»Im Jahr 1945 war ich Inspektor bei der Kripo Barcelona«, begann Florián.»Eigentlich wollte ich um meine Versetzung nach Madrid nachsuchen, da wurde mir der Fall Velo-Granell übertragen. Die Kripo war schon fast drei Jahre hinter Michail Kolwenik her, einem Ausländer mit wenig Sympathien beim Regime, aber man hatte ihm nichts nachweisen können. Mein Vorgänger hatte sein Amt niedergelegt. Die Velo-Granell war durch eine Mauer von Anwälten und ein Labyrinth von Finanzgesellschaften abgeschirmt, eine Wolke, in der sich alles auflöste. Meine Vorgesetzten verkauften mir den Fall als einmalige Chance, Karriere zu machen. Solche Fälle versetzen dich in ein Büro im Ministerium mit Fahrer und der Arbeitszeit eines Marquis, wurde mir gesagt. Ehrgeiz ist etwas für Idioten…«
Florián machte eine Pause, um seine Worte auszukosten, und grinste sarkastisch vor sich hin. Er kaute auf seiner Zigarre herum wie auf einem Süßholzstengel.
»Als ich das Dossier des Falls studierte, stellte ich fest, dass, was als Routineuntersuchung finanzieller Unregelmäßigkeiten und möglichen Betrugs begonnen hatte, sich zu einem Verfahren ausgewachsen hatte, von dem niemand wusste, welcher Einheit es übergeben werden sollte. Erpressung. Diebstahl. Versuchter Mord. Und da gab es noch mehr. Ihr müsst bedenken, dass sich meine Erfahrung bis dahin auf Fälle von Veruntreuung, Steuerhinterziehung, Betrug und Rechtsbeugung gründete. Nicht immer wurden solche Unregelmäßigkeiten bestraft, es waren andere Zeiten, aber wir wussten alles.«
Unbehaglich hüllte er sich in eine blaue Wolke des eigenen Rauchs.
»Warum haben Sie den Fall dann angenommen?«, fragte Marina.
»Aus Arroganz. Aus Ehrgeiz und Habsucht.«Er sprach über sich in dem Ton, den er sich sonst, wie ich mir vorstellte, für die schlimmsten Kriminellen aufsparte.
»Vielleicht auch, um die Wahrheit herauszufinden«, meinte ich.»Um für Gerechtigkeit zu sorgen.«
Er lächelte mir traurig zu. In seinem Blick waren dreißig Jahre Gewissensbisse zu lesen.
»Ende 1945 war die Velo-Granell technisch gesehen schon bankrott. Die drei wichtigsten Banken Barcelonas hatten ihre Kreditlinien gekündigt, und die Aktien der Firma waren von der Börse zurückgezogen worden. Nachdem die finanzielle Basis verschwunden war, stürzten die juristische Mauer und das Gerüst der Phantomgesellschaften wie ein Kartenhaus ein. Die Tage des Ruhms waren dahin. Das Gran Teatro Real, geschlossen seit der Tragödie, bei der Ewa Irinowa an ihrem Hochzeitstag verunstaltet wurde, war zu einer Ruine geworden. Fabrik und Ateliers wurden geschlossen, der ganze Besitz des Unternehmens beschlagnahmt. Die Gerüchte verbreiteten sich wie ein Lauffeuer. Kolwenik verlor seine Kaltblütigkeit nicht und beschloss, in der Warenbörse von Barcelona eine Cocktailparty großen Stils zu geben, um Ruhe und Normalität vorzugaukeln. Sein Partner Sentís befand sich am Rande der Panik. Mit den vorhandenen Mitteln war nicht einmal ein Zehntel des Essens zu bezahlen, das für die Veranstaltung bestellt worden war. An alle großen Aktionäre, an Barcelonas wichtige Familien wurden Einladungen versandt. Am betreffenden Abend selbst schüttete es wie aus Kübeln. Die Börse war wie ein Traumpalast geschmückt. Nach neun Uhr kamen von den wichtigsten Vermögen der Stadt, von denen viele Kolwenik zu verdanken waren, Bedienstete mit Entschuldigungsnoten. Als ich eintraf, nach Mitternacht, fand ich Kolwenik allein im Saal, in seinem tadellosen Frack und eine der Zigaretten rauchend, die er sich aus Wien schicken ließ. Er begrüßte mich und bot mir ein Glas Champagner an. ›Essen Sie