Michail wollte, dass das ein ganz besonderer Tag für mich würde, und schaffte es, die ganze Stadt zur Märchenkulisse werden zu lassen. Meine Zeit als Kaiserin in dieser Traumwelt endete jäh auf den Stufen der Avenida de la Catedral. Ich hörte nicht einmal mehr das Geschrei der Schaulustigen. Wie ein wildes Tier, das aus dem Gestrüpp springt, löste sich Sergei aus der Menge und goss mir ein Fläschchen Säure ins Gesicht. Sie zerfraß mir die Haut, die Augenlider und die Hände. Sie zerriss meinen Hals und zerstörte meine Stimme. Erst zwei Jahre später konnte ich wieder sprechen, nachdem Michail mich wie eine zerbrochene Puppe wiederhergestellt hatte. Das war erst der Anfang des Horrors.
Der Bau unseres Palasts wurde gestoppt, und wir richteten uns in diesem unfertigen Haus ein. Wir machten daraus ein Gefängnis auf der Spitze eines Hügels. Es war ein kalter, düsterer Ort. Ein Durcheinander von Türmen und Bögen, Gewölben und Wendeltreppen, die nirgends hinführten. Ich lebte zurückgezogen in einem Zimmer zuoberst im Hauptturm. Niemand hatte hier Zutritt außer Michail und manchmal Dr. Shelley. Das erste Jahr verbrachte ich im Morphiumdämmer, gefangen in einem langen Albtraum. Darin glaubte ich Michail mit mir experimentieren zu sehen, so, wie er es mit diesen in Krankenhäusern und Leichenhallen verlassenen Toten getan hatte. Indem er mich rekonstruierte und der Natur ein Schnippchen schlug. Als ich wieder zum Bewusstsein kam, stellte ich fest, dass meine Träume real gewesen waren. Er hatte mir die Stimme zurückgegeben, hatte mir Hals und Mund wiederhergestellt, so dass ich essen und sprechen konnte. Er hatte meine Nervenendigungen verändert, damit ich den Schmerz der Wunden nicht mehr spürte, die die Säure an meinem Körper zurückgelassen hatte. Ja, ich habe den Tod überlistet, aber dadurch bin ich zu einer von Michails verdammten Kreaturen geworden.
Michail wiederum hatte in der Stadt seinen Einfluss verloren. Niemand war auf seiner Seite. Seine ehemaligen Verbündeten wurden abtrünnig und zeigten ihm die kalte Schulter. Die Polizei und die Justizbehörden nahmen die Verfolgung auf. Sentís, sein Teilhaber, war ein schäbiger, neidischer Halsabschneider. Er setzte falsche Informationen in Umlauf, die Michail in tausend trübe Geschäfte verwickelten, von denen er nie eine Ahnung gehabt hatte. Teil der Hetzmeute, wollte ihm Sentís die Kontrolle über die Firma entziehen. Das Heer der Heuchler und Schleimer, jetzt eine Horde hungriger Hyänen, wollte ihn von seinem Podest stürzen sehen, um seine Reste zu verschlingen. Nichts von alledem überraschte Michail. Von Anfang an hatte er nur seinem Freund Dr. Shelley und Luis Claret vertraut. ›Die Schäbigkeit der Menschen‹, sagte er immer, ›ist wie ein Docht, der die Flamme sucht.‹ Doch dieser Verrat zerriss schließlich sein fragiles Band zur Außenwelt. Er flüchtete sich in sein Einsamkeitslabyrinth. Sein Benehmen wurde immer exzentrischer. Er entwickelte die Gewohnheit, in den Kellern Hunderte von schwarzen Schmetterlingen zu züchten, eine unter dem Namen Teufel bekannte Spezies, von der er besessen war. Bald bevölkerten diese schwarzen Insekten den Turm, setzten sich auf Spiegel, Bilder und Möbel wie stumme Wachen. Den Bediensteten verbot Michail, sie zu töten, zu verscheuchen oder sich ihnen auch nur zu nähern. Durch Gänge und Räume flatterte ein Schwarm schwarzgeflügelter Insekten. Manchmal setzten sie sich auf Michail und deckten ihn zu, doch er rührte sich nicht. Wenn ich ihn so sah, fürchtete ich, ihn auf immer zu verlieren.
