcairn, Marquesas und von der Osterinsel erinnern, und mächtige Stufenpyramiden, die denen auf Tahiti und Samoa entsprechen. Steinblöcke, so groß wie Eisenbahnwagen, meißelten diese Menschen mit Steinbeilen aus dem Berg und transportierten sie meilenweit durch die Gegend, stellten sie auf oder schichteten sie übereinander, um Tore, Zyklopenmauern und Terrassen zu bauen gleich denen, die wir auf einzelnen Südseeinseln finden.
Als die ersten Spanier nach Peru vordrangen, hatten die Inka-Indianer ihr gewaltiges Reich in diesem Bergland. Sie erzählten ihnen, daß die ungeheuren Denkmäler, die so verlassen in der Landschaft standen, von einem Geschlecht weißer Götter erbaut worden seien, die hier gewohnt hätten, bevor die Inkas selbst die Macht übernahmen. Diese verschwundenen Baumeister wurden als weise und friedliebende Lehrer geschildert, die ursprünglich einmal, im Anfang der Zeiten, von Norden hergekommen waren und die primitiven Vorväter der Inkas in Baukunst und Ackerbau wie auch in Sitten und Gebräuchen unterwiesen hatten. Sie unterschieden sich von allen anderen Indianern durch weiße Haut und lange Bärte und waren auch höher an Wuchs. Schließlich verließen sie Peru so plötzlich, wie sie gekommen waren. Die Inkas übernahmen selbst die Macht im Lande, und die weißen Lehrmeister verschwanden für allezeit in westlicher Richtung von Südamerikas Küste in den Stillen Ozean.
Nun war es so, daß die Europäer, als sie auf die Südseeinseln kamen, blaß erstaunten, wie viele von den Eingeborenen fast weiße Hautfarbe besaßen und Bärte trugen. Auf vielen Inseln waren es ganze Familien, die durch ihre auffallend helle Haut und ihr rötliches bis blondes Haar, durch ihre blaugrauen Augen und ein fast semitisches Aussehen infolge ihrer Adlernase hervorstachen. Die Polynesier selbst hatten ansonsten goldbraune Haut mit rabenschwarzem Haar und flache, stumpfe Nasen. Die Rothaarigen nannten sich selbst »Urukehu« und erzählten, daß sie direkt von den ersten Häuptlingen auf der Insel abstammten, die weiße Götter waren wie eben Tangaroa, Kane und Tiki. Die Legenden um die geheimnisvollen weißen Männer, von denen diese Insulaner sich herleiteten, waren über ganz Polynesien verbreitet. Als Roggeween die Osterinsel im Jahre 1722 entdeckte, traf er zu seinem Erstaunen auch dort hellhäutige Männer an. Die Osterinselleute wußten selbst noch recht gut, daß ihre Vorväter einmal alle weiße Hautfarbe gehabt hatten, damals zu Tikis und Hotu Matuas Zeit, als sie über das Meer gekommen waren »aus einem gebirgigen Lande im Osten, das unter der Sonne verdorrt war«.
Nach allem, was ich las, tauchten in Peru überraschende Spuren kultureller, mythologischer und sprachlicher Art auf, die mich ständig tiefer und konzentrierter nachschürfen ließen, um die Ursprungsstätte des polynesischen Stammvaters Tiki zu identifizieren.
Und ich fand, was ich erhoffte. Eines Tages saß ich und las die Legenden der Inkas vom Sonnenkönig Virakocha, der selbst der Führer des verschwundenen weißen Volkes in Peru gewesen war. Hier stand:
»Der Name Virakocha stammt aus der Inkasprache (ketchua) und ist folglich neueren Datums. Der ursprüngliche Name des Sonnengottes Virakocha, der scheinbar in der alten Zeit Perus verwendet wurde, war Kon-Tiki oder Illa-Tiki, was Sonnen-Tiki oder Feuer-Tiki bedeutet. Kon-Tiki war der oberste Priester und Sonnenkönig der weißen Männer aus den Legenden der Inkas, die die ungeheuren Ruinen am Titicacasee hinterlassen haben. Die Legende berichtet, daß Kon-Tiki von einem Häuptling namens Cari angegriffen wurde, der aus dem Coquimbo-Tal kam. In einer Schlacht auf einer Insel des Titicacasees wurden die geheimnisvollen weißen und bärtigen Männer vollständig massakriert, während Kon-Tiki selbst und seine nächsten Gefolgsleute entkamen und schließlich an die Küste gelangten, Von der sie am Ende über das Meer nach Westen entschwanden.«
Ich war nun nicht mehr länger im Zweifel, daß der weiße Häuptlingsgott Sonnen-Tiki, von dem die Inkas berichteten, daß ihn ihre Vorväter auf den Stillen Ozean getrieben hatten, mit dem weißen Häuptlingsgott Tiki identisch war, mit Tiki, dem Sohn der Sonne, den alle Bewohner der östlichen Südseeinseln als ihren ursprünglichen Stammvater feierten. Die Details um Sonnen-Tikis Leben in Peru mit den alten Ortsnamen rund um den Titicacasee tauchten in den historischen Erzählungen der Eingeborenen der Südsee wieder auf.
In ganz Polynesien fanden sich aber auch andere Spuren, die darauf hindeuteten, daß die Inseln nicht lange allein Sonnen-Tikis friedlichem Geschlecht verblieben. Es gibt Zeichen dafür, daß seetüchtige Kriegskanus, groß wie Wikingerschiffe, zwei und zwei zusammengebunden, Nordwestindianer über das Meer nach Hawaii und weiter über den Ozean zu all den anderen Inseln gebracht hatten. Ihr Blut vermischte sich mit dem Geschlecht Kon-Tikis, und sie brachten eine neue Kultur nach dem Inselreich. Das war das andere Steinzeitvolk, das Polynesien erreichte, ohne Metall, ohne Töpferei, ohne das Rad, ohne Webstuhl und ohne Getreide, in den Jahren um 1100 n. Chr.
Und das war nun auch die Ursache, daß ich in Britisch-Columbien saß und Felsbilder in altpolynesischem Stil unter den Nordwestindianern ausgrub zu der gleichen Zeit, als der Krieg in Norwegen begann.
Rechtsum! Linksum! Ganze Abteilung kehrt! Militärisches Treppenwaschen, Stiefelputzen, Funkerschule und Fallschirmausbildung -das Ganze endete mit dem Murmansk-Konvoi nach Finnmarken. Dort hauste der Kriegsgott der Technik, während sich der Sonnengott für einen langen Winter empfahl.
Dann kam der Friede.
Eines Tages war die Theorie fertig. Ich wollte nach Amerika und sie vorlegen.