19

Auf Clarets Spur wurde ich zum Schatten unter Schatten. Die Armut und das Elend dieses Viertels waren in der Luft zu riechen. Mit weit ausholenden Schritten marschierte Claret durch Straßen, in denen ich noch nie gewesen war. Erst als er um eine Ecke bog und ich die Calle Conde del Asalto erkannte, fand ich mich wieder zurecht. Als wir die Ramblas erreichten, bog er links ein Richtung Plaza de Cataluña.

Auf dem Boulevard bummelten ein paar Nachtvögel. Die erleuchteten Kioske sahen aus wie gestrandete Schiffe. Beim Liceo wechselte Claret auf die andere Straßenseite und blieb dann vor dem Haus stehen, in dem Dr. Shelley und seine Tochter María wohnten. Bevor er eintrat, sah ich ihn einen blitzenden Gegenstand unter dem Cape hervorziehen – den Revolver.

Die Hausfassade war eine Maske aus Reliefs und Wasserspeiern, die ganze Bäche von Schmutzwasser ausspuckten. An der Ecke drang aus einem Fenster eine Handbreit goldenen Lichts. Shelleys Arbeitszimmer. Ich stellte mir den alten Doktor in seinem Invalidensessel vor, unfähig, Schlaf zu finden. Ich lief zum Portal. Claret hatte es von innen verriegelt. Ich suchte eine andere Möglichkeit hineinzugelangen und ging um das Haus herum. Auf der Rückseite führte eine schmale Feuerleiter zu einem Gesims hinauf, das wie ein steinerner Laufsteg ums ganze Haus herumlief bis zu den Balkonen der Hauptfassade. Von dort bis zu Shelleys Studio waren es nur noch wenige Meter. Über die Leiter stieg ich zum Gesims empor. Dort stellte ich fest, dass es höchstens zwei Spannen breit war. Die Straße unter meinen Füßen lag da wie ein Abgrund. Ich atmete tief ein und tat einen ersten Schritt auf den schmalen Vorsprung.

Dicht an der Hausmauer rückte ich Zentimeter um Zentimeter vor. Die Oberfläche war glitschig. Ab und zu bewegte sich unter meinen Füßen ein Stein. Ich hatte das Gefühl, mit jedem Schritt werde der Sims schmaler. Die Wand in meinem Rücken schien sich vornüber zu neigen. Sie war mit in den Stein gehauenen Faunen übersät. Ich streckte die Finger in die dämonische Grimasse einer dieser Figuren und fürchtete, der Schlund klappe zu und kappe sie mir. Sie wie Griffe benutzend, erreichte ich schließlich das Schmiedeeisengeländer um den Balkon von Shelleys Arbeitszimmer.

Dann stand ich auf der Gitterplattform vor den hohen Fenstern. Die Scheiben waren beschlagen. Ich presste das Gesicht daran und konnte schwach hineinsehen. Das Fenster war nicht von innen abgeschlossen, so dass ich es ein wenig aufdrücken konnte. Ein Schwall warme, nach dem verbrannten Holz im Kamin riechende Luft schlug mir ins Gesicht. Vor dem Feuer saß der Arzt in seinem Sessel, als hätte er sich nie von da weggerührt. Hinter ihm gingen die Türflügel des Arbeitszimmers auf. Claret. Ich war zu spät gekommen.

»Du hast deinen Schwur gebrochen«, hörte ich Claret sagen.

Zum ersten Mal vernahm ich seine Stimme deutlich. Schwer, heiser. So wie die eines Internatsgärtners, Daniel, dem im Krieg eine Kugel den Kehlkopf durchbohrt hatte. Zwar hatten die Ärzte seinen Hals rekonstruiert, aber es hatte zehn Jahre gedauert, bis der arme Mann wieder sprechen konnte. Seine Stimme klang wie jetzt die Clarets.

»Du hast gesagt, du hättest das letzte Fläschchen vernichtet«, sagte Claret und trat auf Shelley zu.

Der andere wandte sich nicht einmal um. Ich sah, wie sich Clarets Revolver hob und auf den Arzt zielte.

»Du täuschst dich in mir«, sagte Shelley.

Claret ging um den Alten herum und blieb vor ihm stehen. Shelley schaute auf. Wenn er Angst hatte, zeigte er es nicht. Claret zielte auf seinen Kopf.

»Du lügst. Ich sollte dich auf der Stelle umlegen.«Jede Silbe Clarets war schleppend, als schmerzte sie ihn.

