Als ich nach Mitternacht das Internat betrat, lagen alle meine Kameraden schon im Bett, aber durch die Schlüssellöcher sickerten schwache Lichtstrahlen auf den Gang. Auf Zehenspitzen glitt ich zu meinem Zimmer und schloss so leise wie möglich die Tür. Dann schaute ich auf den Wecker – fast ein Uhr. Ich knipste die Lampe an und zog das Fotoalbum aus der Tasche, das wir aus dem Gewächshaus mitgenommen hatten.
Wieder versank ich in die Galerie der Gestalten, die es beherbergte. Ein Bild zeigte eine Hand, deren Finger wie bei einem Amphibium durch Membranen verbunden waren. Daneben entblößte ein Mädchen in Weiß und mit blonden Korkenzieherlocken teuflisch grinsend zwischen den Lippen Reißzähne wie bei einem Hund. Seite um Seite zogen grausame Auswüchse der Natur an mir vorbei. Zwei Albinogeschwister, deren Haut im bloßen Licht einer Kerze in Flammen aufzugehen schien. Am Schädel zusammengewachsene Siamesen mit einander für ein ganzes Leben zugewandten Gesichtern. Der nackte Körper einer Frau mit einer Wirbelsäule, die gewunden war wie ein dürrer Ast. Viele waren Kinder oder Jugendliche, die jünger aussahen als ich. Erwachsene und gar Greise gab es kaum. Natürlich – die Lebenserwartung dieser Unglückseligen war äußerst gering.
Ich erinnerte mich an Marinas Worte, dieses Album gehöre nicht uns und wir hätten es niemals an uns nehmen dürfen. Jetzt, da sich das Adrenalin in meinem Blut verflüchtigt hatte, bekam dieser Gedanke eine neue Bedeutung. Mit dem Betrachten des Albums entweihte ich eine Sammlung von Erinnerungen, die nicht mir gehörten. Ich sah, dass diese Bilder der Traurigkeit und des Unglücks auf ihre Art ein Familienalbum bildeten. Wiederholt blätterte ich mich durch die Seiten, im Glauben, in ihnen eine Verbindung zu spüren, die weiter reichte als Raum und Zeit. Schließlich klappte ich es zu und verwahrte es wieder in meiner Tasche. Ich löschte das Licht, und das Bild von Marina, wie sie über den Strand spazierte, kam mir in den Sinn. Ich sah sie am Ufer davongehen, bis der Schlaf die Stimme der Flut zum Verstummen brachte.
Für einen Tag hatte der Regen Barcelona satt und entfernte sich nach Norden. Wie ein Strolch ließ ich an diesem Nachmittag die letzte Unterrichtsstunde aus, um mich mit Marina zu treffen. Die Wolken hatten sich zu einem blauen Vorhang aufgetan, die Sonne sprenkelte die Straßen. Marina erwartete mich im Garten, in ihr Geheimheft versunken. Sowie sie mich erblickte, klappte sie es eilig zu. Ich fragte mich, ob sie über mich schrieb oder über das, was uns im Gewächshaus widerfahren war.
»Wie geht’s deinem Bein?«Sie drückte das Heft mit beiden Armen an sich.
»Ich werde es überleben. Komm, ich möchte dir etwas zeigen.«
Ich zog das Album hervor und setzte mich neben sie auf den Brunnenrand. Während ich blätterte, seufzte Marina leise, verwirrt von diesen Bildern.
»Da.«Bei einem Foto gegen Ende des Albums hielt ich inne.»Heute Morgen beim Aufstehen ist es mir eingefallen. Bisher war ich noch nicht drauf gekommen, aber jetzt…«
Marina betrachtete das Bild, das ich ihr hinhielt. Ein Schwarzweißfoto, verhext durch die seltene Schärfe, die nur die alten Studioporträts besitzen. Darauf sah man einen Mann mit brutal missgebildetem Schädel und einer Wirbelsäule, die ihn kaum auf den Füßen hielt. Er stützte sich auf einen jungen Mann in weißem Kittel mit runden Brillengläsern und einer zu seinem akkurat geschnittenen Schnurrbart passenden Fliege. Ein Arzt. Er schaute in die Kamera. Der Patient bedeckte sich mit der Hand die Augen, als schämte er sich seiner Geartetheit. Dahinter konnte man die spanische Wand einer Umkleidekabine erkennen und etwas, was eine Arztpraxis sein musste. In einer Ecke sah man eine halb geöffnete Tür. Dort stand ein sehr kleines Mädchen mit einer Puppe und betrachtete schüchtern die Szene. Die Fotografie schien in erster Linie ein medizinisches Dokument zu sein.
