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Ich glaube, in meinem ganzen Leben war ich nie so pünktlich gewesen. Die Stadt steckte noch im Pyjama, als ich über die Plaza de Sarriá ging. Während es zur Neun-Uhr-Messe läutete, flog bei meinem Vorübergehen ein Schwarm Tauben auf. Eine Sonne wie auf einem Kalenderbild entzündete die Spuren nächtlichen Nieselregens. Kafka war mich am Anfang der Straße, die zum Haus führte, abholen gekommen. Eine Gruppe Spatzen hielt sich auf einer Mauer in weisem Abstand. Der Kater beobachtete sie mit geübter professioneller Gleichgültigkeit.

»Morgen, Kafka. Haben wir heute schon einen Mord begangen?«

Er antwortete mit einem Schnurren und führte mich wie ein phlegmatischer Butler durch den Garten zum Brunnen. Auf dessen Rand erkannte ich Marinas Gestalt in einem elfenbeinfarbenen, schulterfreien Kleid. Mit einer Füllfeder schrieb sie in ein ledergebundenes Buch. Ihr Gesicht verriet große Konzentration, und sie nahm mich überhaupt nicht wahr. Ihr Geist schien in einer anderen Welt zu weilen, so dass ich sie einige Augenblicke verzückt betrachten konnte. Ich hatte keinen Zweifel, dass diese Schlüsselbeine von Leonardo da Vinci entworfen worden waren, eine andere Erklärung war nicht möglich. Eifersüchtig brach Kafka mit einem Miauen die Magie. Der Füller hielt brüsk inne, Marina schaute auf und mir in die Augen und klappte das Buch zu.

»Bereit?«


Sie führte mich mit unbekanntem Ziel und geheimnisvollem Lächeln durch die Straßen von Sarriá.

»Wohin gehen wir?«, fragte ich nach einigen Minuten.

»Nur Geduld. Du wirst es schon sehen.«

Ich folgte ihr gehorsam, obwohl ich argwöhnte, einem im Moment noch unverständlichen Scherz aufzusitzen. Wir gingen zum Paseo de la Bonanova hinunter und von dort Richtung San Gervasio. Vor dem schwarzen Loch von Víctors Kneipe wärmte eine Gruppe junger Schnösel mit einem Bier in der Hand und hinter Sonnenbrillen verschanzt lässig die Sättel ihrer Vespas. Als wir vorübergingen, sahen sich einige von ihnen gemüßigt, ihre Ray Bans auf halbmast zu setzen, um Marina mit Röntgenblick zu erfassen. Blei sollt ihr fressen, dachte ich.

Dann bog Marina rechts in die Calle Dr. Roux ein. Wir gingen zwei Häuserblocks hinunter bis zu einem schmalen unasphaltierten Pfad, der bei der Nummer 112 begann. Noch immer stand das rätselhafte Lächeln auf ihren Lippen.

»Ist es hier?«, fragte ich gespannt.

Der Pfad schien zu Ende zu sein. Marina ging aber einfach weiter zu einem Weg, der zu einem zypressengesäumten Säulengang hinaufführte. Auf der anderen Seite lag unter bläulichen Schatten ein verhexter Garten voller Grabsteine, Kreuze und moosiger Mausoleen.


Der alte Friedhof von Sarriá ist einer der verstecktesten Winkel Barcelonas. Sucht man ihn auf einem Stadtplan, dann findet man ihn nicht. Fragt man Anwohner oder Taxifahrer, wie man hingelangt, dann wissen sie es ziemlich sicher nicht, obwohl alle schon von ihm gehört haben. Und wenn jemand es vielleicht wagt, ihn auf eigene Faust zu suchen, verirrt er sich höchstwahrscheinlich. Die wenigen, die das Geheimnis seiner Lage kennen, vermuten, dass dieser alte Friedhof eigentlich nichts weiter ist als eine Insel aus der Vergangenheit, die nach Lust und Laune auftaucht und wieder verschwindet.