was, Inspektor, es ist jammerschade, das alles wegzuschmeißen‹, sagte er. Noch nie hatten wir uns direkt gegenübergestanden. Wir unterhielten uns eine Stunde. Er erzählte von Büchern, die er als Jugendlicher gelesen, von Reisen, die er nie gemacht hatte… Kolwenik war ein charismatischer Mann, dem die Intelligenz in den Augen brannte. Ganz gegen meinen Willen war er mir sympathisch, ja er tat mir sogar leid, obwohl ich doch offenbar der Jäger und er die Beute war. Ich sah, dass er hinkte und sich auf einen geschnitzten Elfenbeinstock stützte. ›Ich glaube, noch nie hat jemand an einem Tag so viele Freunde verloren‹, sagte ich. Mit einem ruhigen Lächeln wies er diesen Gedanken von sich. ›Da irren Sie sich, Inspektor. Zu solchen Veranstaltungen lädt man nie seine Freunde ein.‹ Ganz höflich erkundigte er sich, ob ich ihn weiterhin verfolgen werde. Ich antwortete, ich würde nicht eher Ruhe geben, als bis ich ihn vor Gericht gebracht hätte. Er fragte: ›Was könnte ich tun, um Sie von diesem Vorhaben abzubringen, mein lieber Florián?‹ – ›Mich umbringen‹, antwortete ich. ›Alles zu seiner Zeit, Inspektor‹, sagte er lächelnd. Mit diesen Worten hinkte er davon. Ich habe ihn nie wiedergesehen, aber ich lebe noch. Seine letzte Drohung hat Kolwenik nicht wahrgemacht.«
Florián hielt inne und trank genießerisch einen Schluck Bier, als wäre es die letzte Flasche der Welt. Nachdem er sich die Lippen geleckt hatte, fuhr er fort:
»Isoliert und von allen verlassen, lebte Kolwenik von diesem Tag an zurückgezogen mit seiner Frau in dieser grotesken Riesenvilla, die er sich hatte bauen lassen. In den folgenden Jahren bekam ihn keiner zu Gesicht. Nur zwei Personen drangen zu ihm vor: sein ehemaliger Fahrer, ein gewisser Luis Claret, und sein persönlicher Arzt, Dr. Shelley, hinter dem wir ebenfalls her waren. Claret war ein armer Teufel, der Kolwenik verehrte und sich weigerte, ihn zu verlassen, selbst dann, als Ersterer ihm den Lohn nicht mehr bezahlen konnte. Außer diesen beiden sah niemand Kolwenik. Und Shelleys Zeugenaussage, in der er versicherte, er befinde sich in seiner Villa am Park Güell, geplagt von einer Krankheit, die er uns nicht zu erklären vermochte, überzeugte uns nicht im Geringsten, vor allem, nachdem wir einen Blick in seine Archive und seine Buchhaltung geworfen hatten. Eine Zeitlang argwöhnten wir sogar, Kolwenik sei gestorben oder ins Ausland geflüchtet und alles sei nur eine Farce. Shelley behauptete weiterhin, Kolwenik habe sich ein seltsames Leiden zugezogen, das ihn in die Villa verbanne. Er dürfe keinen Besuch empfangen und unter keinen Umständen sein Refugium verlassen, so lautete sein ärztliches Urteil. Weder wir noch der Richter glaubten ihm. Am 31. Dezember 1948 bekamen wir einen Durchsuchungsbefehl für Kolweniks Haus und einen Haftbefehl gegen ihn. Ein großer Teil der vertraulichen Dokumentation der Firma war verschwunden. Wir hatten den Verdacht, sie werde irgendwo im Wohnsitz verborgen gehalten. Inzwischen hatten wir genügend Indizien beisammen, um Kolwenik des Betrugs und der Steuerhinterziehung anzuklagen. Es war sinnlos, noch weiter zu warten. Der letzte Tag des Jahres 1948 sollte auch der letzte sein, an dem sich Kolwenik in Freiheit befand. Eine Sondereinheit war bereit, ihn am nächsten Tag abzuholen. Manchmal muss man sich bei großen Kriminellen damit abfinden, sie für ein paar Kleinigkeiten dingfest zu machen…«
Floriáns Zigarre war wieder ausgegangen. Der Inspektor warf einen letzten Blick darauf und schnippte sie dann in einen leeren Blumentopf, eine Art Massengrab für Stummel, wo schon weitere lagen.
