In den darauffolgenden Tagen wurden die verflixte Uhr und ich unzertrennliche Gefährten. Ich nahm sie überallhin mit, sogar beim Schlafen lag sie unter meinem Kopfkissen, da ich befürchtete, jemand könnte sie finden und sich nach ihrer Herkunft erkundigen. Ich hätte die Antwort schuldig bleiben müssen.»Ja, weil du sie nicht gefunden, sondern hast mitgehen lassen«, flüsterte mir eine anklagende Stimme zu.»Der Fachausdruck lautet Diebstahl und Hausfriedensbruch.«Merkwürdigerweise ähnelte diese Stimme sehr derjenigen des Synchronsprechers von Perry Mason.
Geduldig wartete ich jeden Abend, bis meine Kameraden eingeschlafen waren, um meinen Schatz zu studieren. Sobald Stille eingetreten war, betrachtete ich die Uhr aufmerksam im Licht einer Taschenlampe. Nicht alle Schuld der Welt hätte die Faszination schmälern können, die mir die Beute meines ersten Abenteuers im desorganisierten Verbrechen bescherte. Das Stück war schwer und schien aus massivem Gold gefertigt. Das zerbrochene Zifferblatt ließ einen harten Schlag oder Sturz erahnen, der das Uhrwerk zunichtegemacht und die Zeiger auf ewig zu sechs Uhr dreiundzwanzig verdammt haben musste. Auf der Rückseite war eine Inschrift eingraviert:
Für Germán, aus dem das Licht spricht.
K.A.
19-1-1964
Ich dachte, die Uhr sei bestimmt ein Vermögen wert, und wurde bald von Gewissensbissen heimgesucht. Die eingravierten Worte gaben mir das Gefühl, ein Dieb von Erinnerungen zu sein.
An einem regennassen Donnerstag beschloss ich, mein Geheimnis mit jemandem zu teilen. Mein bester Freund im Internat hatte durchdringende Augen und ein nervöses Temperament und wollte unbedingt JF genannt werden, obwohl die Abkürzung nichts mit seinem richtigen Namen zu tun hatte. JF hatte die Seele eines anarchistischen Poeten und einen so messerscharfen Geist, dass er sich damit oft in die Zunge schnitt. Er hatte eine schwächliche Konstitution, und wenn jemand im Umkreis von einem Kilometer das Wort Mikrobe aussprach, glaubte er schon, eine Infektion aufgelesen zu haben. Einmal suchte ich in einem Wörterbuch das Wort Hypochonder und machte ihm eine Kopie der Definition.
»Ich weiß nicht, ob du es wusstest, aber deine Biographie steht im Wörterbuch der Königlichen Akademie«, sagte ich.
Er sah rasch auf die Fotokopie und warf mir einen Blick wie ein Schürhaken zu.
»Schlag mal unter I wie Idiot nach, dann siehst du, dass ich nicht die einzige Berühmtheit bin«, antwortete er.
An diesem Tag schlichen JF und ich uns zur Stunde der mittäglichen Pause in die düstere Aula. Unsere Schritte auf dem Hauptgang weckten das Echo von hundert auf Zehenspitzen dahintänzelnden Schatten. Zwei harte Lichtkegel fielen auf die staubgeschwängerte Szenerie. Wir setzten uns in die Lichtung vor die leeren Stuhlreihen, die im Halbdunkel verschwammen. Der Regen krabbelte über die Scheiben des ersten Stocks.
»Also«, sagte JF,»was soll die Geheimniskrämerei?«
Wortlos zog ich die Uhr aus der Tasche und reichte sie ihm. Er hob die Brauen und prüfte sie einige Augenblicke eingehend. Dann gab er sie mir mit einem neugierigen Blick zurück.
»Was hältst du davon?«, fragte ich.
»Ich halte es für eine Uhr«, antwortete er.»Wer ist dieser Germán?«
»Keine Ahnung.«
Dann schilderte ich ihm in allen Einzelheiten mein Abenteuer einige Tage zuvor in dem verlotterten alten Haus. Er hörte mit der für ihn bezeichnenden, fast wissenschaftlichen Aufmerksamkeit und Geduld zu. Als ich fertig war, schien er das Ganze abzuwägen, ehe er seine ersten Eindrücke äußerte.
»Du hast sie also geklaut«, folgerte er.
»Das ist nicht der Punkt.«
»Da müsste man schauen, was dieser Germán dazu meint.«
»Wahrscheinlich ist dieser Germán schon seit Jahren tot«, sagte ich ohne große Überzeugung.
JF rieb sich das Kinn.
