10. KAPITEL

Die Schwertspitze berührte seine Kehle und zwang ihn mit dem Rücken gegen einen der Pfosten, die den oberen Giebelbalken trugen. Nicholas Bracewell war hilflos. Er konnte sich keinen Zentimeter bewegen. Hinter ihm und unter ihm im Hof befand sich eine Gruppe Schauspieler bei einer Theaterprobe, dennoch konnte er nicht um Hilfe rufen. Ihm blieb nur übrig, den Mann scharf zu beobachten, den er einst so sehr gemocht und respektiert hatte. Es gab einen weiteren Schock, den er zu verkraften hatte. Am Ohr seines Angreifers befand sich ein juwelenbesetzter Ohrring, der hinter seiner Leiche in das Grab geworfen worden war. Nicholas riß den Mund auf.

»Ihr seid von den Toten auferstanden, Sir«, sagte er.

»Das ist nur Einbildung.«

»Wir haben aber beobachtet, wie Gabriel Hawkes mit den anderen Pestopfern weggekarrt und in sein Grab geworfen wurde.«

»Eure Augen haben Euch nicht betrogen, Nick.«

»Wieso steht Ihr dann hier vor mir?«

»Weil ich nicht Gabriel bin«, sagte der junge Mann. »Mein Name ist Mark Scruton. Der arme Kerl, der gestorben ist, war tatsächlich Gabriel Hawkes. Das war ein Verwandter von mir, der eine Pechsträhne hatte und in diesem ekelhaften Schuppen in der Smorrall Lane landete. Es paßte mir, seinen Namen und seine Adresse anzunehmen, während ich in Wirklichkeit in einer viel besseren Wohnung lebte.«

»Ihr seid auf Westfield's Men angesetzt worden«, sagte Nicholas, dem die Wahrheit langsam dämmerte. »Euer gutes Gedächtnis wurde gegen uns verwandt. Ihr lerntet aus unseren Textbüchern und gabt Euer Wissen an unsere Erzrivalen weiter.«

»Das war das gute Geschäft, das ich machte.«

»Eure Freunde zu verraten?«

»Welche Zukunft konnten die mir denn bieten?« sagte Scruton verächtlich. »Als Angestellter einem Lawrence Firethorn auf den leisesten Wink gehorchen zu müssen? Sich mit übriggebliebenen Rollen abfinden zu müssen? Wenn Beschäftigung oder Rauswurf von einer Laune abhängen? Für mich gab es dort keine Zukunft, Sir! Ich bin ein echter Schauspieler!«

»Euer Können hat mich getäuscht«, gestand Nicholas ein.

»Banbury's Men stellten für mich eine echte Chance dar. Dadurch, daß ich Eure Gruppe in die Knie zwang, verdiente ich mir das Recht zur Teilhaberschaft in ihrer Gruppe. Das erlaubt mir die Stellung, die ich verdiene.« Er lächelte selbstgefällig. »Gabriel Hawkes mußte vor Euren Augen verschwinden, damit er als Mark Scruton wieder auftauchen konnte. Mein Onkel bekam die Pest, hätte jedoch noch eine Weile gelebt und dadurch meine Pläne durchkreuzt. Ich half ihm etwas auf seinem Weg zum Himmel und habe ihm bestimmt viele Schmerzen erspart. Ihr habt gesehen, wie er von seinem schmutzigen Bett gezerrt und in einem schmutzigen Leichentuch weggekarrt wurde.«

»Er trug Euren Ohrring.«

»Das war mein Abschiedsgeschenk.« Er berührte die Perle, die an seinem Ohrläppchen hing. »Ich habe das Zwillingsstück, wie Ihr hier sehen könnt.«

Im Kopf fügte Nicholas alles zusammen.

»Ihr habt Eure Krankheit in London nur vorgetäuscht, um uns auf den Schock Eures Todes vorzubereiten«, sagte er. »Dann zogt Ihr mit Banbury's Men umher und sagtet denen, wie sie unser Geschäft am besten kaputtmachen könnten. Ihr habt Dick Honeydew entführt und diesen Pferdeknecht dazu gebracht, unsere Kostüme zu stehlen.«

»Ihr hättet beide nicht wiederfinden dürfen, Nick.«

»Das war aber meine Pflicht.«

»Und Euer Pech. Ihr wißt zuviel, mein Freund.«

»Jedenfalls genug, um Euch an den Galgen zu bringen.«

»Und auch genug, um Euch umzubringen.«

Scruton senkte das Schwert, um es ihm ins Herz zu stoßen, aber Nicholas war schneller als der Blitz. Er zuckte mit dem Fuß zur Seite, ließ sich rückwärts über die Brüstung fallen, überschlug sich in der Luft und landete auf den Füßen im Innenhof. Blut troff von seinem linken Arm, wo ihn das Schwert noch erwischt hatte, doch die Wunde war nicht tief. Er riß sein Schwert heraus, rannte ins Gebäude zurück und die Treppe hoch, um mit Marc Scruton unter gleichen Voraussetzungen zu kämpfen, doch der war verschwunden. Obwohl der Regisseur jeden Winkel des Gebäudes durchsuchte, konnte er ihn nicht finden.

Gabriel Hawkes war wieder verschwunden.

*

Sir Clarence Marmion saß in seinem Sessel, ohne auch nur einen Muskel zu bewegen. Er war eine würdevolle Gestalt, aufrecht, schlank und sehr ernst, vielleicht ein wenig kühl sogar, jemand, der seine Autorität mit Selbstverständlichkeit demonstrierte. Er trug ein schwarzes Wams, rot geschlitzt und mit einem hohen Kragen, der mit Spitzenstickerei verziert war. Oliver Quilley betrachtete ihn mit äußerster Sorgfalt, um aus seinem Gesicht den Charakter herauszulesen, doch sein Modell gab nur wenig von seinem Inneren preis. Der Künstler brachte ein paar erste Striche auf das Pergamentoval, das vor ihm auf dem Tisch lag. Sein Modell zuckte nicht mit der Wimper. Eine Stunde verging, bis Oliver Quilley das Schweigen brach.

»Die Frage einer Inschrift, Sir Clarence…«

»Inschrift?«

»Die meisten Leute wünschen sich ein paar Worte auf ihrem Porträt, um ihm Bedeutung oder Individualität zu geben. Manchmal ist es ein Familienmotto oder ein paar Worte der Liebe, die für den vorgesehenen Empfänger der Miniatur gedacht sind. Ich habe Leute gekannt, die Verse haben wollten oder sogar griechische Sentenzen.«

»Das ist nicht mein Wunsch, Sir.«

»Was soll es denn sein?«

»Ein lateinisches Zitat.«

»So sprecht, dann wird es vermerkt werden.«

»Dat poena laudata fides.«

Quilley notierte den Satz, dann runzelte er die Stirn.