In diesen Tagen begann meine Freundschaft mit Luis Claret, die bis heute anhält. Er war es, der mich darüber informierte, was sich außerhalb dieser Festungsmauern abspielte. Michail hatte mir falsche Geschichten über das Teatro Real und mein Comeback auf der Bühne aufgetischt. Er sprach davon, den durch die Säure verursachten Schaden wiedergutzumachen, so dass ich mit einer Stimme singen würde, die nicht mehr die meine war… Hirngespinste. Luis erzählte mir, die Bauarbeiten am Teatro Real seien eingestellt worden, die Mittel seien schon vor Monaten aufgebraucht gewesen, das Haus sei eine riesige nutzlose Höhle. Die Gelassenheit, mit der mir Michail begegnete, war reine Fassade. Wochen- und monatelang verließ er das Haus nicht. Ganze Tage blieb er in seinem Studio eingeschlossen, ohne richtig zu essen oder zu schlafen. Joan Shelley erzählte mir später, er habe um seine Gesundheit und seinen Verstand gebangt. Er kannte ihn besser als sonst jemand und hatte ihm von Anfang an in seinen Experimenten beigestanden. Er war es, der mir im Klartext von Michails Besessenheit von degenerativen Krankheiten erzählte, von seinen verzweifelten Versuchen, die Mechanismen zu entdecken, mit denen die Natur die Körper deformierte und verkümmern ließ. Immer hatte er darin eine Kraft, eine Ordnung und einen Willen jenseits aller Vernunft gesehen. In seinen Augen war die Natur eine Bestie, die ihren eigenen Nachwuchs auffraß, ohne sich um das Los der Wesen zu kümmern, die sie beherbergte. Er sammelte Fotos seltener Fälle von Verkümmerungen und medizinischen Monstrositäten. Bei diesen Menschenwesen hoffte er seine Antwort zu bekommen: wie er ihre Dämonen an der Nase herumführen könnte.
Zu dieser Zeit wurden die ersten Symptome seiner Krankheit sichtbar. Michail wusste, dass er sie in sich trug, und wartete geduldig wie ein Uhrwerk. Er hatte es schon immer gewusst, seit er in Prag seinen Bruder hatte sterben sehen. Sein Körper begann sich selbst zu zerstören. Seine Knochen zerfielen. Er steckte die Hände in Handschuhe, verbarg seinen Körper und sein Gesicht. Er floh meine Gesellschaft. Ich tat so, als bemerkte ich es nicht, doch es war Tatsache: Seine Erscheinung veränderte sich. An einem Wintertag weckten mich im Morgengrauen seine Schreie. Lauthals entließ er die Bediensteten. Niemand wehrte sich, alle hatten in den vergangenen Monaten Angst vor ihm bekommen. Nur Luis weigerte sich, uns zu verlassen. Weinend vor Wut, zerschmetterte Michail sämtliche Spiegel und verbarrikadierte sich dann in seinem Studio.
Eines Abends bat ich Luis, Dr. Shelley zu holen. Zwei Wochen lang war Michail nicht mehr herausgekommen und hatte auch nicht mehr auf mein Klopfen geantwortet. Ich hörte ihn hinter der Tür schluchzen und mit sich selbst sprechen. Ich war ratlos, er war dabei, mir zu entgleiten. Zu dritt schlugen wir die Tür ein und holten ihn heraus. Entsetzt stellten wir fest, dass sich Michail am eigenen Körper operiert und seine linke Hand wiederherzustellen versucht hatte, die immer mehr zur grotesken, unbrauchbaren Klaue geworden war. Shelley verabreichte ihm ein Beruhigungsmittel, und wir wachten bis zum Morgengrauen über seinen Schlaf. Verzweifelt angesichts der Agonie seines alten Freundes, machte sich Shelley in dieser langen Nacht Luft und brach sein Versprechen, niemals die Geschichte zu erzählen, die ihm Michail Jahre zuvor anvertraut hatte. Als ich seine Worte hörte, begriff ich, dass weder die Polizei noch Inspektor Florián je geahnt hatten, dass sie ein Gespenst verfolgten. Michail war nie ein Verbrecher oder ein Betrüger gewesen. Er war bloß ein Mensch, der dachte, sein Los sei es, den Tod zu übertölpeln, bevor der Tod ihn übertölpelte.«
»Michail Kolwenik erblickte das Licht der Welt am letzten Tag des 19. Jahrhunderts in den Abwasserkanälen von Prag.
