3

Langsam löste sich ein Fahrrad aus dem Dunst. Ein junges Mädchen in einem weißen Kleid fuhr mir bergauf entgegen. Im durchscheinenden Licht des frühen Morgens waren durch die Baumwolle hindurch die Umrisse ihres Körpers zu erraten. Lange heublonde Haare verdeckten in Wellen ihr Gesicht. Reglos, wie ein halbgelähmter Idiot schaute ich zu, wie sie sich mir näherte. Zwei Meter vor mir blieb das Rad stehen. Meine Augen – oder meine Phantasie – erahnten die Konturen schlanker Beine, die sich auf den Boden stemmten. Mein Blick kletterte das Kleid hoch, das einem Bild von Sorolla zu entstammen schien, um dann bei den Augen innezuhalten, so tief grau, dass man hätte hineinfallen können. Sie ruhten mit sarkastischem Blick auf mir.

Ich lächelte und setzte das dümmlichste Gesicht auf, das ich zustande brachte.

»Du musst der mit der Uhr sein«, sagte das junge Mädchen in einem Ton, der zu ihrem starken Blick passte.

Ich schätzte sie auf mein Alter, vielleicht ein Jahr älter. Das Alter einer Frau zu erraten war für mich eine Kunst oder eine Wissenschaft, nie ein bloßer Zeitvertreib. Ihre Haut war so blass wie das Kleid.

»Wohnst du hier?«, stotterte ich und deutete auf das Gittertor.

Sie blinzelte nur. Ihre Augen durchbohrten mich mit solcher Wut, dass ich zwei Stunden brauchen würde, um zu merken, dass dies das bezauberndste Geschöpf war, das ich je im Leben gesehen hatte oder zu sehen hoffte. Aber das ist ein anderes Thema.

»Und wer bist du, dass du das fragst?«

»Vermutlich bin ich der mit der Uhr«, improvisierte ich.»Ich heiße Óscar. Óscar Drai. Ich bin gekommen, um sie zurückzubringen.«

Bevor sie etwas sagen konnte, zog ich die Uhr aus der Tasche und reichte sie ihr. Einige Sekunden schaute mich das junge Mädchen weiter an, ehe sie sie ergriff. Dabei sah ich, dass ihre Hand so weiß wie Schnee war und dass sie am entsprechenden Finger einen goldenen Ring trug.

»Sie war schon kaputt, als ich sie an mich nahm«, erklärte ich.

»Sie ist seit fünfzehn Jahren kaputt«, murmelte sie, ohne mich anzusehen.

Als sie schließlich aufschaute, musterte sie mich von oben bis unten wie ein altes Möbelstück. Etwas in ihren Augen sagte mir, dass sie mich nicht unbedingt für einen Dieb hielt, sondern vielmehr für einen Schwachsinnigen oder ganz gewöhnlichen Dummkopf. Das Idiotengesicht, das ich aufgesetzt hatte, mochte das Seinige dazu beitragen. Das Mädchen zog eine Braue in die Höhe, während sie rätselhaft lächelte und mir die Uhr zurückgab.

»Du hast sie mitgenommen, also sollst auch du sie ihrem Eigentümer zurückgeben.«

»Aber…«

»Die Uhr gehört nicht mir«, erklärte sie.»Sie gehört Germán.«

Die Nennung dieses Namens beschwor die riesige Silhouette mit der weißen Mähne herauf, die mich einige Tage zuvor in der Galerie des alten Hauses überrascht hatte.

»Germán?«

»Mein Vater.«

»Und du bist…?«, fragte ich.

»Seine Tochter.«

»Ich meine, wie du heißt.«

»Ich weiß ganz genau, was du meinst.«

Und sie stieg wieder aufs Rad und fuhr durchs Tor. Bevor sie sich im Garten verlor, wandte sie sich kurz um. Ihre Augen lachten mich lauthals aus. Ich seufzte und folgte ihr. Eine alte Bekannte hieß mich willkommen. Die Katze schaute mich mit ihrer üblichen Verachtung an. Gern wäre ich ein Dobermann gewesen.

Eskortiert von dem Tier, ging ich durch den Garten, bahnte mir einen Weg durch den Dschungel bis zu dem Brunnen mit den Cherubim. Dort war das Rad angelehnt, und seine Eigentümerin hievte eine Tüte aus dem Korb am Lenker. Es duftete nach frischem Brot. Sie zog eine Flasche Milch aus der Tüte und kniete nieder, um eine große Tasse auf dem Boden zu füllen. Das Tier schoss auf sein Frühstück zu. Das schien ein tägliches Ritual zu sein.

»Ich dachte, deine Katze frisst nur wehrlose Vögel«, sagte ich.

