Lawrence Firethorn brüllte wie ein Stier, als George Dart an seine Zimmertür im Smith and Anvil hämmerte. In Anlehnung an das Gewerbe seines Vaters spielte der Oberste Schauspieler den eisenharten Schmied auf dem bereitwilligen Amboß von Mistress Susan Becket. Er erfüllte die Luft mit seinen Lustschreien genau in dem Moment, in dem so rüde an seine Tür gedonnert wurde. Er riß die Tür auf und funkelte den kleinen Bühnenarbeiter mit derartig flammenden Zornesblicken an, daß dieser um sein Leben fürchtete. Es war zu jeder Zeit ein einschüchterndes Erlebnis, seinem Arbeitgeber entgegenzutreten, aber vor Firethorn zu stehen, wenn dieser nackt, hoch erregt und nicht in der Lage war, seinem Höhepunkt entgegenzurasen, war wie ein Spaziergang im Siebten Kreis der Hölle. George Dart steckte drei Ohrfeigen ein, bevor er überhaupt den Mund aufmachen konnte. Es dauerte eine Ewigkeit, bis die Botschaft endlich überbracht war.
»Dick Honeydew ist mitgenommen worden, Sir.«
»Von wem, du Idiot? Von wem, du Dummkopf?«
»Von den Zigeunern.«
»Schluß mit diesem Blödsinn!«
»Ich fürchte, er hat recht, Master Firethorn.«
Unterstützung tauchte auf in der Gestalt von Nicholas Bracewell und den drei Lehrlingen, die eine ausführliche Untersuchung des ganzen Anwesens durchführten. Sie hatten jeden Winkel des Hauses durchsucht, einschließlich der Dachböden und Keller, entdeckten aber nicht die geringste Spur von Richard Honeydew. Der Junge war entweder verschwunden - was sehr unwahrscheinlich war —, oder er war entführt worden. Dieser zweite Gedanke wurde von Firethorn sofort akzeptiert, der ihn in eine persönliche Attacke auf sich und seine Karriere ummünzte.
»Sie haben mir meine Jungfer Marion gestohlen!«
»Wir werden ihn schon finden«, sagte Nicholas entschlossen.
»Soll Robin Hood seine Liebesszenen mit sich allein spielen?«
»Ihr werdet einen der anderen Schüler nehmen müssen.«
»Der Gedanke gefällt mir nicht, Nick.«
»Sherwood Forest muß aber eine Jungfrau bekommen.«
»Aber nicht John Tallis!« sagte Firethorn. »Dessen Gesicht paßt zu Komödien, aber nicht zum Küssen. Jungfer Marion kann keine eingefallenen Wangen haben, Sir.«
»Stephen Judd oder Martin Yeo können die Rolle übernehmen.«
»Keiner von beiden ist dafür geeignet.«
»Dann sucht ein anderes Stück aus, Master Firethorn.«
»Um mich von meinen Plänen abbringen zu lassen? Niemals!« Er stampfte mit nackten Füßen auf den Boden und zog sich ein paar Splitter in die Füße. »Diese Schandtat zielt direkt auf mich, Nick. Sie wissen genau, mein Robin Hood ist jenseits aller Vergleiche, und versuchen, mich aus schierem Neid fertigzumachen.«
»Wir müssen den Jungen sofort aufspüren, Sir.«
»Tut das, Nick.«
»Dafür brauche ich ein Pferd.«
»Nehmt meines, guter Mann.«
Nicholas war ganz und gar nicht davon überzeugt, daß Zigeuner Richard Honeydew entführt hatten, auch wenn man die Gruppe in der Gegend beobachtet hatte, doch seine Meinung wurde von dem Mann, der kein Argument akzeptierte, beiseite gefegt. Gleichzeitig um seinen Orgasmus betrogen und seiner Jungfer Marion beraubt - der Erste Schauspieler hatte nur noch Rache im Sinn.
»Aufs Pferd! Aufs Pferd, Nick!«
»Ich werde Euch in Nottingham treffen.«
»Kommt nicht ohne ihn zurück!«
»Wenn der Junge bei den Zigeunern ist, bringe ich ihn mit.«
»Nehmt Euch in acht, Sir! Zigeuner sind gefährlich.«
»Adieu!«
Nicholas hastete davon und verpaßte einen rührenden Moment. Während des Gesprächs zwischen dem Obersten Schauspieler und dem Regisseur stand George Dart unscheinbar daneben und fragte sich, ob er noch ein Mitglied der Gruppe sei und ob man ihn für die bevorstehende Aufführung in Nottingham als Statisten einsetzen würde. Firethorn sah ihn da stehen und hob fragend die Augenbrauen. Darts Gesicht war eine Studie in Unsicherheit und Angst.
»Bin ich immer noch einer der ›Lustigen Burschen‹, Sir?«
Nicholas sattelte sein Pferd und ritt kurz vor Anbruch der Dämmerung davon. Er war mit Schwert und Dolch bewaffnet. Er war ein ausgezeichneter Reiter. Als Sohn eines wohlhabenden Kaufmanns aus Devon hatte er seinen Vater schon in jungen Jahren auf dessen Reisen begleitet und gelernt, wie man reitet und für ein Pferd sorgt. Als Nicholas älter wurde, veranlaßten die Geschäftsverbindungen seines Vaters ihn, durch ganz Europa zu reisen, und dann entwickelte er seine große Liebe für die See, eine Leidenschaft, die darin gipfelte, daß er drei Jahre mit Sir Francis Drake um die Welt segelte. Trotzdem hatte er das richtige Gefühl für den Sattel nicht verloren. Mit klugem Bedacht hielt er sein Pferd in einem stetigen Trab.
Er brauchte vier Stunden, um ihre Spur aufzunehmen, und zwei weitere, um sie zu erreichen. Sie hatten in einem Dorf in Leicestershire angehalten, um ihre Waren zu verkaufen und den simplen Gemütern des Nestes Unterhaltung zu bieten. Während die Zigeunerfrauen Kopftücher verkauften oder den Einfältigen aus der Hand lasen, verwandelten sich die Männer in Artisten, die den Dorfbewohnern ihre Kunststücke vorführten. Nicholas band sein Pferd fest und begab sich zu der Wiese, auf der sich alle versammelt hatten. Aus seiner Deckung hinter einem Haselnußstrauch beobachtete er eine Szene, die farbig und anregend war. Trotz der Umstände fesselten sie sein Interesse.
Nicholas hatte immer Sympathie für Zigeuner empfunden. Es waren Vagabunden, die den Duft der Freiheit an sich trugen. Dennoch hatten sie härtere Strafen zu befürchten als einheimische Fahrensleute. Nicht nur wurden sie regelmäßig bestraft, ausgepeitscht, ins Gefängnis geworfen oder von den Dorfplätzen mit Stöcken, Steinen und Hunden vertrieben, sie sahen sich auch von Deportation bedroht. Während der gesamten Herrschaft von Heinrich VIII. und auch während der seiner Tochter, der Königin Elizabeth von England, war die offizielle Haltung den sogenannten »Söhnen des Ptolemäus« gegenüber ausgesprochen feindlich. Ganze Gruppen von Zigeunern wurden aufs Festland verschifft, und gelegentlich hörte man den Ruf, die ganze Rasse auszurotten.
