5. KAPITEL

Die großen Erwartungen, mit denen Westfield's Men weiterzogen, wurden schon bald durch die äußeren Umstände gedämpft. Starke Regenfälle während der Nacht hatten eine Straße, die sich sowieso schon in schlechtem Zustand befand, in ein Schlammbad verwandelt.

Die anliegenden Gemeinden waren für die Instandhaltung aller Straßen innerhalb ihres Bezirkes verantwortlich, doch im Falle einer großen Überlandstraße wie der Great North Road war dies für die Gemeinden eine unerträgliche Belastung. Sie hatten überhaupt nicht die Möglichkeit, die Geldmittel für den Unterhalt einer derartigen Verkehrsader auch nur im entferntesten aufzubringen, und Westfield's Men litten unter diesem Umstand.

»Benutzt die Peitsche, Mann!«

»Das hilft auch nicht weiter!«

»Wir stecken fest, Master Firethorn!«

»Ich hole Euch hier raus, und wenn ich den Karren mit meinen eigenen Händen herausziehen muß, das schwöre ich Euch!«

Doch Firethorn mußte klein beigeben. Obwohl er eines der Karrenpferde beim Geschirr packte und mit aller Kraft daran zog, bewegte sich keines der Tiere auch nur einen Schritt vorwärts. Ein Vorderrad des Fuhrwerks war bis zur Radnabe eingesunken, der ganze Karren kippte zur Seite.

»Das ist Eure Schuld, Master Bracewell.«

»Ich konnte nicht um das Loch herumfahren, Sir.«

»Das Fuhrwerk ist zu schwer, weil Ihr die gesamte Belegschaft an Bord habt. Das Gewicht ist Euer Untergang.«

»Ich konnte nicht von ihnen verlangen, in diesem Schlamm zu waten, Master Gill. Das würde ihre Schuhe ruinieren und ihre Sachen verdrecken.«

»Das wäre immer noch besser als dieses Malheur.«

»Unternehmt etwas, Nick!« kommandierte Firethorn.

»Ja, Sir.«

»Und zwar auf der Stelle.«

Nicholas sprang vom Kutschbock und winkte allen, vom Karren herunterzusteigen. Dann wurde er mühselig entladen. Mit der Axt hackte er einen kräftigen Holzstamm zurecht und schob ihn unter die Seite des Wagens, an der das Rad eingebrochen war. Mit Hilfe dreier Männer benutzte er diesen Hebel, um den Karren aufzurichten. Es gab ein lautes, schmatzendes Geräusch, als das Rad aus dem Schlamm auftauchte. Jetzt wurden die Pferde angetrieben, und das Fuhrwerk kam frei. Während es wieder beladen wurde, rief Lawrence Firethorn nach dem Gesetz.

»Diese Gemeinde müßte komplett verhaftet werden!«

»Die können doch nicht jedes Loch in der Straße reparieren«, sagte Hoode besänftigend. »Wir müssen eben vorsichtiger sein.«

»Ich zerre sie vor ein Kriminal- und ein Geschworenengericht.«

»Und was sollen Westfield's Men machen, während Ihr Euren Prozeß anstrengt? Sollen wir hier einfach warten?«

»Macht Euch nicht lustig über mich, Edmund.«

»Dann manövriert Euch nicht in eine solche Lage, Lawrence.«

»Die sollten in Eisen gelegt werden, jeder einzelne von ihnen.«

»Und wie sollten sie dann die Straßen reparieren, wenn sie gefesselt sind?«

Sie konnten weiterziehen. Einige der angestellten Mitarbeiter mußten zu Fuß gehen, und zwar ein Stück hinter dem Karren, um den größten Schmutz zu vermeiden. Als sie die Grenze nach Huntingdonshire überschritten, erreichten sie den schlimmsten Abschnitt der gesamten Great North Road. Hier, wo sie eine Ecke der Grafschaft Fen umging, hatte sie mehr Verkehr zu bewältigen als irgendwo sonst auf der Strecke, natürlich mit Ausnahme der direkten Zufahrten nach London; die Straße befand sich in fürchterlichem Zustand. Hier mußten sie ganz besonders vorsichtig fahren, ihr Vorwärtskommen war denn auch entsprechend langsam. Sie waren erleichtert, als Huntingdon schließlich in Sicht kam.

Richard Honeydew sprudelte Fragen hervor.

»Seid Ihr schon früher einmal in dieser Stadt gewesen, Master Bracewell?«

»Ein- oder zweimal, Junge.«

»Was ist das für eine Stadt?«

»Es gibt zwei bemerkenswerte Dinge hier, Dick.«

»Was könnte das sein?«

»Eine Gemeindewiese und einen Galgen.«

»Bekommen wir einen Gehenkten zu sehen, Sir?«

»Viele, wenn es nach Master Firethorn ginge.«

»Werden sie uns hier auftreten lassen?«

»Da bin ich ganz sicher.«

Doch die Zusicherung des Regisseurs war etwas zu optimistisch. Als sie an der Kirche St. Bennet vorbei zur Stadthalle rollten, war von einer offiziellen Begrüßung nichts zu bemerken. Banbury's Men hatten die Stadt bereits erobert, und zwar mit einer Vorstellung von »Doppelte Täuschung«.

Das war ein weiteres Stück, das sie Westfield's Men gestohlen hatten. Doch es sollte noch schlimmer kommen. Ein Mitglied des Stadtrates war soeben erst von Lincolnshire zurückgekehrt. Er berichtete ihnen, Banbury's Men hätten dort »Eheglück und Mißvergnügen« aufgeführt - natürlich auch ein Stück aus dem Repertoire ihrer Rivalen - und ferner »Pompeius der Große«, vor einem begeisterten Publikum, zu dem auch er gehört habe. Als er anfing, Giles Randolphs Darstellung der Titelrolle in den Himmel zu loben, mußte man Firethorn mit Gewalt festhalten, damit er dem Mann nicht an die Gurgel fahren konnte.

Mit Schaum vor dem Mund wurde der Erste Schauspieler ins nächste Gasthaus geschleppt, wo man ihn mit Wein abfüllte, um seinen Zustand zu bessern. Barnaby Gill, Edmund Hoode und Nicholas Bracewell begleiteten ihn. Firethorn brannte auf Rache.

