Lucky befand sich nun auf Dingos Rücken, seine Oberschenkel umklammerten die Taille des anderen. Leise und grimmig sagte er: »Hörst du mich, Dingo, du kannst mich doch hören, oder? Ich weiß nicht, wo wir sind oder wo wir hintreiben, aber du weißt es auch nicht. Und deswegen brauchen wir uns jetzt gegenseitig. Bis du bereit, einen Handel abzuschließen? Da dein Sender bis zum Schiff reicht, kannst du herausfinden, wo wir sind, aber ohne Kohlendioxyd kommst du nicht zurück. Ich habe für uns beide genug, aber du mußt mich führen.«
»Scher' dich zur Milchstraße, Bürschchen«, brüllte Dingo. »Wenn ich mit dir fertig bin, habe ich deine Stoßröhren.«
»Das möchte ich bezweifeln«, antwortete Lucky kühl.
»Willst du sie auch abmachen, du Gimpel. Dann mal los! Los doch, du verdammter Gimpel! Wozu soll das gut sein? Der Captain wird mich holen, egal, wo ich bin, während du längst mit eingeschlagenem Helm und gefrorenem Blut im Gesicht durch die Gegend treibst.«
»Nicht ganz, Freund. Du hast etwas im Rücken, verstehst du. Vielleicht kannst du es durch das Metall nicht fühlen, es ist aber da, darauf kannst du wetten.«
»Eine Stoßpistole. Na und? Solange wir aneinanderhängen, bedeutet das überhaupt nichts.« Aber seine Arme hielten in ihrem zappelnden Bemühen, Lucky in den Griff zu bekommen, inne.
»Ich bin kein Stoßpistolen-Duellist.« Ob dieses Umstandes schien Luckys Stimme vergnügt zu sein. »Aber trotzdem weiß ich mehr über Stoßpistolen als du. Der Schußwechsel findet auf Meilenabstand statt. Es gibt keinen Luftwiderstand, der den Gasstrom abbremst oder verwirbelt, dafür gibt es aber einen inneren Widerstand. Im Strom selbst treten immer Turbulenzen auf. Die Kristalle prallen gegeneinander und werden dabei langsamer. Die Gasspur wird breiter. Wird das Ziel verfehlt, verteilt sie sich im All und verschwindet, trifft sie schließlich doch noch, ist das immer noch, als ob dich ein Pferd tritt.«
»Wovon, beim All, faselst du da? Was soll das Geschwätz?« Der Pirat wehrte sich mit der Kraft eines Bullen, und Lucky keuchte vor Anstrengung, während er ihn in die alte Position zurückzwang.
»Paß' mal gut auf«, sagte Lucky. »Was glaubst du eigentlich, was passiert, wenn das Kohlendioxyd aus zehn Zentimeter Entfernung trifft, ohne daß die Turbulenzen den Strom verlangsamt haben oder der Jet aufgefächert ist? Du brauchst gar nicht zu raten, ich werd's dir erzählen. Es würde wie ein Schneidbrenner durch den Anzug gehen, und durch deinen Körper natürlich auch.«
»Du spinnst! Du quatscht Unsinn!«
Dingo fluchte wie ein Besessener, hielt seinen Körper aber plötzlich stocksteif.
»Dann versuch's doch«, sagte Lucky. »Beweg' dich! Meine Stoßpistole liegt mit der Mündung fest an deinem Anzug und ich drücke ab. Versuch' es doch.«
»Du foulst mich«, knirschte Dingo. »Das ist kein anständiger Sieg.«
»Ich habe einen Sprung im Visier. Die Männer werden wissen, wer hier nicht fair gewesen ist. Du hast eine halbe Minute, um es dir zu überlegen, Dingo.«
Die Sekunden vertickten, ohne daß einer sprach. Lucky ergriff Dingos Hand.
»Auf Wiedersehen, Dingo!« sagte er.
»Warte mal, warte!« brachte der Pirat mit belegter Stimme hervor. »Ich dehne nur gerade den Senderadius aus.« Dann rief er: »Captain Anton. Captain Anton.«
Es dauerte anderthalb Stunden, um wieder zum Schiff zu kommen.
Die Atlas schwebte wieder im Gefolge des Piratenschiffs durch den Weltraum. Die automatische Steuerung war auf manuelle Bedienung umgeschaltet worden, und eine dreiköpfige Prisenmannschaft überwachte die Antriebsaggregate. Wie zuvor hatte die Atlas eine Passagierliste von genau einem Mann - Lucky Starr.