Seine Mutter war knapp siebzehn und arbeitete als Dienstmädchen in einem Palast des Hochadels. Wegen ihrer Schönheit und Naivität war sie der Liebling ihres Herrn geworden. Als man ihre Schwangerschaft entdeckte, wurde sie wie ein räudiger Hund auf die schmutzige, schneebedeckte Straße hinausgejagt, fürs restliche Leben gezeichnet. In jenen Jahren überzog der Winter die Straßen mit einer tödlichen Decke. Es hieß, die Mittellosen verbärgen sich in den alten Abwasserkanälen. Die örtliche Legende sprach von einer regelrechten Stadt der Dunkelheit unter den Straßen Prags, wo Tausende Parias ihr Leben verbrachten, ohne je wieder das Sonnenlicht zu sehen – Bettler, Kranke, Waisen und Flüchtlinge. Sie huldigten dem Kult einer rätselhaften Persönlichkeit namens Prinz der Bettler. Es hieß, er sei alterslos, habe das Gesicht eines Engels und sein Blick sei aus Feuer. Er lebe in eine Decke von schwarzen Schmetterlingen gehüllt, die seinen ganzen Körper überzögen, und empfange in seinem Reich alle, denen es die Grausamkeit der Welt verwehrt habe, an der Oberfläche zu überleben. Diese Schattenwelt suchte die junge Frau auf, um in den unterirdischen Tunneln zu überleben. Bald entdeckte sie, dass die Legende stimmte. Die Leute in den Tunneln hausten im Dunkeln und bildeten ihre eigene Welt. Sie hatten ihre eigenen Gesetze und ihren eigenen Gott – den Prinzen der Bettler. Niemand hatte ihn je gesehen, doch alle glaubten an ihn und spendeten ihm Opfergaben. Alle brannten sich das Emblem des schwarzen Schmetterlings ein. Die Prophezeiung lautete, eines Tages werde ein vom Prinzen der Bettler gesandter Messias in die Tunnel kommen und sein Leben hergeben, um ihre Bewohner vom Leiden zu erlösen. Die Verdammnis dieses Messias werde von seinen eigenen Händen kommen.
Dort gebar die junge Mutter Zwillinge: Andrej und Michail. Andrej kam von einer grauenhaften Krankheit gezeichnet zur Welt. Seine Knochen festigten sich nicht, und sein Körper wuchs ohne Form und Struktur heran. Einer der Tunnelbewohner, ein von der Justiz verfolgter Arzt, sagte, die Krankheit sei unheilbar. Das Ende sei nur eine Frage der Zeit. Sein Bruder Michail jedoch war ein Junge von wacher Intelligenz und scheuem Charakter, der davon träumte, eines Tages den Tunneln zu entkommen und die obere Welt zu erblicken. Oft spielte er mit dem Gedanken, vielleicht sei er der erwartete Messias. Nie erfuhr er, wer sein Vater gewesen war, so dass er im Geist diese Rolle dem Prinzen der Bettler zuschrieb, den er im Schlaf zu hören glaubte. An ihm waren keine Anzeichen der schrecklichen Krankheit auszumachen, die dem Leben seines Bruders ein Ende setzen sollte. Tatsächlich starb Andrej mit sieben Jahren, ohne je die Abwasserkanäle verlassen zu haben. Nach seinem Tod wurde seine Leiche gemäß dem Ritual der Tunnelleute den unterirdischen Strömen übergeben.
›Das ist der Wille Gottes, Michail‹, sagte seine Mutter.
Nie sollte Michail diese Worte vergessen. Der Tod des kleinen Andrej war ein Schlag, den seine Mutter nicht verwinden konnte. Im nächsten Winter erkrankte sie an einer Lungenentzündung. Michail verharrte bis zum letzten Moment an ihrer Seite und hielt ihre zitternde Hand. Sie war sechsundzwanzig und hatte das Gesicht einer Greisin.
›Ist das auch der Wille Gottes, Mutter?‹, fragte Michail einen leblosen Körper.
Er bekam nie eine Antwort. Tage später gelangte er an die Oberfläche. Nichts band ihn mehr an die unterirdische Welt. Halb tot vor Hunger und Kälte, suchte er in einem Hauseingang Zuflucht. Der Zufall wollte es, dass ihn dort ein Arzt fand, der von einem Krankenbesuch kam, Antonin Kolwenik. Er las ihn auf und ging mit ihm in eine Taverne, wo er ihm etwas Warmes vorsetzen ließ.
›Wie heißt du, mein Junge?‹
›Michail.‹
Antonin Kolwenik erbleichte.
›Ich hatte einen Sohn, der so hieß wie du. Er ist gestorben. Wo ist deine Familie?‹
›Ich habe keine Familie.‹
›Wo ist deine Mutter?‹
›Gott hat sie zu sich geholt.‹
Der Arzt nickte ernst. Er zog einen Gegenstand aus seinem Köfferchen, der Michail sprachlos machte. Im Inneren des Koffers erblickte er noch mehr Instrumente. Glänzend. Wie ein Wunder.
Der Arzt setzte das seltsame Ding auf seine Brust und steckte sich die beiden Enden in die Ohren.
›Was ist das?‹
›Damit kann man hören, was deine Lungen sagen… Atme tief ein.‹
›Sind Sie ein Zauberer?‹, fragte Michail verdutzt.
Der Arzt lächelte.