»Ein merkwürdiger Spruch, Sir Clarence. ›Loyalität, obwohl gepriesen, bringt Leiden hervor.‹ Gibt es da irgendeinen Zusammenhang mit Marmion Hall?«

»Darüber braucht Ihr nichts zu wissen, Master Quilley.«

»Der Künstler muß Einblick in alles haben.«

»Übt Eure Kunst schweigend aus.«

Er nahm seine Stellung wieder ein. Oliver Quilley arbeitete, bis er den Zweck der ersten Sitzung erfüllt hatte. Sie befanden sich in der Halle, der Hausherr saß an der Wand, den Kopf eingerahmt von glänzenden Eichenpaneelen. Während der Künstler seine Utensilien einpackte, warf er bewundernde Blicke auf die Familienporträts, die an jeder Wand hingen, wobei ihm besonders das der früheren Lady Marmion auffiel, der stattlichen Mutter von Sir Clarence. Sie war mit kontrollierter Eleganz gekleidet, eine zierliche Gestalt, die Quilley zu einer Äußerung hinriß.

»Die Lady sieht so gut aus und ist so elegant gekleidet«, sagte er. »Gar nicht wie die Frauen in der Hauptstadt. Sir! Ihr macht Euch kein Bild von deren monströser Mode. Einige tragen Wämser mit Taschen auf der Brust, voller Schlitze und Einschnitte, mit Ärmeln in unterschiedlichen Farben. Ihre Pluderhosen sind so geschnitten, daß der Po hervorgehoben wird, weil die Kleidung da eng anliegt. Die Krinolinen und die unterschiedlich gefärbten Unterstrümpfe aus Seide, Jersey und dergleichen deformieren ihre Körper noch mehr. Ich habe in London einige dieser Dirnen getroffen, bei denen es mir unmöglich war, zu entscheiden, ob sie weiblich oder männlich waren!«

So etwas von jemand zu hören, der selbst in auffälliger Kleidung daherkam, hatte durchaus etwas Komisches an sich, Sir Clarence lächelte innerlich. Dann schob er die Hand in die Tasche und zog fünf Goldmünzen hervor.

»Hier ist Geld für Eure Arbeit, Master Quilley.«

»Wartet bitte, bis ich fertig bin, mein Herr.«

»Nehmt es als Anzahlung.«

»Wenn Ihr darauf besteht«, sagte der andere dankbar.

»Ein Arbeiter hat seinen Lohn verdient.«

»Ein Künstler hebt die Arbeit auf eine höhere Ebene.«

»Habt Ihr das auch für Master Anthony Rickwood gemacht?«

Die Frage machte Quilley nervös, doch er faßte sich rasch und antwortete mit einem nichtssagenden Lächeln, nahm das Geld seines Gastgebers und schob es rasch in die Tasche. Sir Clarence klingelte mit der kleinen Glocke, die vor ihm auf dem Tisch stand, kurz danach betrat ein Diener die Halle. Das war derselbe Mann, der sich früher als Gefängnismeister für einen anderen Gast im Keller des Hauses betätigt hatte. Anstelle von Folterinstrumenten brachte er jetzt zwei Weingläser auf einem Tablett. Er wartete, während die beiden Männer den ersten Schluck nahmen.

»Seid Ihr allein hierher geritten, Sir?« fragte Sir Clarence.

»Das war keine weite Reise«, antwortete Quilley.

»Es ist immer noch gefährlich.« Er deutete auf seinen Diener. »Laßt meinen Mann hier Euch nach York zurückbegleiten, damit ich sicher bin, daß Euch nichts geschieht.«

»Ich kann allein zurückreiten, Sir Clarence. Mein Pferd reitet jedem davon, der mir in den Weg tritt. Ich habe keine Angst.«

»Das solltet Ihr aber, Sir. Wir haben schlimme Zeiten.«

»Ich passe schon auf.«

Sir Clarence entschuldigte sich für einen Moment und verließ mit dem Diener den Raum. Quilley verlor keine Zeit. Sofort trat er an das Bücherregal, das an der entfernt liegenden Wand stand. Ohne zu zögern nahm er einen kleinen ledergebundenen Band mit einem hübschen Silberschloß heraus. Er schob das Buch in die Tasche, in der er seine Malutensilien aufbewahrte, und ging lässig zum Fenster hinüber, um die Aussicht zu genießen. Er betrachtete immer noch den vorderen Garten, als sein Gastgeber zurückkam. Sir Clarence war in entscheidungsfreudiger Stimmung.

»Morgen werden wir die zweite Sitzung durchführen.«

»So rasch?« fragte Quilley.

»Mir liegt daran, daß es mit dem Porträt vorwärts geht.«

»Einen Künstler darf man nicht drängeln, Sir Clarence.«

»Die Zeit ist nicht auf unserer Seite«, sagte der andere. »Morgen erwarten wir den Besuch von Westfield's Men. Kommt mit ihnen zurück und bringt Eure Sachen aus dem Gasthof mit. Ihr sollt Gast sein in meinem Haus, bis Ihr das Werk vollendet habt.«

»Das ist sehr freundlich. Marmion Hall wird mir bestimmt einen angenehmeren Aufenthalt bieten als der Trip to Jerusalem, und einen sichereren obendrein.« Er lächelte verschlagen. »Der Wirt hat mir erzählt, einer seiner Gäste sei vor kurzem von der Polizei mitgenommen worden. Ein gewisser Robert Rawlins.«

»Ich kenne einen Mann dieses Namens nicht.«

»Das macht nichts, Sir Clarence. Er war ein Priester der Römischen Kirche. Mit jedem Freund von Master Rawlins wird man sehr energisch umspringen.«

»Das betrifft mich nicht«, sagte der andere. »Ich bin mehr an Westfield's Men interessiert. Ihr sagt, Ihr seid mit ihnen von Nottingham hierher gereist?«

»Eine ereignisreiche Reise, in jeder Beziehung.«

»Ihr hattet sicher genug Zeit, Euch ein wenig mit ihnen anzufreunden. Wer gehört zu der Gruppe, Sir? Ich würde gerne ihre Namen kennen.«

»Alle?«

»Bis zum einfachsten Wicht.«

Quilley ratterte die Namen herunter, sein Gastgeber hörte aufmerksam zu. Dann dankte er seinem Besucher und führte ihn hinaus. Erfreut über sein großes Glück, ritt er in flottem Trab Richtung York. In seiner Tasche klimperte Geld, und sein Gastgeber hatte weiteres in Aussicht gestellt. Außerdem gab es ja noch dieses Buch in seiner Tasche. Er war so mit sich selbst beschäftigt, daß er den anderen Reiter überhaupt nicht bemerkte.