»Beim Himmel, dafür schlitze ich ihm die Kehle durch!«

»Dafür müssen wir ihn zuerst einmal finden«, erinnerte Nicholas.

»Mir meine Rolle in meinem Stück vor meinem Publikum zu klauen! Ha! Der Mann hat den Instinkt eines Schakals und das Talent eines dreibeinigen Esels.«

Gill konnte es nicht lassen, seinem Stolz einen Stoß zu versetzen.

»Der Mann sprach gut über Master Randolph.«

»Ein Stinktier in Menschengestalt!«

»Trotzdem hat er den Tag mit ›Pompeius‹ gewonnen.«

»Mein Pompeius! Mein, mein, mein Pompeius!«

»Meiner auch«, sagte Hoode seelenvoll. »Viel Arbeit und Mühe ist in dieses Werk eingeflossen. Es schmerzt mich, zu hören, daß Banbury's Men es kostenlos aufführen konnten.«

Nicholas hatte Mitgefühl mit dem Autor. Keinerlei Gesetz schützte sein Werk. Sobald er bei Ablieferung eine einmalige Zahlung von fünf Pfund erhalten hatte, ging das Eigentum von ihm auf Westfield's Men über. Er hatte nur wenig Einfluß auf die Bühnendarstellung und noch weniger auf die Besetzung. Der einzige Trost war nur, daß er eine maßgeschneiderte Rolle für sich selbst geschrieben hatte, die eines eifrigen jungen Tribunen.

»Wer wohl den Sicinius gespielt hat?« überlegte er.

»Was hier einzig und allein zählt, ist die Frage, wer den Pompeius gespielt hat!« heulte Firethorn, der mit der Faust auf den Tisch trommelte, daß die Weingläser hin und her hüpften. »Randolph müßte wegen dieser Unverschämtheit am nächsten Baum aufgeknüpft werden!«

»Wie sind Banbury's Men an das Stück gekommen?« fragte Gill.

»Ich weiß, wie«, sagte Nicholas.

»Redet schon, Sir!«

»Sie haben unsere eigenen Spieler gegen uns eingesetzt.«

»Ungeheuerlich!« schrie Firethorn.

»Es gibt nur ein einziges komplettes Manuskript von jedem Stück«, erklärte Nicholas, »und das bewache ich persönlich sehr aufmerksam. Aber während der Proben oder Aufführungen kann ich es nicht schützen. Wenn ein paar unserer Mitarbeiter unter sich ein Stück auswendig lernen, können sie den Kern der Handlung mit Hilfe eines Schreibers zu Papier bringen. Und es sind genau diese Kernstücke, von denen Giles Randolph gezehrt hat.«

»Wer sind diese Hunde, Nick?«

»Wie viele sind es?« wollte Gill wissen.

»Ich weiß weder ihre Namen noch ihre Anzahl«, gab der Regisseur zu. »Aber ich habe mir einmal die Liste aller Mitarbeiter dieses einen Jahres angesehen. Mehrere sind im Zorn von uns gegangen, mit viel Grund, uns zu schädigen. Wenn nur genügend Geld in genügend viele Taschen fließt, drehen die ihr Mäntelchen nach dem Wind und helfen Banbury's Men.«

»Jawohl«, sagte Firethorn, »und bekommen durch Bestechung einen Platz in dieser widerlichen Gruppe. Wenn wir sie aber einholen, werden wir herausfinden, wer das Ungeziefer ist.«

»Die sind viel zu weit voraus«, wandte Nicholas ein, »und wenn wir weiterhin Städte besuchen, in denen sie schon gewesen sind, machen wir uns nur noch mehr Ärger. Verwahrt Euren Zorn, Master Firethorn, bis die richtige Gelegenheit kommt. Wir müssen unsere Route ändern und neue Ziele suchen.«

»Der Ratschlag ist sehr vernünftig«, sagte Hoode. »Wohin sollten wir gehen, Nick?«

»Nach Nottingham. Wir bleiben noch eine Weile auf dieser Straße, dann ziehen wir nordwestlich durch Oakham und Melton Mowbray. Vielleicht haben diese Städte ein wenig Interesse an guter Unterhaltung.«

Firethorn und Hoode äußerten ihre Zustimmung. Gill war als einziger nicht einverstanden und wies darauf hin, daß die kleineren Straßen in noch schlechterem Zustand seien als die, auf der sie jetzt reisten; außerdem mußte er seine üblichen Einwände gegen jeden Vorschlag bringen, der vom Regisseur stammte. Doch er wurde von den anderen überstimmt und wandte sich pikiert seinem Getränk zu.

Firethorn, immer noch blutdürstig, akzeptierte die Tatsache, daß er noch warten mußte, bis er das Blut von Banbury's Men literweise vergießen konnte. Nicholas' Vorschlag gefiel ihm immer besser. Ihr neues Ziel verlangte nach seiner persönlichen Wahl eines Stückes.

»Nottingham, Sirs! Dort werden wir ›Robin Hood‹ aufführen!«

Damit war alles entschieden.

*

Die Weiterleitung der Angelegenheit an eine höhere Autorität, das wußte Miles Melhuish, war eine richtige Entscheidung. Nicht nur, weil er sich dadurch von einem Problem befreite, das ihm erhebliche persönliche Ängste verursachte, sondern auch, weil er es an einen Mann weitergab, der es mit Entschiedenheit und Tempo lösen konnte. Der Dekan war in ganz Nottingham gefürchtet. Ein einziger Blick von der Kanzel vermochte eine Versammlung zum Schweigen zu bringen, eine einzige Andeutung seines Unwillens brachte auch den überzeugtesten Abtrünnigen zurück in den Kreis der Gläubigen. Er war wesentlich älter als Melhuish und besaß mehr Nachdruck, mehr Weisheit, mehr Überzeugung und mehr Fähigkeit. Außerdem hatte er mehr Sinn für die Freuden der Maßregelung, für die von der Macht der Kirche gedeckte Vernichtung eines jeden Opponenten. Er würde Mistress Eleanor Budden schon von ihren Wahnvorstellungen befreien. Fünf Minuten mit dem Dekan würden dafür sorgen, daß sie auf der Stelle nach Hause lief und in ihr Schlafzimmer, um mit ihrem Ehemann in Gottes Namen zu vögeln und die Mißachtung seiner heiligsten ehelichen Rechte wieder gutzumachen.