»Er jagt sie bloß. Er frisst sie nicht. Das ist eine Frage des Territoriums«, erklärte sie, als hätte sie ein Kind vor sich.»Was er wirklich mag, ist Milch. Nicht wahr, Kafka, Milch schmeckt dir?«

Zum Zeichen der Zustimmung leckte ihr das kafkaeske Katzentier die Hand. Sie lächelte warm, während sie ihm den Rücken streichelte. Dabei zeichneten sich in den Falten des Kleides ihre Muskeln ab. Nun schaute sie auf und ertappte mich dabei, wie ich sie anstarrte und mir mit der Zunge über die Lippen fuhr.

»Und du? Hast du gefrühstückt?«, fragte sie.

Ich schüttelte den Kopf.

»Dann hast du bestimmt Hunger. Dummköpfe haben immer Hunger«, sagte sie.»Komm rein und iss was. Es wird gut sein, etwas im Magen zu haben, wenn du Germán erklären willst, warum du ihm die Uhr gestohlen hast.«


Die Küche war ein großer Raum im hinteren Teil des Hauses. Mein unerwartetes Frühstück bestand aus Hörnchen, die das junge Mädchen aus der Konditorei Foix auf der Plaza de Sarriá mitgebracht hatte. Sie stellte eine riesige Tasse Milchkaffee vor mich hin und setzte sich mir gegenüber, während ich gierig diesen Festschmaus verzehrte. Sie betrachtete mich, als hätte sie einen hungrigen Bettler aufgenommen, mit einer Mischung aus Neugier, Mitleid und Argwohn. Sie selbst rührte keine Krume an.

»Ich hab dich schon mal in dieser Gegend gesehen«, bemerkte sie, ohne mich aus den Augen zu lassen.»Dich und diesen kleinen Jungen mit dem verschreckten Gesicht. Oft geht ihr durch die hintere Straße, wenn man euch im Internat freilässt. Manchmal bist du allein und trällerst geistesabwesend vor dich hin. Ich könnte wetten, ihr habt einen Mordsspaß in diesem Kerker…«

Eben wollte ich etwas Geistreiches antworten, als sich ein mächtiger Schatten wie eine Tintenwolke auf dem Tisch ausbreitete. Meine Gastgeberin schaute auf und lächelte. Ich blieb reglos sitzen, den Mund voller Hörnchen, der Puls zwei Kastagnetten.

»Wir haben Besuch«, verkündete sie amüsiert.»Papa, das ist Óscar Drai, Amateuruhrendieb. Óscar, das ist Germán, mein Vater.«

Ich schluckte alles auf einmal hinunter und wandte mich langsam um. Vor mir erhob sich eine Gestalt, die mir riesig erschien. Der Mann trug einen Anzug aus Alpakawolle mit Weste und Fliege. Eine säuberlich zurückgekämmte Mähne fiel ihm über die Schultern. Ein weißer Schnurrbart zierte sein Gesicht, das um zwei dunkle, traurige Augen herum von scharfen Linien durchfurcht war. Was ihn aber wirklich ausmachte, waren seine Hände. Weiße Engelshände mit schmalen, endlosen Fingern. Germán.

»Ich bin kein Dieb…«, presste ich nervös heraus.»Es gibt für alles eine Erklärung. Wenn ich es gewagt habe, in Ihr Haus einzudringen, dann, weil ich glaubte, es sei unbewohnt. Ich weiß auch nicht, was dann mit mir geschah, als ich drin war, ich hörte diese Musik, nun, äh, jedenfalls kam ich herein und sah die Uhr. Ich wollte sie eigentlich gar nicht mitnehmen, ich schwör’s Ihnen, aber ich bin erschrocken, und als ich sah, dass ich die Uhr hatte, war ich schon weit weg. Also, ich weiß nicht, ob ich mich klar ausdrücke…«

Das junge Mädchen lächelte verschmitzt. Dunkel und undurchdringlich bohrten sich Germáns Augen in meine. Ich nestelte in der Tasche und reichte ihm die Uhr in der Erwartung, der Mann werde jeden Augenblick zu schreien anfangen und mir mit der Polizei, den Zivilgardisten und dem Vormundschaftsgericht drohen.

»Ich glaube Ihnen«, sagte er liebenswürdig, nahm die Uhr und setzte sich zu uns an den Tisch.