Angesichts dieser Probleme war ihr Überleben schon ein kleines Wunder. Irgendwie hatte Nicholas brüderliche Gefühle für sie. Sein eigener Beruf hatte viel Ähnlichkeit mit dem Lebensstil der Zigeuner. Auch Schauspieler waren Geächtete, sofern sie nicht unter der Obhut edler Schirmherren wie etwa Lord Westfield standen. Ohne diesen Schutz konnten sie wie die Zigeuner gejagt und gehetzt werden und wurden oft genug, wie die Zigeuner, für jedes Verbrechen verantwortlich gemacht, das während ihrer Anwesenheit in der Gegend verübt wurde. Zigeuner waren weit davon entfernt, gesetzestreu und ehrlich zu sein, doch Nicholas war schon immer der Auffassung gewesen, daß die Erzählungen über ihre Schlechtigkeit und ihre Zauberei maßlos übertrieben waren.
Solche Gedanken gingen ihm durch den Kopf, als die akrobatischen Darbietungen zum Ende kamen. Rauhe Hände klatschten Beifall, ein paar kleine Münzen wurden gespendet, als ein kleiner Junge mit einer Mütze an den Zuschauern entlanglief. Jetzt traten Musikanten auf, Tanzdarbietungen waren an der Reihe. Leichtfüßig und geschmeidig zeigten die Männer Tanzfiguren, wie man sie auf dieser Wiese noch nie gesehen hatte. Nicholas bewunderte ihre Künste und ließ sich von dem Eindruck des Phantastischen gefangennehmen. Dann trat der Junge auf. Schon auf den ersten Blick konnte man erkennen, daß er nicht so selbstsicher war wie die anderen, denn er tanzte, als ob er unter einer Art Zwang stünde und keine Freude an dem habe, was er tat.
Nicholas Bracewell hatte diesen Tanz schon einmal gesehen. Es war einer, den Barnaby Gill den Schauspielschülern beigebracht hatte, und einer der Jungen hatte ihn sofort verstanden. Als der Regisseur den gertenschlanken Jungen in seinen Lumpen und mit dem geschminkten Gesicht betrachtete, kam er rasch zu einem Schluß - es war Richard Honeydew. Bei Nacht und Nebel entführt, wurde der Junge jetzt dazu gezwungen, für seinen Aufenthalt bei den Zigeunern zu arbeiten. Er war jetzt einer von denen und mußte für seinen Unterhalt tanzen, auch wenn er das nicht wollte. Als Nicholas näher heranging, um ihn besser betrachten zu können, vollführte der Junge einen Purzelbaum, für den er spontan Applaus erhielt und der den Regisseur in seiner Überzeugung bestärkte. Er hatte selber beobachtet, wie die Lehrlinge diesen Purzelbaum vor ein paar Tagen geübt hatten. Das war der endgültige Beweis.
Verhandlungen mit den Zigeunern waren zwecklos, und der Dorfpolizist hatte gegen eine Bande kräftiger Männer, die kämpfen konnten wie die Teufel, nicht den Schatten einer Chance. Nicholas mußte den Jungen also mit Gewalt packen, solange die Überraschung ihm das ermöglichte. Er wartete, bis der Tanz zu Ende war, ließ den Lehrling den Applaus entgegennehmen, dann sprang er von hinten heran und warf dem Jungen den Arm um den Hals. In der anderen Hand hatte er sein Schwert gepackt und schüttelte es entschlossen, um jeden abzuschrecken, während er sich rückwärts seinem Pferd näherte.
»Komm, Dick, laß uns hier verschwinden!«
Doch der Junge schien nicht besonders daran interessiert zu sein, zu verschwinden. Er biß Nicholas mit voller Kraft in den Arm, riß sich los und überschüttete seinen Fänger in fließendem Rumänisch mit Beleidigungen.
Der Regisseur war vollkommen verblüfft.
Der Junge war überhaupt nicht Richard Honeydew.
*
Westfield's Men waren in verzweifelter Stimmung, als sie sich auf den Weg nach Nottingham machten. Auf ihrer Tournee hatten sie schon manchen Schicksalsschlag einstecken müssen, doch diesmal waren sie von einem fürchterlichen Hieb niedergestreckt worden. Die Entführung des Richard Honeydew war ein schlimmes Unglück. Er spielte bei jeder einzelnen Aufführung eine wichtige Rolle. Obwohl es auf Seiten der anderen Schauspielschüler immer noch gewisse Ressentiments gab, hatten sich die Lehrlinge dazu durchgerungen, anzuerkennen, daß der Jüngste unter ihnen auch der Beste war. Er übernahm sämtliche weiblichen jugendlichen Rollen und überließ ihnen die weniger attraktiven Gestalten wie zum Beispiel alternde Gräfinnen, tollpatschige Dienstmädchen, einschüchternde Amazonen und langweilige Liebhaber. Honeydew hatte eine weitere Feder an seinem Hut. Er hatte eine sehr gute jungenhafte Sopranstimme, in jedes Stück wurden besondere Lieder für ihn eingebaut. Ohne ihn gab es nur Schwierigkeiten.
»Lehnt Euch an meine Schulter, Mistress.«
»Das ist mein größter Wunsch, Sir.«
»Wir reisen Seite an Seite.«
»Wie zwei Ochsen im Joch.«
»Ich wette, wir ziehen in die gleiche Richtung.«
Mistress Susan Becket kicherte über diese sexuellen Andeutungen und schwang sich in den Sattel ihres Pferdes, wobei sie sich auf die starke Schulter von Lawrence Firethorn stützte. Er war begeistert gewesen, als sie ihm anbot, sie nach Nottingham zu begleiten, um das Stück zu sehen, nicht zuletzt aber auch, weil sie ihr eigenes Pferd mitbrachte und ein weiteres, das Firethorn benutzen konnte. Sie ließ den Gasthof in d en fähigen Händen ihrer Angestellten zurück und ritt mit der Gruppe, bei der sie auf ihrer weißen Stute auffiel. in jeder Beziehung eine Frau von Format, graziös und sinnlich zugleich, war sie durch ihre einfache Anwesenheit eine Wohltat für die Moral der Schauspieler und besonders für Lawrence Firethorn, dem sie erlaubte, sich nach Belieben in seinen Phantasien auszuleben.
Dennoch wurde sie nicht nur willkommen geheißen.
