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An diesem Abend vor dem Kamin erzählte mir Marina die Geschichte von Germán und der Villa in Sarriá.

Germán Blau war in eine wohlhabende, dem damals aufblühenden katalanischen Bürgertum zugehörige Familie hineingeboren worden. Der Blau-Dynastie fehlte weder die Loge im Liceo noch die Industriesiedlung am Ufer des Segre-Flusses, noch der eine oder andere gesellschaftliche Skandal. Man munkelte, der kleine Germán sei kein Sprössling des großen Patriarchen Blau, sondern Frucht der unstatthaften Liebschaft zwischen seiner Mutter Diana und einem pittoresken Menschen namens Quim Salvat. Salvat war – in dieser Reihenfolge – Freigeist, Porträtmaler und Berufssatiriker. Er war das Ärgernis der feinen Leute und hielt gleichzeitig ihre hübschen Gesichter zu astronomischen Preisen in Öl fest. Was auch immer die Wahrheit sein mochte, fest steht, dass Germán weder eine physische noch eine charakterliche Ähnlichkeit mit irgendeinem anderen Familienmitglied aufwies. Sein einziges Interesse galt der Malerei, dem Zeichnen, was aller Welt verdächtig erschien, insbesondere seinem offiziellen Vater.

An seinem sechzehnten Geburtstag eröffnete ihm dieser, in der Familie gebe es keinen Platz für Herumtreiber und Faulpelze. Beharre er auf seiner Absicht,»Künstler zu sein«, so werde er ihn in seiner Fabrik als Tagelöhner oder Steinklopfer oder in der Fremdenlegion oder sonst einer Institution arbeiten lassen, die zur Stärkung seines Charakters beitragen und einen rechtschaffenen Menschen aus ihm machen werde. Hierauf riss Germán aus dem Elternhaus aus, wohin er vierundzwanzig Stunden später von der Guardia Civil zurückgebracht wurde.

Verzweifelt und enttäuscht über diesen Erstgeborenen, setzte der Vater seine ganzen Hoffnungen in den zweiten Sohn, Gaspar, der bestrebt war, das Textilgeschäft zu erlernen, und eher willens, die Familientradition fortzuführen. Da er um die wirtschaftliche Zukunft seines älteren Sohnes fürchtete, überschrieb der alte Blau Germán die seit Jahren halb verlassene Villa in Sarriá.»Obwohl du für uns alle eine Schande bist, habe ich nicht wie ein Sklave gearbeitet, damit einer meiner Söhne auf der Straße landet«, sagte er. Die Villa hatte seinerzeit bei der Crème de la Crème in höchstem Ansehen gestanden, aber nun kümmerte sich niemand mehr um sie. Sie war verflucht. Tatsächlich, hieß es, hätten die geheimen Begegnungen von Diana und dem Freigeist Salvat an diesem Ort stattgefunden. So ging das Haus wie durch eine Ironie des Schicksals an Germán über. Kurze Zeit später wurde er mit der heimlichen Unterstützung seiner Mutter Lehrling von ebendiesem Quim Salvat. Am ersten Tag schaute ihm Salvat fest in die Augen und sprach folgende Worte:

»Erstens, ich bin nicht dein Vater und kenne deine Mutter nur vom Sehen. Zweitens, das Künstlerleben ist ein Leben voller Risiken, Unsicherheiten und, fast immer, Armut. Man sucht es sich nicht aus, es sucht sich einen aus. Wenn du in einem der beiden Punkte Zweifel hast, gehst du am besten gleich wieder zu dieser Tür raus.«

Germán blieb.


Die Lehrlingsjahre bei Quim Salvat waren für ihn ein Sprung in eine andere Welt. Zum ersten Mal glaubte jemand an ihn, an sein Talent und seine Chancen, etwas mehr zu werden als nur ein blasser Abklatsch seines Vaters. Er fühlte sich wie ein neuer Mensch. In sechs Monaten lernte und verbesserte er sich mehr als in all den Jahren seines Lebens zuvor.