Hierher führte mich Marina an diesem Septembersonntag, um mir ein Geheimnis zu offenbaren, das mich beinahe mit derselben Spannung erfüllte, wie ihre ganze Person es tat. Gemäß ihren Anweisungen setzten wir uns in eine etwas erhöhte verborgene Ecke im nördlichen Teil des Geländes. Ruhig saßen wir da und betrachteten Gräber und verwelkte Blumen. Marina sagte keinen Ton, und nach einigen Minuten wurde ich langsam ungeduldig. Das einzige Geheimnis, das sich mir stellte, war, was zum Teufel wir hier zu suchen hatten.

»Ziemlich tote Hose hier«, meinte ich ironisch.

»Geduld ist die Mutter der Wissenschaft«, entgegnete sie.

»Und die Patin des Wahnsinns. Hier gibt es weniger als nichts.«

Sie warf mir einen Blick zu, den ich nicht deuten konnte.

»Da täuschst du dich. Hier liegen die Erinnerungen Hunderter von Menschen, ihre Leben, Gefühle, Illusionen, ihre Abwesenheit, die Träume, die sie nie verwirklichen konnten, die Enttäuschungen, Irrtümer und unerwiderten Lieben, die ihnen das Leben vergiftet haben. All das ist hier – auf immer festgehalten.«

Ich schaute sie neugierig und ein wenig befangen an, ich wusste nicht genau, wovon sie eigentlich sprach. Für sie war es jedenfalls wichtig.

»Man kann vom Leben nichts verstehen, solange man den Tod nicht versteht«, sagte sie.

Wieder begriff ich nicht recht, was sie meinte.

»Eigentlich denke ich nicht viel darüber nach«, sagte ich.»Über den Tod, meine ich. Wenigstens nicht ernsthaft…«

Sie schüttelte den Kopf wie ein Arzt, der die Symptome einer verhängnisvollen Krankheit erkennt.

»Du bist also einer dieser ahnungslosen Einfaltspinsel…«, sagte sie nachdenklich.

»Ahnungslos?«

Jetzt allerdings war ich aufgeschmissen. Hundertprozentig.

Marina ließ ihren Blick schweifen, und ihr ernstes Gesicht machte sie älter. Ich war hypnotisiert von ihr.

»Vermutlich hast du die Legende nicht gehört«, begann sie.

»Legende?«

»Das hab ich mir gedacht. Na ja, egal. Es heißt, dass der Tod Boten hat, die durch die Straßen ziehen und die Ignoranten und Hohlköpfe suchen, die nicht an ihn denken.«

Sie schaute mich durchdringend an.

»Wenn einer dieser Unglücklichen auf einen Todesboten stößt, führt ihn dieser in eine Falle, ohne dass er es merkt. Eine Falltür zur Hölle. Diese Boten haben ihr Gesicht bedeckt, damit man nicht sieht, dass sie keine Augen haben, sondern zwei schwarze Löcher, in denen Würmer hausen. Wenn es keinen Ausweg mehr gibt, enthüllt der Bote sein Gesicht, und dem Opfer wird der Horror bewusst, der ihn erwartet…«

Ihre Worte schwebten mit Echo dahin, während sich mein Magen zusammenzog.

Erst jetzt zeigte Marina ihr verschmitztes Lächeln. Ein Katzenlächeln.

»Du nimmst mich auf den Arm.«

»Natürlich.«

Es verstrichen fünf oder zehn Minuten, vielleicht auch mehr, ohne dass ein Wort fiel. Eine Ewigkeit. Eine leichte Brise strich durch die Zypressen. Zwischen den Gräbern flatterten zwei weiße Tauben umher. Eine Ameise kletterte mein Hosenbein hoch. Viel mehr ereignete sich nicht. Bald merkte ich, dass mir ein Bein einschlief, und ich befürchtete, mein Hirn werde denselben Weg einschlagen. Ich wollte gerade protestieren, als Marina die Hand hob und mir Schweigen gebot, noch bevor ich die Lippen öffnete. Sie deutete auf den Säulengang des Friedhofs.