*

Eleanor Budden kniete betend im Münster von York und spürte nichts als Verwirrung. In Nottingham war alles so einfach gewesen. Eine einzige Stimme hatte zu ihr mit einer klaren Botschaft gesprochen, und sie hatte Mann, Haus und Kinder verlassen, um ihr zu gehorchen. Es gab keine weiteren Anweisungen von oben. Als ihre Knie im Gehorsam vor Gott auf das Betkissen sanken, wartete sie auf ein Zeichen, das nicht kam. Ihr Herz gab ihr eine Richtung vor, ihr Kopf eine andere und ihre Seele eine dritte. Es dauerte noch drei Tage, bis sie den Erzbischof persönlich sprechen konnte, um seinen Rat einzuholen. Und was sollte sie in der Zwischenzeit machen?

War ihre Reise nach Jerusalem bereits in York zu Ende?

Sie erinnerte sich an die Worte einer Predigt, die Miles Melhuish am Sonntag vor ihrer Abreise gehalten hatte. Auf ihre persönliche Situation bezogen, hatte er über den Charakter eines wahren Pilgers gesprochen und über die Natur des Lebens als einer Pilgerreise. Er beschäftigte sich mit dem himmlischen Ursprung des Menschen und seiner Hoffnung auf eine Rückkehr ins himmlische Reich, aus dem er nach dem Sündenfall vertrieben worden war. Die blumigen Phrasen des Vikars kamen ihr wieder ins Gedächtnis - seine Aufzählung der Symbole des Pilgers — Muschel, Krummstab. Behälter für das Wasser der Erlösung, die Straße und der Pilgermantel - faszinierten sie.

Je mehr sie darüber nachdachte, desto sicherer wurde sie zu Nicholas Bracewell gelenkt. Er hatte keine sichtbare Muschel oder einen Krummstab, aber er war Fischer und Hirte für Westfield's Men, ihr Haupternährer und ihr liebevoller Beschützer. Sie hatte ihn im River Trent getroffen, als er nackt im Wasser der Erlösung trieb. Sie waren die Straße gemeinsam gezogen, und indem er die Kostümkiste wieder zurückholte, hatte er nicht nur einen, sondern viele Mäntel gefunden. Alles war da. In ihrer simplen Gedankenwelt offenbarte sich die Wahrheit nun selber. Auf eine Pilgerreise zu gehen, bedeutete, sich in ein Labyrinth zu begeben, um seine Geheimnisse zu verstehen. Das Zentrum befand sich überhaupt nicht in. Jerusalem. Es war hier in York.

Nicholas Bracewell war ihre Bestimmung.

Von ihrer Entdeckung erregt, stand sie auf und trippelte durchs Mittelschiff zum Großen Westlichen Tor. Sie brauchte lange, um sich ihren Weg durch die verstopften Straßen mit ihrer fröhlichen Marktatmosphäre zu bahnen, doch schließlich erreichte sie den Gasthof und begab sich auf die Suche nach ihm. Nicholas genoß den Luxus eines eigenen Zimmers, wenn es auch nur ein winziges Kämmerchen im Giebel war, und dort fand sie ihn, eine Stunde vor Beginn der Aufführung.

Ihre Inbrunst war genauso groß wie seine Verlegenheit.

»Ich muß gehen, Mistress«, sagte er.

»Hört mich zuerst an, Sir.«

»Wir spielen heute vor Publikum.«

»Ich bitte nur um zwei Minuten Eurer Zeit.«

»Nun gut. Was habt Ihr zu sagen?«

Eleanor Budden richtete ihre blauen Augen auf ihn und ließ sie für sich sprechen. In ihrer Leidenschaft, ihrer Sehnsucht und in ihrem heiligen Drang sah er Bilder, die ihm höchstes Unbehagen verursachten. Sie war schön und verführerisch, doch sie war nicht für ihn bestimmt. Er trug Anne Hendrik in seinem Herzen und war nicht bereit, sie für irgendeine andere Frau beiseite zu schieben, bestimmt nicht für die verwirrte Gattin eines Spitzenmachers aus Nottingham. Nicholas empfand viel Sympathie für sie, die allerdings nicht so weit ging wie das, was sie so offensichtlich im Sinn hatte.

»Laßt mich zu Euch kommen, Master«, bettelte sie.

»Das ist nicht angemessen.«

»Ihr seid mein Erretter.«

»Dieser Rolle bin ich nicht würdig.«

»Erlaubt mir, mich an Eurer Flamme zu erwärmen.«

»Ihr verwechselt mich, Mistress.«

»Nein, guter Mann. Ich verehre Euch.«

Er brauchte zehn Minuten, um sich von ihr zu befreien, und er schaffte das nur, indem er ihr ein weiteres Gespräch am Abend versprach. Er begab sich rasch nach unten und versuchte, sie aus seinen Gedanken zu verbannen. Wegen der bevorstehenden Aufführung mußte er sich ausschließlich auf andere Probleme konzentrieren. Als er an einem der Zimmer für die Angestellten der Gruppe vorbeikam, hörte er etwas, das ihn auf der Stelle zum Stehen brachte und ihn die Bedrohung durch Mistress Eleanor Budden vergessen ließ. Die Worte schneidender Verse drangen durch die Tür. Es war Lawrence Firethorns Stimme, in voller Fahrt als Richard Löwenherz, der seine Truppen vor der Schlacht gegen Saladin anfeuert, ihre Entschlossenheit bestärkt und ihr Blut zum Kochen bringt.

Obwohl er diese Ansprache schon häufig gehört hatte, war Nicholas wie gebannt von ihr und von der phantastischen Virtuosität, in der sie vorgetragen wurde. Doch als sich die Tür öffnete, war es nicht Lawrence Firethorn, der von einer spontanen Probe seines Textes kam.

Es war Christopher Millfield.

*

York war eine stolze Stadt mit durchaus eigenem Stil, die niemandem voreilig Respekt zollte. Mehr als nur ein König war vor ihren Toren abgewiesen worden, und auch die Earls von Northumberland, ihre althergebrachten Oberherren, stießen von Zeit zu Zeit auf Ablehnung. Während des Kriegs der Rosen hatte sie als Basis für die Rebellen gedient, war aber auch der Brennpunkt der Pilgerfahrt der Gnade gewesen. Jener Aufstand des Jahres 1536 hatte sich hauptsächlich gegen die Auflösung der Klöster gerichtet, was man als ein weiteres schlimmes Ergebnis der Reformation betrachtete. Die Botschaft der Jahrhunderte war klar. Yorks Gunst war keine Selbstverständlichkeit.

Doch freudig ergab sich die Stadt Westfield's Men. Ironischerweise verdankten sie den Erfolg dem einen der beiden einzigen mittelalterlichen Könige, die nie in der Stadt gewesen waren. In der Gestalt des Lawrence Firethorn machte Richard I. diesen Fehler jetzt wieder gut. Er war inspirierend. Die ganze Gruppe lieferte, von seinem Beispiel angefeuert, die beste Aufführung seit Monaten. Die »Krieger des Kreuzes« entfalteten wirkliche Großartigkeit. Die Vorführung war so mitreißend, daß Hunderte von Schaulustigen, die sich im Trip to Jerusalem drängten, sie nicht aus den Augen zu lassen wagten, um nur ja nichts zu verpassen.