Er setzte den Revolverlauf zwischen Shelleys Augen.

»Nur zu. Du tust mir einen Gefallen damit«, sagte Shelley gelassen.

Ich schluckte. Claret entsicherte die Waffe.

»Wo ist es?«

»Nicht hier.«

»Also wo?«

»Du weißt, wo«, antwortete Shelley.

Ich hörte Claret seufzen. Niedergeschlagen ließ er den Arm mit dem Revolver sinken.

»Wir sind alle verdammt«, sagte Shelley.»Es ist nur eine Frage der Zeit… Du hast ihn nie verstanden, und jetzt verstehst du ihn weniger denn je.«

»Du bist es, den ich nicht verstehe«, sagte Claret.»Ich gehe mit reinem Gewissen in den Tod.«

Shelley lachte bitter.

»Den Tod kümmern die Gewissen nicht groß, Claret.«

»Mich aber schon.«

Auf einmal erschien María Shelley in der Tür.

»Vater – geht es Ihnen gut?«

»Ja, María. Geh wieder ins Bett. Es ist nur der liebe Claret, und er geht gleich wieder.«

María zögerte. Claret starrte sie an, und einen Augenblick hatte ich das Gefühl, es liege etwas Unausgesprochenes im Spiel ihrer Blicke.

»Tu, was ich dir sage. Geh.«

»Ja, Vater.«

Sie zog sich zurück. Shelley schaute wieder ins Feuer.

»Pass du auf dein Gewissen auf. Ich habe eine Tochter, auf die ich aufpassen muss. Geh nach Hause. Du kannst nichts tun. Niemand kann etwas tun. Du hast ja gesehen, welches Ende Sentís genommen hat.«

»Sentís hat das Ende gefunden, das er verdiente.«

»Du willst ihn doch nicht etwa aufsuchen?«

»Ich lasse meine Freunde nicht im Stich.«

»Aber sie haben dich im Stich gelassen«, sagte Shelley.

Claret ging auf die Tür zu, blieb jedoch stehen, als Shelley bat:

»Warte…«

Er ging zu einem Schrank neben dem Schreibtisch. Er nestelte an einer Kette um seinen Hals, an der ein kleiner Schlüssel hing. Damit öffnete er den Schrank. Er nahm etwas heraus und reichte es Claret.

»Nimm sie«, befahl er.»Ich habe nicht den Mut, sie zu benutzen. Und auch nicht den Glauben.«

Die Augen verengend, versuchte ich herauszufinden, worum es sich handelte. Es war ein Etui, in dem einige silberne Kapseln zu liegen schienen. Kugeln.

Claret nahm sie entgegen und prüfte sie sorgfältig. Sein Blick traf sich mit dem Shelleys.

»Danke«, murmelte er.

Shelley schüttelte wortlos den Kopf, als wollte er keinen Dank. Ich sah, wie Claret das Patronenlager seiner Waffe ausräumte und dann mit Shelleys Kugeln wieder füllte. Dabei beobachtete ihn Shelley nervös und rang die Hände.

»Geh nicht…«, flehte Shelley.

Der andere schloss das Patronenlager und ließ die Trommel rotieren.

»Ich habe keine andere Wahl«, erwiderte er auf dem Weg zur Tür.

Sowie ich ihn verschwinden sah, glitt ich wieder zum Gesims. Der Regen hatte nachgelassen. Ich beeilte mich, um Clarets Spur nicht zu verlieren, und kehrte zur Feuerleiter zurück, kletterte hinunter und lief ums Haus herum, gerade rechtzeitig, so dass ich Claret die Ramblas abwärts gehen sah. Ich beschleunigte meine Schritte, und der Abstand zwischen uns verringerte sich. Er bog in die Calle Fernando Richtung Plaza de San Jaime ein. Unter den Säulengängen der Plaza Real erblickte ich einen öffentlichen Fernsprecher. Es war mir bewusst, dass ich so schnell wie möglich Inspektor Florián anrufen und von den Ereignissen in Kenntnis setzen musste, aber mich jetzt damit aufzuhalten hätte geheißen, Claret aus den Augen zu verlieren.

Ich folgte ihm ins Barrio Gótico hinein. Bald verlor sich seine Gestalt unter den Brücken, die sich von Palast zu Palast spannten. Unmögliche Bögen warfen tanzende Schatten auf die Mauern. Wir waren im verzauberten Barcelona angelangt, dem Labyrinth der Geister, wo die Straßen legendenhafte Namen trugen und die Kobolde der Zeit sich hinter uns tummelten.

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