›Nein, ich bin kein Zauberer. Ich bin bloß Arzt.‹
›Was ist der Unterschied?‹
Antonin Kolwenik hatte Jahre zuvor seine Frau und seinen Sohn in einer Choleraepidemie verloren. Jetzt lebte er allein, unterhielt eine bescheidene Chirurgenpraxis und frönte seiner Leidenschaft für die Werke Richard Wagners. Neugierig und voller Mitleid betrachtete er den zerlumpten Jungen. Michail zeigte sein Lächeln, das das Beste war, was er anzubieten hatte.
Dr. Kolwenik beschloss, ihn unter seine Fittiche und bei sich aufzunehmen. Dort verbrachte er die nächsten zehn Jahre. Von dem guten Arzt erhielt er eine Ausbildung, ein Heim und einen Namen. Schon als Heranwachsender begann Michail, seinem Adoptivvater bei den Operationen zu assistieren und die Geheimnisse des menschlichen Körpers kennenzulernen. Gottes geheimnisvoller Wille zeigte sich in komplexen Gebilden aus Fleisch und Knochen, belebt von einem Funken unbegreiflicher Magie. Gierig saugte Michail diese Lektionen auf, mit der Gewissheit, dass es in dieser Wissenschaft eine noch zu entdeckende Botschaft gab.
Er war noch keine zwanzig, als ihm der Tod erneut begegnete. Schon seit einiger Zeit hatte es um die Gesundheit des alten Arztes nicht gut gestanden. An einem Heiligabend, als sie eben eine Reise planten, auf der Michail den Süden Europas kennenlernen sollte, zerstörte ein Herzanfall die Hälfte seines Herzens. Antonin Kolwenik lag im Sterben. Michail schwor sich, dass der Tod ihm den Gefährten diesmal nicht entrisse.
›Mein Herz ist müde, Michail‹, sagte der alte Arzt. ›Es ist Zeit, meine Frida und meinen anderen Michail wiederzusehen…‹
›Ich werde Ihnen ein anderes Herz geben, Vater.‹
Der Arzt lächelte. Dieser merkwürdige Junge und seine ausgefallenen Ideen… Der einzige Grund, warum er diese Welt zu verlassen fürchtete, war, ihn allein und schutzlos zurückzulassen. Michail hatte keine weiteren Freunde als die Bücher. Was sollte aus ihm werden?
›Du hast mir schon zehn Jahre Gesellschaft geschenkt, Michail. Jetzt musst du an dich denken. An deine Zukunft.‹
›Ich werde Sie nicht sterben lassen, Vater.‹
›Michail, erinnerst du dich noch an den Tag, an dem du mich fragtest, welches der Unterschied sei zwischen einem Arzt und einem Zauberer? Nun, es gibt keine Zauberei, Michail. Unser Körper beginnt von Geburt an zu zerfallen. Wir sind zerbrechliche Wesen, Kreaturen auf Zeit. Was von uns zurückbleibt, sind unsere Taten, das Gute oder Böse, das wir unseresgleichen antun. Verstehst du, was ich meine, Michail?‹
Zehn Tage später fand die Polizei den weinenden Michail blutbesudelt neben der Leiche des Mannes, den er Vater zu nennen gelernt hatte. Die Nachbarn hatten die Behörden benachrichtigt, als sie einen seltsamen Geruch wahrnahmen und das Geheul des jungen Mannes hörten. Das Polizeiprotokoll kam zu dem Schluss, verwirrt durch den Tod des Arztes, habe Michail diesen seziert und versucht, mit einem Mechanismus aus Ventilen und Getrieben sein Herz zu reparieren. Michail landete in einem Prager Irrenhaus, dem er zwei Jahre später entkam, indem er sich tot stellte. Als die Behörden im Leichenhaus eintrafen, um seine Überreste zu holen, fanden sie nur ein weißes Laken und umherflatternde schwarze Schmetterlinge.