Doch da gab es ein unvorhergesehenes Problem. Seit mehr als zwei Stunden war sie mit dem Dekan hinter verschlossenen Türen, und als sie herauskam, geschah das nicht im Geiste der Zerknirschung. Sie machte immer noch den Eindruck unverrückbarer Zuversicht und trug immer noch jenes engelhafte Lächeln auf dem Gesicht. Es ist nicht genau bekannt, in welchem Zustand des Zusammenbruchs sie den gelehrten Mann zurückließ, der versucht hatte, ihr das Sendungsbewußtsein auszutreiben. Ihre Gewißheit war jedenfalls von diamantener Härte.

Humphrey Budden stand draußen und wartete auf sie.

»Nun?«

»Meine Prüfung ist beendet«, sagte sie.

»Was habt ihr besprochen?«

»Hauptsächlich die Bibel.«

»Hat der Dekan dich über deine Pflichten aufgeklärt?«

»Das hat Gott bereits getan, Sir.«

»Er hat also keinen Erfolg gehabt?« fragte Budden ungläubig.

»Er hat meine Entscheidung akzeptiert.«

»Wahnsinn, nichts als Wahnsinn!«

»Findest du, daß deine Frau verrückt ist, Humphrey?«

»In diesem geistigen Zustand allerdings.«

»Dann mußt du mich wirklich verabscheuen.«

Sie standen zwischen den Grabsteinen auf dem Kirchhof. Der Himmel war finster, dicke Wolken zogen auf, der Wind kündigte Regen an. Normalerweise kleidete Eleanor Budden sich nach bürgerlicher Mode mit einem Mieder und einem langen Rock in gedeckten Farben, mit einer Kappe, die ihr geflochtenes Haar versteckte, und mit einem Spitzenkragen von ausgesuchter Qualität, was für ihren Mann ein Symbol seines beruflichen Stolzes war. Er wünschte, daß sie einerseits Zurückhaltung zeigte, andererseits aber auch seinen Beruf, sein Glück und seine Männlichkeit hervorhob. Derartige modische Nichtigkeiten hatte sie inzwischen abgelegt. Jetzt trug sie nur noch ein einfaches graues Hemd und eine Morgenhaube. Ihr langes Haar hing lose über ihren Rücken.

Merkwürdigerweise begehrte er sie mehr denn je zuvor. Trotz dieses Aufzugs, trotz des Ortes und trotz des unsicheren Wetters merkte er, daß sein Begehren anschwoll und seine berechtigten Ansprüche sich verhärteten. Verrückt oder irregeleitet, sie war ganz einfach schön. Unbeeindruckt durch den Pfarrer und unzugänglich selbst für den Dekan, sie war immer noch die Ehefrau von Humphrey Budden und mußte zu Verstand gebracht werden.

»Du wirst ab sofort nicht mehr keusch bleiben!« verlangte er.

»Wieso das, Sir?«

»Du gehst jetzt auf der Stelle mit mir nach Hause!«

»Mir gefällt dein Ton nicht.«

»Wenn du den schon früher gehört hättest und eine starke Hand gespürt, die das verstärkt hätte, dann befänden wir uns jetzt nicht in dieser schwierigen Lage.«

»Willst du mir drohen, Sir?«

Sie war kühl und ohne Furcht, was ihn einen Moment innehalten ließ, doch ihre großen blauen Augen und ihre samtene Haut ließen seine Entschlossenheit zurückkehren. Er packte ihren Arm.

»Laßt mich los, Sir. Ihr tut mir weh.«

»Komm sofort nach Hause, damit wir das Problem im Schlafzimmer lösen können. Das soll nicht zu deinem Schaden sein.«

»Laßt mich zufrieden, Humphrey. Vereinigung im Fleische ist sündhaft.«

»Aber nicht in der Ehe.«

»Wir sind nicht mehr Mann und Frau.«

Er packte auch ihren anderen Arm und rang mit ihr, als sie versuchte, sich freizukämpfen. Der Druck ihres Körpers gegen den seinen trieb ihn weit über die Grenzen der Vernunft hinaus.

»Unterwirf dich meinen Umarmungen!«

»Das werde ich nicht, Sir.«

»Das ist mein angestammtes Recht.«

»Jetzt nicht mehr.«

Ihr Widerstand verstärkte seine Wut noch mehr.

»Ich schwöre, wenn du mir nicht gehorchst, nehme ich dich hier auf der Stelle, zwischen den Toten von Nottingham.«

»Das werdet Ihr nicht wagen.«

»Nicht wagen?« heulte er.

»Gott wird Euch davon abhalten.«

Bis zum Äußersten erregt, packte er mit groben Händen ihr Hemd, riß daran und legte eine wohlgerundete Schulter und einen Teil ihrer Brust frei. Doch in das Geräusch des zerreißenden Stoffes mischte sich noch ein anderes. Die Kirchentür öffnete sich, Miles Melhuish kam im Zustand höchster Verblüffung aus der Kirche. Es war ihm unbegreiflich, wie Eleanor Budden es geschafft haben konnte, dem Dekan zu widerstehen. Als er jedoch die Szene vor sich sah, verstand er nur allzu gut und erzitterte wegen der Sündhaftigkeit.

»Das hier, auf geheiligtem Boden!« donnerte er.

»Ich wurde dazu getrieben, Sir«, meinte der Spitzenmacher.

»Gewalt gegen das schwache Geschlecht anzuwenden!«

»Ihr habt mir eine strenge Haltung angeraten.«

»Aber nicht von dieser ekelhaften Art.«

»Vergebt ihm, Sir«, sagte Eleanor. »Er weiß nicht, was er tut. Ich hatte nichts anderes erwartet. Gott hat mich gewarnt, daß viel Leid über mich kommen werde. Und doch hat Er mich gerettet, wie Ihr ja gesehen habt. Er hat Euch aus der Kirche zu meiner Rettung hierher geschickt.«

Eleanor fiel betend auf die Knie, und Melhuish nahm den geschlagenen und geknickten Ehemann beiseite, um ihn inmitten der Grabsteine zurechtzuweisen. Als Eleanor fertig war, half ihr der Priester auf die Füße und schubste ihren Ehemann mit einem scharfen Blick auf sie zu.