»Man fragt sich, wie das Pferd sie tragen kann, Sir.«
»Sie ist in der Tat eine stämmige Person, aber durchaus gutaussehend.«
»Und sie wäre so freundlich, daß sie sogar den Sattel und das eigene Pferd tragen würde.«
»Das ist sehr ungezogen von Euch, Sir.«
»Nur dem Schimmel gegenüber.«
»Kennt Lawrence Firethorn sie schon lange?«
»Nur jedesmal eine Stunde.«
»Die beiden sind alte Bettgenossen, nicht wahr?«
»Das haben die geradezu erfunden.«
Barnaby Gill ritt jetzt neben dem Fuhrwerk, das von Christopher Millfield gefahren wurde. Die anderen Teilhaber und die Lehrlinge saßen neben dem Gepäck, während die Angestellten zu Fuß hinter dem Wagen trotteten. Der Tag war heiß, kein Lüftchen brachte ihnen Kühlung. Gill nutzte die Gelegenheit, seinen Weiberhaß loszuwerden.
»Sie ist der wahre Inbegriff ihres Geschlechts, nicht wahr?«
»Mistress Becket?«
»Sie wird der Majestät an ihrer Seite ein kluger Erzbischof sein. Obwohl wir nach York reiten, nimmt sie ihn heute nacht auf eine Pilgerreise nach Canterbury mit und führt ihm all ihre heiligen Reliquien vor. Wenn Master Firethorn sich tief in ihre Taufquelle stürzt, wird er bis zum Hals in die Spülbrühe ihrer Leidenschaft eintauchen und muß dringend ein Stoßgebet zu einem heiligen Märtyrer loslassen, damit der ihn da wieder rausholt.«
»Ihr mögt die Dame nicht«, sagte Millfield trocken.
»Diese nicht und auch keine einzige andere.«
»Euer Grund dafür, Master Gill?«
»Frauen haben neben Schauspielern nichts zu suchen.«
»Auch nicht unter ihnen?«
»Sie sind nichts anderes als scheußliche Ablenkungen, Sir.«
»Würdet Ihr Euch auch keine zum Zierat nehmen?«
»Nur auf dem Lokus, denn das ist ihr angestammter Platz.«
»Ihr seid sehr hart, Master.«
»Kann ein richtiger Mann wirklich Frauen lieben?«
Christopher lachte zur Antwort. Er mochte Barnaby Gill und hatte viel von ihm gelernt, indem er ihn auf der Bühne beobachtete, doch seine Ablehnung des Weiblichen vermochte er nicht zu teilen. Millfield erregte überall, wo er sich aufhielt, weibliches Interesse und genoß es; das betrachtete er als einen der wenigen Vorteile im Leben eines Schauspielers.
Gill begutachtete das hübsche Profil.
»Darf ich Euch eine Frage stellen, Sir?«
»Zögert nicht damit.«
»Wie kam es, daß Ihr Pomeroy Manor kanntet?«
»Ich kannte es eben.«
»Wodurch?«
»Durch The Admiral's Men.«
»Unfähige Halunken!«
»Sie besaßen nicht Eure Qualität, das stimmt«, sagte der andere taktvoll, »aber sie waren schon gut genug. Und sie wußten, wo sie sich die nächste Mahlzeit herholten, wenn sie über Land reisten. Einer von ihnen hatte eine Liste aller Häuser im Kopf, in denen Schauspieler willkommen waren, in ganz England.«
»Das war keine lange Liste zum Auswendiglernen«, sagte Gill bedauernd. »Uns werden viel mehr Türen vor der Nase zugeschlagen als geöffnet.«
»Selbst dann, Sir. Deshalb habe ich mich so angestrengt, die Liste auswendig zu lernen. Master Neville Pomeroy stand darauf und noch eine Reihe weiterer Namen in der Grafschaft Hertfordshire.«
»Und sein Freund in York?«
»Sir Clarence Marmion stand ebenfalls auf der Liste. Ich glaube, The Admiral's Men spielten dort, als die Pest letztesmal ausbrach. Aber es gibt noch andere Häuser, in denen wir freundlich aufgenommen werden, hier in dieser Grafschaft, aber auch direkt in Yorkshire.«
»Wir wollen Eure Liste noch ein wenig mehr ausprobieren.«
Gills Aufmerksamkeit wurde von einem Anblick abgelenkt, der ihn die Nase rümpfen ließ. Lawrence Firethorn brach in schallendes Gelächter aus und beugte sich vor, um der lustigen Susan Becket auf die Schulter zu klopfen. Ihre Heiterkeit trennte die beiden von den anderen Mitgliedern der Gruppe, die sich immer noch wegen der Entführung des Richard Honeydew Sorgen machten und darüber nachdachten, welche Auswirkungen dieser Verlust auf die Qualität ihrer Arbeit haben würde.
»Seht sie Euch an!« schnarrte Gill.
»Wie Turteltauben«, meinte Millfield tolerant.
»Wie Schweine im Trog, Sir! Wenn sie ihren eigenen Mist gefressen haben, wälzen sie sich zusammen im Schlamm, und er kitzelt die Titten der alten Sau.«
»Mistress Becket ist weder so billig noch so biestig.«
»Sie ist ein Monster. Wenn die auf der Bühne dargestellt werden müßte, dann brauchtet Ihr drei Jungen, die Ihr in ein Kleid stopft wie Hasen in einen Sack. Während Martin Yeo ihr seine Stimme gibt, müßte John Tallis die eine Hinterbacke und Stephen Judd die andere darstellen. Es ist nur schade, daß Dick Honeydew nicht hier ist, dann könnte er die Rolle ihrer linken Brust darstellen und das schwarze Schönheitspflaster tragen.«
»Schande über Euch, Master Gill!«
»Ich rede nur, wie ich auch fühle.«
»In ihrem Gasthaus haben wir gutes Essen und gute Unterkunft bekommen.«
»Das würde jedes Gasthaus tun, bei dem wir bezahlen.«
»Mir gefällt die Lady.«
»Ich hielt Euch für einen Mann mit besserem Geschmack.«
Millfield blickte zu Firethorn und seiner Begleitung hinüber.