Michail kam mit dem Keim des Wahnsinns und der Krankheit, die Jahre später zutage treten sollte, nach Barcelona. Er zeigte wenig Interesse an materiellen Dingen und der Gesellschaft der Menschen. Nie bildete er sich etwas ein auf das Vermögen, das er angehäuft hatte, und er sagte immer, niemand verdiene auch nur einen Céntimo mehr zu haben, als er denen zu geben bereit sei, die ihn dringender brauchten als er. An dem Abend, als ich ihn kennenlernte, sagte er, aus irgendeinem Grund schenke uns das Leben das, was wir gar nicht suchten. Ihm hatte es Geld, Ruhm und Macht gebracht. Seine Seele sehnte sich nur nach geistigem Frieden, danach, die in seinem Herzen hausenden Schatten zum Verstummen zu bringen.«
»In den Monaten nach dem Zwischenfall in seinem Studio verbündeten Shelley, Luis und ich uns, um Michail von seinen Obsessionen fernzuhalten und abzulenken. Das war nicht einfach, er wusste immer, wann wir ihn belogen, auch wenn er es sich nicht anmerken ließ. Er tanzte nach unserer Pfeife, spielte den Gefügigen und schien sich in seine Krankheit zu schicken, aber wenn ich ihm in die Augen schaute, sah ich darin die Schwärze, in der seine Seele schwamm. Er hatte kein Vertrauen mehr zu uns. Die elende Situation, in der wir lebten, verschlimmerte sich. Die Banken hatten unsere Konten gesperrt, und das Kapital der Velo-Granell war von der Regierung beschlagnahmt worden. Sentís, der sich aufgrund seiner Ränke schon als Alleininhaber der Firma gesehen hatte, war ruiniert. Das Einzige, was er bekam, war Michails ehemalige Wohnung in der Calle Princesa. Wir konnten nur denjenigen Besitz behalten, den Michail auf meinen Namen überschrieben hatte, das Gran Teatro Real, dieses nutzlose Grab, in das ich mich schließlich geflüchtet habe, sowie ein Gewächshaus an der Eisenbahnlinie nach Sarriá, das Michail früher als Werkstatt für seine persönlichen Experimente benutzt hatte.
Damit wir zu essen hatten, verkaufte Luis meinen Schmuck und meine Kleider an den Meistbietenden. Meine Brautgeschenke, die ich nie benutzt hatte, wurden zu unserem Unterhalt. Michail und ich sprachen kaum noch miteinander. Immer missgebildeter, streifte er in unserer Villa umher wie ein Geist. Seine Hände konnten kein Buch mehr halten. Seine Augen hatten Mühe mit dem Lesen. Ich hörte ihn nicht mehr weinen. Jetzt lachte er bloß noch. Sein bitteres Lachen um Mitternacht ließ mir das Blut in den Adern gerinnen. Mit seinen verkümmerten Händen schrieb er in einem Heft Seite um Seite in unlesbaren Lettern voll, ohne dass wir wussten, was er schrieb. Wenn ihn Dr. Shelley besuchen kam, schloss er sich in seinem Studio ein und weigerte sich herauszukommen, bis sein Freund wieder gegangen war. Ich gestand Shelley meine Angst, dass Michail sich das Leben nähme. Shelley sagte, er befürchte etwas noch Schlimmeres. Ich wusste nicht – oder wollte nicht verstehen -, was er meinte.
Seit einiger Zeit ging mir ein anderer unsinniger Gedanke im Kopf umher. Eine Idee, mit der ich Michail und unsere Ehe retten wollte. Ich beschloss, ein Kind zu bekommen, in der Überzeugung, Michail hätte, wenn ich ihm ein Kind schenkte, einen Grund, weiterzuleben und zu mir zurückzukommen. Von dieser Illusion ließ ich mich mitreißen. Mein ganzer Körper brannte danach, dieses rettende, hoffnungspendende Wesen zu empfangen. Ich träumte von der Idee, einen kleinen Michail großzuziehen, rein und unschuldig. Mein Herz sehnte sich danach, wieder die andere Seite seines Vaters zu sehen, frei von allem Kranken. Michail durfte keinesfalls ahnen, was ich ausheckte, sonst hätte er sich rundweg geweigert. Es würde schwer genug sein, einen Augenblick der Zweisamkeit mit ihm zu finden. Wie gesagt, seit einiger Zeit schon ging er mir aus dem Weg. Mit seinen Deformationen fühlte er sich unbehaglich in meiner Gegenwart. Jetzt begann die Krankheit auch auf seine Sprache überzugreifen. Er stammelte, wütend und beschämt. Er konnte nur noch Flüssiges zu sich nehmen. Meine Bemühungen, ihm zu zeigen, dass sein Zustand mich nicht abstieß, dass niemand besser als ich sein Leiden verstand und teilte, schienen alles nur noch zu verschlimmern. Aber ich hatte Geduld, und ein einziges Mal im Leben glaubte ich Michail täuschen zu können. Doch ich täuschte nur mich selbst. Das war der schlimmste meiner Fehler.