»Ich frage mich, was das Strafgesetzbuch zu vorsätzlichem Diebstahl von persönlichen Gegenständen und Uhren mit Widmung sagt«, meinte mein Freund.
»Vorsätzlich, so ein Quatsch«, protestierte ich.»Alles ging ganz schnell, ohne dass ich Zeit zum Nachdenken hatte. Als ich merkte, dass ich die Uhr hatte, war es schon zu spät. An meiner Stelle hättest du genau dasselbe getan.«
»An deiner Stelle hätte ich einen Herzstillstand erlitten«, präzisierte er, eher ein Mann der Worte als der Tat.»Angenommen, ich wäre überhaupt so verrückt gewesen, einer Teufelskatze zu folgen und in diesen alten Kasten einzudringen. Wer weiß, was für Keime man sich von so einem Vieh einfangen kann.«
Einige Sekunden schwiegen wir und hörten dem fernen Echo des Regens zu.
»Nun«, schloss JF,»geschehen ist geschehen. Du wirst ja wohl nicht noch einmal dorthin wollen, oder?«
Ich lächelte.
»Allein nicht.«
Mein Freund machte tellergroße Augen.
»O nein! Kommt nicht in Frage.«
Noch am selben Nachmittag nach Unterrichtsschluss schlichen JF und ich uns durch die Küchenpforte davon und peilten die geheimnisvolle Straße an, die zu dem kleinen Palast führte. Das Pflaster war von Pfützen und Laub übersät. Ein bedrohlicher Himmel lag wie ein Deckel über der Stadt. JF, der sich mir mit mehr als gemischten Gefühlen angeschlossen hatte, war blasser als sonst. Der Anblick dieses in der Vergangenheit gefangenen Winkels ließ seinen Magen zur Murmel schrumpfen. Die Stille war ohrenbetäubend.
»Ich glaube, am besten hauen wir wieder ab«, flüsterte er und trat ein paar Schritte zurück.
»Sei doch kein Hase.«
»Die Leute wissen Hasen gar nicht wirklich zu schätzen. Ohne sie gäbe es weder Ostereier noch…«
Auf einmal breitete sich Glöckchenklingeln im Wind aus. JF verstummte. Die gelben Katzenaugen beobachteten uns. Unversehens zischte das Tier wie eine Schlange und zeigte uns die Krallen. Seine Rückenhaare sträubten sich, und im Maul sahen wir die Zähne, die Tage zuvor einem Sperling den Garaus gemacht hatten. Ein ferner Blitz entzündete am Himmelsgewölbe einen Lichtfächer. JF und ich schauten uns an.
Eine Viertelstunde später saßen wir auf einer Bank am Teich im Internatskreuzgang. Die Uhr steckte weiterhin in meiner Jacketttasche. Schwerer denn je.
Dort blieb sie für den Rest der Woche, bis zum frühen Samstagmorgen. Kurz vor Tagesanbruch erwachte ich mit dem vagen Gefühl, von der im Grammophon gefangenen Stimme geträumt zu haben. Vor meinem Fenster ging Barcelona in scharlachroten Schatten auf, ein Wald aus Antennen und Zinnen. Ich sprang aus dem Bett und zog die vermaledeite Uhr, die mir in den letzten Tagen das Leben verhext hatte, unter dem Kopfkissen hervor. Wir sahen einander an. Schließlich wappnete ich mich mit der Entschlossenheit, zu der man sich nur durchringen kann, wenn es wahnwitzige Aufgaben zu lösen gilt, und nahm mir vor, dieser Situation ein Ende zu setzen. Ich würde die Uhr zurückbringen.
Leise zog ich mich an und schlich auf Zehenspitzen durch den dunklen Gang des vierten Stocks. Bis zehn oder elf Uhr würde niemand mein Fehlen bemerken. Und da hoffte ich, wieder zurück zu sein.
Draußen lagen die Straßen unter dem trüben Purpurmantel, der in Barcelona das Morgengrauen einhüllt. Ich ging bis zur Calle Margenat hinunter. Um mich herum erwachte Sarriá. Niedrige Wolken durchzogen das Viertel und fingen die ersten Lichter in einem goldenen Nimbus ein. In den Lücken des Dunstes zeichneten sich die Hausfassaden und das umherflatternde Laub ab.
Ich fand die Straße sogleich wieder. Einen Augenblick blieb ich stehen, um die Stille, den seltsamen Frieden in mich aufzunehmen, der an diesem verlorenen Ort der Stadt herrschte. Allmählich spürte ich, dass die Welt zusammen mit der Uhr in meiner Tasche stehengeblieben war, als ich hinter mir ein Geräusch vernahm.
Ich drehte mich um und hatte eine Vision wie in einem Traum.