»Schau genau hin«, sagte ich.
»Ich sehe nichts weiter als einen armen Teufel…«
»Schau nicht ihn an. Schau dahinter.«
»Ein Fenster…«
»Und was siehst du durch dieses Fenster?«
Sie runzelte die Stirn.
»Erkennst du ihn?«Ich deutete auf eine Drachenfigur, die die Fassade des Hauses jenseits des Zimmers schmückte, wo die Aufnahme gemacht worden war.
»Den hab ich irgendwo gesehen…«
»Das habe ich auch gedacht. Hier in Barcelona. Auf den Ramblas, gegenüber dem Liceo-Theater. Ich habe sämtliche Aufnahmen in diesem Album genau studiert, und das ist die einzige, die in Barcelona gemacht worden ist.«
Ich löste das Bild ab und reichte es Marina. Auf der Rückseite war in fast verwischten Buchstaben zu lesen:
Fotostudio Martorell-Borrás – 1951
Kopie – Dr. Joan Shelley
Rambla de los Estudiantes, 46 – 48, 1º. Barcelona
Mit einem Schulterzucken gab mir Marina das Bild zurück.
»Das Foto ist vor fast dreißig Jahren gemacht worden, Óscar, das besagt doch nichts.«
»Heute Vormittag habe ich im Telefonbuch nachgeschaut. Dieser Dr. Shelley ist immer noch drin, und zwar in der Rambla de los Estudiantes Nr. 46 – 48, erster Stock. Ich wusste doch, dass er mir bekannt vorkam. Dann habe ich mich daran erinnert, dass Sentís sagte, Dr. Shelley sei Michail Kolweniks erster Freund in Barcelona gewesen.«
Marina schaute mich lange an.
»Und du, um das zu feiern, hast noch etwas mehr getan, als nur im Telefonbuch nachzuschlagen…«
»Ich habe angerufen«, gab ich zu.»Dr. Shelleys Tochter María hat geantwortet. Ich hab ihr gesagt, es sei höchst wichtig, dass wir mit ihrem Vater sprechen.«
»Und sie hat dich ernst genommen?«
»Zuerst nicht, aber als ich Michail Kolweniks Namen nannte, hat sich ihre Stimme verändert. Ihr Vater hat eingewilligt, uns zu empfangen.«
»Und wann?«
Ich schaute auf die Uhr.
»In rund vierzig Minuten.«
Mit der U-Bahn fuhren wir zur Plaza de Cataluña. Es wurde bereits dunkel, als wir die Treppe zu den Ramblas hinaufstiegen. Weihnachten lag vor der Tür und die Stadt im Glanz der Lichtergirlanden. Die Straßenlaternen zeichneten bunte Muster auf den Boulevard. Zwischen Blumenkiosken und Cafés flatterten Taubenschwärme, es wimmelte von Straßenmusikanten und Animierdamen, Touristen und Provinzlern, Polizisten und Gaunern, Bürgern und Gespenstern aus anderen Zeiten. Germán hatte recht – nirgends sonst auf der Welt gab es eine solche Straße.
Vor uns erhob sich die Silhouette des Liceo-Theaters. Es war ein Abend mit Operngala, und das Lichterdiadem des Vordachs war an. Auf der anderen Seite des Boulevards erkannten wir an einer Ecke der Fassade den grünen Drachen des Fotos, der die Menge betrachtete. Bei seinem Anblick dachte ich, die Geschichte habe die Altäre und Farbbildchen für den heiligen Georg reserviert, dem Drachen aber sei auf ewig Barcelona zugefallen.
