3. KAPITEL

Westfield's Men tauschten das pulsierende Leben Londons gegen die ruhigeren Gefilde von Middlesex ein. Sie waren von Schwermut erfüllt. Kaum hatten sie das Stadttor hinter sich gelassen, wandten sie sich nach Norden, nach Shoreditch, vorbei am Curtain und am Theatre, zwei eigens errichteten Schauspielhäusern, in denen sie bereits mehrmals bemerkenswerte Aufführungen gehabt hatten. Diese Schauspielhäuser waren absichtlich außerhalb der Stadtgrenzen errichtet worden, um der Gerichtsbarkeit des Oberbürgermeisters und seines Stadtrats zu entgehen. Es waren vielbesuchte, laute und lebhafte Vergnügungsstätten, die ganze Menschenmassen anzogen. Solche Paradiese gab es für Westfield's Men nicht auf ihrer Tournee. Die ausgefeilten Möglichkeiten eines richtigen Theaters würden den beschränkten Voraussetzungen eines Innenhofes von Gasthäusern oder von Begrenzungen eines Raumes in einem Privathaus weichen. Vom rein künstlerischen Standpunkt aus gesehen war eine Tournee keine Pilgerfahrt.

Es war wie ein'Schicksalsschlag.

Sie zogen die Great North Road entlang, eine der vier großen Überlandstraßen des Königreiches. Sie führte sie an Islington Ponds vorbei, wo sie beobachteten, daß Männer zum Vergnügen auf wilde Enten schossen, dann erreichten sie offenes Gelände. Immer wieder sahen sie Bauerngehöfte rechts und links der Straße, Teil des großen landwirtschaftlichen Gürtels rund um London, der die Hauptstadt mit Getreide, Heu, Obst und Gemüse, Schlachtvieh, Schafen, Schweinen, Geflügel, Enten und Gänsen für die Märkte versorgte. Der städtische Schmutz lag hinter ihnen. Die Luft war sauberer, der Himmel klarer, die Farben kräftiger, der Blick konnte weit schweifen. Lungen und Nasen, die sich bereits an den beißenden Gestank der Großstadt gewöhnt hatten, konnten freier atmen.

Nicholas Bracewell hielt die beiden Zugpferde in flottem Trab und genoß die Landschaft. Neben ihm saß Richard Honeydew, der jüngste, kleinste und talentierteste der Schauspielschüler. Der Junge hatte schon längst erfahren, daß der Regisseur nicht nur sein zuverlässigster Freund in der Gruppe war, sondern auch eine unerschöpfliche Quelle der Information.

»Master Bracewell…«

»Ja, mein Junge?«

»Ich bin noch nie außerhalb von London gewesen.«

»Dann wird das für dich eine interessante Erfahrung, Dick.«

»Müssen wir mit großen Gefahren rechnen?«

»Nun, denk nicht an solche Dinge.«

»Die anderen Jungen reden von Dieben und Wegelagerern.«

»Die wollen dich doch nur erschrecken, Junge.«

»Martin sagt, Zigeuner könnten mich entführen.«

»Er amüsiert sich über deine Unerfahrenheit.«

»Werden wir überhaupt keinen Gefahren begegnen?«

»Nicht solchen, wegen derer du dir große Sorgen machen müßtest, Dick.«

»Warum tragt Ihr dann ein Schwert?«

Sämtliche Männer waren bewaffnet, die meisten hatten einen Dolch im Gürtel und ein Schwert oder einen Degen an der Seite. Das war für jeden Reisenden eine unverzichtbare Vorsichtsmaßnahme. Verbrecher, Räuber und Vagabunden lauerten entlang der Straßen auf ihre Opfer. Nicholas wollte dem Jungen keine Angst einjagen, indem er etwas davon sagte, statt dessen erklärte er ihm, daß allein schon die Größe und die Stärke der Gruppe jeden denkbaren Angreifer abschrecken werde. Richard Honeydew werde auf dem platten Land genauso sicher sein, als schlafe er in seinem Bett in jenem Haus in Shoreditch, in dem Margery Firethorn ein strenges, aber liebevolles Regiment führte. Der Junge entspannte sich sichtlich.

Richard Honeydew, klein, dünn und mit dem Schmelz der Jugend auf seinen zarten Gesichtszügen, war von der Natur geradezu für weibliche Rollen geschaffen worden. Sein jungenhafter Charme wurde noch liebenswürdiger, wenn er das Geschlecht wechselte; seine ungezwungene Hübschheit verwandelte sich problemlos in die Schönheit einer jungen Frau. Sein dichtes blondes Haar, das meistens unter Perücken verborgen war, drängte sich jetzt unter seiner Mütze hervor. Weil der Junge sich seiner natürlichen Anziehungskraft überhaupt nicht bewußt war, wirkte diese um so stärker.

»Möchtest du gerne mal auf einem Pferd reiten, Dick?«

»Oh, ja, Master Gill.«

»Dann schwing dich hinter mich, Junge.«

»Ist das auch nicht gefährlich, Sir?«

»Wenn du dich ordentlich an meinen Hüften festhältst.«

Barnaby Gill hatte sein Pferd neben den Karren gelenkt und bot dem Jungen jetzt seine behandschuhte Hand. Nicholas mischte sich geschickt ein.

»Ich brauche den Jungen, damit er mir bei den Zügeln hilft.«

»Ach, wirklich«, sagte Barnaby Gill anzüglich.

»Er muß lernen, wie man den Wagen lenkt.«

»Dafür habt Ihr genügend andere Schüler, Mann.«

»Aber keinen, der so geschickt ist wie Richard Honeydew.«

»Kommt schon, laßt mich ihm andere Dinge beibringen.«

»Heute geht er nicht zur Schule, Master Gill.«

Nicholas sprach mit freundlicher Stimme, aber durchaus bestimmt, und der andere zog sich mit einem wütenden Blick zurück. Der Junge ahnte noch nichts von den finsteren Aspekten der Freundschaft, die Barnaby Gill ihm immer mal wieder anbot, und Nicholas mußte sich zu seinem Schutz einmischen. Richard Honeydew, der nichts von dem verstanden hatte, was zwischen den beiden Männern vorgegangen war, fühlte sich ganz einfach enttäuscht, daß er nun nicht reiten durfte.