»Sie hält ihn bei bester Laune.«
»Das kann jede Frau.«
»Macht seine Frau keine Schwierigkeiten?«
»Hundert pro Minute, Sir, aber die ist drüben in Shoreditch, und er ist hier. Wenn Margery die Szene da eben vor unseren Augen gesehen hätte, würde sie ihm die Eier abreißen und als Ohrringe tragen, um alle anderen Frauen abzuschrecken. Leider ist sie nicht hier. Sie verteidigt sein Schloß in London.«
»Energisch?«
»Wie eine Armee bei der Belagerung. Mir tut jeder Mann leid, der versucht, ihre Trutzburg zu erobern, Master Millfield. Und wenn er den größten Rammbock der ganzen Christenheit hätte, der würde noch nicht reichen. Margery würde ihn in siedendem Öl braten.«
*
»Raus, Ihr Schuft! Hinweg mit Euch, Halunke, Ihr Heckendrücker, Ihr Abkömmling eines Bierkellners! Wagt es, Eure jämmerliche Rechnung vor mir herzuwinken, Zuhälter, Köterkopf, Rattenschwanz! Verschwindet, Sir! Haut ab und schnüffelt hinter einer anderen Beute her! Ihr habt jetzt schon die Pocken, das sehe ich Eurem Schafsgesicht doch an, eines Tages wird die Pest Euch noch erreichen, Rotznase, die Ihr seid!«
»Ich komme nur wegen meines Geldes, gute Frau.«
»Haltet Euren räudigen Schädel still, damit ich es Euch mit diesem Besen geben kann! Oder beugt Euch vor, damit ich Euch ein Stück von meinem Besenstiel da reinstecken kann, wo Ihr es am besten spürt, damit Ihr mich immer als saubere Hausfrau in Erinnerung behaltet.«
»Beruhigt Euch, Mistress Firethorn.«
»Nur, wenn Euer fettiges Gesicht von hier verschwindet!«
Der Schneider war ein kleiner, in Schweiß gebadeter, eingeschüchterter Mann, der es mit Margery Firethorn nicht aufnehmen konnte. Als er kam, um seine Rechnung einzukassieren, geriet er in den gleichen Sturm wie schon seine Vorgänger. Als er sich von der Schwelle des Hauses zurückzog, nahm er all seinen Mut zusammen und machte eine juristische Andeutung.
»Ich habe das Gesetz auf meiner Seite, Mistress.«
»Wenn Ihr noch länger hierbleibt, klebe ich Euch das Maul zu!«
»Zahlt jetzt, damit Euch Schlimmeres erspart bleibt.«
»Soll ich Euch die Birne mit dem Besen spalten?«
»Ich werde Euch wegen tätlichen Angriffs anzeigen.«
»Das kann Eure Witwe ja machen, denn Ihr lebt nicht mehr lange genug dafür.«
»Ich bin nicht verheiratet«, gestand er.
»Welche Frau würde euch denn auch nehmen?« keifte sie. »Das kann ich Euch am Gesicht ansehen, unverschämter Sklave! Ihr seid ein billiges Überbleibsel von einem Schneider, wie Hosen ohne Hosenlatz, ein Hahn auf dem Misthaufen, der keinen Grund zum Krähen hat und kein Huhn mehr einschüchtern kann. Haut ab, Ihr kastrierter Kater!«
»Schluß jetzt, Ihr Schreckschraube!«
»Dann verschwindet, bevor ich Euch mit der Schere etwas abschnippele.«
»Ihr gehört an den Schandpranger«, sagte er. »Da gehören die Hausdrachen dran.«
»Jaaaaaaaaa!«
Margery stürmte auf ihn los, den Besen zum Angriff erhoben, und er machte kehrt und rannte um sein Leben. Während er die Straße hinunterlief, schrie sie ihm weitere Beschimpfungen nach, um ihn noch etwas anzutreiben, dann ging sie ins Haus zurück. Der Schneider war der fünfte Gläubiger innerhalb der beiden letzten Tage, nach dem Tuchhändler, dem Hutmacher, einem Schuster und einem Goldschmied. Sie alle hielten ihr Rechnungen unter die Nase, die sie ganz einfach nicht bezahlen konnte, große Rechnungen, die Lawrence Firethorn gemacht hatte, in dem sicheren Wissen, London schon bald zu verlassen und vor seinen Gläubigern fliehen zu können. Margery aber stand in der vordersten Schußlinie. Fünf hatte sie in die Flucht geschlagen, aber sie wußte, daß die fünf in Begleitung des Gesetzes zurückkommen würden.
Weitere würden folgen. Ihr Gatte war äußerst extravagant. Kurz vor seiner Abreise hatte er an jeder Ecke in London Schulden gemacht.
Zitternd vor Zorn stürmte sie die Treppe hinauf ins Schlafzimmer und packte den Mantel. Das war die Antwort auf all ihre Probleme. Der Verkauf würde nicht nur ausreichen, um sämtliche Schulden zu bezahlen, es würde auch für Firethorn ein schwerer Schlag sein. Der zweitbeste Mantel war nicht nur ein einfaches Kleidungsstück. Es war eine wohlverdiente Belohnung für seine künstlerischen Leistungen, ein Zeichen der Anerkennung seines Schirmherren. Der Schauspieler hatte ihn mehrmals auf der Bühne getragen, der Mantel war zu einer Schatzkammer seiner Bühnenerinnerungen geworden. Obwohl er ihn ihr zum Verkauf zurückgelassen hatte, baute er fest darauf, daß sie ihn aus Stolz und Nostalgie behalten würde. Diese Gefühle kämpften jetzt mit ihrem Zorn.
Margery fühlte sich verraten. Ohne ihn zurechtzukommen, war schon schwierig genug, aber er hatte ihre Lage noch viel schlimmer gemacht. Das war typisch für ihn, sie ärgerte sich, daß sie das nicht vorhergesehen hatte. Von Firethorn war bisher keine Nachricht gekommen, und falls eine kam, war sie sicher, daß kein Geld dabei sein würde. Sie stand allein, hatte hungrige Mäuler zu stopfen und Kaufleute in die Flucht zu treiben.
Wütend betastete sie den Mantel. Es geschähe ihm recht, wenn der Mantel weg wäre, wenn er nach Hause kam. Margery nahm den Mantel über den Arm und ging zur Tür. Dann blieb sie wie angewurzelt stehen. Ihr Gewissen regte sich. Sie würde seinen Verrat mit einem noch größeren Verrat beantworten. Welche Fehler ihr Mann auch immer hatte, es gab eine überragende Tugend, die sie an ihm schätzte. Er liebte das Theater. Mit einer Leidenschaft, die schon an Besessenheit grenzte, liebte er jeden Aspekt seines erwählten Berufes, hegte und pflegte jeden Preis und jedes Erinnerungsstück, das er gesammelt hatte. Selbst auf dem Höhepunkt ihres Zorns brachte sie es nicht übers Herz, Firethorn von hinten ein Messer in den Rücken zu stoßen, direkt durch das Seidenfutter seines zweitbesten Mantels.
Zitternd vor Enttäuschung warf sie den Mantel beiseite.
»Doli!« schrie sie.
»Ja, Mistress?« sagte eine mädchenhafte Stimme.
»Komm sofort hierher!«
»Ich eile.«
Das Dienstmädchen wußte schon, warum es Margery nicht warten ließ. Sie hatte durch ein Fenster beobachtet, wie fünf der Gläubiger mit heißen Ohren das Weite suchen mußten. Doli lebte hier in diesem Haus und hatte niemand, zu dem sie hätte gehen können. Vollständige Unterwerfung war das einzige, womit sie ihre Herrin besänftigen konnte.
»Schneller, Mädchen!«
»Da bin ich, Mistress.«
»Dann geh wieder.«
»Wie denn das?«
»Hol mir Feder und Tinte.«
»Ich renne schon.«
»Und etwas, auf dem ich schreiben kann.«
»Ich fliege.«
»Flieg schneller, Mädchen!«
Margery Firethorn ergriff eine andere Möglichkeit.