Lucky stand in einer Kabine unter Arrest und bekam die Crew nur zu Gesicht, wenn er seine Mahlzeiten erhielt. Dabei handelte es sich um die Vorräte von Bord der Atlas, dachte Lucky. Oder zumindest um das, was davon noch übrig geblieben war. Ein Großteil der Lebensmittel und all jene Ausrüstungsgegenstände, die für das Manövrieren des Schiffes nicht unabdingbar notwendig waren, hatte man bereits auf das Piratenschiff hinübergeschafft.
Seine erste Mahlzeit brachten ihm drei Piraten gemeinsam. Es waren schlanke Männer, von der ungebrochenen Sonne des Weltraums tief gebräunt.
Sie reichten ihm das Tablett, ohne etwas zu sagen, untersuchten die Kabine mit Sorgfalt, blieben stehen, während er die Dosen öffnete und den Inhalt erwärmte, dann trugen sie die Reste wieder weg.
»Setzt euch, Männer«, sagte Lucky. »Ihr braucht nicht zu stehen, während ich esse.«
Keine Antwort. Einer, es handelte sich um der dünnsten und hohlwangigsten der drei, seine Nase war einmal gebrochen worden und stand nun schief im Gesicht und sein Adamsapfel zeichnete sich scharf ab, sah seine Kameraden an, als überlege er, ob er die Einladung annehmen solle. Die anderen zeigten aber keine Reaktion.
Schiefnase brachte ihm die nächste Mahlzeit allein. Er stellte das Tablett ab, ging zur Tür zurück und öffnete sie. Er spähte den Korridor entlang, machte wieder zu und sagte: »Ich heiße Martin Maniu.«
Lucky lächelte. »Bill Williams. Die beiden anderen reden nicht mit mir, wie?«
»Das sind Freunde von Dingo. Ich nicht. Vielleicht bist du ein Regierungsspitzel, wie der Captain glaubt, vielleicht bist du auch keiner. Ich habe keine Ahnung. Aber was mich betrifft, ist jeder, der mit Dingo, der Ratte, macht, was du getan hast, in Ordnung. Er hält sich für schlau und liebt rauhe Scherze. Als ich neu war, hat er mich einmal in ein Stoßpistolenduell verwickelt. Er hat mich beinahe gegen einen Asteroiden geschossen. Und das ganz ohne Grund. Er hat behauptet, es sei ein Versehen gewesen, aber überleg' mal, der macht doch mit einer Stoßpistole keine Fehler. Du hast dir eine Menge Freunde gemacht, Mister, als du die Hyäne am Hosenboden zurückgeschleift hast.«
»Das freut mich.«
»Aber nimm' dich vor ihm in acht. Das wird er dir nie vergessen. Paß' auf, daß du nie mit ihm allein bist, selbst in zwanzig Jahren nicht. Es ist nicht nur, daß du ihn besiegt hast, verstehst du, sondern weil du ihn mit der Story über Kohlendioxyd, das angeblich durch eine Dreizentimeterplatte aus Metall schneidet, geblufft hast. Alle lachen ihn aus, und das hat er satt. Er ist regelrecht krank, Mann. Das ist das Schönste, was je passiert ist. Mann, ich hoffe echt, daß der Boß dich mitmachen läßt.«
»Der Boß? Captain Anton?«
»Nein, der Boß. Der große Chef. Sag' mal, das Essen hier an Bord ist wirklich klasse. Besonders das Fleisch.« Der Pirat schmatzte vernehmlich mit den Lippen. »Dieses Gerstenmus hängt dir bald zum Halse raus, besonders, wenn du selbst auch noch die Kessel überwachen mußt.«
Lucky kratzte die Essensreste von seinem Teller. »Wer ist der Kerl?«
»Wen meinst du?«
»Den Boß.«
Maniu zuckte die Achseln. »Beim All! Ich habe keine Ahnung. Du glaubst doch nicht etwa, einer wie ich würde ihn je zu Gesicht bekommen. Es ist jemand, von dem alle Welt redet. Ist doch klar, einer muß der Boß sein.«
»Kompliziert angelegte Organisation.«
»Mann, du machst dir keine Vorstellung davon, bis du selbst bei dem Verein mitmachst. Paß' auf, als ich hier herauskam, war ich total abgebrannt. Ich wußte nicht, was ich tun sollte. Ich dachte, na, wir knallen ein paar Schiffe ab und dann bekomme ich mein eigenes und das wär's dann gewesen. Das wäre bestimmt besser, als einfach zu verhungern, meinst du nicht auch?«
»Aber so ist es nicht gekommen?«