»Muß ich wirklich lernen, wie man den Wagen lenkt?«

»Jeder von uns muß mal die Zügel in die Hand nehmen.«

»Warum wirkte Master Gill so verärgert?«

»Weil er sich seine Wünsche nicht erfüllen konnte.«

»Darf ich denn niemals auf einem Pferd reiten?«

»Master Hoode ist bestimmt jederzeit dazu bereit.«

Die Gruppe zog ihres Weges und unterbrach die Reise nur kurz, um in einem Gasthaus eine Erfrischung zu sich zu nehmen. Wären sie alle zu Pferde gewesen, hätten sie an die dreißig Meilen pro Tag zurücklegen können, aber ihre Mittel erlaubten eine so große Zahl Pferde nicht. Da sie sich folglich nur im Fußgängertempo fortbewegten, mußten sie sich mit einer viel geringeren Tagesleistung zufriedengeben. Wenn sie sich anstrengten, würden sie vor Einbruch der Dunkelheit zwanzig Meilen schaffen, aber das hätte sie ziemlich erschöpft und ihnen weder die Zeit noch die Kraft gelassen, aus dem Stegreif eine Vorstellung zu geben, wo sie Quartier machten. Lawrence Firethorn und Nicholas Bracewell hatten sich ausführlich über ihre Reiseroute unterhalten. Es war wichtig, das richtige Tempo anzuschlagen.

Richard Honeydew drängte es nach weiterer Aufklärung.

»Habt Ihr diesen Kopf gesehen, Master Bracewell?«

»Kopf?«

»Als wir London verließen. Auf der Stange bei Bishopsgate.«

»Das habe ich bemerkt, Junge.«

»Der Anblick des einen Kopfes hat mich ganz krank gemacht.«

»Das war auch zum Teil die Absicht dahinter.«

»Kann denn irgendein Mann ein solches Schicksal wirklich verdienen?«

»Anthony Rickwood war ein Verräter, und die Strafe für Verrat ist der Tod. Ob dieser Tod so brutal und barbarisch erfolgen sollte, das ist eine andere Frage.«

»Wer war der Mann?«

»Teil einer katholischen Verschwörung«, sagte Nicholas. »Er und seine Genossen planten, die Königin während einer Reise nach Sussex zu ermorden.«

»Wie wurde diese Verschwörung denn entdeckt?«

»Durch Sir Francis Walsingham. Seine Spione sind überall. Einer seiner Informanten erfuhr gerade rechtzeitig von der Verschwörung, und Master Rickwood wurde auf der Stelle verhaftet.«

»Und was passierte mit den anderen Verschwörern?«

»Die werden verhaftet, sobald ihre Namen bekannt sind. Der Herr Minister wird nicht rasten, bis er den Kopf von jedem einzelnen auf die Stange gespießt hat. Er hat geschworen, daß er alle katholischen Verräter ihrer Strafe zuführen wird.«

»Wird er das schaffen?«

»Daran gibt es keinen Zweifel, Dick. Seine Spione sind handverlesen und bestens für ihre Arbeit ausgebildet. Er führt sie mit großem Geschick. Es waren nicht nur unsere Admiräle, die die spanische Armada besiegten. Dem Herrn Minister verdanken wir viel dabei. Er war es, der die Stärke und Bewaffnung der spanischen Flotte vorhersagte.«

»Ihr scheint viel über ihn zu wissen.«

»Ich bin mit Drake gesegelt«, sagte Nicholas, »und der war mit Sir Francis Walsingham eng befreundet.«

»Wirklich?«

»Der Minister hat stets großes Interesse an den Fähigkeiten unserer Navigatoren bewiesen.«

»Warum?«

»Weil er finstere Absichten damit verfolgte.«

»Was war denn das, Master Bracewell?«

»Piraterie.«

Der Junge riß die Augen auf, als ihm etwas klar wurde.

»Sir Francis Drake ein Pirat?« rief er aus.

»Wie würdest du es denn sonst nennen, wenn ausländische Schiffe und Städte überfallen wurden?« fragte Nicholas. »Piraterie. Klar und eindeutig. Ich war dort, Junge. Ich habe es mit eigenen Augen gesehen.«

»Aber Piraterie ist ein fürchterliches Verbrechen.«

»Da gibt es Möglichkeiten, diesem Problem aus dem Wege zu gehen.«

»Tatsächlich?«

»Ja, und ich vermute, daß Walsingham der Mann war, der diese Möglichkeit herausfand. Er überredete die Königin, sich an der Sache zu beteiligen. Als Gegenleistung für den Erhalt eines Teils der Beute stellte uns Ihre Majestät Kaperbriefe aus.«

»Kaperbriefe?«

»Die verwandelten uns von Piraten in Freibeuter.«

»Und das hat unsere geliebte Königin tatsächlich getan?«

»Mit stillschweigender Einwilligung von Walsingham. Er drängte sie, Drake und seinesgleichen zu ihren gesetzlosen Taten zu ermutigen. Wenn sie spanische Schiffe überfielen, lenkten sie Geld in die Schatullen des Schatzkanzlers und zwickten den römischen Katholizismus in die Nase.«

Richard Honeydew blieb die Luft weg, als er versuchte, das alles zu verdauen. Er war zutiefst schockiert über die Tatsache, daß ein großer Nationalheld irgendwann einmal in Piraterie verwickelt gewesen war, aber er zweifelte nicht an Nicholas' Worten. Auch der religiöse Aspekt brachte ihn ganz durcheinander.

»Warum wollen die Katholiken denn die Königin umbringen?«

»Sie ist das Symbol unserer protestantischen Nation.«

»Ist es denn solch ein Verbrechen, Rom zu gehorchen?«

»Ja, mein Junge«, sagte Nicholas. »Die Zeiten haben sich geändert. Mein Vater wurde noch in der alten Religion großgezogen, doch unter König Heinrich wurde er zu einem Protestanten gemacht, und das ganze Land ebenfalls. Die meisten Leute würden es nicht wagen, an die Dinge zu glauben, an die mein Vater zu seiner Zeit geglaubt hat. Sie haben Angst vor Walsingham.«

»Ich auch«, sagte der Junge.

»Was auch immer passiert, das Leben der Königin muß geschützt werden.«

»Auf jede nur erdenkliche Weise.«

»Deshalb brauchen wir auch so viele Spione.«

Richard Honeydew dachte an den Schädel auf dem Spieß. »Ich bin jedenfalls froh, daß ich nicht katholisch bin«, sagte er.

*

Das Münster von York stach mit seinen drei großen Türmen in den Himmel und warf einen langen Schatten der Frömmigkeit über die Häuser und Läden, die sich dicht um sein Fundament drängten. Es war die schönste Kathedrale in ganz England und zugleich das größte mittelalterliche Gebäude im gesamten Königreich. Die Arbeit daran hatte vor langer Zeit, im Jahre 1220, begonnen und zog sich über ein halbes Jahrhundert hin. Das Ergebnis war tatsächlich atemberaubend, ein gotisches Meisterwerk, welches das gesamte Spektrum architektonischer Stile darstellte, ein würdiges Denkmal für die Liebe und Verehrung zahlreicher Generationen von Christen, die an dem Bauwerk mitgewirkt hatten. Besucher, die sich York näherten, konnten die Kathedrale schon viele Meilen vorher sehen, wie sie sich majestätisch über die Stadt erhob, wie ein Lichtstrahl inmitten weltlicher Finsternis.