»Am selben Abend zerstörte ein grauenerregender Brand die Villa, der Kolwenik und seine Gattin Ewa das Leben kostete. Im Morgengrauen fand man auf dem Dachboden die beiden verkohlten Leichen in enger Umarmung. Damit waren auch unsere Hoffnungen verbrannt, den Fall unter Dach und Fach zu bringen. Ich habe nie daran gezweifelt, dass es ein absichtlich herbeigeführter Brand war. Eine Zeitlang glaubte ich sogar, Benjamín Sentís und andere Mitglieder der Firmenleitung hätten dahintergesteckt.«
»Sentís?«, unterbrach ich ihn.
»Es war überhaupt kein Geheimnis, dass Sentís Kolwenik hasste, weil dieser von seinem Vater die Kontrolle über die Firma bekommen hatte, doch sowohl er wie die anderen hatten noch triftigere Gründe, zu verhindern, dass der Fall je vor Gericht käme. Da ein toter Hund nicht mehr bellt, Kolwenik nicht mehr am Leben war, ergab das Puzzle keinen Sinn mehr. Man könnte sagen, dass sich in jener Nacht viele blutbesudelte Hände im Feuer gewissermaßen reingewaschen haben. Einmal mehr ließ sich, wie bei allem, was vom ersten Tag an mit diesem Skandal zu tun hatte, nichts beweisen. Alles endete in Schutt und Asche. Noch heute ist die Ermittlung in Sachen Velo-Granell das größte Rätsel der Polizeigeschichte dieser Stadt. Und der größte Misserfolg meines Lebens…«
»Aber für den Brand konnten Sie ja nichts«, warf ich ein.
»Meine Karriere bei der Kripo war dahin. Ich wurde zur Antisubversiveneinheit abkommandiert. Wisst ihr, was das bedeutet? Die Phantomjäger. So nannte man sie in der Abteilung. Wenn es nicht Zeiten des Hungers gewesen wären und ich mit meinem Lohn nicht meinen Bruder und seine Familie unterhalten hätte, ich hätte den Bettel hingeschmissen. Außerdem, wer wollte schon einen ehemaligen Polizisten einstellen. Man hatte Spione und Petzer satt. Also blieb ich. Die Arbeit bestand darin, um Mitternacht abgerissene Pensionen voller Rentner und Kriegsversehrter zu filzen, um Exemplare des Kapitals und im WC-Spülkasten sozialistische Flugblätter zu suchen, die in Plastikbeuteln versteckt waren, solche Sachen… Anfang 1949 dachte ich, für mich sei alles gelaufen. Alles, was schiefgehen konnte, war noch schiefer gegangen. Das glaubte ich wenigstens. Am frühen Morgen des 13. Dezember 1949, fast ein Jahr nach dem Brand, bei dem Kolwenik und seine Frau umgekommen waren, wurden die zerstückelten Leichen von zwei Inspektoren meiner ehemaligen Abteilung vor den Toren des alten Lagerhauses der Velo-Granell im Born gefunden. Es stellte sich heraus, dass sie dort gewesen waren, um einem Bericht über den Fall Velo-Granell nachzugehen, der ihnen anonym zugekommen war. Ein Hinterhalt. Den Tod, den sie fanden, wünsche ich auch meinem ärgsten Feind nicht. Nicht einmal die Räder eines Zuges richten einen Körper so zu, wie ich es im gerichtsmedizinischen Institut sehen musste. Sie waren gute Polizisten gewesen. Bewaffnet. Und sie wussten, was sie taten. Im Bericht hieß es, mehrere Anwohner hätten Schüsse gehört. Im Umfeld des Verbrechens wurden vierzehn 9-mm-Patronenhülsen gefunden. Alle stammten aus den Dienstwaffen der Inspektoren. An den Wänden wurde kein einziger Einschuss und nirgends ein Geschoss entdeckt.«
»Und wie ist das zu erklären?«, fragte Marina.
»Es gibt keine Erklärung. Es ist schlicht unmöglich. Aber so war es… Ich selbst habe die Hülsen gesehen und die Gegend abgesucht.«
Marina und ich wechselten einen Blick.
»Könnte es sein, dass die Schüsse auf einen Gegenstand abgegeben wurden, ein Auto oder ein Fuhrwerk beispielsweise, in dem die Kugeln stecken blieben und das dann spurlos verschwand?«, fragte Marina.