»Vergib mir meine Gemeinheit, Eleanor.«

»Du hast dich nur wie ein Mann verhalten.«

»Ich habe mich schwer gegen dich versündigt.«

»Dann mußt du die Sünde von dir abwaschen. Rufe zu Gott, damit er dir ein reines Herz gibt und alles Böse von dir nimmt.«

Humphrey Budden war verzweifelt. Von seiner Frau verlassen, von der Kirche gemaßregelt - sein Fall war jenseits aller Hoffnung. Anstatt eine pflichtbewußte Ehefrau mit nach Hause zu bringen, hatte er sie für immer verloren, und zwar an eine Stimme, die er selber noch kein einziges Mal vernommen hatte.

»Darf ich erfahren, was du vorhast, Frau?«

»Ich folge dem Pfad der Rechtschaffenheit.«

»Sie muß dem Befehl des Dekans folgen«, sagte Melhuish.

»Ich gehe nach Jerusalem«, sagte sie.

»Nach York«, korrigierte der Vikar. »Nur der heilige Erzbischof kann in dieser Sache ein Urteil sprechen. Ihr müßt ihm einen Brief des Dekans überbringen und um eine Audienz bitten.«

»York!« Budden war beunruhigt. »Darf ich mitkommen?«

»Ich reise allein«, sagte sie bestimmt.

»Wie willst du dir Unterkunft und Verpflegung beschaffen?«

»Gott wird dafür sorgen.«

»Die Straßen sind nicht mal für einen Mann sicher, noch viel weniger für eine Frau wie dich. Du bist in Lebensgefahr!«

»Mir wird nichts geschehen.«

»Es ist gefährlich, für dich und jeden anderen Reisenden.«

»Ich habe den Schutz des Herrn auf meiner Reise.«

Es begann zu regnen.

*

Oliver Quilley fluchte auf den Regen und setzte sein Pferd in Trab. Nicht weit vor ihm war eine Baumgruppe, die Schutz versprach für ihn und seinen jungen Begleiter. Quilley war eine kleine, schmächtige Gestalt von etwa dreißig Jahren und von einer gewissen ansprechenden Zerbrechlichkeit. In seiner Kleidung eines Höflings wirkte er unpassend und bombastisch neben dem stämmigen Mann, den er sich in Leicester als Leibwächter und Begleiter ausgesucht hatte. Die Bäume bewegten sich und schwankten im Regen, doch ihr dichtes Blätterdach versprach Schutz vor dem schlimmsten Sturm. Während Quilley voranritt, preßte er eine Hand auf sein Herz, als wolle er es festhalten.

»Haltet nach rechts«, rief er.

»Ja, Master.«

»Dort finden wir Schutz vor dem Sturm.«

»Ja, Master.«

Der junge Mann trug wenig zur Unterhaltung bei, war jedoch wegen seines stämmigen Körperbaus eine beruhigende Begleitung. Quilley vergab ihm seine Unbeholfenheit und trieb ihn auf die Baumgruppe zu. Sie waren durchnäßt, als sie dort eintrafen, und so erleichtert, daß sie dem schlechten Wetter entwischt waren, daß sie in ihrer Vorsicht nachließen. Das war ihr Verhängnis.

»Ho, hallo da, Sirs!«

»Hey! Hey! Hey!«

»Euch hat uns das Schicksal in die Hände gespielt.«

»Runter von den Pferden!«

Vier Straßenräuber in alten Lumpen sprangen so plötzlich aus ihrem Versteck, daß die beiden Reiter vollkommen überrumpelt wurden. Zwei der Räuber hatten Schwerter, der dritte einen Dolch und der vierte eine hölzerne Keule, die gefährlicher war als alle anderen Waffen. Dem jungen Mann gelang es nicht einmal mehr, seinen Degen zu ziehen. Von dem Gebrüll und dem plötzlichen Überfall völlig verwirrt, stieg sein Pferd so heftig in die Hinterhand, daß er wie vom Blitz getroffen aus dem Sattel fiel. Hilflos fiel er hinterrücks vom Pferd und landete unglücklich auf dem Nacken. Man hörte ein ekelhaftes Knacken, der Körper wurde schlaff. Das war ein Tod von größter Einfachheit.

Die anderen wandten ihre Aufmerksamkeit Quilley zu.

»Verschwindet, ihr Mörder!« schrie er.

»Ruhig, Sir, wir möchten mit Euch sprechen.«

»Laßt meine Zügel los!«

Doch Quilleys schwächliche Bemühungen hatten keinen Erfolg. Er schlug und trat nach ihnen, brachte sie damit jedoch nur zum Lachen. Der größte der Raufbolde griff nach oben und riß ihn aus dem Sattel, als ob er im Garten Blumen pflückte. Oliver Quilley landete unsanft auf der Erde.

»Dafür werden sie euch einzeln aufhängen!«

Er versuchte aufzustehen, doch sie wurden seiner überdrüssig. Ein Schlag mit der Keule hinter sein Ohr schickte ihn bewußtlos zu Boden. Zufrieden mit ihrer heutigen Arbeit, suchten die Räuber ihre Siebensachen zusammen. Schon bald galoppierten sie davon.

Quilley war lange bewußtlos, doch irgendwann brachte der Regen ihn wieder zu sich. Das erste, was er sah, war die Leiche des jungen Mannes, den er zu seinem Schutz bezahlt hatte. Der Anblick brachte ihn zum Erbrechen. Dann erinnerte er sich an etwas und betastete die Vorderseite seines Wamses. Vor Erleichterung weinend, knöpfte er die Jacke auf und zog eine große Lederhülle hervor, die er aus Sicherheitsgründen darunter trug. Sie hatten sein Pferd, seine Satteltaschen und seinen Geldbeutel gestohlen, doch das alles machte nichts. Die Lederhülle war noch da.

Quilley öffnete sie vorsichtig, um ihren Inhalt zu prüfen. Mord und Überfall auf der Straße nach Nottingham. Er hatte noch Glück gehabt. Der Verlust seines Begleiters war wirklich ein Unglück, doch der junge Mann war entbehrlich. Der Verlust seiner Lederhülle wäre eine Katastrophe gewesen. Seine Kunst war in Sicherheit.

Er machte sich auf den langen Marsch ins nächste Dorf.