Sir Clarence Marmion hatte für all das nicht einmal einen flüchtigen Blick übrig, als er mit seinem Pferd durch Botham Bar in die Stadt hineinritt. Er war ein großer, distinguierter, leichenblasser Mann in den Fünfzigern, mit jener herrschaftlichen Haltung und einem teuren Aufzug, die die Leute dazu veranlaßte, voller Ehrerbietung den Hut zu lüften, wenn er an ihnen vorbeiritt. Als er Petergate hinter sich gelassen hatte, bog er in The Shambles ein, deren gewundene Enge er zügig durchmaß, wobei er unter vorstehenden Dächern den Kopf beugte, mit den Schultern die Hauswände berührte und sich mit seinem Pferd vorsichtig einen Pfad durch die Menschenmenge bahnte. Hoch über ihm vermischte sich das Gebimmel der Glocken mit den geschäftigen Geräuschen der Arbeitswelt. Irritiert schnalzte er mit der Zunge.

Sein Pferd trug ihn jetzt am linken Ufer des Flusses entlang, bis er ihn bei der Ouse Bridge überqueren konnte. Als er auf Micklegate zuhielt, strömten die Menschen auf dem Weg zum Markt in die Stadt. Er bog in einen Torweg ein und befand sich auf einem gepflasterten Innenhof. Ein Stallknecht rannte herbei, um sein Pferd zu halten, während er abstieg; als Dank erhielt er nur ein mürrisches Grunzen. Er hatte auch nichts anderes erwartet. Sir Clarence war kein zufälliger Besucher in diesem Gasthaus. Es gehörte seiner Familie bereits seit Jahrhunderten.

Das Gasthaus »The Trip to Jerusalem« war ein langes, niedriges Fachwerkgebäude, das sich mit den unmöglichsten Verwinkelungen ausdehnte. Es stammte aus dem 12. Jahrhundert und soll ein Rastplatz für Soldaten gewesen sein, die im Jahre 1189 nach Süden ritten, um sich dem Kreuzzug anzuschließen. Damals war es das Brauhaus des Schlosses und gab sich aus einem gewissen Gefühl fürs Geistliche den Namen »Pilgrim«. Unter der Leitung von Sir Clarence Marmion hatte es seinen vollen Namen bekommen, obwohl die Stammgäste es normalerweise und durchaus prägnant mit »Jerusalem« bezeichneten.

Sir Clarence zog den Kopf unter dem niedrigen Türbalken ein, ging durch den Flur und betrat den Schankraum. Eine Wolke aus Bier- und Tabaksdunst schlug ihm entgegen. Als er sich zu voller Höhe aufrichtete, berührte sein Kopf beinahe die unebene Zimmerdecke.

Der Gastwirt reagierte sofort auf sein Erscheinen, hastete hinter dem Schank hervor, wischte sich die Hände an seiner Schürze ab und nickte unterwürfig.

»Einen guten Tag wünsche ich, Sir Clarence!«

»Euch auch, Sir.«

»Willkommen im ›Jerusalem‹.«

»Wenn das doch nur wahr wäre!« erwiderte der andere temperamentvoll.

»Euer Zimmer ist bereits fertig, Sir Clarence.«

»Ich ziehe mich gleich dorthin zurück.«

»Läutet die Glocke, wenn Ihr einen Wunsch habt.«

»Wir dürfen unter keinen Umständen gestört werden.«

»Natürlich nicht, Sir Clarence«, sagte der Hauswirt und verbeugte sich kriecherisch. »Ich verspreche Euch, niemand wird auch nur in die Nähe Eures Zimmers kommen. Überlaßt das nur mir.«

Seine Hände, groß, feucht und patschig, kneteten sich gegenseitig aus lauter Nervosität. Der Besucher schien jedesmal diese Wirkung auf Lambert Pym zu haben. Selbst nach einem Jahrzehnt als Wirt dieses Gasthofes hatte er seine Angst vor dem Temperament der Marmions immer noch nicht verloren. Ein Zittern durchlief seinen pummeligen Körper, sobald der Besucher ihn ansprach, seine ruppige Art, mit der er normalerweise die Gäste abfertigte, verschwand urplötzlich hinter einer übertriebenen Unterwürfigkeit.

Sir Clarence blickte voller Verachtung auf ihn hinab. »Ich habe Nachrichten aus London.«

»Tatsächlich, Sir Clarence?«

»Eine Gruppe von Theaterleuten ist unterwegs hierher.«

»In diesem Sommer haben wir viele Theaterleute in York.«

»Westfield's Men sind nicht das übliche Volk. Sie sind mir von einem Freund empfohlen worden, und dieser Empfehlung will ich Folge leisten.«

»Wie Ihr wünscht, Sir Clarence.«

»Die Gruppe wird hier auf meine Kosten Unterkunft erhalten.«

»Eure Gastfreundschaft gereicht Euch zur Ehre.«

»Die Gruppe wird in Eurem Hof eine Vorstellung geben.«

»Ich werde sofort die notwendigen Anweisungen geben, Sir Clarence.«

»Eine zweite Aufführung wird in Marmion Hall stattfinden.«

»Ich hoffe, die Leute wissen ihr großes Glück zu schätzen«, sagte der Wirt und zupfte sich seinen verfilzten schwarzen Bart. »Wann dürfen wir die Schauspieler erwarten?«

»Frühestens in zehn Tagen. Sie haben noch andere Verpflichtungen.«

»Nirgendwo wird man sie so willkommen heißen wie im ›Jerusalem‹.«

»Das ist meine Forderung an Euch. Kümmert Euch darum.«

Lambert Pym verbeugte sich, dann rannte er durch den Raum, um eine kleine Tür aufzureißen, die zu einer schmalen Treppe führte. Sein schwammiges Gesicht verzog sich zu einem zufriedenen Lächeln.

»Euer Gast ist bereits drinnen, Sir Clarence.«

»Ich hatte nichts anderes erwartet.«

»Der Raum steht Euch zur Verfügung, solange es Euch beliebt.«

»Wie alles andere auch.«

Und mit dieser spitzen Bemerkung bückte sich Sir Clarence, um durch die niedrige Tür zu treten, und stieg die knarrenden Stufen hinauf. Am Ende des Flurs betrat er ein Zimmer, das auf der Rückseite des Hauses lag. Sein Gast saß hinter einem kleinen Eichentisch und erhob sich, als er eintrat. Sir Clarence winkte ihn mit der Hand in seinen Sessel zurück und schritt durch den Raum, um sich damit vertraut zu machen und die private Atmosphäre zu prüfen. Erst, als er auch den letzten Winkel inspiziert hatte, setzte er sich ebenfalls an den Tisch.