»Deine Freundin wäre eine gute Polizistin. Mit dieser Hypothese haben wir eine Zeitlang gearbeitet, aber es gab keine Anhaltspunkte, die sie gestützt hätten. Geschosse dieser Größe neigen dazu, auf metallischen Flächen abzuprallen, und lassen zumindest eine Spur der Abpraller oder jedenfalls Splitter zurück. Es wurde nichts gefunden.«
»Einige Tage später, auf der Beerdigung meiner Kollegen, sah ich mich Sentís gegenüber«, fuhr Florián fort.»Er war unruhig und sah aus, als hätte er seit Tagen nicht mehr geschlafen. Seine Kleider waren schmutzig, und er stank nach Alkohol. Er gestand mir, er getraue sich nicht nach Hause zurück, streiche seit Tagen herum und schlafe in öffentlichen Lokalen. ›Mein Leben ist nichts mehr wert, Florián‹, sagte er. ›Ich bin ein toter Mann.‹ Ich bot ihm Polizeischutz an. Er lachte nur. Ich bot ihm sogar an, bei mir zu Hause Zuflucht zu suchen. Er lehnte ab. ›Ich will nicht Ihren Tod auf dem Gewissen haben, Florián‹, sagte er, ehe er sich in der Menge verlor. In den nächsten Monaten kamen sämtliche ehemaligen Vorstandsmitglieder der Velo-Granell zu Tode, theoretisch auf natürliche Weise. Herzversagen, lautete die ärztliche Diagnose in allen Fällen. Die Umstände waren ähnlich. Allein in ihrem Bett, immer um Mitternacht, sich immer über den Boden schleppend – vor einem Tod flüchtend, der keine Spuren hinterließ. Alle außer Benjamín Sentís. Mit ihm habe ich seit dreißig Jahren nie wieder gesprochen, bis vor einigen Wochen.«
»Vor seinem Tod…«, ergänzte ich.
Er nickte.
»Er rief auf dem Präsidium an und fragte nach mir. Er habe Informationen zu den Verbrechen in der Fabrik und zum Fall Velo-Granell. Ich rief ihn an und sprach mit ihm. Ich hatte den Eindruck, er deliriere, willigte aber ein, ihn aufzusuchen. Aus Mitleid. Wir verabredeten uns für den nächsten Tag in einer Weinstube in der Calle Princesa. Er erschien nicht. Zwei Tage später rief mich ein alter Freund aus dem Präsidium an und sagte mir, man habe seine Leiche in einem stillgelegten Tunnel der Kanalisation von Ciutat Vella gefunden. Die künstlichen Hände, die Kolwenik für ihn geschaffen hatte, waren amputiert worden. Doch das stand in der Zeitung. Was die Zeitungen nicht brachten, war, dass die Polizei ein mit Blut geschriebenes Wort an der Tunnelwand fand: Teufel.«
»Teufel?«
»Ein deutsches Wort«, sagte Marina.
»Und auch der Name von Kolweniks Symbol«, enthüllte Florián.
»Dem schwarzen Schmetterling?«
Er nickte.
»Warum heißt er so?«, fragte Marina.
»Ich bin kein Entomologe. Ich weiß bloß, dass Kolwenik sie gesammelt hat.«
Es wurde Mittag, und Florián lud uns ein, in einem Lokal bei der Station etwas zu essen. Wir hatten alle Lust, dieses Haus zu verlassen.
Der Wirt schien ein Freund von Florián zu sein und führte uns zu einem allein stehenden Tisch am Fenster.
»Besuch der Enkel, Chef?«, fragte er lächelnd.
Florián nickte ohne weitere Erklärungen. Ein Kellner brachte uns Tortilla und Tomatenbrot sowie eine Schachtel Ducados-Zigaretten für Florián. Beim Essen, das hervorragend war, setzte er seine Schilderung fort.
»Als ich mit den Ermittlungen zu Velo-Granell begann, fand ich heraus, dass Michail Kolwenik keine sehr durchsichtige Vergangenheit hatte. In Prag gab es keinen Eintrag, weder zu seiner Geburt noch zu seiner Staatsangehörigkeit. Wahrscheinlich war Michail nicht sein eigentlicher Vorname.«
»Wer war er also?«, fragte ich.