Salvat war ein extravaganter, großzügiger Mann, der die Annehmlichkeiten der Welt liebte. Er malte nur nachts, und obwohl er nicht gut aussah (wenn er überhaupt irgendwie aussah, dann wie ein Bär), galt er als regelrechter Herzensbrecher mit einer seltsamen Verführungskraft, die er beinahe noch besser einzusetzen wusste als den Pinsel.

Atemberaubende Mannequins und Damen der oberen Zehntausend zogen durch sein Atelier, weil sie ihm sitzen und, so argwöhnte Germán, noch etwas mehr wollten. Salvat kannte sich mit Weinen, Dichtern, legendären Städten und aus Bombay importierter Liebesakrobatik aus. Er hatte seine siebenundvierzig Jahre intensiv ausgelebt und sagte immer, die Menschen ließen das Leben an sich vorbeiziehen, als würde es ewig dauern, und das sei ihr Verderben. Er lachte über das Leben und den Tod, über Gott und die Welt. Er kochte besser als die großen Küchenchefs mit Sternen im Guide Michelin und aß für sie alle. In der Zeit, die Germán bei ihm verbrachte, wurde Salvat zu seinem Meister und besten Freund. Germán war sich immer bewusst, dass er das, was er in seinem Leben als Mensch und Künstler geworden war, Quim Salvat verdankte.

Salvat war einer der wenigen Privilegierten, die das Geheimnis des Lichts kannten. Er bezeichnete das Licht als eine launische Tänzerin, die um ihre Reize wisse. Unter seinen Händen verwandelte es sich in wundervolle Linien, die das Gemälde erleuchteten und in der Seele Türen öffneten. Das erklärte zumindest der Werbetext in seinen Ausstellungskatalogen.

»Malen heißt schreiben mit Licht«, sagte Salvat.»Zuerst muss man sein Alphabet lernen, dann seine Grammatik. Erst dann kann man Stil und Magie entwickeln.«

Quim Salvat erweiterte Germáns Weltbild, indem er ihn auf seine Reisen mitnahm. So zogen sie durch Paris, Wien, Berlin, Rom… Bald begriff Germán, dass Salvat seine Kunst ebenso gut verkaufte, wie er malte, vielleicht noch besser. Darin lag der Schlüssel zu seinem Erfolg.

»Von tausend Menschen, die ein Bild oder ein Kunstwerk erwerben, hat nur ein einziger eine entfernte Vorstellung dessen, was er kauft.«Salvat lächelte.»Die anderen kaufen nicht das Werk, sondern den Künstler, das, was sie von ihm gehört haben, und fast immer das, was sie sich um ihn herum zurechtphantasieren. Dieses Geschäft funktioniert auf die gleiche Weise wie Quacksalberware oder Liebestränke verkaufen, Germán. Der Unterschied besteht nur im Preis.«

Quim Salvats großes Herz blieb am 17. Juli 1938 stehen. Einige führten es auf die Exzesse des Malers zurück. Germán war immer der Ansicht, es seien die Schrecken des Bürgerkrieges gewesen, die den Glauben und die Lebenslust seines Mentors abgetötet hätten.

»Ich könnte tausend Jahre malen«, murmelte Salvat auf seinem Totenbett,»und die Barbarei, Ignoranz und Bestialität der Menschen würde sich keinen Deut ändern. Die Schönheit ist ein Hauch gegenüber dem Wind der Wirklichkeit, Germán. Meine Kunst hat keinen Sinn. Sie ist unnütz…«

Die endlose Liste seiner Geliebten, Gläubiger, Freunde und Kollegen, die vielen Menschen, denen er selbstlos geholfen hatte, beweinten ihn auf seiner Beerdigung. Sie wussten, dass an diesem Tag ein Licht in der Welt erlosch und dass sie künftig einsamer, leerer wären.

Salvat vermachte ihm eine höchst bescheidene Summe Geld und sein Atelier. Er hieß ihn den Rest (was nicht viel war, denn er hatte immer mehr ausgegeben, als er verdient und ehe er es verdient hatte) unter seinen Geliebten und Freunden verteilen. Der mit der Testamentsvollstreckung beauftragte Notar gab Germán einen Brief, den ihm Salvat anvertraut hatte, als er sein Ende nahen fühlte. Er sollte ihn nach seinem Tod öffnen.