Er zog seinen Handschuh aus, griff mit der Hand in sein Wams und zog den zweiten Brief heraus, den er aus London erhalten hatte. Sein Inhalt ließ ihn die Zähne zusammenbeißen.

»Schlechte Nachrichten, Sir.«

»Wie wir es befürchtet haben?«

Er reichte den Brief hinüber, sein Gast ergriff ihn mit furchtsamer Hast. Er war klein, hellwach und einfach gekleidet. Robert Rawlins hatte die Haltung und Gestik eines Gelehrten. Sein verkniffenes Gesicht, die klugen Augen und gerundeten Schultern deuteten auf langjährige Arbeit mit klugen Büchern in staubigen Bibliotheken. Er brauchte nur Sekunden, um den Brief zu lesen, und blickte voller Entsetzen auf.

»Mögen alle Heiligen uns beschützen!«

*

Es war ein gutes Omen. An ihrem ersten Abend ohne den Komfort der Hauptstadt trafen Westfield's Men auf Freundlichkeit und Großzügigkeit. Sie machten im »Fighting Cocks« Station, einem schönen und angenehmen Haus, das Enfield Chase überblickte. Dies war ein Hotel, in dem ihr Schirmherr auf seinen Reisen von und nach St. Albans, seinem Besitz, häufig abstieg; sie waren jetzt die Nutznießer dieser Gewohnheit. Der Gastwirt empfing die Gruppe nicht nur mit weit ausgebreiteten Armen, er sorgte auch dafür, daß jeder in einem weichen Bett schlafen konnte, und nahm nur eine kleine Vergütung für seine Mühen. Für die Schauspieler war es wie ein Geschenk des Himmels. Es würden Zeiten kommen, in denen einige von ihnen auf Stroh in den Stallungen übernachten oder sogar unter freiem Himmel kampieren mußten. Richtige Betten, selbst wenn man sie mit ein paar ruhelosen Genossen teilen mußte, waren ein Luxus, den man gerne auskostete.

Es gab noch mehr gute Nachrichten an diesem Abend. Im Hotel »Fighting Cocks« übernachteten noch andere Gäste, wohlhabende Kaufleute, die ihre Heimreise nach Kent hier unterbrachen und denen der Sinn danach stand, ihre geschäftlichen Erfolge mit angenehmer Unterhaltung etwas zu feiern. Westfield's Men bedienten sie mit allerhand Rezitationen aus dem Stegreif. Lawrence trug Reden aus seinen Lieblingsstücken vor, Barnaby Gill zeigte seine lustigen und komischen Tanzeinlagen, und Richard Honeydew sang Lieder zur Laute. Der gute Wein und echte Bewunderung brachten die Kaufleute dazu, sich von zehn Schillingen zu trennen, einer großzügigen Gabe, die direkt in die Schatulle der Gesellschaft wanderte.

Am nächsten Morgen blieb ihnen das Glück gewogen. Das Wetter war hervorragend, der Gastwirt versorgte sie mit Freibier und Proviant für die Reise. Frohgemut brachen sie auf. In Hertfordshire rechneten sie mit gutem Grund auf ein herzliches Willkommen. Hier, in der Grafschaft, in der er geboren war, hatte Lord Westfields Name einen guten Klang, was sich durch besonderes Entgegenkommen auszahlen würde.

Nicholas Bracewell wurde vorausgeschickt, um Vorbereitungen für ihre Ankunft zu treffen. Er lieh sich den Apfelschimmel von Edmund Hoode und ritt in leichtem Trab auf Ware zu. Man hatte dem Regisseur diesen Auftrag nicht etwa nur gegeben, weil er ein guter Reiter war. Ausschlaggebend war seine Fähigkeit, auf sich selber aufzupassen. Alleinreisende waren auf bestimmten Straßenabschnitten Freiwild für alle Arten von Räubern, aber selbst der letzte Verbrecher würde es sich zweimal überlegen, ob er sich mit einem so kräftigen und gewandten Mann wie Nicholas Bracewell anlegen sollte.

Hertfordshire, eine der kleinsten Grafschaften, war die Wasserscheide für eine Anzahl von Flüssen; Nicholas kam häufig in die Nähe rauschender Wasserläufe. Vieh weidete auf den Wiesen, gebeugte Gestalten sammelten die letzten Reste der Heuernte ein. Er passierte einen Wald und ein Wildgehege, bevor er einen Marktgarten erreichte, der sich auf die Produktion von Wasserkresse spezialisiert hatte. Die Grafschaft war bekannt für die hohe Qualität ihrer Wasserkresse, die als gutes Heilmittel gegen Skorbut eingesetzt wurde, von dem so viele Londoner befallen waren. Ein freundlicher, hilfsbereiter Gärtner wies ihm die korrekte Richtung, Nicholas trieb sein Pferd an und ritt seines Weges.

Ware war eine kleine, liebenswürdige Dorfgemeinde, die ihren täglichen Geschäften nachging, ohne sich groß zu beklagen. Theatergruppen konnten nicht so ohne weiteres in einer Stadt aufkreuzen und Aufführungen veranstalten. Zunächst mußten eine Aufführungserlaubnis eingeholt und eine Spiellizenz besorgt werden. In größeren Ortschaften war es der Bürgermeister, der diese Lizenzen erteilte, doch Ware war so klein, daß es sich eine solche Persönlichkeit nicht leisten konnte. Nicholas begab sich statt dessen zu einem der örtlichen Ratsherren.

Tom Hawthornden war für seine Offenheit bekannt.

»Ihr könnt hier nicht spielen, Sir.«

»Aber wir sind Westfield's Men.«

»Von mir aus könnt Ihr die persönliche Theatergruppe der Königin sein, Master Bracewell. Wir haben nur wenige Interesse an Unterhaltung, und das ist bereits voll befriedigt worden.«

»Durch wen, Master Hawthornden?«

»Von solch einer Truppe wie Euch.«

»Wann war das?«

»Gerade erst vor zwei Tagen. Ich erinnere mich ganz genau.«

»Unser Angebot ist bestimmt das Bessere«, sagte Nicholas. »Wir sind keine Wandergruppe irgendwelcher Schauspieler, Sir. Master Lawrence Firethorn gehört zu den besten seines Berufes. Westfield's Men gelten als die feinste Theatergruppe in ganz London.«

»Eure Mitbewerber haben sich ebenfalls so bezeichnet.«

»Dann vergleicht unsere Kunst mit der dieser anderen Gruppe.«

»Das dürfte kaum ausreichen«, sagte Hawthornden und stemmte die Fäuste in die Hüften. »Macht, daß Ihr weiterkommt, Sir. Ware hat eine so lustige Komödie zu sehen bekommen, wie man sie kein zweites Mal erleben wird. Die erheitert uns noch für Wochen. Zusätzliche Zerstreuung brauchen wir nicht mehr.«

Nicholas hielt ihn zurück, als er gehen wollte.