Als ich Michail verkündete, wir würden ein Kind bekommen, jagte mir seine Reaktion einen Schrecken ein. Er verschwand fast einen Monat lang. Schließlich fand ihn Luis in dem alten Gewächshaus in Sarriá, bewusstlos. Michail hatte rastlos gearbeitet, hatte sich seinen Hals und seinen Mund rekonstruiert. Seine Erscheinung war ungeheuerlich. Er hatte sich mit einer tiefen, metallischen, bösen Stimme ausgestattet. Seine Kiefer waren gezeichnet von Eckzähnen aus Stahl. Sein Gesicht war, außer an den Augen, nicht wiederzuerkennen. Unter diesem Horror verbrannte die Seele des Michail, den ich liebte, weiter in ihrer eigenen Hölle. Neben seinem Körper fand Luis eine Reihe von Vorrichtungen und Hunderte Pläne. Ich zeigte sie Shelley, während sich Michail in einem langen, dreitägigen Schlaf erholte. Die Schlussfolgerungen des Arztes waren schaudererregend. Michail hatte vollkommen den Verstand verloren. Er hatte vorgehabt, seinen Körper von Grund auf zu rekonstruieren, ehe ihn die Krankheit ganz aufzehrte. Wir schlossen ihn oben im Turm ein, in einer ausbruchssicheren Zelle. Ich brachte unsere Tochter zur Welt, während ich das wilde Geheul meines wie ein Raubtier eingesperrten Mannes hörte. Ich teilte keinen einzigen Tag mit ihr. Dr. Shelley nahm sich ihrer an und gelobte, sie wie seine eigene Tochter aufzuziehen. Sie sollte María heißen und lernte, genau wie ich, ihre wirkliche Mutter nie kennen. Das bisschen Leben, das ich noch im Herzen hatte, ging mit ihr dahin, aber mir war bewusst, dass ich keine andere Wahl hatte. Die bevorstehende Tragödie war mit Händen zu greifen. Ich konnte sie spüren wie Gift. Es galt nur noch auszuharren. Und wie immer kam der endgültige Schlag aus einer Richtung, aus der wir ihn am wenigsten erwarteten.«
»Benjamín Sentís, den Neid und Habsucht in den Ruin getrieben hatten, hatte sich einen Racheplan zurechtgelegt. Schon seinerzeit war er verdächtigt worden, Sergei bei seiner Flucht behilflich gewesen zu sein, nachdem der mich vor der Kathedrale angegriffen hatte. Wie in der düsteren Prophezeiung der Tunnelleute hatten die ihm Jahre zuvor von Michail geschenkten Hände nur dazu gedient, Unheil und Verrat zu stiften. In der letzten Nacht des Jahres 1948 kam Sentís zurück, um Michail, den er aus tiefstem Herzen hasste, den definitiven Dolchstoß zu versetzen.
In diesen ganzen Jahren hatten meine ehemaligen Vormunde, Sergei und Tatjana, im Untergrund gelebt. Auch sie dürsteten nach Rache, und jetzt war die Stunde gekommen. Sentís wusste, dass Floriáns Einheit am nächsten Tag eine Durchsuchung unseres Hauses beim Park Güell plante, um die mutmaßlichen belastenden Beweise gegen Michail zu finden. Wenn diese Durchsuchung stattfände, würden Sentís’ Lügen und Betrügereien auffliegen. Kurz vor zwölf Uhr gossen Sergei und Tatjana um unser Haus herum mehrere Kanister Benzin aus. Sentís, immer der Feigling im Schatten, sah vom Auto aus die ersten Flammen züngeln und machte sich dann dünn.
Als ich erwachte, stieg der blaue Rauch die Außentreppen hinauf. Das Feuer breitete sich in Minutenschnelle aus. Luis erlöste mich und rettete uns das Leben, indem er vom Balkon auf den Garagenschuppen und von dort in den Garten sprang. Als wir uns umwandten, hüllten die Flammen die ersten beiden Etagen vollkommen ein und leckten nach dem Turm, wo wir Michail eingeschlossen hatten. Ich wollte ins Feuer zurücklaufen, um ihn zu retten, doch Luis beachtete mein Geschrei und meine Schläge nicht und hielt mich in seinen Armen fest. In diesem Augenblick entdeckten wir Sergei und Tatjana. Sergei lachte wie ein Irrer. Tatjana zitterte wortlos. Was danach geschah, daran erinnere ich mich wie an eine Szene aus einem Albtraum. Die Flammen hatten die Turmspitze erreicht, die Fenster barsten in einem Scherbenregen. Unversehens erschien eine Gestalt im Feuer. Ich glaubte zu sehen, wie ein schwarzer Engel sich auf die Mauern stürzte – Michail. Wie eine Spinne krabbelte er über die Wände, an die er sich mit eigens konstruierten Metallklauen klammerte. Er bewegte sich in haarsträubendem Tempo. Sergei und Tatjana beobachteten ihn sprachlos und verstanden nicht, wie ihnen geschah. Der Schatten stürzte sich auf sie und schleifte sie mit übermenschlicher Kraft ins Innere. Als ich sie in dieser Hölle verschwinden sah, verlor ich die Besinnung.