Sie würde einen Brief schreiben.
*
Nicholas Bracewell hatte keine Chance, lange zu verhandeln. Zahlenmäßig hoffnungslos unterlegen und ganz eindeutig im Unrecht, lag seine einzige Hoffnung in schneller Flucht. Schon stürmte ein halbes Dutzend kräftiger Zigeuner auf ihn los, deren zornige Gesichter unter ihren Schminkfarben unkenntlich waren, deren Gesten aber eine um so deutlichere Sprache sprachen. Der Junge, um den sich alles drehte, schrie weiter auf Nicholas ein, dann griff er sich eine Handvoll Erde und warf sie ihm ins Gesicht. Der Regisseur, der eine Sekunde lang nichts sehen konnte, ließ sein Schwert in einem weiten Bogen kreisen, um die Zigeuner abzuwehren, die rasch näher kamen. Als seine Augen wieder klar waren, sah er einen weiteren Mann auf sich zukommen, mit einem Brandeisen in der Hand und offensichtlich auf Mord erpicht. Nicholas vermutete in ihm den Vater des Jungen und hielt sich nicht damit auf, mit ihm eine Diskussion über die tänzerischen Fähigkeiten seines Sohnes zu beginnen.
Wieder ließ er sein Schwert kreisen, um sich Raum zu schaffen, dann wirbelte er herum und rannte los. Einer der Zigeuner war um ihn herumgeschlichen und versuchte, ihm den Weg zu verstellen, doch Nicholas rammte ihm die Schulter entgegen und warf ihn zur Seite. Die Verfolger waren dicht hinter ihm, begleitet von wildem Geschrei. Jetzt mischten sich auch noch ein paar Hunde ein.
Nicholas rannte, so schnell er konnte, steigerte sich jedoch nochmals, als ein langes Messer ein paar Zentimeter neben seinem Gesicht in einen Baum fuhr. Als er sein Pferd erreichte, konnte er es sich nicht leisten, bequem mit dem Steigbügel in den Sattel zu steigen. Er sprang auf, riß die Zügel los und machte dem Pferd klar, daß er es eilig hatte.
Er jagte davon, wütendes Geschrei in den Ohren. Drei Zigeuner folgten ihm und blieben ihm eine Meile oder mehr auf den Fersen, aber schließlich konnte er sie abschütteln und die Deckung eines Waldstückes erreichen. Während er wieder zu Atem kam, dachte er darüber nach, was ihn diese Reise gekostet hatte. Sie war teuer gewesen. Er hatte wertvolle Zeit vergeudet, sich eine Horde gefährlicher Gegner geschaffen und sich eine schmerzhafte Abschürfung an der Schulter zugezogen. Die Ironie feierte Triumph. Im Glauben, die Zigeuner hätten ihm einen Jungen gestohlen, endete alles damit, daß er das gleiche versuchte. Die Schuld lag ganz eindeutig bei ihm, dafür gab es kein Pardon. Nicholas wußte, daß er den Schmerz verdient hatte, den er noch immer in seinem Arm spürte. Er konnte froh sein, daß er mit dem Leben davongekommen war.
Jetzt war es seine Hauptaufgabe, wieder mit der Gruppe zusammenzutreffen, und er gönnte seinem Pferd keine Pause. Als er im Smith and Anvil eintraf, tränkte er sein Pferd und erkundigte sich, wann die anderen losgezogen waren, und schon saß er wieder im Sattel und ritt davon. Inzwischen war es Nachmittag geworden, die Sonne stand hoch am Himmel und machte den Regen der vergangenen Tage gut, indem sie jetzt das Land in ihren warmen Strahlen badete. Nicholas und sein Pferd troffen von Schweiß. Als der River Trent in Sicht kam, ließ er sein Pferd in einen gemächlichen Trott fallen. Vor ihm glitzerte das kühle Naß. Die Versuchung war zu groß für den erschöpften Reiter.
Er zügelte sein Pferd, als es die Hufe benetzte, und stieg aus dem Sattel. Dann band er das Pferd mit dem Zügel an einen überhängenden Ast, trat hinter einen Busch und schälte sich die klebrigen Sachen vom Körper. Niemand war zu sehen, als er nackt ans Ufer rannte und kopfüber ins Wasser tauchte. Ein wunderbares Gefühl durchströmte ihn, entspannend und anregend zugleich, linderte seine Schmerzen und gab ihm seine Kraft zurück. Mit kräftigen Schlägen schwamm er in die Flußmitte und ließ sich auf dem Wasser treiben. Seine Arme waren weit ausgestreckt, die Sonne vergoldete sein Haar und seinen Körper. Für ihn blieb die Zeit stehen.
*
Eleanor Budden kam hinter den Büschen am anderen Ufer des Flusses hervor und beobachtete die Erscheinung, die langsam in ihre Richtung trieb. Tief in kontemplative Gedanken versunken, hatte sie am Ufer des Trent gesessen, als sie das laute Klatschen hörte. Ihre Gedanken waren ganz bei ihrem Auftrag, sie wartete auf ein erneutes Zeichen des Himmels.
Dieses Zeichen war jetzt gekommen. Was sie auf dem Wasser sah, war kein erschöpfter Regisseur, der den Schmutz einer langen Reise abspülte. Sie wurde Zeugin eines Wunders. Geschlossene Augen, ausgestreckte Arme, wie an ein unsichtbares Kreuz genagelt, ein schlaffer, aber herrlicher Körper. Blondes Haupthaar, von der Sonne gekämmt. Dies war kein Fremder, sondern ihr bester Freund auf der Welt. Zuletzt hatte sie ihn in dem kleinen Fenster der Kirche von St. Stephen gesehen.
Eleanor Budden watete glücklich ins Wasser.
»Herr Jesus!« rief sie. »Bring mich nach Jerusalem!«
*
Nottingham war die erste größere Stadt, die sie seit ihrem Aufbruch erreichten, und das gab ihnen sofort ein Gefühl von Sicherheit. Sie war zwar winzig im Vergleich zu London, doch das machte nichts. Diese Stadt war eine gewaltige Verbesserung gegenüber den Dörfern, die sie zurückwiesen, und gegenüber den Nestern, die kein nennenswertes Publikum auf die Beine bringen konnten. Nottingham war Zivilisation.
Lawrence Firethorn ließ seine Gruppe im Saracen's Head in der Nähe der Stadtmitte absteigen, legte seine feinsten Kleider an und begab sich zum Bürgermeister. Die Spielerlaubnis war eine Kleinigkeit, die Stadthalle war der vorgesehene Aufführungsort. Der Bürgermeister war selbst ein begeisterter Theaterfreund und hocherfreut, daß Westfield's Men die Stadt mit ihrem Besuch beehrten. Über Geld wurde auch gesprochen, Firethorn verließ den Bürgermeister in bester Stimmung. Die Aufführung des »Robin Hood« wurde für den morgigen Tag angesetzt, was ihnen reichlich Zeit für die Proben gab, für die Anmietung von Statisten und für die Umformulierung der Rolle der Jungfer Marion, falls Richard Honeydews Abwesenheit andauern sollte. Alles schien in bester Ordnung zu sein.