»Hört mich an, Master. Wir bieten euch eine Aufführung mit so viel Lachen, Tanzen, Singen und Fechtkünsten, daß die Bewohner von Ware ein ganzes Jahr davon zehren werden. Es geht um eine so lustige Komödie, wie man sie nur von Westfield's Men zu sehen bekommt.«

»Zu spät, Sir. Viel zu spät.«

»Aber seht Euch ›Liebe und Narretei‹ doch einmal an. Ihr werdet es nicht bereuen.«

»Wie habt Ihr das Stück gerade genannt?«

»Liebe und Narretei.«

»Dann ist Eure Reise tatsächlich vollkommen vergeblich.«

»Wieso?«

»Weil wir dieses Stück schon gesehen haben, Sir.«

»Das ist unmöglich, Master Hawthornden«, sagte Nicholas voller Überzeugung. »Wir besitzen das Aufführungsrecht für dieses Stück. Ich habe das Manuskript hinter Schloß und Riegel. Was Ihr gesehen habt, war vermutlich ein ganz anderes Stück mit dem gleichen Titel. Unser Stück erzählt die Geschichte eines gewissen Rigormortis, eines alten Mannes, der von Amors Pfeilen getroffen wird.«

»Jawoll«, sagte Hawthornden. »Der verliebt sich in jedes weibliche Wesen, das ihm zu Gesicht kommt, und stößt die einzige zurück, die ihn wirklich liebt. Die hieß Ursula und hat uns herzhaft zum Lachen gebracht.«

Nicholas war platt. Das klang wie ihr eigenes Stück. Als Tom Hawthornden noch weitere Einzelheiten der Handlung vortrug, war der Fall klar. Ware hatte tatsächlich eine Aufführung des Stückes »Liebe und Narretei« erlebt, obwohl Westfield's Men das exklusive Aufführungsrecht daran besaß. Eine phantastische Geschichte.

Tom Hawthornden ließ sich zu einer unhöflichen Verabschiedung hinreißen.

»Macht, daß Ihr Eures Weges kommt, Sir. Ihr habt hier nichts zu suchen.«

Nicholas packte ihn an der Schulter und hielt ihn fest.

»Wie war der Name dieser anderen Theatergruppe?«

*

Schon vierundzwanzig Stunden nach seiner Abreise meldeten sich die Gewissensbisse. Margery Firethorn fing an sich zu wünschen, sie hätte ihrem Mann einen schöneren Abschied bereitet. Dann hätten sie sich nicht in einer so gezwungenen Atmosphäre voneinander getrennt. Hätte sie seine Annäherungsversuche nicht zurückgewiesen, hätten sie ihre letzte Nacht in ehelichen Freuden verbringen können, die ihr Herz mit Freuden erfüllt und ihr Gewissen beruhigt hätten. Statt dessen fühlte sie sich verletzt, reizbar und unbehaglich. Lange, einsame Monate würden vergehen, bevor sie ihren Gatten wiedersah.

Schon jetzt empfand sie das Haus in Shoreditch kalt und leer. Vier Schauspielschüler und zwei Angestellte der Gruppe hatten hier gewohnt, die sie alle mit mütterlicher Sorge gehegt hatte. Jetzt war sie mit einem kleinen Teil ihrer umfangreichen Familie zurückgeblieben. Die schlimmste Abwesenheit war die von Lawrence Firethorn. Als Mann und Schauspieler war er eine strahlende Gestalt, deren Fehlen eine tiefe Kluft zurückließ. Er hatte seine Fehler, niemand wußte das besser als seine eigene Frau. Aber die reduzierten sich zur völligen Bedeutungslosigkeit, wenn sie an die Lebhaftigkeit, die Farben und die Atmosphäre dachte, mit der er das Haus erfüllte. Vor allem aber, wenn sie an die tausend ungestümen Liebesakte dachte, mit denen er sie in seiner flammenden Begeisterung beglückt hatte.

In dieser traurigen Verfassung stieg sie die Treppe zum Schlafzimmer empor, jenes Zimmer, das sie mit dem Mann teilte, den sie jetzt als Ausbund der Tugend betrachtete. Welcher andere Ehemann hätte ihre Gefühle und ihre Leidenschaft über so viele Jahre hinweg fesseln können? Welches andere Mitglied dieses unsicheren Berufsstandes machte sich so viele echte Sorgen um seine Frau und seine Kinder? Daß andere Frauen ihn liebten und begehrten, war für sie ein offenes Geheimnis, doch selbst das konnte ein Grund für Stolz sein. Sie war das Ziel intensiven Neides. Wenn professionelle Schönheiten es nicht mal für eine Nacht geschafft hatten, ihn ganz zu besitzen — sie hatte ihn für ein ganzes Leben an sich gefesselt. Daß andere Frauen ihm nachstellten, konnte ihr nur zum Nutzen gereichen.

Als sie jetzt an ihre letzten gemeinsamen Stunden zurückdachte, erkannte sie, wie unfreundlich sie zu ihm gewesen war. Lawrence Firethorn war einzigartig, und es war ihre Aufgabe, diese Einzigartigkeit zu respektieren und zu hegen. Er war gar nicht der gleichgültige Vater, als den sie ihn bezeichnet hatte, weder der eigensüchtige Ehemann noch der zügellose Wüstling. Er war ganz einfach ein großer Mann, der insgesamt gesehen eine bessere Behandlung von ihr verdiente.

Sie saß auf der Bettkante und strich mit zarter Hand über den Mantel, den er so fürsorglich für sie zurückgelassen hatte. Dies war sein zweitbester Mantel, den er in der Titelrolle von »Vincentios Rache« getragen hatte, geradezu getränkt mit den Erinnerungen an diesen Triumph. In dem Bewußtsein, was es ihn gekostet hatte, sich davon zu trennen, hatte sie die ganze Nacht mit dem Mantel über sich geschlafen. Das war das einzig greifbare Erinnerungsstück an ihn.

Außer dem Rubin.

Margery schoß in die Höhe. Sie hatte beschlossen, alles über diesen Ring zu vergessen. Er war ja gerade der Grund für ihren bitteren Wortwechsel gewesen, deshalb hatte sie ihn aus den Augen und aus dem Sinn geschoben. Jetzt bekam der Ring eine ganz neue Bedeutung. Er war ein Liebesbeweis ihres Gatten, eine Bekräftigung und Bestätigung ihrer Ehe zu einem Zeitpunkt, an dem sie unter ganz besonders starkem Druck stand. Sie beschimpfte sich, daß sie so undankbar gewesen war, und lief zu dem Schubfach, in dem sie ihn versteckt hatte. Sie wollte den Ring voller Stolz so lange tragen, bis sie wieder mit ihm vereint war.