Dr. Shelleys ehemalige Praxis belegte den ersten Stock eines herrschaftlichen Hauses mit düsterer Beleuchtung. Wir durchquerten ein höhlenartiges Entree, von dem aus in einer Spirale eine gewundene Treppe hinaufführte. Unsere Schritte verloren sich im Echo des Treppenhauses. Die Türklopfer waren schmiedeeiserne Engelsgesichter. Kathedralenartige Dachfenster umgaben das Oberlicht und machten das Haus zum größten Kaleidoskop der Welt. Der erste Stock war, wie immer bei Häusern jener Zeit, nicht der erste, sondern der dritte – nach Hochparterre und Hauptstock gelangten wir zu der Tür, auf der ein altes Bronzeschild verkündete: Dr. Joan Shelley. Ich schaute auf die Uhr. Es fehlten noch zwei Minuten bis zu der vereinbarten Zeit, als Marina anklopfte.
Zweifellos war die Frau, die uns öffnete, einem Heiligenbild entsprungen. Ungreifbar, jungfräulich und von einem mystischen Hauch umgeben. Ihre Haut war schneeweiß, beinahe durchsichtig und ihre Augen hell bis zur Farblosigkeit. Ein Engel ohne Flügel.
»Señora Shelley?«, fragte ich wohlerzogen.
Sie nickte, und ihr Blick glühte vor Neugier.
»Guten Abend«, setzte ich an.»Mein Name ist Óscar. Ich habe heute Vormittag mit Ihnen gesprochen.«
»Ich weiß. Kommen Sie, kommen Sie.«
Nachdem wir eingetreten waren, bewegte sie sich wie eine Tänzerin auf Wolken, im Zeitlupentempo. Sie war von fragilem Körperbau und roch nach Rosenwasser. Ich schätzte sie auf etwas über dreißig, obwohl sie jünger wirkte. Eines ihrer Handgelenke war verbunden, und um den Schwanenhals trug sie ein Tüchlein. Die Diele war eine mit Samt und Rauchglasspiegeln ausgekleidete Dunkelkammer. Die Wohnung roch nach Museum, als wäre die Luft schon seit Jahrzehnten darin gefangen.
»Wir sind Ihnen sehr dankbar, dass Sie uns empfangen. Das ist meine Freundin Marina.«
María fasste Marina ins Auge. Immer schon hat mich fasziniert, wie Frauen einander mustern. Das hier war keine Ausnahme.
»Erfreut«, sagte María Shelley schließlich gedehnt.»Mein Vater ist ein Mann fortgeschrittenen Alters mit ein wenig flatterhaftem Temperament. Bitte ermüden Sie ihn nicht.«
»Seien Sie unbesorgt«, sagte Marina.
Sie bat uns herein. Sie bewegte sich tatsächlich mit luftiger Elastizität.
»Und Sie sagen, Sie haben etwas, was dem verstorbenen Señor Kolwenik gehörte?«, fragte María.
»Haben Sie ihn denn gekannt?«, fragte ich meinerseits.
Bei den Erinnerungen an frühere Zeiten leuchtete ihr Gesicht auf.
»Nicht wirklich, nein… Ich habe aber viel von ihm gehört. Als Mädchen«, fügte sie wie für sich selbst hinzu.
Die mit schwarzem Samt ausgeschlagenen Wände waren von Heiligen-, Muttergottes- und Märtyrerbildchen bedeckt, Letztere im Todeskampf. Die dunklen Teppiche absorbierten das bisschen Licht, das zu den Ritzen der geschlossenen Fenster hereindrang. Während wir unserer Gastgeberin durch diese Galerie folgten, fragte ich mich, wie lange sie hier schon allein mit ihrem Vater leben mochte. Ob sie je geheiratet und außerhalb der bedrückenden Welt dieser Wände irgendetwas erlebt, geliebt oder gefühlt hatte?
Vor einer Schiebetür blieb María Shelley stehen und klopfte an.
»Vater?«
Dr. Joan Shelley bzw. das, was von ihm übriggeblieben war, saß unter mehreren Decken in einem Sessel vor dem Feuer. Seine Tochter ließ uns mit ihm allein. Ich versuchte, meine Augen von ihrer Wespentaille abzuwenden, während sie sich zurückzog. Der greise Arzt, in dem ich kaum den Mann wiedererkannte, dessen Foto ich in der Tasche hatte, betrachtete uns schweigend. Seine Augen verrieten Argwohn. Eine seiner Hände zitterte leicht auf der Sessellehne. Unter einer Maske von Kölnischwasser stank sein Körper nach Krankheit. Sein sarkastisches Lächeln konnte das Unbehagen nicht übertünchen, das ihm die Welt und sein eigener Zustand einflößten.