Der Oberste Schauspieler kehrte in das Wirtshaus zurück, und die Welt brach wieder über ihm zusammen.
»Schon wieder! Das ist eine zweifache Beleidigung!«
»Ich habe die Plakate selbst gesehen, Master Firethorn.«
»Habt Ihr die Aufführung selber gesehen?«
»Das hätte ich nicht über mich gebracht. Meine Loyalität gehört Euch.«
»Das ehrt Euch, Mistress Hendrik.« Er schlug auf seinen Sessel. »Beim Himmel, das werde ich nicht dulden! Giles Randolph ist der ausgekochteste Gauner, der jemals über Gottes Erdboden ging. Selbstverständlich kann er keiner rechtmäßigen Verbindung entstammen, er wurde von zwei Mithaufen an einem heißen Sommertag gezeugt, an irgendeinem schleimigen Ort oder sonstwo.« Er sprang auf die Füße. »Und er hat tatsächlich ›Pompeius den Großem gespielt?«
»Genau vor zwei Tagen.«
»Verrat der allerhöchsten Stufe!«
Anne Hendrik hatte die Spur der Gruppe bis zum Gasthaus verfolgt und ihre Neuigkeiten verkündet. Edmund Hoode saß mit langem Gesicht neben Barnaby Gill und folgte dem Gespräch. Alle drei warteten, bis Lawrence Firethorn sein Gift verspritzt und fünfzehn verschiedene Wege aufgezeigt hatte, wie er einen Rivalen umbringen würde. Nachdem sie ihre ursprüngliche Reiseroute verlassen hatten, um Banbury's Men abzuschütteln, war es besonders ernüchternd, daß sie sich immer noch in ihrem Kielwasser bewegten. Firethorns Lieblingsrolle war gestohlen worden, und der ganze Ruhm, der Westfield's Men zugestanden hätte, war an miese Sterbliche vergeudet worden.
Der Oberste Schauspieler hätte eine weitere Stunde oder noch länger herumgetobt, wenn der Wirt ihn nicht unterbrochen und ihm mitgeteilt hätte, ein anderer Gast wünsche ihn privat zu sprechen. Firethorn stapfte davon wie Pompeius auf dem Weg, um das Mittelmeer von Piraten zu befreien.
Anne Hendrik konnte sich jetzt nach Nicholas erkundigen. »Ist er nicht hier bei Euch?«
»Noch nicht, Mistress«, sagte Hoode. »Dick Honeydew wurde von Zigeunern entführt, und Nicholas ist losgeritten, um ihn zu befreien.«
»Allein?«
»Er wollte von Begleitung nichts hören.«
»Aber die Sache ist doch bestimmt gefährlich.«
»Nicholas wird damit fertig«, beruhigte Hoode sie. Dann stellte er die Frage, die ihn wirklich beschäftigte. »Sagt mir bitte, denn das bohrt wie ein Messer in meiner Seele, wer von Banbury's Men hat es gewagt, meine Rolle zu spielen?«
»Eure Rolle, Sir? In ›Pompeius der Große‹?«
»Sicinius.«
»Das weiß ich nicht, Master Hoode.«
»Das hat nichts zu bedeuten«, sagte Gill abschließend. »Die Rolle ist überhaupt nicht wichtig und fällt bei der Aufführung kaum ins Gewicht.«
»Das stimmt nicht, Barnaby!«
»Streicht sie - wem würde das auffallen?«
»Mir, Mann! Mir!«
»Sicinius ist eine schlechte Rolle für einen Mann.«
»Es ist meine Rolle!« winselte Hoode. »Ich schrieb sie und ich spiele sie. Ich bin Sicinius. Ich will nicht, daß man mich einfach so stiehlt. Also sagt mir - wer spielte die Rolle?«
*
Mark Scruton hob seinen Dolch und stieß ihn seinem Opfer brutal in den Rücken. Der Mann stürzte auf sein Gesicht, zuckte noch für ein paar Sekunden, dann lag er still. Der Mörder wischte das Blut von der Waffe, grinste bösartig und ging seelenruhig davon.
Eine weitere Theaterprobe war zu Ende.
Kynaston Hall war das größte Privathaus, in dem Banbury's Men seit Beginn ihrer Tournee aufgetreten waren; es bot ihnen beste Möglichkeiten. Die Halle stand ihnen für ihre Proben zur Verfügung, sie hatten vier livrierte Diener als Hilfskräfte sowie normale Küchenhilfen. Alles war sehr zufriedenstellend, niemand aus der Gruppe genoß das mehr als Mark Scruton. Er erhielt seine erste Chance in einer wichtigen Rolle. Diesmal war es ein Stück aus ihrem eigenen Repertoire, »Der Renegat«, eine finstere und blutdürstige Tragödie zum Thema Rache. Sie versetzte Giles Randolph in die Lage, in einer Titelrolle zu glänzen, die seinen Talenten entsprach, und sie brachte Mark Scruton ins Rampenlicht.
»Ausgezeichnete Arbeit, Sir.«
»Danke, Master Randolph.«
»Ihr macht Euch gut in der Rolle.«
»Ich hoffe nur, das Publikum teilt Eure Meinung.«
»Habt nur Vertrauen.«
»Habt Ihr keine Kritik anzumerken?«
»Keine«, sagte Randolph lustlos. »Außer daß Ihr zu lange auf der Bühne geblieben seid, nachdem Ihr mich erstochen habt. Der Mord an dem Herzog ist von größerer dramatischer Bedeutung als die Reaktion seines Mörders. Sobald Ihr mich mit dem Dolch erledigt habt, verschwindet Ihr von der Bühne.«
»Das werde ich, Sir.«
»Meine Leiche wird ein Selbstgespräch in sich sein.«
Sie standen in der Großen Halle, die Bühnenarbeiter wieselten herum und bewegten die Bühnenbilder und Requisiten. Giles Randolph war sehr zufrieden mit dem Verlauf der Dinge. Auf der Bühne und auch ohne sie war Rache das ideale Thema für ihn. Er wollte gerade weggehen, als Scruton ihn am Ärmel zupfte.