*

Der Regen peitschte erbarmungslos auf Westfield's Men ein. Er hatte sie in offenem Gelände erwischt, während sie im nördlichen Teil von Leicestershire unterwegs waren und es nicht verhindern konnten, bis auf die Haut naß zu werden. Nicholas Bracewells größte Sorge galt den Kostümen, er zog eine Plane über den großen Weidenkorb am hinteren Ende des Fuhrwerks, aber für seine Gefährten konnte er nichts tun. Die wurden immer nasser, jämmerlicher und von Selbstmitleid erfüllt. Zäher Schlamm verlangsamte ihr Fortkommen zu einem Kriechen. Heftige Windböen quälten Pferde und Menschen. Dieses Wetter war das bisher Schlimmste für sie und ließ sie trübselig an den Queen's Head und die Bequemlichkeiten Londons denken.

So plötzlich der Regen begonnen hatte, so plötzlich hörte er auch wieder auf. Die grauen Wolken bekamen helle Streifen, schließlich brach die Sonne durch und tauchte alles in ein helles Glitzern. Lawrence Firethorn ließ anhalten, damit sie sich ausruhen und ihre Kleider etwas trocknen konnten.

Wamse, Jacken, Hemden, Hosen und Mützen hingen wild durcheinander auf den Büschen. Halbnackte Männer rannten herum. Die Zugpferde wurden aus dem Geschirr genommen und durften grasen.

Nicholas behielt Christopher Millfield im Auge. Seit dem Vorfall nachts in Pomeroy Arms hatte der Regisseur sich gefragt, wohin der Schauspieler mitten in der Nacht wohl gegangen sein mochte. Es war unwahrscheinlich, daß es sich um ein Liebes-Rendezvous handelte, denn im Gasthaus gab es viele Mädchen, die ihn sich zum Ziel lockerer Blicke und lauten Lachens ausgesucht hatten. Er hatte mit ihnen allen herumgeschäkert, aber keiner den Vorzug gegeben. Sein nächtliches Verschwinden mußte einen anderen Grund haben, aber Nicholas wußte, daß er den niemals durch eine direkte Frage herausfinden würde. Millfield hatte immer ein flottes Lächeln und eine plausible Erklärung zur Hand.

Da es ihm unmöglich war, den Mann die ganze Zeit zu beobachten, bediente Nicholas sich eines Freundes, der allerdings keine Ahnung davon hatte, daß irgendwelche Informationen aus ihm herausgelockt wurden.

»Was hat er sonst noch gesagt, George?«

»Er erzählte von anderen Gruppen, bei denen er gearbeitet hat.«

»Ich glaube, er war bei den Admiral's Men.«

»Die London vor einem oder zwei Monaten verlassen haben, um in Arundel, Chichester, Rye und was weiß ich wo sonst noch zu spielen.«

»Sind sie da denn gut aufgenommen worden?«

»Sehr gut, Master Bracewell. Sie spielten in ein paar der besten Häuser der Grafschaft und waren immer gut beschäftigt. Denen ging es viel besser als uns armen Hunden.«

*

George Dart sah auch zu seinen besten Zeiten traurig aus. In dem nassen Hemd und der schmutzigen Hose wirkte er wirklich jämmerlich. Seine Freude darüber, zu der Tourneegruppe zu gehören, hatte sich inzwischen verflüchtigt und jammerndem Selbstmitleid Platz gemacht. Als Kleinstem der Hilfsbühnenarbeiter hatte man ihm stets den größten Teil der Arbeit aufgehalst, und die Tournee hatte seine ohnehin schon endlose Liste von Pflichten noch verlängert. Zusätzlich zu seinen Aufgaben bei Aufführungen war er Pferdebursche, Träger, Schneider und allgemeiner Prügelknabe. In Pomeroy Manor hatte man ihn gezwungen, mehrere stumme Rollen zu übernehmen. Er wurde nicht weniger als viermal umgebracht - in vier verschiedenen Kostümen und mit vier besonders unangenehmen Methoden -, jedesmal durch den ruchlosen Tarquinius. So viel Verantwortung lastete auf seinen schmalen Schultern, daß die Knie unter ihm fast einknickten.

Es kam ihm überhaupt nicht in den Sinn, daß er gerade einen weiteren Job bekam.

»Noch etwas, George.«

»Ja, Sir?«

»Hat er Gabriel Hawkes mal erwähnt?«

»Mehrmals, Master.«

»Was hat er über ihn gesagt?«

»Daß er der bessere Schauspieler von beiden sei.«

»So habe ich ihn allerdings nicht gesehen.«

»Ich auch nicht, aber ich hatte zuviel Angst, ihm das zu sagen.«

»Hat er Mitleid mit Gabriel Hawkes ausgedrückt?«

»Nein, Master.«

»Nicht mal einen Seufzer des Bedauerns?«

»Jedenfalls habe ich nichts davon gehört.«

»Danke«, sagte Nicholas freundlich. »Wenn er irgend etwas Interessantes sagt, laßt es mich sofort wissen.«

»Das werde ich, Master.«

Nachdem er nun so viele Fragen beantwortet hatte, fand er selber eine Frage. Sie war ihm schon seit Tagen im Kopf herumgegangen, und Nicholas war der einzige Mensch, der bereit war, ihm richtig zuzuhören. Darts Gesicht legte sich in Falten.

»Als wir London verließen…«

»Ja, George?«

»Als wir durch Bishopsgate kamen.«

»Ja, Sir.«

»Da war ein Kopf auf einer Pike.«

»Mehrere, wenn ich mich recht erinnere.«

»Ich meine den neuesten.«

»Ah ja. Das war Master Anthony Rickwood.«

»Was hat er getan?«

»Er hat sich gegen das Leben von Königing Elizabeth verschworen.«

»War er denn allein bei diesem Verbrechen?«

»Nein, Junge. Er war ein Teil einer katholischen Verschwörung.«

»Warum wurden die anderen denn nicht vor Gericht gestellt?«

»Weil sie bisher noch nicht gefaßt werden konnten.«

»Wird das denn noch passieren?«

»Sir Francis Walsingham wird sich schon darum kümmern.«

»Und wie?«

»Seine Leute werden das ganze Königreich durchkämmen.«

Bevor George noch eine weitere Frage formulieren konnte, erhob sich ein Schrei ganz in der Nähe. Nicholas raste los, das Schwert in der Hand. Richard Honeydew hatte voller Angst hinter einem Busch aufgeschrien, hinter den er sich zurückgezogen hatte, um sein Geschäft zu verrichten. Nicholas war in Sekundenschnelle bei ihm und sah, wie er mit vor Entsetzen weit aufgerissenem Mund da hockte und auf etwas zeigte, das vom höchsten Punkt des Hügels auf sie zukam.