Es war nicht nur Richard Löwenherz, der sie begeisterte. In der kleinen, aber rührenden Rolle der Berengaria, der Frau des großen Kreuzritters, fand Richard Honeydew wahren Pathos. Christopher Millfield war einmal mehr ein hervorragender Musikant. Edmund Hoode hatte für sich selbst eine ausdrucksstarke Szene geschrieben, in der er einen furchtlosen Ritter spielte, der, von einem feindlichen Speer aufgespießt, eine längere Rede über Englands Ehre hält, für die er sofort zu sterben bereit sei. Die deutlich hervorgehobene Erwähnung von York selbst - erst im letzten Moment hinzugefügt - ließ donnernden Applaus aufbranden.

Die »Krieger des Kreuzes« gaben ihnen alles und noch mehr, nicht zuletzt einige unerwartete, aber zum Brüllen komische komödiantische Einlagen von Barnaby Gill als tauber Seneschall, der dem Tanz verfallen ist.

Es war das sensationellste Theaterereignis in York seit zehn Jahren. Magie lag in der Luft, als Richard die Schlußworte des Dramas deklamierte:

In Gottes Diensten finden wir Belohnung, Befriedigung für unsre innern Seelen. Dort ernten wahres Gold wir, der Rest ist nur Gekrätz; voran, Ihr tapfren Seelen, Ihr Krieger für das Kreuz!

Langanhaltender Applaus brach los. Die Stadt öffnete Westfield's Men ihr Herz und bejubelte sie, bis die Kehlen heiser waren. Hart arbeitende Schauspieler wurden wie Helden geehrt. Erinnerungen an Zurückweisungen verwehten ins Nichts angesichts solch freudiger Begeisterung.

Dies war das echte Jerusalem.

*

Humphrey Budden hörte das Jubelgeschrei schon in einer Meile Entfernung und fragte sich, was es zu bedeuten habe. Je näher er York kam, desto sehnlicher wünschte er sich, seine Frau wiederzusehen und sie zu sich zu nehmen. Getrieben von der Hoffnung auf Versöhnung, war er in wahnsinnigem Tempo von Nottingham hergeritten und war beinahe genauso schweißüberströmt wie sein Pferd. Zerknirschung beutelte ihn. York war eine heilige Stadt, in der alle ehelichen Wunden geheilt werden würden. Das Geräusch, das an sein Ohr drang, schien zwar nicht viel mit frommer Verehrung zu tun zu haben, doch es trug jedenfalls dazu bei, ihn auf dem letzten Teil seiner Reise anzufeuern.

Sein Pferd jagte durch Micklegate. Eine kurze Rückfrage sagte ihm, wo die Gruppe spielte, und weiterging es mit klappernden Hufen durch die Straßen. Als er den Gasthof erreichte, strömten die Leute in festlicher, glücklicher Stimmung heraus. Er band irgendwo sein Pferd fest, kämpfte sich gegen den Strom vorwärts und stolperte in den Hof, wo er in den Armen eines überraschten Nicholas Bracewell landete.

»Willkommen, Master Budden. Ihr kommt zu spät, Sir.«

»Ist Eleanor schon weg?«

»Ich sprach von der Aufführung.«

»Wo ist meine Frau?«

»Sie hat sich in ihr Zimmer zurückgezogen.«

»Bringt mich zu ihr, Master Bracewell.«

»Mit größter Freude, Sir.«

Ein neuer Gedanke ließ ihn jedoch innehalten. Vielleicht war Eleanor Budden gar nicht so begeistert, ihren Mann willkommen zu heißen, den sie so seelenruhig in Nottingham verlassen hatte. Sie hatte ihre Augen auf ein ganz anderes Ziel gerichtet, und der verschwitzte Humphrey war vielleicht nicht gerade der Richtige, um sie davon abzubringen, auch wenn er es gut meinte. Nicholas trat zurück, um sich den Mann anzuschauen. Größe und Körperbau waren ideal. Das rosige Gesicht konnte geändert werden.

»Kommt mit mir, Master Budden.«

»Bringt Ihr mich zu meiner Frau?«

»Wenn es soweit ist, Sir. Alles zu seiner Zeit.«

Genüßliche Vereinigung war auch das Ziel von König Richard. Lawrence Firethorn war von seiner eigenen Vorstellung begeistert und glühte vor Freude über den herzlichen Empfang durch das Publikum, vor allem aber wegen der prall gefüllten Geldbeutel, die die Eintrittskartenverkäufer ihm brachten. Die »Krieger des Kreuzes« waren nicht nur ein künstlerischer Triumph gewesen, sondern auch ein glänzendes Geschäft. Was ihm jetzt noch übrigblieb, waren Feierlichkeiten und triumphale Freudenritte durch die ganze Nacht.

Dutzende von schönen, jungen Frauen schwärmten im Gasthof um ihn herum und boten ihm mit flatternden Augenlidern ihre Gunst an. Doch er hatte bereits einen Untermieter für sein Schlafzimmer. Mistress Susan Becket würde die erste sein. Obwohl sich die Dame ihm in ihrem eigenen Gasthof so wunderbar hingegeben hatte, waren ihre Balgereien bis jetzt immer kurz vor dem höchsten Höhepunkt zu Ende gewesen. Eine einzige lange Geschichte eines ständigen Coitus interruptus, weil die Angelegenheiten von Westfield's Men zwischen sie fuhren wie ein nacktes Schwert, das ihnen ihre Keuschheit bewahren wollte. Aber das war jetzt alles vorbei, jetzt konnte er sie nach Herzenslust nehmen, solange er wollte.

Doch das reichte ihm noch nicht. König Richard hatte auch in der Liebe das Herz eines Löwen und hatte Lust auf einen Nachtisch, der den Geschmack der Hauptmahlzeit versüßen sollte. Susan Becket war Essen und Trinken zwischen den Laken, aber Eleanor Budden, die war Erdbeeren und Schlagsahne. Seine Phantasie ging mit ihm durch. In einer idealen Welt würde er sie beide gleichzeitig haben, in gemeinsamer Ekstase, in der sich jede freudig seinen sinnlichen Lüsten unterwarf und wo sich Heiligkeit und Hurenhaftigkeit zum totalen Höhepunkt männlicher Begierden vereinen würden. Da das jedoch leider nicht möglich war, gab er sich mit einem Kompromiß zufrieden und rief einen der Jungen zu sich.

»John Tallis!«

»Ja, Master?«

»Bitte Mistress Becket, in mein Zimmer zu kommen.«

»Ja, Sir.«

»Und anschließend bittest du Mistress Budden, das gleiche zu tun. Sag ihr, ich sei jetzt bereit, ihr die Psalmen vorzulesen.«

John Tallis' Kinn fiel hörbar hinunter.