Eben war jemand hereingekommen. Es schien eine in einen schwarzen Samtumhang gehüllte Frau zu sein. Eine Kapuze bedeckte ihr Gesicht. Die über der Brust gekreuzten Hände steckten in ebenfalls schwarzen Handschuhen. Der Umhang reichte bis auf den Boden, so dass ihre Füße nicht zu sehen waren. Von unserem Standort aus erweckte die gesichtslose Gestalt den Eindruck, dahinzugleiten, ohne den Boden zu berühren. Mir lief es kalt den Rücken hinunter.

»Wer…?«, flüsterte ich.

»Pscht.«

Hinter Säulen verborgen, beobachteten wir die Dame in Schwarz. Wie ein Gespenst bewegte sie sich zwischen den Gräbern. In den behandschuhten Händen trug sie eine rote Rose, die aussah wie eine frische Stichwunde. Die Frau kam auf ein Grab direkt unter unserem Beobachtungsposten zu und blieb schließlich mit dem Rücken zu uns stehen. Da sah ich, dass dieser Grabstein im Gegensatz zu den anderen keinen Namen trug. Auf dem Marmor war nur ein Symbol zu erkennen, das wie ein Insekt aussah, ein schwarzer Schmetterling mit ausgebreiteten Flügeln.

Die Dame in Schwarz blieb fast fünf Minuten reglos am Grab stehen. Schließlich beugte sie sich hinunter, legte die Rose auf den Stein und ging langsam davon, so, wie sie gekommen war. Wie ein Gespenst.

Marina warf mir einen nervösen Blick zu und rückte näher, um mir etwas zuzuflüstern. Ich spürte ihre Lippen am Ohr, und in meinem Nacken begann ein Tausendfüßler mit Feuerbeinchen Samba zu tanzen.

»Vor drei Monaten hab ich sie zufällig entdeckt, als ich Germán begleitete, der Blumen für seine Tante Reme brachte… Sie kommt jeweils am letzten Sonntagvormittag des Monats um zehn Uhr und legt immer die gleiche Rose aufs Grab. Sie trägt immer denselben Umhang, diese Handschuhe und die Kapuze. Und sie kommt immer allein. Nie sieht man ihr Gesicht. Nie spricht sie mit jemandem.«

»Wer liegt denn da begraben?«

Das seltsame eingravierte Symbol hatte meine Neugier geweckt.

»Ich weiß es nicht. Im Friedhofsregister steht kein Name…«

»Und wer ist diese Frau?«

Marina wollte eben eine Antwort geben, aber als sie die Silhouette der Dame durch den Säulengang verschwinden sah, nahm sie mich bei der Hand und stand eilig auf.

»Schnell, sonst verlieren wir sie.«

»Sollen wir ihr denn nachgehen?«

»Du wolltest doch Action, oder?«, sagte sie, halb mitleidig, halb aufgebracht, wie zu einem Trottel.


Als wir uns wieder in der Calle Dr. Roux befanden, ging die Frau in Richtung Bonanova davon. Es begann erneut zu regnen, aber die Sonne wollte nicht verschwinden. Wir folgten der Dame durch einen goldenen Tränenvorhang. Nach dem Überqueren des Paseo de la Bonanova begannen wir den Hang zu den Hügeln hinanzugehen, wo Palästchen und Villen aus besseren Zeiten standen. Die Dame betrat das Geflecht menschenleerer, von einer Laubdecke übersäter Straßen, die glänzten, als bestünden sie aus den abgestreiften Schuppen einer großen Schlange. Dann blieb sie, eine lebende Statue, auf einer Kreuzung stehen.

»Sie hat uns gesehen…«, flüsterte ich und verbarg mich mit Marina hinter einem dicken Baumstamm voller Einkerbungen.