»Diese Frage stelle ich mir seit über dreißig Jahren. Als ich mich mit der Prager Polizei in Verbindung setzte, entdeckte ich tatsächlich einen gewissen Michail Kolwenik, aber er erschien in den Registern von Wolfter-Haus.«
»Was ist denn das?«
»Die städtische Irrenanstalt. Aber ich glaube nicht, dass Kolwenik je dort war. Er nahm einfach den Namen eines der Insassen an. Kolwenik war kein Irrer.«
»Aus welchem Grund sollte Kolwenik den Namen eines Irrenhausinsassen angenommen haben?«, fragte Marina.
»Das war damals nicht so ungewöhnlich. Wenn man in Kriegszeiten seine Identität ändert, kann das wie eine Wiedergeburt sein. Die Gelegenheit, eine unerwünschte Vergangenheit hinter sich zurückzulassen. Ihr seid noch sehr jung und habt keinen Krieg erlebt. Man lernt die Leute erst kennen, wenn man einen Krieg erlebt.«
»Hatte Kolwenik denn etwas zu verbergen?«, fragte ich.»Wenn die Prager Polizei über ihn informiert war, musste das ja seine Gründe haben.«
»Eine reine Koinzidenz von Nachnamen. Bürokratie. Glaubt mir, ich weiß, wovon ich spreche. Angenommen, der Kolwenik ihrer Archive wäre unser Kolwenik, so hat er wenig Spuren hinterlassen. Der Name wurde im Zusammenhang mit der Ermittlung zum Tod eines Prager Chirurgen erwähnt, eines gewissen Antonin Kolwenik. Der Fall wurde abgeschlossen und der Tod natürlichen Ursachen zugeschrieben.«
»Warum sollte dann also dieser Michail Kolwenik in ein Irrenhaus gesteckt werden?«, fragte Marina.
Florián zögerte einige Augenblicke, als traute er sich nicht zu antworten.
»Man vermutete, er habe mit der Leiche des Dahingegangenen etwas angestellt…«
»Etwas?«
»Die Prager Polizei präzisierte nicht, was«, antwortete Florián knapp und zündete sich eine weitere Zigarette an.
Wir verfielen in ein langes Schweigen.
»Was ist denn mit der Geschichte, die uns Dr. Shelley erzählt hat? Von Kolweniks Zwillingsbruder, der Erbkrankheit und…«
»Das ist das, was Kolwenik ihm auftischte. Dieser Mann log ebenso leicht, wie er atmete. Und Shelley hatte gute Gründe, ihm zu glauben, ohne weitere Fragen zu stellen. Kolwenik finanzierte bis zur letzten Pesete sein medizinisches Institut und seine Forschungsarbeit. Shelley war praktisch ein weiterer Velo-Granell-Angestellter. Ein Scherge.«
»Dann war also dieser Bruder von Kolwenik auch nur eine Erfindung?«Ich war verwirrt.»Seine Existenz würde Kolweniks Besessenheit für die Opfer von Missbildungen erklären und…«
»Ich glaube nicht, dass der Bruder eine Erfindung war«, unterbrach mich Florián.»Meiner Meinung nach wenigstens.«
»Nun?«
»Ich glaube, der Junge, von dem er sprach, war in Wirklichkeit er selber.«
»Noch eine Frage, Inspektor…«
»Ich bin nicht mehr Inspektor, mein Kind.«
»Víctor also. Víctor sind Sie doch noch, oder?«
Zum ersten Mal sah ich Florián entspannt und offen lächeln.
»Was wäre das für eine Frage?«
»Sie haben gesagt, bei der Ermittlung wegen Betrugs der Velo-Granell hätten Sie entdeckt, dass es da noch etwas gab…«
»Ja. Anfänglich dachten wir, es wäre nur ein Vorwand, das Übliche: Rechnungen über nicht existierende Ausgaben und Zahlungen, um die Steuern zu umgehen, Zahlungen an Krankenhäuser, Auffangzentren für Bettler und so fort. Bis es einem meiner Leute merkwürdig erschien, dass einige Ausgabenposten mit Dr. Shelleys Unterschrift und Billigung von der Nekroskopie mehrerer Barceloneser Krankenhäuser fakturiert wurden. Also von Leichenschauhäusern.«
»Kolwenik verkaufte Leichen?«, fragte Marina.