Mit Tränen in den Augen und zerfetzter Seele streifte der junge Mann eine Nacht lang ziellos in der Stadt umher. Das Morgengrauen überraschte ihn auf dem Wellenbrecher im Hafen, und dort las er in den ersten Stunden des neuen Tages die letzten Worte, die ihm Quim Salvat hinterlassen hatte.


Lieber Germán,

das hier habe ich Dir zu Lebzeiten nicht gesagt, da ich den richtigen Moment abwarten wollte. Aber ich fürchte, ich bin nicht mehr da, wenn er kommt.

Ich habe Dir Folgendes zu sagen. Nie habe ich einen Maler mit größerem Talent kennengelernt als Dich, Germán. Du weißt es noch nicht und kannst es auch nicht verstehen, aber es ist in Dir drin, und mein einziges Verdienst hat darin bestanden, es zu erkennen. Ich habe mehr von Dir gelernt als Du von mir, ohne dass Du es wusstest. Es wäre mir lieb, Du hättest den Lehrer gehabt, den Du verdienst, jemanden, der Dein Talent besser geleitet hätte als ich armer Lehrling. Das Licht spricht aus Dir, Germán. Wir anderen hören bloß zu. Vergiss das nie. Von nun an wird Dein Lehrer Dein Schüler und bester Freund sein, für immer.

SALVAT


Eine Woche später brach Germán, vor unerträglichen Erinnerungen fliehend, nach Paris auf. Man hatte ihm einen Lehrstuhl in einer Kunstakademie angeboten. Zehn Jahre lang sollte er keinen Fuß mehr nach Barcelona setzen.


In Paris erwarb er sich den Ruf eines Porträtmalers von einigem Prestige und entdeckte eine Leidenschaft, die ihn nie mehr loslassen sollte: die Oper. Allmählich verkauften sich seine Bilder gut, und ein Händler, der ihn noch aus seinen Zeiten bei Salvat kannte, wurde zu seinem Agenten. Sein Professorengehalt und der Verkauf seiner Bilder erlaubten ihm ein zwar einfaches, aber würdiges Leben. Mit einigen Einschränkungen und der Hilfe des Schulleiters, der mit halb Paris verwandt war, konnte er sich für die ganze Spielzeit einen Platz in der Oper reservieren. Nichts Protziges – Rang sechste Reihe und etwas zu weit links. Ein Fünftel der Bühne lag außerhalb seines Gesichtsfeldes, doch die Musik erreichte ihn in ihrer vollen Pracht, ihr war der Preis von Platz und Loge egal.

Dort erblickte er sie zum ersten Mal. Sie schien ein Geschöpf aus einem von Salvats Bildern zu sein, aber ihrer Stimme konnte nicht einmal ihre Schönheit gerecht werden. Sie hieß Kirsten Auermann, war neunzehn Jahre alt und laut dem Programmzettel eine der jungen Verheißungen des internationalen Musiktheaters. Am selben Abend wurde sie ihm auf dem von der Intendanz nach der Aufführung organisierten Empfang vorgestellt, bei dem er sich als angeblicher Musikkritiker von Le Monde eingeschlichen hatte. Als er ihr die Hand gab, blieb er stumm.

»Dafür, dass Sie Kritiker sind, sprechen Sie sehr wenig und mit ziemlichem Akzent«, scherzte Kirsten.

In diesem Moment beschloss Germán, diese Frau zu heiraten, und sei es die letzte Tat seines Lebens. Er wollte sämtliche Verführungskünste beschwören, die er Salvat jahrelang hatte praktizieren sehen. Doch einen Salvat gab es nur einmal, er war unwiederholbar. So begann ein sechs Jahre dauerndes Katz-und-Maus-Spiel, das an einem Sommernachmittag des Jahres 1946 in einer kleinen Kapelle der Normandie endete. Am Tag ihrer Hochzeit schwebte das Gespenst des Krieges noch in der Luft wie der Gestank von verborgenem Aas.

Nach kurzer Zeit kehrten Kirsten und Germán nach Barcelona zurück und ließen sich in Sarriá nieder. In seiner Abwesenheit war der Wohnsitz zu einem geisterhaften Museum geworden. Kirstens Leuchtkraft und dreiwöchige Reinigungsarbeiten wirkten Wunder.