»Sollen sie beide gleichzeitig kommen, Sir?«

»Die eine zuerst und die andere eine Stunde später.«

Er ließ den Lehrling mit seiner Aufgabe allein und ging nach oben, um sich für eine Nacht sinnlicher Freuden vorzubereiten. Er stieß die Tür seines Schlafzimmers auf und schaute zu dem Himmelbett hinüber, dem Schauplatz seiner Lustbarkeiten. Das Lachen blieb ihm im Halse stecken.

Das Bett war besetzt. Ausgebreitet auf der Decke lag sein zweitbester Mantel, wild darüber verstreut Rechnungen seiner Gläubiger. Die Niederlage starrte König Richard ins Gesicht. Der böse Feind trat aus einem Erker auf ihn zu. »Lawrence!«

Margery Firethorn war an diesem Nachmittag eingetroffen. Nach ihrem langen Ritt hatte sie sich noch nicht wieder eingekriegt und dampfte immer noch wie ein Walroß. Sie war ausgesprochen kampflustig.

»Ihr habt mich verraten, Sir!« heulte sie.

»Das ist nicht ganz richtig, meine Liebe…«

»Schaut doch hin!« sagte sie und deutete auf das Bett. »Kaum hattet Ihr London verlassen, da stürzten sich die Aasgeier auf mich, um mir den letzten Fetzen Fleisch von den Knochen zu nagen. Eure Schulden wurden mein Ruin, Sir. Ich kann sie nicht bezahlen. Eure Gläubiger drohen Euch mit Zwangsvollstreckung. Wir landen noch alle auf der Straße.«

Firethorn gewann seine Fassung bemerkenswert schnell zurück.

»Aber nicht doch, meine Süße«, sagte er besänftigend. »Seid Ihr den ganzen Weg bis York so voller Sorge hergereist? Das soll sich sofort ändern.« Er warf eine Geldbörse auf das Bett. »Da ist Gold für dich, Margery. Genug, um hundert Rechnungen zu bezahlen, und dann bleibt immer noch etwas übrig. Bei den Göttern, es ist ein Wunder, dich wiederzusehen. Komm, laß mich deine Sorgen fortküssen und deine Schmerzen lindern.«

Obwohl sie sich langsam beruhigte, hielt sie ihn auf Armeslänge von sich fern.

»Warum habt Ihr mir nicht geschrieben, Sir?«

»Aber ich habe geschrieben!« log er. »Jeden Tag.«

»In Shoreditch sind keine Briefe eingetroffen.«

»Vielleicht hast du sie unterwegs verpaßt.«

»Wir steckten in großen Schwierigkeiten, Sir.«

»Ich habe dir meine Liebe und mein Geld geschickt, um meine Abwesenheit zu mildern«, sagte er mit viel Überzeugungskraft. »Aber wie bist du eigentlich hierhergekommen?«

»Zu Pferd.«

»Aber sicherlich nicht allein, oder?«

»Lord Westfield gab mir vier Begleiter mit«, sagte sie. »Ich habe mich in meiner Not an ihn gewandt, und er war sehr großzügig.«

»Entschieden zu großzügig«, murmelte Firethorn zu sich selbst.

»Und Ihr habt mir wirklich Geld geschickt?«

»Nick Bracewell kann es bezeugen.«

Margery Firethorn entspannte sich. Der einzige Mann in der ganzen Gesellschaft, dem sie vertraute, war der Regisseur. Wenn der die Behauptung ihres Mannes bestätigte, war sie zufrieden. Ihre Kampfeslust verebbte langsam, was Firethorn nicht verborgen blieb. Rasch ergriff er die Gelegenheit beim Schöpfe.

»Deine Ankunft hätte nicht günstiger sein können.«

»Wirklich, Sir? Wieso?«

»Weil ich ein Geschenk für dich habe.«

»Vielleicht wieder ein Ring, den ich verkaufen darf, wenn die Zeiten härter werden?«

»Sei nicht so gemein zu mir, Margery.«

»Ich will keine Geschenke, die mir nicht ganz gehören.«

»Nimm dies hier und erkenne, wie sehr dein Mann dich liebt.«

Margery schaute den Gegenstand an, den er ihr in die Hand drückte, und spürte eine Woge tiefer Freude. Es war das Werk von Oliver Quilley, ein meisterhaftes Miniaturporträt von Lawrence Firethorn, das seine Klasse mit unnachahmlicher Meisterschaft einfing. Eigentlich hatte er es Eleanor Budden geben wollen, als Lockmittel, aber jetzt wurde es dringlicher benötigt. Margery war überwältigt. Er flüsterte ihr ins Ohr.

»Kannst du die Inschrift lesen?«

»Wo, Sir?«

»Da, am unteren Rand.«

Mit einer fast kindlichen Atemlosigkeit las sie die Worte vor.

»Amor omnia vincit.«

»Liebe überwindet alles.«

»Oh, Lawrence!«

Seine Lippen besiegelten seine haarscharfe Rettung. Ihre Umarmung wurde von lauten Schritten auf der Treppe unterbrochen, dann segelte Susan Becket mit interessanter Vertraulichkeit in sein Zimmer. Margery warf sofort den Kopf zurück, aber ihr Gatte meisterte auch diese Notsituation.

»Ah, Frau Wirtin!« sagte er und schnippte die Finger. »Laßt eine Flasche Eures besten Weines für mich und meine Frau heraufschicken. Und zwar rasch, Frau!« Er schlug zwei Fliegen mit einer Klappe. »Und sorgt dafür, daß dieses psalmensingende Weib, diese Mistress Budden, mir aus dem Weg geht. Ich will von ihrer Religion heute nacht nichts hören!«

Susan Becket zog sich stark verwirrt zurück.

Firethorns Pläne waren zweimal durchkreuzt worden, doch ein drittes Mal sollte das nicht passieren. Als seine Lust zurückkehrte, riß er Margery in seine Arme, warf sie aufs Bett, bestieg sie und ritt mit ihr inmitten unbezahlter Rechnungen.

*

Mistress Eleanor Budden befand sich in ihrem Zimmer, als John Tallis ihr die Botschaft seines Masters überbrachte. Diese wurde auf der Stelle widerrufen, als Richard Honeydew aufkreuzte.

»Ich habe eine Botschaft für Euch, Mistress.«

»Von Master Bracewell, hoffe ich?«

»Genau von diesem.«

»Nun, Sir?«

»Er bittet Euch, ihn in seinem Zimmer aufzusuchen.«

»Der Himmel hat mein Flehen erhört!«

»Er wird sich dort mit Euch unterhalten.«

Der Junge zog sich freundlich zurück. Voller Erwartung begann Eleanor, heftig zu atmen. Die Erfüllung ihres größten Wunsches stand jetzt dicht bevor. Sie liebte Nicholas Bracewell, und er hatte jetzt nach ihr geschickt. Gott hatte sie beide einander in die Arme geführt.

Sie erklomm die Stufen Jerusalems.