Es war ein so verblüffender und exotischer Anblick, wie sie ihn nie zuvor auf ihren Reisen erlebt hatten. Eine Gruppe von zwanzig oder mehr Leuten war aufgetaucht, in bizarrsten Kostümen, die aus bestickten Turbanen und grellbunten Schals bestanden und über Lumpen und Fetzen getragen wurden. Ihre dunkelhäutigen Gesichter waren rot und gelb bemalt, an ihren Füßen klingelten Glöckchen, während sie auf ihren Pferden dahinritten. Sie waren gleichzeitig furchterregend und faszinierend. Richard Honeydew war wie benommen.

Nicholas lachte und klopfte ihm auf den Rücken.

»Die tun dir nichts, Junge.«

»Wer sind die, Master?«

»Ägypter.«

»Wer?«

»Günstlinge des Mondes.«

»Sind sie echt?«

»So echt wie du und ich.«

»Warum sehen sie so merkwürdig aus?«

»Es sind Zigeuner.«

*

Anne Hendrik war über Watling Street gereist, um ihre Kusinen in Dunstable zu besuchen. Schon bald zog sie weiter nach Bedford, wo sie bei einem Onkel blieb, und freute sich, als er sie einlud, ihn auf einen Besuch bei seinem Bruder in Nottingham zu begleiten. Obwohl diese Stadt nicht auf dem Reiseplan von Westfield's Men gestanden hatte, brachte der Besuch sie der Gruppe näher, ein tröstlicher Gedanke für sie. Erst jetzt, da sie von ihm getrennt war, merkte sie, welch wichtige Rolle er in ihrem Leben spielte. Sie lebten nun schon fast drei Jahre im selben Haus, und inzwischen hatte sie seine ungewöhnlichen Fähigkeiten schätzen gelernt.

Jetzt vermißte sie seinen sanften West-Country-Akzent, seinen Sinn für Humor und seine unendliche Rücksichtnahme. Viele Männer hätten brutale Züge angenommen, wenn sie das erlebt hätten, was er durchmachen mußte, doch Nicholas blieb sich selbst treu und aufmerksam für die Nöte anderer. Er hatte seine Fehler, doch selbst die brachten jetzt bei ihr ein nostalgisches Lächeln hervor. Während Anne an den Marktständen von Nottingham vorbeischlenderte, während ihre Hände Spitzen, Leder und Batist betasteten, waren ihre Gedanken bei ihrem liebsten Freund.

Sie spürte, daß er nicht allzuweit von ihr entfernt war.

»Kauf das nicht, Anne.«

»Was?«

»Das beste Leder gibt's in Leicester.«

»Oh… ja.«

Sie legte die Geldbörse, die sie geistesabwesend in die Hand genommen hatte, wieder zurück und hakte sich bei ihrem Onkel ein. Er war mittlerweile ein alter Mann geworden und würde sicher nicht mehr viele Reisen zu seinem Bruder unternehmen. Es machte ihm Freude, seine Nichte während der Reise zu verwöhnen. Sie war schon immer seine Lieblingsnichte gewesen.

»Was kann ich dir kaufen, Anne?«

»Aber ich bin es, die Euch ein Geschenk machen sollte, Onkel.«

»Dein Besuch ist schon das schönste Geschenk«, sagte er und deutete mit seinem Stock auf die Marktstände. »Such dir aus, was dir gefällt.«

»Da ist nichts, was ich brauche.«

»Ich möchte dir aber etwas schenken.«

»Das habt Ihr mir schon geschenkt, indem Ihr mich hierher gebracht habt.«

Er blickte sich um und kratzte sich gedankenvoll den Kopf. Als die Idee sich formierte, stieß er ein erfreutes Glucksen aus.

»Vielleicht möchtest du ein wenig Unterhaltung haben?«

»Von welcher Art, Onkel?«

»Ich nehme dich zu einer Theateraufführung mit.«

»Gibt es hier denn eine Theatergruppe?«

»Wenn du den Kopf nicht in den Wolken hättest, hättest du das schon längst selber herausgefunden. An jeder Ecke hängen Theaterplakate.«

»Wirklich?«

Die Spannung steigerte sich. Konnte es sein, daß Westfield's Men hier waren?

»Ich zeige sie dir, Nichte.«

»Ich folge Euch.«

Er schob sich vor ihr durch die Menge, bis sie den Ye Olde Salutation Inn erreichten, eines jener Wirtshäuser, die sich dicht um Nottingham Castle drängten und die seit unzähligen Generationen die durstigen Kehlen erschöpfter Reisender erfrischten.

An einem Pfosten vor dem Haus war ein Plakat mit verschnörkelter Schrift angenagelt. Anne Hendrik spürte ihren Puls hämmern, als sie den Namen des Stückes erkannte.

»Pompeius der Große«. Edmund Hoodes berühmte Tragödie.

Ein Triumph für Westfield's Men.

In derselben Sekunde verwandelte sich ihre Freude in Zorn. Das Publikum würde keinen Lawrence Firethorn in einer seiner besten Rollen zu sehen bekommen. Man offerierte ihm die etwas seichteren Talente eines Giles Randolph und seiner Gruppe.

»Möchtest du dieses Stück mit mir zusammen anschauen, Anne?«

»Nichts für mich, Onkel. Ich kann das Stück nicht ausstehen.«

Zornig wandte sie sich ab.

Als sie die Wälder erblickten, wußten sie, daß sie Nottinghamshire erreicht hatten. Leicestershire hatte nur wenig Wald und noch weniger Wildgehege, weil das Land hauptsächlich landwirtschaftlich genutzt wurde. Die Felder mit Gerste, Hülsenfrüchten und Weizen und die Weiden mit Kühen und Schafen boten einen vertrauten Anblick. Kaum hatten sie jedoch die Grenze überschritten, als Westfield's Men eine völlig andere Landschaft vor sich hatten. Sie befanden sich in der »Grafschaft mit dem Wald«, in der allein Sherwood Forest über ein Viertel der Gesamtfläche bedeckte.