Seine Stimme war sanft, beinahe unhörbar. Seine Tochter stellte auch vor ihn einen Teller mit zwei Hörnchen und eine Tasse Milchkaffee hin. Dabei küsste sie ihn auf die Stirn, und Germán umarmte sie. Ich beobachtete sie im hellen Licht, das durch die Fenster hereindrang. Germáns Gesicht, das ich mir als das eines brutalen Menschen vorgestellt hatte, wurde zärtlich, fast verletzlich. Er war außerordentlich schlank und lächelte mir freundlich zu, während er die Tasse zum Mund führte, und einen Augenblick lang konnte ich spüren, dass zwischen Vater und Tochter ein Strom von Zuneigung floss, die über Worte und Gesten hinausging. Ein Band des Schweigens und der Blicke einte sie in den Schatten dieses Hauses, am Ende einer vergessenen Straße, wo sie, weitab von der Welt, einer für den anderen sorgten.


Germán beendete sein Frühstück und bedankte sich herzlich bei mir, dass ich mir die Mühe gemacht habe, ihm seine Uhr zurückzubringen. So viel Liebenswürdigkeit verdoppelte mein Schuldgefühl.

»Nun, Óscar«, sagte er mit müder Stimme,»es war mir ein Vergnügen, Sie kennenzulernen. Ich hoffe, Sie haben irgendwann Lust, uns erneut zu besuchen.«

Ich verstand nicht, warum er mich beharrlich siezte. Etwas an ihm erzählte von anderen Zeiten, als diese Mähne noch geglänzt hatte und dieser jetzt alte Kasten ein Palast auf halbem Weg zwischen Sarriá und dem Himmel gewesen war. Er gab mir die Hand, verabschiedete sich und verschwand in diesem unergründlichen Labyrinth. Ich sah ihn mit leichtem Hinken durch den Flur davongehen. Seine Tochter blickte ihm nach, einen Anflug von Trauer verbergend.

»Germán ist nicht allzu gesund«, flüsterte sie.»Er wird schnell müde.«

Aber sofort verbannte sie die Melancholie aus ihrem Blick.

»Möchtest du noch irgendwas?«

»Es ist spät geworden«, sagte ich und kämpfte gegen die Versuchung an, unter irgendeinem Vorwand noch länger in ihrer Gesellschaft zu verweilen.»Ich glaube, ich geh jetzt am besten.«

Sie begleitete mich in den Garten hinaus. Das Morgenlicht hatte den Dunst vertrieben. Der beginnende Herbst färbte die Bäume kupfern. Wir gingen aufs Gittertor zu; Kafka schnurrte in der Sonne. Beim Tor angelangt, blieb das junge Mädchen auf dem Grundstück und ließ mich hinaus. Wir sahen uns schweigend an. Sie reichte mir die Hand, und ich ergriff sie. Unter der Samthaut konnte ich ihren Puls fühlen.

»Danke für alles«, sagte ich.»Und Verzeihung wegen…«

»Unwichtig.«

Ich zuckte die Schultern.

»Nun…«

Ich begann die Straße hinunterzugehen und spürte, wie die Magie dieses Hauses mit jedem Schritt mehr von mir abfiel. Auf einmal hörte ich ihre Stimme hinter mir:

»Óscar!«

Ich wandte mich um. Sie stand immer noch dort, hinter dem Gittertor. Zu ihren Füßen lag Kafka.

»Warum bist du neulich abends in unser Haus eingedrungen?«

Ich sah mich um, als erwartete ich, die Antwort aufs Pflaster geschrieben zu finden.

»Ich weiß es nicht«, gestand ich schließlich.»Das Geheimnis vermutlich…«

Sie lächelte rätselhaft.

»Du magst Geheimnisse?«

Ich nickte. Ich glaube, wenn sie mich gefragt hätte, ob ich Arsen mochte, hätte ich ebenfalls genickt.

»Hast du morgen was vor?«

Ich schüttelte den Kopf, weiterhin stumm. Gäbe es irgendetwas zu tun, so würde ich mir eine Ausrede einfallen lassen. Als Dieb war ich keinen Heller wert, aber im Lügen, muss ich gestehen, war ich schon immer ein Künstler gewesen.

»Dann erwarte ich dich hier, um neun«, sagte sie und verlor sich in den Schatten des Gartens.

»Warte!«

Mein Ruf hielt sie zurück.

»Du hast mir nicht gesagt, wie du heißt…«

»Marina… Bis morgen.«

Ich winkte ihr zu, aber sie war bereits verschwunden. Vergeblich wartete ich, dass sie sich nochmals zeigte. Die Sonne berührte die Himmelskuppel, und ich rechnete mir aus, dass es etwa zwölf Uhr mittags sein musste. Als ich sah, dass Marina nicht noch einmal kommen würde, ging ich ins Internat zurück. Die alten Haustüren im Viertel schienen mir vertraulich zuzulächeln. Ich konnte das Echo meiner Schritte hören, doch ich hätte schwören können, eine Handbreit über dem Boden zu wandeln.

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