»Nein. Ich war noch nie bei einem Überfall dabei. Von uns hier ist kaum einer mal mitgeflogen. Nur einige wie Dingo. Er ist immer dabei. Gefällt ihm wohl, der Ratte. Hauptsächlich ziehen wir los, um ab und an ein paar Frauen aufzutun.« Der Pirat lächelte. »Ich bin verheiratet und habe ein Kind. Sollte man gar nicht meinen, oder? Klar, wir haben ein eigenes kleines Geschäft. Uns gehören ein paar Gerstenkessel. Ab und zu heuere ich zum Weltraumdienst an, so wie jetzt zum Beispiel. Das ist ein leichter Job. Wenn du mitmachst, könntest du ganz gut dabei fahren. Ein gutaussehender Bursche wie du findet in Null-Komma-Nichts eine Frau und kann eine Familie gründen. Oder es gibt auch reichlich Abenteuer, falls du daran Spaß hast. Oh ja, Bill. Ich hoffe, daß der Boß dich nimmt.«
Lucky begleitete ihn zur Tür. »Wo segeln wir übrigens hin? Etwa zu einer der Basen?«
»Nur zu einem der Felsen, schätze ich. Zum nächstgelegenen. Du bleibst hier, bis Bescheid gesagt wird. Das machen sie gewöhnlich immer so.«
Während er die Tür schloß, fügte er noch hinzu: »Und sag' den beiden anderen oder sonst irgend jemandem kein Wort darüber, daß ich mit dir geredet habe, o. k. Kumpel?« »Kannst dich darauf verlassen.«
Als er wieder allein war, schlug er bedächtig und leicht mit der Faust in die Handfläche seiner anderen Hand. Der Boß! War das eben nur Gerede gewesen? Kompletter Unsinn? Oder hatte es etwas zu bedeuten? Und das übrige Gespräch?
Er würde warten müssen. Heilige Milchstraße! Wenn Conway und Henree nur geistesgegenwärtig genug sind, wenigstens noch eine Weile lang nicht einzugreifen.
*
Als sich die Atlas näherte, erhielt Lucky keine Gelegenheit, den »Felsen« in Augenschein zu nehmen. Er bekam ihn überhaupt nicht zu Gesicht, bis er aus der Luftschleuse heraus ins All trat - Martin Maniu voran und ein zweiter Pirat hinterher - und den Asteroiden hundert Meter unter sich sah.
Der Asteroid war ein typischer Vertreter seiner Art. Lucky schätzte, daß er an seiner breitesten Stelle ungefähr zwei Meilen maß. Er war rechteckig und zerklüftet, ganz so, als hätte ein Riese die Spitze eines Berges abgerissen und sie dann in den Weltraum geschleudert. Die der Sonne zugekehrte Seite glitzerte bräunlich-grau. Man konnte die Rotation deutlich mit dem bloßen Auge erkennen, die Schatten wechselten und veränderten sich.
Als er die Schleuse verließ, stieß er sich nach unten in Richtung auf den Asteroiden ab, indem er die Beine gegen den Rumpf des Schiffes stemmte. Langsam schwebten die verwitterten Klippen auf ihn zu. Als er mit den Händen den Boden berührte, zwang die Bewegungsträgheit auch den Rest seines Körpers hinab, wobei er in verlangsamter Zeitlupe weiterdrehte, bis er sich an einem Vorsprung festhalten konnte und endlich zum Halten kam.
Er stand auf. Der Felsen erweckte fast so etwas wie die Illusion, es könne sich dabei um die Oberfläche eines Planeten handeln. Hinter der nächstgelegenen, hoch aufragenden Klippe lag jedoch nichts außer dem leerem Weltraum. Die Sterne, die sich durch die Rotation des Asteroiden deutlich zu bewegen schienen, waren harte grelle Glitzerpunkte. Das Schiff, das man in eine Umlaufbahn um den Brocken gebracht hatte, stand bewegungslos über ihren Köpfen.
Ein Pirat ging voraus, auf eine zwanzig Meter entfernte Erhöhung im Fels zu, die sich durch nichts von ihrer Umgebung unterschied. Der Mann schaffte die Strecke mit zwei langen Schritten. Während sie warteten, glitt ein Teil der Erhöhung zur Seite, und eine Gestalt in einem Raumanzug trat aus der Öffnung.
»Okay, Einsiedel«, sagte einer der Piraten unfreundlich, »hier ist er. Du trägst jetzt die Verantwortung für ihn.«
Die neue Stimme, die nun in Luckys Kopfhörer erklang, war sanft und ziemlich müde. »Wie lange wird er hier bleiben, meine Herren?«
»Bis wir ihn abholen kommen. Und hör' auf, Fragen zu stellen.«
Die Piraten drehten sich auf dem Absatz um und sprangen in die Höhe. Die Anziehungskraft des Brockens konnte sie nicht zurückhalten. Sie wurden zusehends kleiner, und nach einigen Minuten bemerkte Lucky einen kurzen Kristallblitz, als einer der beiden seine Flugrichtung mit Hilfe einer Stoßpistole korrigierte. Dabei handelte es sich um eine Miniausführung, die zur Standardausrüstung bei Raumanzügen gehört. Die Gasfüllmenge war in einer eingebauten Kohlendioxydpatrone untergebracht.