Nachdem sie leise an seine Zimmertür geklopft hatte, öffnete sie sie und betrat das Zimmer. Die Vorhänge waren zugezogen und das Zimmer halbdunkel, doch sie konnte Nicholas Bracewell mit einer Deutlichkeit sehen, die ihr Herz hüpfen ließ. Neben seinem Kopf brannte eine kleine Kerze, die ihr Licht auf sein blondes Haar und den schimmernden Bart warf. Als er sich zu ihr umdrehte, verrutschte das Laken, und sie sah, daß er nackt war.

Ihre leidenschaftlichen Sinne trieben sie vorwärts. Hier endete ihre Pilgerfahrt. Nicholas Bracewell war ihr erwählter Pfad. Sie rannte zum Bett und warf sich über ihn. Er blies die Kerze aus. Sie versanken ineinander, umschlangen sich, küßten sich und drangen ineinander, bis ihre Stimmen sich in einem Schrei der höchsten Wollust vereinten. Noch nie hatte Eleanor Budden eine so tiefe, göttliche Befriedigung gespürt.

Die aufgestauten Begierden ihres Leibes und ihrer Seele hatten sich inmitten der Geheimnisse des Liebesaktes aufgelöst. So groß war der Rausch ihrer Ermattung, daß es ihr nichts ausmachte, als sich Nicholas Bracewells Bart in ihrer Hand auflöste oder sich seine Perücke verschob. Sie beklagte sich auch nicht, als sein sorgfältiges Make-up sich an ihrem Gesicht abnibbelte. Dies war der Gipfel des Glücks. Sie war Christi Braut.

Humphrey Budden war selig, daß er nach York gekommen war.

*

Während die ehelichen Wiedervereinigungen stattfanden, saß Nicholas Bracewell mit ein paar anderen Angestellten im Schankraum und genoß sein Abendessen. Sein Giebelzimmer würde ihm diese Nacht nicht zur Verfügung stehen, doch das machte ihm nicht das geringste aus. Statt dessen erfreute er sich an seinem klugen Arrangement, das dafür sorgte, daß eine irregeleitete Ehefrau ihr geistiges Ziel und ein sitzengelassener Ehemann seine Glückseligkeit wiederfanden. Der Regisseur hatte mehr als nur ein Thema im Kopf, das ihn beschäftigte. »Krieger des Kreuzes« war zweifellos ein großer Erfolg gewesen, doch morgen sollte das Stück erneut aufgeführt werden — allerdings unter erheblich schlechteren Bedingungen. Als erstes mußte er am frühen Morgen nach Marmion Hall reiten, um sich den Aufführungssaal anzuschauen und einige Entscheidungen zu treffen über die Art, wie das Stück hier aufgeführt werden konnte. Während er mit halbem Ohr den Plaudereien seiner Freunde folgte, konzentrierte sich sein Verstand ganz auf die Herausforderungen des nächsten Tages.

Edmund Hoode kam eilig herein und setzte sich zu ihm.

»Habt Ihr schon die guten Neuigkeiten gehört, Nick?«

»Über was?«

»Banbury's Men.«

»Die haben in den Three Swans gespielt, heute.«

»Sie haben es versucht, Nick, aber ohne den geringsten Erfolg. Es war irgendeine vertrackte Komödie über Landpomeranzen und scharfe Jünglinge. Ich hab' mit einem gesprochen, der sich die ganze Posse angeschaut hat.« Er gluckste schadenfroh. »Er sagt, es sei die absolute Katastrophe gewesen. Texte vergessen, Einsätze verpaßt und jedes Unglück erlitten, das einer Theatergruppe nur zustoßen kann. Das Publikum hat sie von der Bühne gejagt. Selbst Master Randolph konnte sie nicht erheitern.«

»Das sind wirklich mal gute Nachrichten.«

»Unsere ›Krieger des Kreuzes‹ haben sie am Boden zerstört.«

»Und zu Recht, Edmund.«

»Das ist ihre gerechte Strafe, weil sie meine Stücke gestohlen haben. Sie haben ordentlich was aufs Dach bekommen.« Er seufzte. »Trotzdem würde ich zu gerne wissen, wer den Sicinius gespielt hat. Ich nenne ihn einen Schurken, wenn ich ihn jemals treffe.«

»Warum haben Banbury's Men denn so schlecht gespielt?«

»Weil es ihrem Stück an Klasse mangelte.«

»Aber es muß auch noch andere Gründe gegeben haben.«

»Gab es auch«, sagte Hoode. »Ihnen fehlte ein wichtiger Schauspieler. Einer von ihnen fiel für eine ganz besondere Rolle aus, und so schnell fanden sie keinen Ersatz. Seine Abwesenheit hat sie dorthin gebracht, wo sie auch hingehören.«

Nicholas wußte, daß der fehlende Schauspieler Mark Scruton sein mußte. Jetzt, da sein Geheimnis gelüftet war, wagte er nicht, in York zu bleiben, um nicht vom Regisseur gefaßt zu werden. Es gab aber auch eine wichtige Folge seines plötzlichen Verschwindens. Scrutons Machenschaften hatten ihn bei Banbury's Men beliebt gemacht, aber seinen schnellen Weggang würden sie sich nicht gefallen lassen. Nichts mehr von festem Anstellungsvertrag, nichts mehr von Aufnahme in den Kreis der Anteilseigner. Jetzt gab es keine Chance mehr für ihn, auf Kosten von Westfield's Men zu höheren Theaterehren aufzusteigen. Man konnte sich trösten. Nicholas war überzeugt, ihn nie mehr wiederzusehen.

*

Sobald er seine Wohnung verlassen hatte, wußte er, daß er verfolgt wurde, aber er ging deshalb nicht schneller. Das hätte seinem Verfolger nur gesagt, daß er von seiner Anwesenheit wußte. Während er durch die Straßen von York schlenderte, betrat er gemächlichen Schrittes eine dunkle Gasse. Als er deren Ende erreicht hatte, bog er um die Ecke und drückte sich in den ersten Türbogen. Er hörte schon bald das leise Näherkommen von Schritten, die ihm folgten. Er zog seinen Dolch hervor und hielt sich bereit.

Eine stämmige Gestalt bog um die Ecke und blieb unschlüssig stehen, als sie merkte, daß sie ihr Ziel verloren hatte. Er kratzte sich den Kopf und blickte in die Gasse zurück, durch die er gerade gekommen war. Das war das Letzte, was er jemals sah. Eine Gestalt tauchte geräuschlos hinter ihm auf und preßte ihm eine Hand auf den Mund. Bevor er sich auch nur rühren konnte, wurde ihm mit geübtem Schnitt die Kehle durchgeschnitten. Der Mann brach zusammen. Sein Angreifer blieb noch, um sich über sein Opfer zu beugen und es kurz zu betrachten. Auf dem Jackenärmel des Mannes konnte man das Wappen des Hauses Marmion erkennen. Es war eine rechtzeitige Warnung.

Mark Scruton verschwand rasch vom Tatort.