»Die Zeit macht mit dem Körper, was die Dummheit mit der Seele macht«, sagte er, auf sich deutend.»Sie lässt ihn vermodern. Was wollen Sie?«
»Wir haben uns gefragt, ob Sie uns von Michail Kolwenik erzählen könnten.«
»Könnte ich schon, aber ich sehe keinen Grund dafür«, sagte der Arzt kurz angebunden.»Seinerzeit ist schon genügend geredet worden, und alles war gelogen. Würden die Leute auch nur ein Viertel so viel denken, wie sie reden, diese Welt wäre ein Paradies.«
»Ja, aber wir sind an der Wahrheit interessiert«, sagte ich.
Der Alte verzog das Gesicht zu einer spöttischen Grimasse.
»Die Wahrheit findet man nicht, mein Junge. Sie findet einen.«
Ich versuchte, gefügig zu lächeln, begann aber zu ahnen, dass dieser Mann tatsächlich nicht im Sinn hatte, seine Zugeknöpftheit aufzugeben. Marina erriet meine Befürchtung und ergriff die Initiative.
»Dr. Shelley«, sagte sie sanft,»zufällig ist uns eine Fotosammlung in die Hände geraten, die Señor Michail Kolwenik gehört haben könnte. Auf einem dieser Bilder sind Sie mit einem Ihrer Patienten zu sehen. Aus diesem Grund haben wir es gewagt, Sie zu belästigen, in der Hoffnung, die Sammlung ihrem rechtmäßigen Eigentümer zurückzugeben.«
Diesmal gab es keinen lapidaren Satz zur Antwort. Der Arzt betrachtete Marina, ohne eine gewisse Überraschung zu verbergen. Ich fragte mich, warum mir keine solche List eingefallen war, und dachte, je mehr Marina die Last des Gesprächs übernehme, desto besser.
»Ich weiß nicht, von was für Fotografien Sie sprechen.«
»Es ist ein Archiv, das von Missbildungen betroffene Patienten zeigt«, sagte sie.
In den Augen des Arztes leuchtete es auf. Wir hatten einen Nerv berührt. Unter den Decken gab es also doch Leben.
»Was bringt Sie auf den Gedanken, diese Sammlung könnte Michail Kolwenik gehört haben?«, fragte er mit gespielter Gleichgültigkeit.»Oder ich hätte irgendetwas damit zu tun?«
»Ihre Tochter hat uns gesagt, Sie beide seien Freunde gewesen«, sagte Marina, vom Thema abweichend.
»María hat die Tugend der Naivität«, unterbrach Shelley sie feindselig.
Marina nickte, stand auf und gab mir ein Zeichen, es ihr gleichzutun.
»Ich verstehe«, sagte sie höflich.»Wir müssen uns geirrt haben. Tut uns leid, Sie belästigt zu haben, Doktor. Gehen wir, Óscar. Wir werden schon herausfinden, wem wir die Sammlung geben müssen.«
»Einen Augenblick.«
Shelley räusperte sich und bedeutete uns, wieder Platz zu nehmen.
»Habt ihr diese Sammlung noch?«
Marina nickte und hielt dem Blick des Alten stand. Auf einmal gab Shelley ein Geräusch von sich, das wahrscheinlich Gelächter war, aber klang, als zerknüllte er alte Zeitungsseiten.
»Wie soll ich wissen, dass ihr die Wahrheit sagt?«
Marina warf mir einen stummen Befehl zu. Ich zog das Foto aus der Tasche und reichte es ihm. Er ergriff es mit seiner zitternden Hand und studierte es ausgiebig. Schließlich wandte er den Blick zum Feuer und begann zu sprechen.
Wie er uns erzählte, war Dr. Shelley Sohn eines britischen Vaters und einer katalanischen Mutter. In einem Krankenhaus in Bournemouth hatte er sich auf Traumatologie spezialisiert. Als er sich in Barcelona niederließ, waren ihm als Fremdem die Türen zu allen gesellschaftlichen Kreisen verschlossen, wo verheißungsvolle Karrieren geschmiedet wurden. Alles, was er bekam, war eine Stelle im medizinischen Trakt des Gefängnisses. Er behandelte Michail Kolwenik, nachdem dieser eine brutale Tracht Prügel hatte einstecken müssen. Damals sprach Kolwenik weder Spanisch noch Katalanisch. Zu seinem Glück konnte Shelley ein wenig Deutsch. Shelley lieh ihm Geld, damit er sich Kleider kaufen konnte, quartierte ihn bei sich ein und half ihm, eine Stelle bei der Velo-Granell zu finden. Kolwenik fasste eine immense Zuneigung zu ihm und vergaß nie seine Güte. Zwischen den beiden entstand eine tiefe Freundschaft.