Glühend vor Leidenschaft zog sie das Schubfach heraus. Doch der Ring war verschwunden. An seinem Platz lag eine kleine Pergamentrolle. Als sie sie aufrollte, erkannte sie, daß es eine Botschaft ihres Mannes war.

»Lebe wohl, meine geliebte Liebe. Da der Rubin in Shoreditch nicht willkommen ist, werde ich ihn selber in Arkadien tragen.«

Margery Firethom war wie ein schwelendes Feuer. Sie wußte nur zu gut, wo dieses Arkadien lag. Es war der Schauplatz eines Stückes von Edmund Hoode. Anstatt ihren Finger zu zieren, würde er jetzt im »Melancholischen Liebhaber« getragen. Das war beschämend. Das war also die Wertschätzung, die man für sie hegte.

Die Liebe war ihr buchstäblich aus den Fingern gerissen worden.

Ihren Wutschrei konnte man hundert Yards weit vernehmen.

*

Die Sakristei der Pfarrkirche von St. Stephen war selbst bei wärmstem Wetter kühl und feucht, doch Humphrey Budden hatte das Gefühl, sich in einem Glutofen zu befinden. Sein Elend hatte ihn hierher geführt und verstärkte sich von Minute zu Minute. Er hatte eine beschämende Beichte abzulegen. Der einzige Trost war, daß Miles Melhuish sich offenbar ebenso unwohl fühlte wie er selber. Trotz seiner Neigung, sich selbstgefällig und salbungsvoll zu geben, war er jetzt zwischen zurückhaltendem Interesse und zunehmender Besorgnis hin und her gerissen. Er hatte zwar zahlreiche seiner Pfarrkinder getraut und mit weisen Worten in das Land ehelicher Wonnen entlassen, doch hatte er selber niemals gewagt, dieses gelobte Land selbst zu erkunden. Diese Tatsache diente nur dazu, den nervösen Budden noch mehr einzuschüchtern. Wie konnte jemand überhaupt seine schwierige Lage verstehen, vor allem ein rundlicher Junggeselle, dessen Vorstellung von nächtlichen Freuden darin gipfelte, in religiöser Verzückung stundenlang neben seinem Bett zu knien?

Miles Melhuish saß seinem Besucher am Tisch gegenüber und streckte ihm die Hand entgegen. Ein leichter Hauch von Weihrauch erfüllte die Luft. Die Atmosphäre des Religiösen war überwältigend. Ihre Stimmen hallten wie in einer Gruft.

»Sprecht zu mir, Humphrey«, erinnerte ihn der Priester.

»Ich will es versuchen, Sir.«

»Geht es wieder um Eure Frau?«

»Ich fürchte, ja.«

»Weint und jammert sie immer noch?«

»Dem Himmel sei Dank, nein, aber jetzt gibt es etwas noch Schlimmeres.«

»Für wen?«

Humphrey Budden brannte vor lauter Beschämung. Seine Wangen glühten, er fühlte sich, als fahre ihm heißer Dampf aus jeder einzelnen Pore.

»Habt Ihr gebetet?« fragte Melhuish streng.

»Pausenlos.«

»Hat Eleanor mit Euch zusammen gebetet?«

»Das ist die einzige Gelegenheit, bei der ich ihr nahekommen kann.«

»Was sagt Ihr da?«

»Sie hat mich beiseite geschoben.«

»Erklärt Euch etwas genauer.«

Diese Bitte war schwierig zu erfüllen. Der Mann, der die delikate Kunst der Spitzenherstellung erlernt hatte, sah sich jetzt gezwungen, Worte aus sich herauszuhämmern wie ein Steinmetzlehrling. Jeder Schlag des Hammers verursachte ihm Schmerzen im Kopf.

»Eleanor… ist… nicht… meine… Frau.«

»Selbstverständlich ist sie das«, sagte der Pfarrer. »Ich persönlich habe Euch getraut und eine Predigt gehalten, in der ich Euch beiden gesagt habe, wie wichtig es ist, in Wahrheit zu wandeln. Habt Ihr das getan, mein Sohn? Seid Ihr mit Eurer Frau in Wahrheit gewandelt?«

»Ja, Sir… unten… am Fluß.«

»Nun redet endlich klar.«

»Ich… habe… keine… Frau.«

»Was Gott verbunden hat, kann der Mensch nicht trennen.«

»Meine Frau hat es aber getan.«

»Was getan, Mann? Wir reden um die Sache herum.«

Humphrey Budden riß sich zusammen und sprudelte alles hervor.

»Eleanor ist nicht mehr meine Frau, Sir. Weder teilt sie mein Bett mit mir, noch duldet sie meine Umarmungen. Sie sagt, die Stimme Gottes habe zu ihr gesprochen. Die Stimme schickt sie auf eine Pilgerreise ins Heilige Land.«

»Langsam, langsam!« rief Melhuish alarmiert. »Das geht mir viel zu schnell. Alles der Reihe nach. Ihr sagt, sie will nicht mit Euch zu Bett gehen?«

»Nein, Sir. Sie schläft auf dem Fußboden.«

»Allein?«

»Sie läßt mich nicht in ihre Nähe.«

»Habt Ihr ihr dafür einen Grund gegeben, Humphrey?«

»Ich glaube nicht.«

»Habt Ihr sie irgendwie verletzt oder etwas getan, daß sie ihre Gefühle von Euch abwendet?«

Kaum hatte Melhuish diese Frage gestellt, erkannte er auch schon, wie gemein und unangebracht sie war. Humphrey Budden war ein starker Mann, der diese Kraft jedoch niemals gegen eine Frau richten würde. Es konnte keinen Ehemann geben, der ihn an Rücksicht übertroffen hätte. Die Schuld für das, was passiert war, mußte einfach bei seiner Frau liegen.

Der Priester versuchte, das eheliche Schlafzimmer auszuleuchten.

»Ist dieses Problem erst seit kurzem aufgetreten?«

»Als ich Euch bat, zu mir ins Haus zu kommen.«

»Und was geschah davor zwischen Euch?«

»Wir teilten unser Bett in christlicher Glückseligkeit, Sir.«

»Und war Eure Frau früher… entgegenkommend?«

»Aber ganz bestimmt!«

»Hat sie sich nicht von Euch zurückgezogen?«

»Zu Anfang war ich der Schüler. Eleanor mußte mir beibringen, was meine Pflichten waren, und das tat sie mit einer wunderbaren Begeisterung.«

Miles Melhuish wurde rot, als sein inneres Auge eine Vision erblickte. Er sah den nackten Körper einer in Leidenschaft entbrannten Frau im Bett eines seiner Pfarrkinder. Er konnte ihren Duft riechen, spürte ihre Berührung, teilte ihre Lust. Es bereitete ihm sehr viel Mühe, dieses Bild aus seinen Gedanken zu vertreiben.

Mit zusammengebissenen Zähnen stellte er seine nächste Frage.