Ihre Moral war besser geworden, seitdem die Sonne wieder schien. Die Entscheidung, die Great North Road zu verlassen, hatte gute und schlechte Aspekte. Der Entschluß verschaffte ihnen Aufführungen in Oakham und Melton Mobray vor einem kleinen, aber begeisterten Publikum, doch er lehrte sie auch die Schönheiten des Reisens auf schlechten Straßen bei schlechtem Wetter kennen. Nachdem sie die Nacht etwa fünf Meilen südlich von Nottingham verbracht hatten, hofften sie, das Schlimmste überstanden zu haben.

Als Lawrence Firethorn darauf bestand, die Nacht im Smith and Anvil zu verbringen, hielten die anderen das für ein seltenes Zeichen von Sentimentalität. Lawrence Firethorn war der Sohn eines Dorfschmiedes, hatte den Körperbau dieses Berufsstandes, aber die Haltung eines wahren Gentlemans.

Die alte Schmiede war ein Gebäude aus grobem Feuerstein mit einem tief heruntergezogenen Dach, doch das Gasthaus, das sich um diesen Kern ausgebreitet hatte, war ein hölzernes Fachwerkhaus. Als sie den Schankraum betraten, wurde ihnen sofort klar, warum der Erste Schauspieler darauf bestanden hatte, hier die Nacht zu verbringen.

»Master Firethorn!«

»Komm, laß mich dich umarmen, Susan!«

»Oh, Sir! Das ist aber eine unerwartete Freude!«

»Und deshalb noch viel schöner!«

Die Wirtin war eine attraktive Frau von ausladendem Körperbau und lebhaften Bewegungen. Susan Becket barst geradezu vor lauter Wiedersehensfreude. Ihr volles Gesicht war ein einziges großes Lächeln, rote Haarflechten wirbelten um ihren Kopf. Sie stampfte durch den Schankraum und versetzte Lawrence Firethorn einen knallenden Willkommenskuß auf die Lippen.

»Was führt Euch in mein Gasthaus, Sir?«

»Was sonst außer dir, meine Liebe?«

»Ihr schmeichelt mir, Schuft!«

»Ich werde noch mehr tun, bevor ich wieder gehe.«

»Weg mit Euch, lüsterner Kerl!« sagte sie kichernd.

»Hast du gute Betten in deinem Gasthof?«

»Bisher hat sich noch kein Mann darüber beklagt, Sir.«

»Dann werde ich mich auch nicht beklagen«, sagte Firethorn und nahm sie wieder in die Arme. »Haltet mich fest, Mistress Susan Becket. Auch wenn du den Namen einer Heiligen trägst, als Sünderin gefällst du mir noch viel besser.«

Ihr Lachen versetzte ihre gewaltigen Brüste in Bewegung.

Nicholas Bracewell arrangierte wie üblich die Schlafgelegenheiten. Die besten Zimmer gingen an die Anteilseigner, die Angestellten mußten sich das teilen, was übrigblieb. Weil der Gasthof nur klein war, mußten einige von ihnen draußen in einem Schuppen auf Stroh schlafen. Nicholas meldete sich freiwillig für diese Schlafgelegenheit, damit die vier Schauspielschüler das letzte Zimmer bekommen konnten. Alle vier wurden in das gleiche massive Bett gepackt. George Dart schlief am Fußende.

Im Schankraum beendete der Regisseur sein Abendessen mit Barnaby Gill und Edmund Hoode. Die Wirtin ergriff eine große Kerze und geleitete Lawrence Firethorn in sein Zimmer. Gill ließ ein sardonisches Seufzen hören.

»Die brennt ihm seine Kerze ab, bis er butterweich ist.«

»Die beiden sind alte Freunde, glaube ich«, sagte Hoode.

»Lawrence hat in jedem Wirtshaus in England Freunde«, sagte Gill. »Ich frage mich, warum sie eine ihrer Krankheiten nicht nach ihm benennen. Ich kenne ein Dutzend Flittchen, die sich ihre Dosis von Lawrence Firethorn haben verpassen lassen.«

»Er war bei den Damen schon immer gern gesehen«, sagte Nicholas diplomatisch.

»Damen!« höhnte Gill. »An denen ist nichts Damenhaftes, Master Bracewell. Es reicht ihm, wenn sie ihm einen guten Ritt liefern, und Mistress Becket wird ihm schon eine willige Stute sein. Mit der braucht er vermutlich nicht im Damensattel zu reiten, möchte ich wetten.«

»Hört doch auf mit der Lästerei, Barnaby«, sagte Hoode.

»Ich sage das nur in Gedanken an seine Frau.«

»Margery kennt den Mann, den sie geheiratet hat.«

»Den kennt auch die Hälfte aller Frauen von London.«

»Wir alle haben unsere Leidenschaften, Sir.«

»Aber nicht von dieser Sorte!« Gill erhob sich vom Tisch mit dem Gehabe eines eingeschnappten Lehrmeisters. »Einige von uns wissen zu unterscheiden, wo wahre Befriedigung auf uns wartet, und das ist nicht in den Armen irgendeiner Hure. Es gibt eine Liebe, die die der Frauen übertrifft.«

»Liebe zu sich selbst, Sir?« fragte Nicholas schlicht.

»Gute Nacht, meine Herren!«

Beleidigt stapfte Barnaby Gill aus dem Schankraum.

Richard Honeydew hatte Probleme, einzuschlafen, weil die anderen Lehrlinge so aufgekratzt waren. Sie rangelten miteinander, lachten, neckten sich und spielten sich Streiche, bis sie schließlich müde wurden. George Dart war überhaupt nicht in der Lage, sie unter Kontrolle zu halten, im Gegenteil, er war das Ziel ihrer Neckereien. Als sie endlich einschliefen, war es ein tiefer und geräuschvoller Schlaf. Dart schnarchte am lautesten von allen.

Keiner von ihnen fiel schneller in Schlaf als Richard Honeydew. Eingeklemmt in eine Ecke des Bettes, neben John Tallis, spürte er nichts von den Fußtritten seiner rastlosen Schlafgenossen am anderen Ende des Bettes. Er merkte auch nicht, wie sich die Tür öffnete. Zwei Gestalten betraten geräuschlos den Raum und blickten sich in der Dunkelheit um. Der eine hielt ein Schwert griffbereit, um jeden Angreifer abzuschlagen, der andere trug einen großen Sack. Als sie ihr Opfer erkannt hatten, stülpten sie ihm den Sack über den Kopf und preßten eine Hand auf seinen Mund. Rasch wurde der Junge aus dem Bett gezerrt, und genauso rasch verschwanden die Eindringlinge vom Ort des Geschehens.