Später sollte diese Freundschaft auch in beruflicher Hinsicht Früchte tragen. Viele von Dr. Shelleys Patienten benötigten orthopädische Teile und spezielle Prothesen. Auf diesem Gebiet war Velo-Granell führend, und von ihren Konstrukteuren zeigte keiner mehr Talent als Michail Kolwenik. Mit der Zeit wurde Shelley Kolweniks persönlicher Arzt. Sowie ihm das Glück lachte, wollte Kolwenik seinem Freund helfen, indem er ihm ein auf das Studium und die Behandlung degenerativer Krankheiten und angeborener Missbildungen spezialisiertes medizinisches Zentrum finanzierte.
Kolweniks Interesse an diesem Thema ging auf seine Kindheit in Prag zurück. Shelley erzählte uns, Michail Kolweniks Mutter habe Zwillinge gehabt. Der eine, Michail, kam kräftig und gesund zur Welt. Der andere, Andrej, hatte eine unheilbare Knochen- und Muskelmissbildung, die seinem Leben nach nur sieben Jahren ein Ende setzte. Dieses Erlebnis prägte die Erinnerung und in gewissem Sinn auch die Berufung des jungen Michail. Er hatte immer gedacht, mit der angezeigten medizinischen Fürsorge und der Entwicklung einer Technologie, die das ihm von der Natur Versagte hätte ersetzen können, hätte sein Bruder das Erwachsenenalter erreichen und ein erfülltes Leben führen können. Diese Überzeugung brachte ihn dazu, sein Talent in die Konstruktion von Mechanismen fließen zu lassen, die, wie er gern sagte, die von der Vorsehung vernachlässigten Körper»vervollständigten«.
»Die Natur ist wie ein Kind, das mit unserem Leben spielt. Wenn es seiner zerbrochenen Spielzeuge überdrüssig ist, lässt es sie liegen und ersetzt sie durch andere«, sagte Kolwenik immer.»Es ist unsere Verantwortung, die Teile wieder zusammenzufügen.«
In diesen Worten sahen einige Leute an Blasphemie grenzende Arroganz, andere aber nichts als Hoffnung. Der Schatten seines Bruders hatte Michail Kolwenik nie verlassen. Er dachte, ein launischer, grausamer Zufall habe beschlossen, ihn leben zu lassen, während sein Bruder schon als vom Tod Gezeichneter zur Welt gekommen sei. Shelley erzählte, deswegen habe sich Kolwenik schuldig und sich von tiefstem Herzen Andrej und all denjenigen verpflichtet gefühlt, die wie sein Bruder mit dem Stigma der Unvollkommenheit geschlagen waren. In dieser Zeit begann Kolwenik Fotos von Ungeheuern und Missbildungen aus aller Welt zusammenzutragen. Für ihn waren diese vom Schicksal verlassenen Wesen Andrejs unsichtbare Geschwister, seine Familie.
»Michail Kolwenik war ein brillanter Mann«, fuhr Dr. Shelley fort.»Solche Menschen wecken immer den Argwohn von Leuten, die sich unterlegen fühlen. Der Neid ist ein Blinder, der einem die Augen auskratzen möchte. Alles, was in Michails letzten Jahren und nach seinem Tod über ihn gesagt wurde, waren Verleumdungen… Dieser verdammte Inspektor – Florián. Er verstand nicht, dass er als Marionette benutzt wurde, um Michail zu Boden zu werfen.«
»Florián?«, fragte Marina.
»Florián war Chefinspektor der Kripo«, sagte Shelley mit so viel Verachtung, wie seine Stimmbänder hervorbrachten.»Ein Karrierist, ein Mistkerl, der sich auf Kosten der Velo-Granell und Michail Kolweniks einen Namen machen wollte. Mich tröstet einzig, dass er nie etwas beweisen konnte. Seine Verbissenheit setzte seinem Aufstieg ein Ende. Er war es, der sich diesen ganzen Skandal mit den Leichen aus dem Ärmel schüttelte…«
»Leichen?«
Shelley verfiel in langes Schweigen. Er sah uns beide an, und das zynische Lächeln kam wieder zum Vorschein.