*

Oliver Quilley saß am Tisch in seinem Zimmer im Gasthof und untersuchte das Buch, das er in Marmion Hall gestohlen hatte. Es war ein Meßbuch in lateinischer Sprache und enthielt alle Rituale und Zeremonien der römisch-katholischen Kirche. Er interessierte sich weniger für den Inhalt als für die schlichte Schönheit des Buches, strich mit begehrlichen Händen über das sanfte Leder des Einbandes und betrachtete das Glitzern der silbernen Schließe. Er öffnete das Buch, um die Schönheit des Druckes zu bewundern.

Als er seine Beute lange genug besehen hatte, verstaute er das Buch wieder in seiner Tasche und zog einen Packen Spielkarten hervor, die bunte Bilder zeigten. Nachdem er sie sorgfältig gemischt hatte, begann er sie in einer bestimmten Reihenfolge auszulegen.

Die letzte Karte auf dem Tisch war für ihn keine Überraschung.

Oliver Quilley hob sie mit einem grimmigen Lächeln auf.

*

Mistress Susan Becket hatte ein weiches Herz, das durch Firethorns Behandlung verletzt worden war. Auf ihrer Suche nach Sympathie und Mitgefühl wandte sie sich auf der Stelle an Nicholas Bracewell, der ihren Worten voller Verständnis lauschte. Bei einem Drink im Schankraum schüttete sie ihm ihr ganzes Herz aus und erreichte schließlich den Punkt, an dem ihre Probleme nur noch durch ein einziges Heilmittel gelöst werden konnten. Sie lehnte den Kopf an seine Schulter.

»Bringt mich in mein Zimmer, Sir.«

»Geht es Euch nicht gut, Mistress Becket?«

»Bringt mich ins Bett und seid mein Arzt.«

»Das ist nicht möglich«, sagte Nicholas ausweichend.

»Laßt Euch nicht durch falsche Loyalität zu Master Firethorn abhalten«, schnurrte sie. »Er hat mich abgewiesen, und deshalb kann ich mir jeden aussuchen, den ich will.«

Sie hob den Kopf, um ihn anzustrahlen, und befreite seine Schulter. Er hielt sie gerade und blickte sich um. Die Rettung stand auf der anderen Seite des Schankraumes, fettleibig und dienstbeflissen. Nicholas winkte ihn zu sich.

»Herr Wirt!«

»Ja, Sir?« Lambert Pym watschelte herbei.

»Mistress Becket braucht Hilfe, um in ihr Zimmer zu gelangen.«

»Ich werde sie persönlich hingeleiten«, sagte er bereitwilligst. »Stützt Euch nur auf mich, Mistress. Wir gehen zusammen die Treppe hinauf.«

Sie akzeptierte sein Angebot und nahm seinen dicklichen Arm.

»Donnerwetter, was habt Ihr aber starke Muskeln, Master Pym!«

»Weil ich mein Leben lang mit schweren Fässern hantiert habe.«

»Das verstehe ich sehr gut«, meinte sie, als er ihr vom Stuhl hochhalf. »Ich habe auch meinen Teil solcher Arbeit geleistet. Wir sind zwei von der gleichen Sorte, Sir.«

»Das wußte ich, als ich Euch zum ersten Mal sah.«

Lambert Pyms dick aufgetragene Schmeicheleien waren exakt das, was sie jetzt brauchte; Nicholas war zufrieden. Zum zweiten Mal in dieser Nacht hatte er eine leidenschaftliche Frau in die Arme eines anderen Mannes geführt. Susan Becket lehnte sich vertrauensvoll an den Hauswirt, als sie gemeinsam zur Treppe gingen. Sie würde schon sehr bald die Beleidigungen vergessen, die man ihr zugefügt hatte. Gleich und gleich gesellt sich gern. Körperlich und geistig hatte sie in Lambert Pym den richtigen Partner gefunden.

»Das war gute Arbeit, Nick.«

»Diese Dame ist nicht für mich.«

»Den Grund dafür habe ich in Nottingham gesehen. Mistress Anne Hendrik ist wirklich eine hübsche Frau und Eurer Standhaftigkeit würdig.«

Christopher Millfield hatte alles vom Nebentisch aus beobachtet und kam jetzt zu seinem Freund an den Tisch. Nicholas war froh, einen Moment allein mit ihm sprechen zu können. Seit seinem Zusammentreffen mit Mark Scruton hatte er erkannt, wie grundlos sein früheres Mißtrauen gewesen war. Millfield war es nicht gewesen, der Gabriel Hawkes ermordet hatte. Gewissensbisse ließen Nicholas viel Sympathie für den anderen empfinden.

Der Schauspieler befand sich in heiterer Gemütsverfassung.

»Welche von den beiden wäre wohl das größere Übel?« fragte er.

»Übel?«

»Mistress Budden oder Mistress Becket?«

»Da bin ich nicht besonders neugierig.«

»Die eine würde Euch kreuzigen und die andere erdrücken.«

»Jetzt hat ja jede den richtigen Bettgenossen.«

»Ich hätte nie gedacht, daß Ihr so ein Feigling wärt.«

Sie brachen gemeinsam in Lachen aus, dann kam Nicholas zu einem Thema, das ihm schon seit längerem im Kopf herumging.

»Wißt Ihr irgend etwas über Tarot?«

»Nur daß die Karten zu einer Art Wahrsagerei benutzt werden. Ich habe einmal ein Spiel solcher Karten gesehen, das ist aber auch schon alles. Warum fragt Ihr?«

»Ich denke über Master Quilley nach.«

»Ein komischer Kerl, in jeder Beziehung.«

»Mistress Budden sagt, er habe einen Packen Karten mit bunten Bildern drauf. Könnten das die Trumpfkarten des Tarot sein?«

»Ich weiß es nicht, Nick.«

»Braucht er sie, um die Zukunft vorherzusagen?«

Eines der Kellnermädchen kam in den Schankraum und kicherte, als es Millfield erblickte. Er winkte ihr freundlich zu und wandte sich mit einem entschuldigenden Schulterzucken wieder an Nicholas.

»Ich fürchte, ich muß mich jetzt um etwas anderes kümmern.«

»Noch eine Frage, bevor Ihr geht«, sagte der andere. »Mistress Budden hat eine Beschuldigung gegen Euch erhoben.«

»Worüber?«

»Atheismus.«

Christopher Millfield brach in Gelächter aus.