»Auf ein Wort, Sir.«
»Das ist jetzt nicht der richtige Zeitpunkt.«
»Es dauert nur eine Sekunde.«
»Nun denn.« Randolph zuckte mit den Schultern. »Was gibt es?«
»Ich bin so frei und erinnere Euch an meinen Vertrag. «
»Den habe ich nicht vergessen.«
»Wann kann ich ihn sehen, Sir?«
»Sobald ich ihn aufgesetzt habe.«
»Und wann wird das sein?«
»Zuerst muß ich die anderen Teilhaber dazu überreden.«
Scruton runzelte die Stirn. »Meine Auffassung war, daß Ihr die Angelegenheit alleine regeln könntet.«
»Nun, ja, natürlich. Keine Frage, daß ich das kann.«
»Wieso dann diese Verzögerung?«
»Ich bin kein Rechtsanwalt, Mark. Die Bedingungen müssen korrekt aufgesetzt werden, und der Earl muß sie persönlich zur Kenntnis nehmen. Das ist eine große Beförderung für Euch.«
»Ihr wißt, daß ich sie verdient habe, Master Randolph.«
»Niemand mehr als Ihr.«
»Dann nennt mir ein Datum. Das habt Ihr mir versprochen.«
Giles Randolph bedachte ihn mit jenem rätselhaften Lächeln, das zu seiner Grundausstattung gehörte, und schritt langsam im Kreis um ihn herum. Scruton schätzte es nicht, wenn man ihn warten ließ. Sein freundliches Lächeln begann, etwas verkrampft zu wirken. Randolph blickte ihn an und traf eine Entscheidung.
»York.«
»Was sagt Ihr da?«
»Dann wird der Vertrag unterzeichnet.«
»Ist das ganz sicher?«
»Meine Hand darauf!« Sie schüttelten sich die Hände. »Ihr werdet Teilhaber bei Banbury's Men und könnt die süßeren Früchte unseres Berufes kosten.«
»Ich danke Euch!« sagte Scruton mit Nachdruck. »Ich hatte keinen Augenblick an Euch gezweifelt. Jetzt verspüre ich echtes Glück.«
»Wartet nur auf York.«
»Das ist das Ziel meiner Pilgerreise.«
»Tragt Euer Kreuz noch solange.«
Mark Scruton grinste. Er war fast am Ziel.
*
Nicholas Bracewell benötigte fünfzehn Minuten, um ihr klarzumachen, daß er nicht Jesus Christus sei, doch auch danach war sie noch nicht ganz überzeugt. Als er sie hineinwaten sah, um ihn mitten im Fluß zu treffen, hatte er seinen Körper sofort absinken lassen und trat Wasser. Noch nie zuvor war er von einer so merkwürdigen, wenn auch hübschen Frau angesprochen worden, besonders nicht von einer, die ihn immer wieder bat, sie im Jordan zu taufen. Er brauchte eine Ewigkeit, bis sie wieder ans Ufer zurückging, dann schwamm er zu der Stelle zurück, an der seine Kleider lagen, trocknete sich ab, so gut es ging, und zog sich wieder an. Erholt und erfrischt ritt er über die Brücke und am Ufer entlang zu Eleanor Budden zurück. Ihr nasses Hemd klebte ihr wie eine zweite Haut am Körper, er bemerkte, daß es an der Schulter repariert war. Höflich wie er war, stieg er vom Pferd und lüftete seine Mütze.
»Kann ich Euch sicher nach Hause bringen, Mistress?«
»Den ganzen Weg nach Jerusalem.«
»Ich hab's Euch doch gesagt, ich gehöre zu Westfield's Men.«
»Unser Zusammentreffen heute war vorhergesagt.«
»Mir aber nicht.«
»Es ist uns bestimmt, daß sich unsere Pfade kreuzen, Master Bracewell.«
»Mitten im River Trent?«
»Macht Euch nicht über göttliche Vorbestimmung lustig.«
»Laßt mich Euch nach Hause bringen.«
»Ich habe beschlossen, mein Zuhause für immer zu verlassen.«
»Aber Ihr spracht von Mann und Kindern.«
»Die müssen sehen, wie sie ohne mich zurechtkommen.«
»Hält Euch Eure Pflicht nicht zurück?«
»Aber ja, Sir. Die Pflicht, der Stimme Gottes zu folgen.«
Nicholas hatte auch schon früher religiöse Fanatiker getroffen. Mehr als einer seiner Schiffsgenossen auf der Reise mit Drake hatte die Entbehrungen unerträglich hart empfunden. Sie hatten sich in eine Art rastlose Religiosität geflüchtet, die ihrem Leben einen neuen Sinn gab und zu einer Reihe guter Taten und zu endlosen Zitaten aus der Bibel führte. Eleanor Budden war jedoch nicht von dieser Art. Ihre Besessenheit hatte eine stillere und rationalere Grundlage. Das machte sie um so gefährlicher.
»Der Herr hat uns zusammengeführt«, sagte sie.
»Wirklich?«
»Spürt Ihr das nicht?«
»Um ehrlich zu sein, nein.«
»Wohin Ihr auch geht, ich werde Euch folgen.«
»Das kommt überhaupt nicht in Frage«, sagte er alarmiert.
»Ihr seid mir als mein Führer geschickt worden.«
»Aber wir gehen überhaupt nicht nach Jerusalem, fürchte ich.«
»Was ist denn dann Euer Ziel?«
»York.«
»Ich wußte es!«
Eleanor warf sich auf die Knie und beugte sich nieder, um ihm die Schuhe zu küssen. Nicholas sprang erschreckt zurück, als sie versuchte, ihn zu umarmen. Im Vergleich zu dem hier war eine Horde wütender Zigeuner ein Kinderspiel gewesen. Eleanor war ein Muster an Beharrlichkeit, ein Mühlstein um seinen Hals.
»Ich muß mit Euch kommen, Master Bracewell.«
»Wohin?«
»Nach York. Ich muß zum Erzbischof.«
»Dann reist auf andere Weise in die Stadt.«
»Ihr seid mein vorherbestimmter Wächter.«
»Mistress, ich gehöre zu einer Theatergesellschaft.«
»Dann gehe ich mit Euch und Euren Freunden.«
»Das ist unmöglich.«
»Wieso, Sir?«
»Aus einem Dutzend Gründen«, sagte er und wünschte, er könne sich wenigstens an ein paar erinnern. »Vor allem, weil wir nur Männer sind, die zusammen reiten. Keine Frau kann uns dabei begleiten.«
»Das ist eine Regel, die Gott ändern kann.«
»Master Firethorn wird das nicht gestatten.«
»Laßt mich mit ihm reden.«
»Das wird nichts nützen.«
Eleanor Budden stand auf und blickte ihn mit ihren blauen Augen voll unverhüllter Inbrunst an. Sie trat nahe an ihn heran, so daß die langen nassen Strähnen ihres Haares seine Wangen berührten.
»Ihr müßt mich mit nach York nehmen«, sagte sie nachdrücklich.
»Aus welchem Grund?«
»Ich liebe Euch.«
Nicholas Bracewell ließ den Mut sinken. Er sah Probleme auf sich zukommen.
*
Lawrence Firethorn wurde langsam verzaubert. Genauer gesagt, er roch Geld. Oliver Quilley hatte ihn in sein Zimmer eingeladen, um ihm einen Vorschlag zu unterbreiten, und nachdem Firethorn zunächst alles rundweg abgelehnt hatte, ließ er sich jetzt langsam überzeugen.
Der Künstler ließ sich langatmig über sein Werk aus.
Herausgeputzt wie ein Truthahn stolzierte er im Zimmer umher und erläuterte, warum er Miniaturenmaler geworden sei.