»Nein. Er kaufte sie. Dutzendweise. Vagabunden. Leute, die ohne Angehörige oder Bekannte starben. Selbstmörder, Ertrunkene, verlassene Alte. Die Vergessenen der Stadt.«
Im Hintergrund murmelte verloren ein Radioapparat, gleichsam ein Echo unseres Gesprächs.
»Und was stellte Kolwenik mit diesen Leichen an?«
»Das weiß niemand. Wir haben sie nie gefunden.«
»Aber Sie haben doch eine Theorie dazu, nicht wahr, Víctor?«, fuhr Marina fort.
Florián schaute uns schweigend an.
»Nein.«
Für einen Polizisten, selbst einen pensionierten, log er schlecht. Marina beharrte nicht weiter auf dem Thema. Der Inspektor wirkte müde, aufgezehrt von Schatten, die in seiner Erinnerung wohnten. Seine ganze Wildheit war verschwunden. Die Zigarette zitterte in seinen Händen, und man konnte nur noch schwer sagen, wer da wen rauchte.
»Was dieses Gewächshaus betrifft, von dem ihr mir erzählt habt – geht da nicht wieder hin. Vergesst überhaupt diese ganze Geschichte. Vergesst dieses Fotoalbum, dieses namenlose Grab und die Dame, die es aufsucht. Vergesst Sentís, Shelley und mich – ich bin ja nichts weiter als ein armer alter Kerl, der von Tuten und Blasen keine Ahnung hat. Diese Geschichte hat schon genug Leben vernichtet. Lasst die Finger davon.«
Er gab dem Kellner ein Zeichen, die Zeche auf seine Rechnung zu setzen, und schloss:
»Versprecht mir, dass ihr auf mich hört.«
Ich fragte mich, wie wir von den Dingen lassen sollten, wo die Dinge doch nicht von uns lassen wollten. Nach allem, was in der Nacht zuvor geschehen war, muteten mich seine Ratschläge wie ein Kindermärchen an.
»Wir werden es versuchen«, antwortete Marina für uns beide.
»Der Weg zur Hölle ist mit guten Vorsätzen gepflastert«, erwiderte Florián.
Er begleitete uns zur Standseilbahn und gab uns die Telefonnummer des Lokals.
»Da kennt man mich. Wenn ihr was braucht, ruft mich an, und man wird es mir ausrichten. Zu jeder Tages- oder Nachtzeit. Manu, der Wirt, leidet an chronischer Schlaflosigkeit und hört die ganze Nacht BBC, um die Sprache zu lernen. Ihr stört also nicht.«
»Ich weiß nicht, wie wir Ihnen danken sollen.«
»Ihr könnt mir danken, indem ihr auf mich hört und das Ganze auf sich beruhen lasst.«
Wir nickten. Die Bahn öffnete ihre Türen.
»Und Sie, Víctor?«, fragte Marina.»Was werden Sie tun?«
»Was alle alten Leute tun: mich hinsetzen und mich erinnern und mich fragen, was geschehen wäre, wenn ich alles anders gemacht hätte. Los, geht schon.«
Wir setzten uns in den Wagen ans Fenster. Es wurde langsam dunkel. Ein Pfiff war zu hören, und die Türen gingen zu. Mit einem Rütteln begann die Bahn die Abfahrt. Langsam blieben die Lichter von Vallvidrera zurück wie auch die reglos auf dem Bahnsteig stehende Gestalt Floriáns.
Germán hatte ein köstliches italienisches Gericht zubereitet, dessen Name nach Opernrepertoire klang. Wir aßen in der Küche und hörten ihm zu, als er von seinem Schachturnier mit dem Geistlichen erzählte, der ihn wie immer geschlagen hatte. Marina blieb ungewöhnlich still und überließ das Gespräch Germán und mir. Ich fragte mich, ob ich irgendetwas gesagt oder getan hatte, was ihr auf die Nerven gegangen war. Nach dem Essen forderte mich Germán zu einer Schachpartie heraus.
»Liebend gern, aber ich glaube, ich bin dran mit Spülen.«
»Ich werde spülen«, sagte Marina schwach hinter mir.
»Nein, im Ernst«, warf ich ein.
Germán befand sich schon im anderen Zimmer und stellte trällernd die Bauern aufs Spielbrett. Ich wandte mich Marina zu, die wegschaute und zu spülen begann.
»Lass mich dir helfen.«
»Nein… Geh zu Germán. Tu ihm den Gefallen.«
»Kommen Sie, Óscar?«, hörte ich Germán im Wohnzimmer fragen.