»Dieser Inspektor Florián…«, sagte Marina.»Wissen Sie, wo wir ihn finden könnten?«
»In einem Zirkus, zusammen mit all den anderen Clowns«, antwortete Shelley.
»Haben Sie Benjamín Sentís gekannt, Doktor?«Ich versuchte, das Gespräch wieder auf das richtige Gleis zu bringen.
»Aber selbstverständlich. Ich hatte regelmäßig mit ihm zu tun. Als Kolweniks Partner besorgte Sentís den administrativen Teil von Velo-Granell. Ein habgieriger Mensch, der nicht wusste, wo sein Platz auf der Welt war, meiner Meinung nach. Vom Neid zerfressen.«
»Wissen Sie, dass Señor Sentís’ Leiche vor einer Woche in der Kanalisation gefunden wurde?«, fragte ich.
»Ich lese Zeitung«, antwortete er frostig.
»Finden Sie das nicht merkwürdig?«
»Nicht merkwürdiger als alles andere, was man in der Presse liest. Die Welt ist krank. Und ich werde langsam müde. Sonst noch was?«
Ich wollte eben etwas wegen der Dame in Schwarz fragen, als mir Marina mit einem verneinenden Lächeln zuvorkam. Shelley griff nach einer Klingelschnur für die Bediensteten und zog daran. Den Blick auf ihre Füße gerichtet, stellte sich María ein.
»Diese jungen Leute wollen gehen, María.«
»Ja, Vater.«
Wir standen auf. Ich machte Anstalten, das Foto wieder einzustecken, doch die zitternde Hand des Arztes kam mir zuvor.
»Diese Fotografie behalte ich, wenn es euch nichts ausmacht…«
Danach wandte er uns den Rücken zu und bedeutete seiner Tochter mit einer Handbewegung, uns zur Tür zu bringen. Beim Verlassen der Bibliothek warf ich einen letzten Blick auf den Arzt und sah, dass er das Foto ins Feuer warf. Seine glasigen Augen schauten zu, wie es in den Flammen verbrannte.
María Shelley führte uns schweigend zur Diele und lächelte uns dann entschuldigend zu.
»Mein Vater ist ein schwieriger Mann, aber er hat ein gutes Herz. Das Leben hat ihm viel Verdruss bereitet, und manchmal spielt ihm sein Temperament einen Streich…«
Sie öffnete die Tür und knipste die Treppenhausbeleuchtung an. In ihrem Blick las ich einen Zweifel, als wolle sie uns noch etwas sagen, fürchte sich aber davor. Marina bemerkte es ebenfalls und reichte ihr zum Dank die Hand. María Shelley ergriff sie. Wie kalter Schweiß drang die Einsamkeit aus den Poren dieser Frau.
»Ich weiß nicht, was mein Vater Ihnen erzählt hat«, sagte sie sehr leise und schaute ängstlich hinter sich.
»María?«, war die Stimme des Arztes aus den Tiefen zu hören.»Mit wem sprichst du?«
Ein Schatten überzog Marías Gesicht.
»Ich komm schon, Vater, ich komm schon.«
Sie warf uns einen letzten trostlosen Blick zu und verschwand in der Wohnung. Als sie sich umdrehte, sah ich an ihrem Hals ein kleines Medaillon hängen. Ich hätte schwören können, dass es ein schwarzer Schmetterling mit ausgebreiteten Flügeln war. Doch die Tür ging zu, ohne dass ich Zeit hatte, mich zu vergewissern. Wir blieben auf dem Treppenabsatz stehen und hörten, wie in der Wohnung der Arzt auf einmal mit Donnerstimme seine Wut an der Tochter ausließ. Die Treppenhausbeleuchtung erlosch. Einen Augenblick glaubte ich verwesendes Fleisch zu riechen. Der Geruch kam von irgendwoher im Treppenhaus, als läge im Dunkeln ein totes Tier. Da meinte ich Schritte zu vernehmen, die sich nach oben entfernten, und der Geruch – oder die Einbildung eines solchen – verschwand.
»Lass uns von hier verschwinden«, sagte ich.