Minuten vergingen, dann glühten die Jetstrahler der Rakete auf, und das Schiff begann kleiner zu werden.
Lucky wußte, daß es sinnlos war, den Versuch zu unternehmen, die Flugrichtung, in der es verschwand, ausmachen zu wollen, ohne den genauen Stand der eigenen Position im All zu kennen. Und darüber wußte er, abgesehen davon, daß ihm bekannt war, sich irgendwo im Asteroidengürtel zu befinden, rein gar nichts.
Er war so sehr in Betrachtung versunken, daß ihn die sanfte Stimme des anderen Mannes auf dem Asteroiden beinahe aufschrecken ließ.
»Es ist herrlich hier draußen«, sagte er. »Ich komme so selten heraus, daß ich es manchmal vergesse. Sehen Sie!«
Lucky wandte sich nach links. Die kleine Sonne begann soeben über die scharfen Konturen des Asteroiden zu blinzeln. Einen Moment später war sie zu hell, als daß man hätte hineinsehen können, ein hellschimmerndes Zwanzig-Kredit-Stück. Der vorher nachtschwarze Himmel blieb stockfinster, und die Sterne strahlten wie vorher. Auf atmosphärelosen Welten war das immer so, es gab eben keinen Staub, der das Licht gebrochen und verteilt und dem Firmament ein tiefes verhüllendes Blau verliehen hätte.
Der Mann vom Asteroiden sagte: »In ungefähr fünfundzwanzig Minuten oder so geht sie wieder unter.
Manchmal, wenn Jupiter ganz nahe steht, können Sie ihn als kleine Kugel mit vier Satelliten, wie militärisch ausgerichtete Fünkchen erkennen. Aber das geschieht nur alle dreieinhalb Jahre. Jetzt ist nicht die richtige Zeit dafür.«
»Diese Männer haben Sie Einsiedel genannt«, sagte Lucky geradeheraus. »Heißen Sie so? Gehören Sie dazu?«
»Sie meinen, ob ich ein Pirat bin? Nein. Aber ich bin bereit einzuräumen, daß ich vielleicht Beihilfe leiste. Mein Name ist auch nicht Einsiedel. Das ist einfach nur eine Bezeichnung, die sie für Einsiedler im Allgemeinen verwenden. Ich heiße Joseph Patrick Hansen, wenn Sie gestatten, und da wir auf unbestimmte Zeit enge Nachbarn sein dürften, hoffe ich, daß wir gute Freunde werden.«
Er streckte eine metallgeschützte Hand aus, die Lucky ergriff.
»Ich bin Bill Williams«, gab er zurück. »Sie sagten eben, Sie seien Einsiedler, soll das etwa heißen, Sie leben immer hier?«
»Stimmt genau.«
Lucky musterte die armseligen Granit- und Siliziumsplitter und runzelte die Stirn. »Sieht nicht gerade einladend aus.«
»Trotzdem werde ich mir Mühe geben, es Ihnen so angenehm wie möglich zu machen.«
Der Einsiedler berührte eine Sektion des Steins oder Felsens, aus dem er gekommen war, und wiederum bewegte sich ein Teil davon. Lucky bemerkte, daß die Kanten mit Lastium oder einem vergleichbaren Material verkleidet worden waren, um Luftundurchlässigkeit zu gewährleisten.
»Wollen Sie nicht eintreten, Mr. Williams?« sagte der Einsiedler mit einer einladenden Geste.
Lucky folgte ihm. Die Steintür schloß sich hinter ihnen. Während das geschah, schaltete sich eine kleine Leuchtstofflampe an und vertrieb die Finsternis. Eine kleine Luftschleuse, nicht größer als notwendig, um zwei Männer aufzunehmen, wurde erkennbar.
Ein kleines Rotlicht flackerte auf, und der Einsiedler meinte: »Sie können Ihr Visier jetzt öffnen. Wir haben Sauerstoff.« Während er sprach, nahm er sein eigenes ab.
Lucky tat es ihm nach und atmete die frische saubere Luft tief ein. Nicht schlecht. Besser als an Bord, eindeutig besser.
Aber als sich die innere Tür öffnete, fielen Lucky beinahe die Augen aus dem Kopf.