»Die Frau ist völlig absurd!« sagte er in scherzhaftem Ton. »Wenn ich wirklich ein Atheist wäre, hätte man mich bestimmt schon längst verhaftet. Aber ich bin immer noch in Freiheit.« Er ging zu dem Mädchen. »Fragt Mistress Budden, wie sie das erklärt.«

Nicholas wartete, bis die beiden den Schankraum verlassen hatten, dann trank er sein Glas aus. Er war verwirrt. Irgend etwas in der Stimme des Schauspielers hatte ihn auf eine Gefahr aufmerksam gemacht, aber er konnte nicht sagen, was es war. Nachdem er eine Weile darüber gegrübelt hatte, gab er es auf und überließ sich einem ausgiebigen Gähnen. Es war inzwischen sehr spät, er war rechtschaffen müde. Da er mittlerweile der einzige Gast im Schankraum war, stand er auf und ging auf den Hof hinaus, um sich auf die Suche nach einer Schlafstelle für die Nacht zu machen. Der Pfingstmarkt hatte alle Pferdeboxen belegt, er hoffte, auf dem Heuboden etwas Bequemlichkeit zu finden. Er stieg nach oben und ließ sich in ein weiches und wohlduftendes Bett sinken. Er schlief bereits, bevor er sich auch nur die Schuhe ausziehen konnte.

Eine Stunde verging, dann ließ ihn ein Geräusch aus dem Schlaf hochfahren. Es war nicht mehr als das Quietschen einer Tür, doch es brachte ihn an das offene Fenster. Unten im Hof erblickte er eine Gestalt, die verstohlen zum Hoftor schlich - eine Gestalt, die inzwischen für nächtliche Wanderungen bekannt war. Es war Christopher Millfield, der sich zielstrebig bewegte.

Irgend etwas drängte Nicholas, ihm zu folgen. Rasch stieg er die Leiter hinunter und verließ den Schuppen. Geduckt und mit viel Abstand folgte er dem anderen durch die Straßen und über die Ouse Bridge. In seinem Kopf wirbelte es vor lauter Spekulationen. Hatte er Millfields Freundschaft zu schnell akzeptiert? Konnte der Mann trotz allem irgendwelche finsteren Absichten haben? In der Nacht vor der Aufführung in Pomeroy Manor war der Schauspieler zum ersten Mal um Mitternacht verschwunden. Und kurz nach dem Auftritt von Westfield's Men war ihr Gastgeber verhaftet worden. Nicholas erinnerte sich an die Liste, die er in Quilleys Satteltasche gefunden hatte. Millfield war es gewesen, der wußte, daß sich hinter den Namen Katholiken verbargen.

Während seine Gedanken rasten, trugen ihn seine Füße auf einer anstrengenden Wanderung quer durch York. Der Verfolgte schien sehr genau zu wissen, wohin er ging. Sie passierten Blake Street und bogen in die Lop Lane, bevor Millfield stehenblieb und leise an die Tür eines Giebelhauses klopfte. Innerhalb von Sekunden betrat er das Haus, dann flammten Kerzen auf in einem Zimmer über der Tür. Das Fenster war nur angelehnt, Nicholas konnte das leise Murmeln von Stimmen hören. Welche Verschwörung hier auch immer ausgeheckt wurde, sie konnte entdeckt werden, wenn er etwas näher rankam.

Nicholas blickte zur Straßenecke zurück und entdeckte einen überhängenden Giebel, der niedrig genug war, um vom Boden aus erreichbar zu sein. Er suchte sich einen festen Halt, zog sich hoch und kletterte die Wand empor, bis er das Dach erreichte. Er brauchte nicht lange, um von Dach zu Dach und Haus zu Haus zu klettern, bis er an das Fenster kam, das er suchte. Die Stimmen waren zu leise, als daß er sie hätte verstehen können, doch der Vorhang vor dem Fenster klaffte ein wenig auseinander, als er sich herunterließ.

Beschämung überkam ihn, als er ins Zimmer spähte. Hier ging es allerdings um keine politische Verschwörung. Christopher Millfield lag nackt auf einem Bett und küßte einen jungen Mann in seinen Armen mit einer Leidenschaft, die keiner Erklärung mehr bedurfte. Jetzt paßten weitere Puzzlesteine zusammen. Nicholas entsann sich seines koketten Umgangs mit Frauen, der aber offenbar nie darüber hinausging, und an Barnaby Gills Interesse an dem Schauspieler. Ferner erinnerte er sich an die Rede, die er im Gasthaus gehört hatte. Es war nicht nur Millfields Eitelkeit gewesen, die ihn dazu brachte, die Hauptrolle in dem Stück zu proben. Richard Löwenherz war ein Held, mit dem er gewisse Ähnlichkeit hatte. Obwohl die Welt ihn wegen seiner militärischen Leistungen anerkannte und bewunderte, war Englands populärster Monarch nicht ohne Fehler gewesen. Die Berichte über seine männlichen Liebhaber waren zu zahlreich und zu exakt, um völlig falsch zu sein.

Nicholas schwang sich von dem Giebel herab und sprang wieder auf den Boden. Abartige Leidenschaften waren ein Verbrechen, das mit strengen Strafen geahndet wurde, aber er hatte nicht die Absicht, etwas zu unternehmen. Obwohl er von Millfield ein wenig enttäuscht war, nahm er ihm die Sache nicht übel. Der Mann hatte ein Recht auf seine privaten Vergnügungen, vor allem, wenn er mit so viel Diskretion zu Werke ging. Nicholas hatte sich unerlaubterweise eingemischt. Zerknirscht und mit dem Gefühl erheblicher Verärgerung über sich selbst machte er sich auf den Rückweg zum Gasthof. Er brauchte Schlaf, um sich für die Strapazen des kommenden Tages zu wappnen und konnte seine Zeit nicht damit verplempern, hinter seinen Freunden herzuspionieren. Während er die Brücke überquerte, schalt er sich, daß er sich so hatte in die Irre leiten lassen.

In diesem Moment erblickte er die Leiche.

Vom Mondlicht schwach beleuchtet, trieb sie mit dem Gesicht im seichten Uferwasser des Flusses. Er lief hin und watete ins Wasser, um die Leiche zu packen. Sobald er das Gewicht des kleinen Körpers spürte und die Qualität des Wamses erkannte, wußte er, wen er vor sich hatte.

Master Oliver Quilley.

Nicholas zerrte ihn ans Ufer und drehte ihn auf den Rücken. Tote Augen starrten ihn an. In seiner Kehle steckte noch der Dolch des Mörders. Das Gesicht zeigte bereits eine beginnende Totenstarre. Doch es war die rechte Hand des Mannes, die seine Aufmerksamkeit erregte. Sie krampfte sich über etwas zusammen, als wolle sie es unter allen Umständen beschützen. Nicholas hatte Mühe, die Finger zu lösen und das Stück Pergament zu nehmen, das einmal das Porträt von Sir Clarence Marmion tragen sollte. Verschmierte Linien ließen sich in der Dunkelheit gerade noch erkennen. Als Nicholas es umdrehte, bekam er allerdings einen Schock.

Quilley hatte das Pergament auf ein Bild geklebt, das er von einer Tarot-Karte ausgeschnitten hatte. Es zeigte einen Mann, der an einem Strick hing, mit dem man seine Füße gefesselt hatte. Nicholas kannte das Bild. Es war Der Gehenkte Mann. Gelegentlich wurde die Karte auch anders genannt.

Der Verräter.

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