Das Haus erlebte eine vorher nie gekannte glanzvolle Zeit. Germán malte pausenlos, besessen von einer ihm selbst unerklärlichen Energie. Seine Werke standen in den obersten Kreisen hoch im Kurs, und einen Blau zu besitzen wurde bald zum sine qua non der guten Gesellschaft. Auf einmal verkündete der Vater öffentlich seinen Stolz auf Germáns Erfolg.»Ich habe immer an sein Talent und seinen künftigen Durchbruch geglaubt«,»Er hat es eben im Blut wie alle Blaus«und»Einen stolzeren Vater als mich kann es nicht geben«wurden zu seinen Lieblingssätzen, und nachdem er sie oft genug wiederholt hatte, glaubte er selber daran. Kunsthändler und Kuratoren, die sich jahrelang nicht dazu herabgelassen hatten, Germán auch nur zu grüßen, schmeichelten sich jetzt bei ihm ein. Und inmitten dieses Sturms der Eitelkeiten und Heucheleien vergaß Germán nie, was Salvat ihm beigebracht hatte.

Auch Kirstens Opernkarriere gedieh prächtig. In der Zeit, in der allmählich die 33er-Schallplatte in Mode kam, war sie eine der ersten Stimmen, die ihr Repertoire auf Vinyl verewigte. Es waren Jahre des Glücks und des Lichts in der Villa in Sarriá, Jahre, in denen alles möglich schien und keine Schatten sich am Horizont abzeichneten.

Niemand maß Kirstens Übelkeiten und Ohnmachten größere Bedeutung bei, bis es zu spät war. Der Erfolg, die Reisen, die Anspannungen der Premieren – das erklärte vermeintlich alles. An dem Tag, an dem Kirsten von Dr. Cabrils untersucht wurde, veränderten zwei Nachrichten für immer ihre Welt. Die erste: Sie war schwanger. Die zweite: Eine unheilbare Blutkrankheit zehrte sie langsam auf. Ein Jahr blieb ihr noch, allerhöchstens zwei.

Noch an diesem Tag bestellte Kirsten, nachdem sie die Arztpraxis verlassen hatte, bei der Allgemeinen Schweizer Uhrmacherwerkstatt in der Vía Augusta eine goldene Uhr mit einer Inschrift für Germán.

Für Germán, aus dem das Licht spricht.

K.A.

19-1-1964

Diese Uhr sollte die gemeinsamen Stunden zählen, die ihnen noch verblieben.


Sie gab Bühne und Laufbahn auf. Die Galavorstellung zu ihrem Abschied fand im Liceo in Barcelona mit Lakmé von ihrem Lieblingskomponisten Delibes statt. Niemand würde je wieder eine Stimme hören wie die ihre. Während der Schwangerschaftsmonate malte Germán eine Porträtserie von seiner Frau, die alle seine vorherigen Werke in den Schatten stellte. Nie wollte er sie verkaufen.

Am 26. September 1964 kam in der Villa in Sarriá ein Mädchen mit hellem Haar und aschfarbenen Augen wie die ihrer Mutter zur Welt. Sie sollte Marina getauft werden und in ihrem Gesicht immer das Abbild und das Licht ihrer Mutter tragen. Sechs Monate später starb Kirsten Auermann, im selben Zimmer, in dem sie ihre Tochter zur Welt gebracht und mit Germán die glücklichsten Stunden ihres Lebens verbracht hatte. Ihr Mann nahm ihre blasse, zitternde Hand in die seinen. Als das Morgengrauen sie wie einen Hauch mitnahm, war sie bereits kalt.

Einen Monat nach ihrem Tod betrat Germán wieder sein Atelier auf dem Dachboden der Familienwohnung. Zu seinen Füßen spielte die kleine Marina. Er ergriff den Pinsel und versuchte eine Linie auf der Leinwand zu ziehen. Seine Augen füllten sich mit Tränen, und der Pinsel fiel ihm aus der Hand. Germán Blau malte nie wieder. Das Licht in seinem Inneren war für immer erloschen.

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