Nicholas Bracewell lag zusammengerollt auf dem Stroh im Schuppen, als ihn jemand an der Schulter packte. Er war sofort wach und erkannte George Dart neben sich.

»Master Bracewell! Master Bracewell!«

»Was hast du, George?«

»Wir sind beraubt worden, Sir!«

»Was ist geraubt worden?« sagte Nicholas und setzte sich aufrecht.

»Ich hab' nicht das geringste Geräusch gehört. Auch die anderen nicht.«

»Geschah der Diebstahl in eurem Zimmer?«

»Ja, Master. Wir haben unser größtes Juwel verloren.«

»Was redest du da?«

»Dick Honeydew ist verschwunden.«

»Bist du ganz sicher?«

»Ohne jeden Zweifel.«

»Ist das etwa wieder ein Trick der anderen?«

»Die sind genauso entsetzt wie ich.«

»Wo könnte Dick stecken?«

»Ich kenne die Antwort, Sir.«

»Wirklich?«

»Die Zigeuner haben ihn entführt.«

*

Oliver Quilley saß ungeduldig auf seinem Stuhl, während der Doktor ihn verarztete. Sein Zusammenstoß mit den Straßenräubern hatte ihn geschunden und verletzt, und er hielt es für vernünftig, sich von einem Arzt zusammenflicken zu lassen, bevor er seine Reise fortsetzte. Der Arzt half ihm wieder in sein Wams und fragte dann nach seinem Honorar. Quilley hatte kein Geld mehr, um ihn zu bezahlen. Statt dessen griff er in seinen Lederbeutel und zog etwas hervor.

»Das ist zehnmal soviel wert wie Euer Lohn, Sir.«

»Was ist das, Master?«

»Das Werk eines Genies.«

Quilley öffnete seine Hand, in der eine exquisite Miniatur lag. Das Gesicht einer jungen Frau war mit so viel Geschick gemalt, daß es wie lebendig wirkte. Die Feinheiten, die auf der kleinen Fläche untergebracht waren, waren einfach erstaunlich.

»Das kann ich nicht annehmen, Sir.«

»Warum nicht? Ich könnte es für drei Pfund oder noch mehr verkaufen.«

»Dann tut das, Master Quilley, und zahlt mir dann das, was Ihr mir schuldet. Das wäre eine zu hohe Belohnung für mich, außerdem muß ich an meine Frau denken.«

»Eure Frau?«

»Frauen sind eifersüchtige Geschöpfe, ob sie nun Grund dafür haben oder nicht«, sagte der Arzt. »Wenn meine Frau herausfindet, daß ich ein so wertvolles Stück besitze, wird sie denken, ich liebte diese Dame mehr als sie, und wird sich entsprechend verhalten. Behaltet es, Sir. Ich will nicht mehr haben, als mir zusteht.«

»Ich werde es in Nottingham verkaufen und Euch Euren Lohn bringen.«

»Das hat keine Eile, Sir, außerdem braucht Ihr Ruhe.«

»Was für Ruhe?«

»Um Euch von Euren Verletzungen zu erholen.«

»Die sind nicht so wichtig.«

»Ein paar Tage im Bett würden Euch schon guttun.«

»Ich habe keine Zeit zu vergeuden«, sagte Quilley undeutlich. »Ich werde an anderer Stelle gebraucht. Es gibt Leute, die an dem Zauber meiner Kunst interessiert sind. Ich habe bereits viel Zeit verloren, weil ich dem Magistrat berichten mußte, was mir passiert ist, und weil ich bei dem Begräbnis meines Begleiters dabei sein mußte. Ich muß mich beeilen, denn ich werde bereits erwartet.«

»Wo, Master Quilley?«

»In York.«

*

Schlechtes Wetter, schlechte Straßen und hügeliges Gelände konnten einer Gruppe reisender Schauspieler durchaus ein langsames Tempo aufzwingen, doch es gab schnellere Methoden, Entfernungen zurückzulegen. Ein Reiter, der alle zwanzig oder dreißig Meilen auf Poststationen frische Pferde vorfand, konnte wirklich zügig vorankommen. Nachrichten aus London konnten innerhalb weniger Tage jeden Punkt des Königreiches erreichen. Dringlichkeit konnte jeden Weg verkürzen.

Sir Clarence Marmion erhielt die Nachricht zu Hause und ließ sofort sein Pferd satteln. Schon bald galoppierte er auf die Stadt zu. Ouse Bridge war die einzige Möglichkeit, in York den Fluß zu überqueren. Es war eine bucklige Holzbrücke mit sechs Bögen. Hufe donnerten darüber. Sir Clarence jagte an den etwa fünfzig Häusern bei der Brücke vorbei und zügelte sein Pferd erst, als er in den Hof des Jerusalem einbog. Ein Pferdeknecht stürzte heraus, um das Pferd zu halten, Sir Clarence stieg aus dem Sattel.

Er marschierte in den Schankraum und ignorierte den katzbuckelnden Willkommensgruß von Lambert Pym. Er wandte sich sofort zur Treppe. Dann klopfte er an eine Tür im Obergeschoß und trat ein.

Robert Rawlins setzte sich erschrocken auf.

»Ich hatte Euch zu dieser frühen Stunde noch nicht erwartet.«

»Die Dringlichkeit hat mich hierher gebracht.«

»Ist etwas nicht in Ordnung?«

»Ich fürchte, ja. Weitere Nachrichten aus London.«

»Was ist passiert, Sir Clarence?«

»Gegen eine bestimmte Person wurde Anklage erhoben.«

»Master Neville Pomeroy?«

»Er wurde verhaftet und in den Tower geworfen.«

»Gütiger Gott!«

»Walsinghams Männer rücken näher.«

»Kann sich einer von uns noch sicher fühlen?« fragte Rawlins.

»Wir haben die Sicherheit unserer Religion, und das ist der beste Schutz gegen jeden Angriff. Master Pomeroy wird ihnen keine Namen nennen, egal, was sie mit ihm anstellen. Wir müssen die Nerven behalten und für unser Überleben beten.«

»Amen.«

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