Luis brachte mich an die einzige Zufluchtsstätte, die uns noch geblieben war, die Ruinen des Teatro Real. Es ist bis heute unser Zuhause. Am nächsten Tag verkündeten die Zeitungen die Tragödie. Auf dem Diwan waren zwei verkohlte Leichen in enger Umarmung gefunden worden. Die Polizei nahm an, es handle sich um Michail und mich. Nur wir wussten, dass es in Wirklichkeit Sergei und Tatjana waren. Eine dritte Leiche wurde nie gefunden. Am selben Tag gingen Shelley und Luis zum Gewächshaus, um Michail zu suchen. Sie fanden keine Spur von ihm. Die Verwandlung war beinahe abgeschlossen. Shelley nahm seine sämtlichen Papiere, Pläne und Schriftstücke an sich, um keine Beweise zurückzulassen. Er studierte sie wochenlang in der Hoffnung, in ihnen den Schlüssel zu finden, um zu Michail zu gelangen. Wir wussten, dass er sich irgendwo in der Stadt verbarg, abwartend und seine Verwandlung vervollständigend. Dank seinen Schriften kam Shelley hinter Michails Plan. Die Tagebücher beschrieben ein Serum aus der Essenz der Schmetterlinge, die er jahrelang gezüchtet hatte, das Serum, mit dem ich ihn in der Fabrik der Velo-Granell eine Frau hatte zum Leben erwecken sehen. Schließlich wurde mir klar, was er vorhatte. Michail hatte sich zum Sterben zurückgezogen; er musste sich von seinem letzten Hauch Menschlichkeit befreien, um auf die andere Seite gelangen zu können. Wie der schwarze Schmetterling sollte sich auch sein Körper eingraben, um aus der Finsternis zu auferstehen. Und wenn er zurückkäme, würde er es nicht mehr als Michail Kolwenik tun, sondern als Bestie.«
Ihre Worte hallten im Gran Teatro Real wider.
»Monatelang hörten wir nichts von Michail, und auch sein Versteck fanden wir nicht«, fuhr Ewa Irinowa fort.»Im Grunde hegten wir die Hoffnung, sein Plan möchte scheitern. Wir sollten uns irren. Ein Jahr nach dem Brand suchten zwei Inspektoren, alarmiert durch einen anonymen Anruf, die Velo-Granell auf. Natürlich wieder einmal Sentís. Da er nichts mehr von Sergei und Tatjana gehört hatte, vermutete er, Michail sei noch am Leben. Die Fabrikgebäude waren von Amtes wegen geschlossen, niemand hatte Zutritt zu ihnen. Die beiden Inspektoren ertappten einen Eindringling. Sie schossen ihre Magazine auf ihn leer, aber…«
»Aus diesem Grund wurden die Kugeln nie gefunden.«Ich erinnerte mich an Floriáns Worte.»Kolweniks Körper nahm die ganzen Schüsse in sich auf…«
Die alte Dame nickte.
»Man fand die Leichen der beiden Polizisten vollkommen zerfetzt«, sagte sie.»Niemand hatte eine Erklärung für den Vorfall. Außer Shelley, Luis und mir. Michail war zurückgekehrt. In den darauffolgenden Tagen kamen sämtliche Mitglieder des Direktoriums der Velo-Granell, die ihn verraten hatten, unter wenig geklärten Umständen zu Tode. Wir vermuteten, Michail verberge sich in den Abwasserkanälen und benutze die Tunnel, um sich in der Stadt fortzubewegen. Das war ja keine unbekannte Welt für ihn. Es blieb nur noch eine Ungewissheit: Warum war er in die Fabrik zurückgegangen? Einmal mehr lieferten uns seine Arbeitshefte die Antwort: das Serum. Er musste sich das Serum spritzen, um am Leben zu bleiben. Die Reserven im Turm waren vernichtet worden und die Reserven im Gewächshaus sicherlich aufgebraucht. Dr. Shelley bestach einen Polizeioffizier, um die Fabrik betreten zu können. Dort fanden wir einen Schrank mit den beiden letzten Fläschchen Serum. Unbemerkt nahm Shelley eines an sich. Nachdem er ein Leben lang gegen Krankheit, Tod und Schmerz angekämpft hatte, war er unfähig, dieses Serum zu vernichten. Er musste es studieren, sein Geheimnis ergründen. Nachdem er es analysiert hatte, gelang es ihm, auf Quecksilberbasis eine Verbindung herzustellen, die seine Kraft neutralisieren sollte. Er tränkte zwölf silberne Kugeln mit dieser Verbindung und verwahrte sie in der Hoffnung, nie auf sie zurückgreifen zu müssen.«
Mir war klar, dass ich dank diesen Kugeln, die Shelley Luis Claret gegeben hatte, noch am Leben war.
»Und Michail?«, fragte Marina.»Ohne das Serum…«
»Wir haben seine Leiche in einem Kanal unter dem Barrio Gótico gefunden«, sagte Ewa Irinowa.»Das heißt, was von ihm übrig war, denn er war zu einer Ausgeburt der Hölle geworden, die nach dem Aas stank, aus dem er sich konstruiert hatte…«
Die alte Frau schaute zu ihrem alten Freund Luis auf. Der Fahrer vervollständigte die Geschichte.