»Würdet Ihr sagen, Eure Ehe war glücklich?«

»Sehr glücklich, Sir.«

»Und daß sie Euch bereitwillig Unterricht erteilte?«

»Zwei Ehemänner hatten ihr allerhand beigebracht.«

»Also, Ihr und Eure Frau vereinigten Euch… im Fleische?«

»Jede Nacht, Sir.«

»Der Liebesakt ist nur zur Fortpflanzung gedacht«, sagte der Priester mit scharfer Stimme. »Er darf keine Quelle fleischlicher Befriedigung sein.«

»Wir wissen das, Sir, und verhielten uns entsprechend. Es war unser größter Wunsch, daß unsere Vereinigung durch ein Kind gesegnet würde.«

»Ich muß mich wundern, daß Ihr nicht jede Menge Kinder bekommen habt«, murmelte Melhuish mit verhaltener Stimme. »Mit derartig regelmäßigen Aktivitäten könntet Ihr eine ganze Stadt bevölkern!« Er setzte sich aufrecht hin und riß sich zusammen. »Aber das alles gehört jetzt der Vergangenheit an?«

»Genau das sagt sie.«

»Aus welchem Grund?«

»Göttlicher Befehl.«

»Die Frau ist geistig verwirrt.«

»Sie hat den Wunsch, ein Pilger zu werden, Sir.«

»Das arme Wesen! Sie braucht Hilfe.«

»Eleanor wird schon bald aufbrechen.«

»Wohin will sie denn?«

»Nach Jerusalem.«

»Das klingt nach Wahnsinn.«

Humphrey Budden beugte sich vor, um seine Bitte vorzutragen.

»Sprecht Ihr mit ihr, Sir!«

»Ich?«

»Ihr seid unsere einzige Hoffnung. Auf Euch wird Eleanor hören.«

»Glaubt Ihr das wirklich?«

»Sprecht mit ihr!«

Das war ein Schrei aus tiefstem Herzen, den Miles Melhuish nicht ignorieren konnte. Ein Teil von ihm hatte den Wunsch, das ganze Problem von sich abzuschütteln, doch der andere Teil war bereit, die volle Lust auf sich zu nehmen. Wieder erblickte er diese Vision vor seinem inneren Auge. Langes, blondes Haar, runde, vibrierende Pobacken, wundervolle Brüste, seidenglatte Haut, nachgiebige Lippen. Vollkommene Hingabe in ihrer schönsten menschlichen Gestalt.

Die Antwort auf ein Gebet.

»Nun gut«, sagte er. »Ich werde mit ihr sprechen.«

*

Lawrence Firethorn stampfte wie ein wütender Stier. Wenn sein Wutausbruch begann, war niemand in seiner Nähe mehr sicher. Er bot ein fürchterliches Bild.

»Was habt Ihr da gesagt, Nick?« brüllte er.

»Sie wollen uns dort nicht auftreten lassen.«

»Nicht auftreten lassen! In Lord Westfields eigener Grafschaft? Wo der Name unseres Schirmherren jeden Einfluß hat? Und die wollen uns tatsächlich nicht auftreten lassen? Ich werde denen beibringen, was leiden heißt, das schwöre ich Euch!«

»Vor uns war eine andere Theatergruppe dort, Master.«

»Mit unserem Stück! Ohne jede Bedenken gestohlen!«

»Sie wollten ›Liebe und Narretei‹ einfach nicht mehr sehen«, sagte Nicholas. »Sie wollen überhaupt nichts von uns aufgeführt haben. Sie haben sich bereits sattgesehen.«

»Dann werde ich dafür sorgen, daß sie alles wieder ausspeien!« wütete Firethorn. »Bei den Göttern! Ich sorge dafür, daß sich ihnen der Magen umdreht, diesen ungezogenen Wilden, diesen hundsgemeinen, lausigen, heruntergekommenen Sklaventypen, diesen stinkfaulen, undankbaren Primitiven, die stinkenden, verrotteten Kadaver von Leuten, die aus diesem gottvergessenen Loch von einem Dorf hervorkriechen! Haltet mich von ihnen fern, Nick, oder ich schlage sie mit meinem Schwert in tausend Stücke und hänge sie an einen Strick, damit die Krähen sich daran sattfressen können.«

Lawrence Firethorn riß sein Schwert aus der Scheide und hieb auf einen Busch ein, um Dampf abzulassen. Der Rest der Gruppe sah voller Angst zu. Nicholas war eine Meile südlich von Ware mit ihnen zusammengetroffen, um ihnen die schlechten Nachrichten zu überbringen. Wie vorherzusehen gewesen war, hatte der Erste Schauspieler einen Wutanfall bekommen. Als er den Busch in ein armseliges Häufchen Zweige und Blätter verwandelt hatte, fürchteten sie um den Bestand der gesamten Vegetation dieser Gegend. Er war bewaffnet und gefährlich.

Es war Edmund Hoode, der ihn wieder beruhigte.

»Der arme Busch ist nicht der Feind, Lawrence.«

»Bleibt, wo Ihr seid, Sir!«

»Steckt Euer Schwert in die Scheide und hört auf die Vernunft.«

»Vernunft? Wen interessiert denn schon Vernunft?«

»Wir alle sind die Verlierer bei dieser Sache.«

»Allerdings sind wir das«, sagte Barnaby Gill hochnäsig von seinem Sattel herab. »›Liebe und Narretei‹ wäre mein Triumph geworden. Jedesmal, wenn ich den Rigormortis spiele, versetze ich mein Publikum in unbändiges Gelächter.«

»Das liegt nur an diesen komischen Reithosen«, feixte Firethorn.

»Mein Erfolg liegt nicht in meiner Hose.«

»Was wir alle nur bestätigen können!«

Das Gelächter der anderen trug dazu bei, die Spannung zu mildern. Gill stotterte ohnmächtig vor sich hin, riß sein Pferd herum und ritt davon. Hoode nahm Firethorns Schwert und schob es wieder in die Scheide.

Nicholas Bracewell nannte das Problem beim Namen.

»Wie konnten sie nur an das Stück kommen?«

»Es ist Euch heimlich gestohlen worden«, sagte Firethorn.

»Das ist unmöglich, Master. Die Textbücher all unserer Stücke befinden sich abgeschlossen in einer Kiste, die ich vor jedermann gut verstecke. Niemand darf sich ihr nähern, am allerwenigsten unsere Rivalen. ›Liebe und Narretei‹ ist nicht gestohlen worden.«

»Sie haben es auf irgendeine Weise bekommen«, sagte Hoode grimmig. »Und wenn das bei einem Stück passieren kann, dann kann es auch bei anderen Stücken passieren. Wer kann mir die Sicherheit meiner eigenen Stücke garantieren?«

»Darauf gibt es nur eine Antwort«, sagte Nicholas.

»Rache!« verkündete Firethorn.