Ich betrachtete Marina im Licht der auf der Konsole brennenden Kerzen. Sie wirkte blass, müde.
»Geht’s dir gut?«
Sie wandte sich um und lächelte mir zu. Bei ihrer Art zu lächeln fühlte ich mich immer klein und bedeutungslos.
»Los, geh schon. Und lass ihn gewinnen.«
»Das ist nicht schwer.«
Ich gehorchte ihr, ließ sie in der Küche allein und gesellte mich im Wohnzimmer zu ihrem Vater. Dort setzte ich mich unter dem Quarzkandelaber vors Schachbrett, damit er eine angenehme Weile verbringe, wie es seine Tochter wünschte.
»Sie ziehen, Óscar.«
Ich zog. Er räusperte sich.
»Ich darf Sie daran erinnern, dass Bauern nicht so springen, Óscar.«
»Entschuldigen Sie.«
»Nicht der Rede wert. Das ist das Feuer der Jugend. Glauben Sie, ich beneide Sie darum. Die Jugend ist wie eine launische Freundin. Wir wissen sie erst zu verstehen und zu schätzen, wenn sie mit einem anderen geht und nie mehr wiederkommt. Ach! Na, ich weiß auch nicht, was das sollte. Also…, Bauer…«
Um Mitternacht riss mich ein Geräusch aus dem Schlaf. Das Haus lag im Halbdunkeln. Ich setzte mich auf den Bettrand und hörte es wieder. Ein gedämpfter ferner Husten. Unruhig stand ich auf und trat auf den Gang hinaus. Das Geräusch kam aus dem unteren Stock. Ich ging an Marinas Zimmer vorbei. Die Tür stand offen, das Bett war leer. Ich spürte einen ängstlichen Stich.
»Marina?«
Keine Antwort. Auf Zehenspitzen stieg ich die kalten Stufen hinunter. Am Fuß der Treppe leuchteten Kafkas Augen. Er miaute schwach und führte mich durch einen dunklen Gang. An dessen Ende sickerte unter einer geschlossenen Tür Licht heraus. Dahinter war der Husten zu hören. Schmerzhaft, japsend. Kafka ging zur Tür und blieb miauend stehen. Sacht klopfte ich an.
»Marina?«
Langes Schweigen.
»Geh, Óscar.«
Ihre Stimme war ein Wimmern. Ich ließ einige Sekunden vergehen und öffnete die Tür. Das weißgeflieste Bad wurde von einer Kerze auf dem Boden knapp erleuchtet. Da kniete Marina und lehnte die Stirn an den Waschbeckenrand. Sie zitterte, und der Schweiß hatte ihr das Nachthemd wie ein Totenhemd an den Leib geklebt. Sie verbarg ihr Gesicht, aber ich konnte trotzdem sehen, dass sie aus der Nase blutete und mehrere scharlachrote Flecken ihre Brust bedeckten. Ich war wie gelähmt, unfähig zu reagieren.
»Was ist denn…?«, flüsterte ich.
»Mach die Tür zu«, sagte sie bestimmt.»Mach zu.«
Ich tat wie geheißen und trat zu ihr. Sie glühte vor Fieber. Das Haar klebte ihr im Gesicht, dieses war von kaltem Schweiß überströmt. Erschrocken wollte ich Germán holen, aber ihre Hand hielt mich mit einer Kraft fest, die ich ihr nie zugetraut hätte.
»Nein!«
»Aber…«
»Es geht mir gut.«
»Es geht dir nicht gut!«
»Óscar, ich flehe dich an, ruf nicht Germán. Er kann nichts tun. Es ist schon vorbei. Es geht mir besser.«
Die Gelassenheit in ihrer Stimme war erschreckend. Ihre Augen suchten meine. Etwas in ihnen brachte mich zum Gehorchen. Da streichelte sie mein Gesicht.
»Keine Angst. Es geht mir besser.«
»Du bist totenblass…«, stotterte ich.
Sie nahm meine Hand und hielt sie sich an die Brust. Ich spürte ihren Herzschlag über den Rippen. Ich zog die Hand zurück und wusste nicht, was ich tun sollte.
»Es geht mir bestens, siehst du? Versprichst du mir, Germán nichts von alledem zu sagen?«
»Warum denn?«, protestierte ich.»Was ist los mit dir?«
Unendlich müde senkte sie die Augen. Ich schwieg.