Einen Moment befürchtete ich, sie könnte sich umdrehen und uns wirklich entdecken. Doch nein. Wenig später bog sie links ein und verschwand. Wir schauten uns an und nahmen die Verfolgung wieder auf. Die Spur führte uns in eine schmale Sackgasse, an deren Ende oberirdisch die Gleise der Sarriá-Bahn nach Vallvidrera und Sant Cugat verliefen. Wir blieben stehen. Keine Spur von der Dame in Schwarz, obwohl wir sie genau da hatten einbiegen sehen. Über den Bäumen und den Hausdächern konnte man in der Ferne die Türme des Internats erkennen.

»Sie wird ihr Haus betreten haben«, vermutete ich.»Sie muss hier irgendwo wohnen…«

»Nein. Diese Häuser sind unbewohnt. Hier lebt niemand.«

Marina deutete auf die hinter Gittertoren und Mauern verborgenen Fassaden. Zwei alte leerstehende Lagerräume und ein vor Jahrzehnten von den Flammen verzehrtes Haus – das war alles, was noch stand. Die Dame war uns vor der Nase entwischt.

Wir gingen in die Gasse hinein. Zu unseren Füßen spiegelte sich in einer Lache ein Stückchen Himmel; die Regentropfen verzerrten unser Bild. Am Ende der Gasse bewegte sich ein hölzernes Tor im Wind. Marina sah mich schweigend an. Vorsichtig traten wir näher, und ich riskierte einen Blick. Das Tor, eingefügt in eine rote Backsteinmauer, führte auf einen Innenhof. Was einmal ein Garten gewesen war, wurde jetzt vollständig von Unkraut überwuchert. Hinter dem Dickicht konnte man die Fassade eines seltsamen, efeuüberwachsenen Baus erahnen. Erst nach einem Moment begriff ich, dass es sich um ein von einem Stahlskelett getragenes gläsernes Gewächshaus handelte. Die Pflanzen zischten wie ein lauernder Insektenschwarm.

»Du zuerst«, forderte mich Marina auf.

Ich nahm allen Mut zusammen und drang ins Unkraut ein. Marina ergriff meine Hand und folgte mir. Ich spürte, wie meine Schritte in einer Schuttdecke versanken. Das Bild eines Knäuels dunkler Schlangen mit scharlachroten Augen ging mir durch den Kopf. Wir wichen dem Dschungel feindlicher Äste aus, die uns die Haut zerkratzten, und gelangten auf eine Lichtung vor dem Gewächshaus. Dort ließ Marina meine Hand los und betrachtete die unheimliche Konstruktion, über die der Efeu ein alles bedeckendes Spinnennetz wob. Das Gewächshaus sah aus wie ein in den Tiefen eines Sumpfes begrabener Palast.

»Ich fürchte, sie hat uns abgehängt«, sagte ich.»Hier hat jahrelang niemand einen Fuß hingesetzt.«

Widerwillig gab mir Marina recht. Mit enttäuschtem Gesicht warf sie einen letzten Blick auf das Gewächshaus. Stille Niederlagen schmecken besser, dachte ich.

»Komm, lass uns gehen«, sagte ich und streckte ihr die Hand hin in der Hoffnung, sie würde sie für den Gang durchs Dickicht wieder ergreifen.

Sie ignorierte sie und entfernte sich mit gerunzelter Stirn hinter das Gewächshaus. Seufzend und lustlos folgte ich ihr. Dieses junge Mädchen war starrköpfiger als ein Maultier.

»Marina«, begann ich,»da ist kein…«

Ich fand sie hinter dem Gewächshaus vor etwas, was wie der Eingang aussah. Sie blickte mich an und wischte den Schmutz von einer Inschrift auf der Glasscheibe. Ich erkannte den gleichen schwarzen Schmetterling wie auf dem anonymen Friedhofsgrab. Marina legte die Hand darauf. Langsam gab die Tür nach. Ich konnte den süßlich stinkigen Brodem riechen, der aus dem Inneren drang. Es war der Gestank vergifteter Sümpfe und Schächte. Mein letztes bisschen gesunden Menschenverstand ignorierend, setzte ich meinen Fuß in die Dunkelheit.

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