»Erst, wenn wir die Wahrheit herausgefunden haben, Master.«

»Die Wahrheit kennen wir bereits, Nick. Das ist das Werk von Banbury's Men, diesem Verein widerlicher Tausendfüßler, die sich eine Theatergruppe nennen. Die denken, sie hätten unsere Kanonen verstopft, doch wir werden ihnen eine solche Breitseite verpassen, daß es sie zurück nach London schleudert.«

»Aber wie konnte es überhaupt passieren?« fragte Nicholas.

»Richtig, das ist eine gute Frage«, stimmte Hoode zu.

»Für mich nicht«, rief Firethorn und nahm mit zum Himmel gereckter Faust eine heroische Pose ein. »Nur eines hilft uns hier - schnelle und blutige Rache.

Wenn diese livrierten Läuse, die dem Earl von Banbury gehören, glauben, sie könnten sich mit Westfield's Men anlegen, dann bitte! Die Folgen haben sie sich selbst zuzuschreiben.«

Mehrere Minuten lang zeterte er stilvoll weiter. Banbury's Men waren ihre Erzrivalen, eine talentierte Gruppe, die sich anstrengte, es ihnen gleichzutun, aber immer wieder scheiterte. Unter der Führung des fähigen Giles Randolph hatten sie alles versucht, um den Ruf von Westfield's Men zu ruinieren, es jedoch niemals richtig geschafft. In London hätten sie so etwas niemals gewagt, doch die Anonymität der Provinz bot ihnen einen Schild, hinter dem sie sich verstecken konnten. Banbury's Men hatten den ersten schweren Schlag ausgeteilt.

Es war Firethorns erklärte Absicht, den letzten Schlag zu führen.

»Wir müssen ihnen mit größtem Tempo auf den Fersen bleiben, Gentlemen. Sie dürfen keine Sekunde Ruhe finden. Banbury's Men haben bewiesen, wie tief sie in den Morast des Eigennutzes versinken können. In unserem Beruf können solch ehrlose Typen nicht geduldet werden. Wir müssen sie ein für allemal vernichten.« Das Schwert fuhr schon wieder aus der Scheide und zischte durch die Luft. »Auf in den Kampf, meine Männer! Laßt uns um unser Leben und um unseren guten Namen kämpfen!«

Mit geübter Hand jagte er sein Schwert ein kleines Stück in den Boden, so daß die Waffe mit bedeutungsschwerer Geste hin und her wippte. Sie standen noch da und starrten die zitternde Waffe an, als er seine letzten, entscheidenden Worte ausstieß.

»Gentlemen - dies ist Krieg!«

*

Giles Randolph lehnte sich in seinem hölzernen Sessel in einer Ecke des Schankraums zurück und spielte mit seinem Weinglas. Er war groß, schlank und dunkel und machte einen mediterranen Eindruck, der ihn von anderen Männern unterschied und für den weiblichen Teil des Publikums unwiderstehlich machte. Irgendwie hatte er etwas Satanisches an sich, das erregte. Randolph war der anerkannte Star der Gruppe Banbury's Men, ein fähiger Geschäftsmann und ein hervorragender Schauspieler. Fest im Bann der typischen Eitelkeit seines Berufes, konnte er es einfach nicht akzeptieren, daß irgend jemand stolzer als er über eine Bühne schritt oder jemand das Letzte aus einer Rolle überzeugender als er herausholen konnte. Seine Fehde mit Lawrence Firethorn ging deshalb wesentlich tiefer als simple berufliche Rivalität. Es war eine Vendetta, die noch zusätzlich dadurch eingeheizt und vertieft wurde, daß der Earl of Banbury und Lord Westfield verbissene Feinde waren. Durch die Vernichtung seines Rivalen konnte Giles Randolph sich bei seinem Schirmherrn beliebt machen.

Zufrieden lächelte er seinem Begleiter zu.

»Wir sind gut vorwärts gekommen.«

»Banbury's Men liegen in jeder Beziehung vorne.«

»Und das muß auch so bleiben. Ich kann diese erschöpfenden Tourneen nicht ausstehen, aber zumindest können wir ein bißchen Spaß für unsere Mühe haben.«

»Inzwischen dürften sie Ware erreicht haben.«

»Und dort auf kalte Ablehnung gestoßen sein.«

Randolph nahm einen Schluck Wein und spielte weiter mit dem Glas. Wie es einem führenden Schauspieler zustand, war er entsprechend protzig ausstaffiert, mit einem Wams aus blauem Satin mit feinster Goldstickerei auf der Vorderseite und einer grünen Hose. Sein Hut war bis dicht über das eine Auge gezogen, was ihm einen verschwörerischen Anstrich verlieh, und die Straußenfeder zitterte, wenn er sprach.

»Firethorn muß bis in Mark getroffen sein.«

»Wir haben jetzt schon genug Blut vergossen.«

»Ich möchte ihm die Glieder einzeln abhacken«, sagte Randolph mit plötzlicher Wut. »Ich will, daß seine Eingeweide über die ganze Bühne fliegen. Wenn er es wagt, gegen meine Macht anzutreten, werde ich ihn ein für allemal fertigmachen.«

»Auf welche Weise?«

»Indem ich ihn in seinem Stolz treffe.«

»Ich wette, der schmerzt bereits in Ware ganz schön.«

»Wartet, bis er Grantham erreicht. Ich spiele ihm einen Streich, der ihn wünschen lassen wird, er wäre zu Hause in Shoreditch bei seiner keifenden Alten geblieben.« Er stellte sein Glas zurück. »Nun, Sir, welches ist seine beste Rolle?«

»Vincentio?« riet der andere.

»Ein billiges Stück, das nur drei mäßige Reden enthält.«

»Dann ist es Hektor. Master Firethorn brüstet sich immerzu mit seiner überragenden Tüchtigkeit in ›Hektor von Troja‹. Die Rolle paßt zu ihm.«

»In diesem Jahre hat er sie noch nicht gespielt.«

»Dann müssen wir an seine Lieblingsrolle ran.«

»Und das wäre? Ihr kennt ihn doch.«

»Pompeius!«

»Genau der!«

»Das Stück wurde immer und immer wieder aufgeführt.«

»Es stammt von Edmund Hoode, glaube ich.«

»Ja, Sir. Es heißt ›Pompeius der Große‹.«

»Dann werden ich dem Stück den Stempel meiner Größe aufdrücken.«

»Wir führen es in Grantham auf.«

»Hervorragend, Sir. Lawrence Firethorns guter Ruf wird unter ihm zu Staub zerfallen. Ich mache die Rolle zu meiner eigenen und werde Westfield's Men in den Morast stoßen. Diese Tournee wird mich voll und ganz entschädigen.«

Giles Randolph ließ mehr Wein auftischen.

Er schmeckte süßer als je zuvor.

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