»Versprich es mir.«
»Du musst einen Arzt aufsuchen.«
»Versprich es mir, Óscar.«
»Wenn du mir versprichst, einen Arzt aufzusuchen.«
»Abgemacht, ich verspreche es dir.«
Sie machte ein Tuch nass und wischte sich das Blut aus dem Gesicht. Ich fühlte mich unnütz.
»Jetzt, da du mich so gesehen hast, werde ich dir nicht mehr gefallen.«
»Finde ich nicht sehr witzig.«
Sie reinigte sich schweigend weiter, ohne die Augen von mir abzuwenden. Ihr in der feuchten, fast durchsichtigen Baumwolle gefangener Körper wirkte zerbrechlich. Es erstaunte mich, dass ich mich überhaupt nicht verlegen fühlte, sie so zu betrachten. Auch ihr war keinerlei Scham wegen meiner Anwesenheit anzumerken. Ihre Hände zitterten, als sie sich säuberte. Ich fand einen Morgenmantel an der Tür und hielt ihn ihr geöffnet hin. Sie schlüpfte hinein und seufzte erschöpft.
»Was kann ich tun?«, murmelte ich.
»Bleib hier bei mir.«
Sie setzte sich vor einen Spiegel. Vergeblich versuchte sie, mit einer Bürste etwas Ordnung in den Wirrwarr der Haare zu bringen, die ihr auf die Schulter fielen. Sie hatte keine Kraft.
»Lass mich es tun.«Ich nahm ihr die Bürste aus der Hand.
Schweigend kämmte ich sie, während sich unsere Blicke im Spiegel trafen. Dabei ergriff Marina kräftig meine Hand und drückte sie gegen ihre Wange. Ich spürte ihre Tränen auf meiner Haut und hatte nicht den Mut, sie nach dem Grund für diese Tränen zu fragen.
Ich begleitete sie in ihr Zimmer und half ihr ins Bett. Sie zitterte nicht mehr, und in ihre Wangen war die Wärme zurückgekehrt.
»Danke«, flüsterte sie.
Ich dachte, am besten lasse ich sie ruhen, und kehrte in mein Zimmer zurück. Dort legte ich mich wieder ins Bett und versuchte vergeblich einzuschlafen. Unruhig lag ich im Dunkeln und hörte das alte Haus knacken und den Wind in den Bäumen knarren. Blinde Beklemmung nagte an mir. Allzu viele Dinge ereigneten sich allzu schnell. Mein Gehirn war außerstande, sie alle gleichzeitig zu verarbeiten. In der Dunkelheit des frühen Morgens schien alles zu verschwimmen. Doch nichts erschreckte mich mehr als meine Unfähigkeit, meine Gefühle für Marina zu verstehen oder sie mir zu erklären. Es wurde schon hell, als ich endlich einschlief.
Im Traum ging ich durch die Säle eines verlassenen, im Dunkeln liegenden weißen Marmorpalasts. Hunderte von Statuen waren aufgestellt. Wenn ich vorbeiging, öffneten die Gestalten ihre Steinaugen und flüsterten unverständliche Worte. Da glaubte ich in der Ferne Marina zu erblicken und lief auf sie zu. Eine weiße Engelsgestalt führte sie an der Hand durch einen Gang mit blutenden Wänden. Ich versuchte sie einzuholen, als eine der Türen im Gang aufging und María Shelleys Gestalt erschien, über dem Boden schwebend und ein abgetragenes Totenhemd mitschleppend. Sie weinte, aber ihre Tränen gelangten nie auf den Boden. Sie streckte mir ihre Arme entgegen, und als sie mich berührte, zerfiel ihr Körper zu Asche. Ich rief Marinas Namen, bat sie zurückzukommen, doch sie schien mich nicht zu hören. Ich lief und lief, aber der Gang wurde immer länger. Da wandte sich der Lichtengel zu mir um und offenbarte mir sein wahres Gesicht. Seine Augen waren leere Höhlen und seine Haare weiße Schlangen. Der Höllenengel lachte grausam, legte seine weißen Flügel um Marina und entfernte sich. Im Schlaf roch ich einen stinkenden Atem im Nacken. Es war der unverwechselbare Todesgestank, der meinen Namen flüsterte. Ich wandte mich um und sah, wie sich mir ein schwarzer Schmetterling auf die Schulter setzte.