»Wir haben die Leiche auf dem Friedhof Sarriá beerdigt, in einem namenlosen Grab«, erzählte er.»Offiziell war Señor Kolwenik schon ein Jahr früher gestorben. Die Wahrheit durften wir aber nicht preisgeben. Wenn Sentís erfahren hätte, dass die Señora noch am Leben war, hätte er keine Ruhe gegeben, bis sie ebenfalls aus dem Weg geräumt wäre. Wir haben uns selbst zu einem Geheimleben an diesem Ort verdammt…«
»Jahrelang glaubte ich, Michail ruhe in Frieden. Jeden letzten Sonntag im Monat ging ich dorthin, um ihn zu besuchen und ihm in Erinnerung zu rufen, dass wir uns schon bald, sehr bald wieder vereinigen würden. Wir lebten in einer Welt der Erinnerungen, und dennoch hatten wir etwas Wesentliches vergessen…«
»Was?«, fragte ich.
»María, unsere Tochter.«
Marina und ich tauschten einen Blick. Ich erinnerte mich, dass Shelley das Foto, das wir ihm gezeigt hatten, in die Flammen geworfen hatte. Das Mädchen, das darauf zu sehen war, war María Shelley.
Als wir das Album aus dem Gewächshaus mitgenommen hatten, hatten wir Michail Kolwenik die einzige Erinnerung an seine Tochter gestohlen, die er niemals kennenlernen durfte.
»Shelley zog María wie seine eigene Tochter groß, aber sie ahnte immer, dass die Geschichte nicht stimmte, die ihr der Arzt erzählte, nämlich dass ihre Mutter bei der Geburt gestorben sei. Shelley war kein guter Lügner. Mit der Zeit fand María im Arbeitszimmer des Arztes Michails alte Hefte und setzte sich die Geschichte zusammen, die ich euch erzählt habe. María wurde mit dem Irrsinn ihres Vaters geboren. Ich erinnere mich, dass Michail, als ich ihm von meiner Schwangerschaft berichtete, gelächelt hat. Dieses Lächeln erfüllte mich mit Unruhe, aber damals wusste ich nicht, warum. Erst Jahre später entdeckte ich in seinen Schriften, dass sich der schwarze Schmetterling der Abwasserkanäle von seiner eigenen Brut ernährt und dass er, wenn er sich zum Sterben eingräbt, dies zusammen mit dem Körper einer seiner Larven tut, die er dann beim Auferstehen verschlingt. Als ihr das Gewächshaus entdeckt habt, nachdem ihr mir vom Friedhof gefolgt wart, fand auch María endlich, was sie jahrelang gesucht hatte – das Fläschchen mit dem Serum, das Shelley verbarg. Nach dreißig Jahren kehrte Michail aus dem Tod zurück. Seither hat er sich am Leben erhalten, indem er sich aus den Stücken anderer Körper immer wieder neu gemacht und Kraft erlangt und weitere seinesgleichen erschaffen hat…«
Ich schluckte und erinnerte mich daran, was ich in der Vornacht in den Tunneln gesehen hatte.
»Als mir klarwurde, was da vor sich ging«, fuhr die Dame fort,»wollte ich Sentís warnen, dass er als Erster fallen würde. Um meine Identität nicht preiszugeben, habe ich dich benutzt, Óscar, mit dieser Karte. Ich dachte, wenn er sie sähe und das Wenige hörte, was ihr wusstet, würde ihn die Angst reagieren lassen und er würde sich vorsehen. Ein weiteres Mal hatte ich diesen schäbigen Alten überschätzt. Er wollte Michail aufsuchen und ihn zerstören. Er riss Florián mit sich… Luis ging auf den Friedhof von Sarriá und stellte fest, dass das Grab leer war. Anfänglich vermuteten wir, Shelley habe uns verraten. Wir dachten, er sei es gewesen, der das Gewächshaus aufgesucht habe, um neue Geschöpfe zu erschaffen. Vielleicht mochte er nicht sterben, ohne die Geheimnisse zu verstehen, die Michail ohne Erklärung hinterlassen hatte. Nie waren wir sicher in Bezug auf ihn. Als wir begriffen, dass er nur versuchte, María zu beschützen, war es schon zu spät. Jetzt wird Michail uns heimsuchen.«
»Warum?«, fragte Marina.»Warum sollte er hierher zurückkehren?«
Schweigend knöpfte die Dame die beiden obersten Knöpfe ihres Kleides auf und zog eine Kette hervor. Daran hing ein Glasfläschchen, in dem eine smaragdgrüne Flüssigkeit glänzte.
»Darum.«