»Porträtmalerei unterscheidet sich grundsätzlich von normaler Malerei und von der Zeichenkunst und übertrifft jede andere Kunst in mehreren Aspekten.«
»Erklärt mir mehr davon.«
»Die Technik der Porträt-Miniaturmalerei stammt von der Manuskript-Illustration ab. Doch Meister Holbein, der erste unserer Zunft, malte noch in der Tradition großformatiger Porträts, die maßstabsgetreu verkleinert wurden.«
»Und Ihr, Master Quilley?«
»Mein Stil ist einzigartig, Sir.«
»Erkennt Ihr keine Vorbilder an?«
»Ich nehme ein wenig von Holbein und etwas mehr von Hilliard, aber Oliver Quilley unterscheidet sich von allen anderen Porträtmalern. Aber urteilt selber.«
Er öffnete seinen Lederbeutel und zog vier in Samt eingewickelte Miniaturen hervor. Er packte sie aus und legte sie auf den Tisch. Firethorn war von ihrer Schönheit überwältigt. Drei der Porträts zeigten eine Frau, das vierte einen Mann. Alle waren mit einmaliger Feinheit in Farben ausgeführt, die absolut lebensecht wirkten. Quilley spürte, was Firethorn dachte, und hatte Erklärungen zur Hand.
»Das Wichtigste beim Zeichnen oder Malen nach lebendigen Vorbildern ist die Echtheit der Strichführung.« Er deutete auf seine Arbeiten. »Seht Ihr, Sir? Hier gibt es keinerlei Schattieren. Ich glaube an die Eigenständigkeit der Linienführung und an die Magie der Farben.«
»Sie sind wirklich großartig!«
»Alle Gemälde imitieren die Natur oder das Leben, aber Perfektion beweist sich erst bei der Abbildung des Menschen.«
»Besonders der Frauen«, sagte Firethorn und betrachtete die hübscheste der drei porträtierten Damen.
»Wer ist die Dame, Sir?«
»Eine französische Gräfin. Und die andere ist ihre Schwester.«
»Und die dritte?«
»Das ist Lady Delahaye. Ihr Gatte hat mich beauftragt, es pünktlich zu ihrer Hochzeit fertigzustellen. Es ist so gut wie vollendet, ich kann es abliefern, sobald ich nach London zurückkehre.«
Firethorn erwärmte sich für den kleinen Mann, denn er spürte, daß er sich in der Anwesenheit eines Künstlers befand, jemand, der Umgang mit adligen Kreisen hatte und dessen Arbeiten als Anhänger oder Broschen bei Hofe getragen wurden, zugleich aber auch jemand, der mit seiner wunderbaren Kunst kein Vermögen verdiente. Der Schauspieler kannte dieses Lied nur allzu gut, denn es war auch sein eigenes Lied. Außergewöhnliche Talente, die niemand richtig zu würdigen wußte. Dieses Leben von der Hand in den Mund, das seiner Kunst enge Grenzen setzte und ihre Resonanz einengte.
»Bedenkt nur, Sir, welch ein Zufall!« sagte er. »Ihr und ich hier zusammen. Geniale Männer, die London verlassen müssen, um sich die paar Pennies zu verdienen, die wir hier zusammenkratzen können.«
»So ist es«, stimmte Quilley zu. »Und dann wird es einem von mörderischen Straßenräubern wieder abgenommen. Wenn sie statt dessen diese Miniaturen gestohlen hätten, wäre ich ruiniert gewesen.«
In Firethorns Kopf begann sich ein Gedanke zu formen. »Ihr sagt, Ihr möchtet mit uns reisen?«
»Nur aus Sicherheitsgründen, und nur bis York.«
»Wir nehmen aber keine Passagiere mit.«
»Ich würde für meine Passage zahlen, Master Firethorn, da könnt Ihr ganz sicher sein.«
»Dazu komme ich noch, Sir.« Er überlegte, wie er seinen Gedanken dem Künstler am günstigsten präsentieren konnte. »Wäre es möglich- ich frage das völlig unbefangen —, daß Ihr auch von mir ein solches Porträt malen könntet?«
»Von Euch oder jedem anderen Mann. Gegen Gebühr.«
»Die Garantie Eurer Sicherheit?«
»Ich würde ein eigenes Pferd brauchen.«
»Notiert, Sir!«
»Und ein eigenes Zimmer für mich allein in jedem Gasthaus, in dem wir absteigen?«
»Das soll der erste Punkt unserer Vereinbarung sein.«
»Wir beide verstehen uns, Sir.«
»Ein solches Porträt wäre mir sehr wertvoll.«
»Mir auch, Master Firethorn«, sagte Quilley mit schelmischem Ernst. »Die Einzelheiten der Arbeit können zu einem späteren Zeitpunkt besprochen werden, inzwischen gebe ich Euch dies hier als Zeichen meines guten Glaubens.« Er reichte Firethorn die Miniatur des Mannes. »Das Bild ist viel mehr wert, als ich Euch kosten werde. Ich bin nur klein und keine schwere Last.«
Firethorn betrachtete die exquisite Miniatur in seiner Hand. Sie zeigte Feuer, Eleganz und Detailtreue. Der Mann starrte ihm aus dem Bild entgegen, mit stolzem Blick und in stolzer Haltung. Firethorn war von der Großzügigkeit des Künstlers überwältigt.
»Ist das für mich, Sir?«
»Als Besiegelung unserer Freundschaft und um mir eine sichere Reise zu verschaffen.«
»Es ist die wahre Perfektion der Kunst, Sir.«
»Mein Werk ist niemals weniger als das.«
»Aber wird der Abgebildete das Bild nicht selber haben wollen?«
»Ich fürchte nicht, Sir.«
»Ich möchte niemandem ein persönliches Besitzstück wegnehmen.«
»Der Mann hat jetzt keinen Bedarf mehr dafür.«
»Warum nicht?«
»Weil das Anthony Rickwood ist, da in Eurer Hand.«
»Der Name kommt mir bekannt vor.«
»Ich denke, Ihr habt sein Bild schon früher gesehen.«
»Tatsächlich?«
»Die Arbeit eines anderen berühmten Künstlers.«
»Wie lautet sein Name?«
»Sir Francis Walsingham«, sagte Quilley. »Er malt seine Themen auf Lanzenspitzen. Vielleicht habt Ihr den armen Master Rickwood als Ausstellungsstück am Bishopsgate gesehen.«
»Der Mann war ein Verräter?« Firethorn schluckte.
»Ein strammer Römisch-Katholischer.«
»Halte ich hier eine Leiche in der Hand?«
Quilley zeigte ein mißgünstiges Grinsen, das dem Schauspieler ein sehr unbehagliches Gefühl vermittelte. Inzwischen hatte sich seine Einstellung zu dem Geschenk verändert. Der ursprünglich hoch geschätzte Kunstgegenstand brannte jetzt in seiner Hand wie glühendes Metall.