8. KAPITEL

Die Bürger von Nottingham versammelten sich in großer Zahl in der Stadthalle. Bürger aller Schichten strömten herbei, um einen der legendären Helden der englischen Geschichte in Aktion zu sehen. »Robin Hood und seine Lustigen Gesellen« war etwas anderes als das übliche Angebot von Westfield's Men. Klassische Tragödien, häusliche Komödien und rustikale Farcen waren ihr Schwerpunkt. Sobald sie sich aber der glorreichen Historie widmeten, kamen ergreifende Dramen über Könige und Königinnen und gewaltige Schlachten zur Verteidigung der Krone zutage. Militärisches Heldentum und Kriege in fremden Ländern fanden jederzeit ihr Publikum. Robin Hood lebte mehr im Gedächtnis des Volkes als durch historische Fakten, doch die Gruppe brachte mehr als die übliche Mischung aus Abenteuer und Romantik im Sherwood Forest. Sie gaben der Geschichte eine tiefere Bedeutung und berührten Themen wie Loyalität, Patriotismus und seelische Ergriffenheit. In ihrer Darstellung von Prinz John lenkten sie die Aufmerksamkeit auf den Unsinn der Selbstverherrlichung.

In der dicht besetzten Stadthalle war das Publikum vom ersten bis zum letzten Wort vollständig verzaubert. Lawrence Firethom war der überzeugendste Robin Hood, den sie jemals gesehen hatten. Er war edel, furchtlos und König Richard treu ergeben. In den Kampfszenen war er gewaltig, doch sanft und zärtlich, sobald er mit seiner Jungfer Marion allein war, und sein Liebeswerben entzückte jede Frau im Publikum. Lieder und Schwertkämpfe sorgten immer wieder für Tempo und Leben, Nicholas Bracewell hatte für ein paar raffinierte Tricks mit Pfeil und Bogen gesorgt. Immer wieder gab es Tanzeinlagen; die humorige Brillanz Barnaby Gills erreichte ihren Höhepunkt, als Bruder Tuck die Röcke raffte und barfuß über die Bühne tanzte.

Anne Hendrik saß neben Susan Becket auf einer Bank und fiel in den Applaus ein. Sie hatte Westfield's Men auf der Höhe ihrer Kunst in London gesehen und spürte, daß diese Aufführung ein solches Niveau nicht ganz erreichte, doch es war immer noch eine sehr ordentliche Aufführung. Die Leute aus Nottingham hatten das Gefühl, ein Meisterwerk genossen zu haben. Sie erhoben sich von den Plätzen, klatschten und riefen, so laut sie nur konnten. Lawrence Firethorn führte sein Ensemble mehrmals auf die Bühne, um den Applaus mit tiefen Verbeugungen entgegenzunehmen. Selbst George Dart hatte seine Freude daran und brachte ein schwaches Lächeln zustande; jetzt sah er aus, als gehöre er wirklich zu den »Lustigen Gesellen«. Nach all den Rückschlägen standen sie wieder dort, wo ihr Platz war — ein begeisterndes Gefühl.

Das war echtes Theater.

Nicholas Bracewell war nicht so zufrieden wie die meisten. Für sein Gefühl hatte die Aufführung zu viele rauhe Ecken und Kanten, er hatte eine Reihe kleinerer Fehler entdeckt, die ihn irritierten. Obwohl die Stadthalle eine wesentliche Verbesserung darstellte, im Vergleich zu anderen Orten, an denen sie gespielt hatten, war sie in ihren Möglichkeiten meilenweit von den Londoner Theatern entfernt und in jeder Beziehung ein Rückschritt. Der Hauptgrund für Nicholas' Unzufriedenheit war das Fehlen von Richard Honeydew. Obwohl die Rolle des Jungen von jemand anderem übernommen wurde, der sie angemessen ausfüllte, erinnerte ihn genau diese Tatsache daran, wie wichtig es war, den Jungen so schnell wie möglich aufzuspüren. Die Gruppe konnte ohne ihren jugendlichen Star einfach nicht ihr Bestes geben; Nicholas fühlte, daß er es dem Jungen schuldig war, sich sofort und erneut auf die Suche nach ihm zu begeben.

»Wohin willst du?« fragte Anne.

»Ich bin hinter Banbury's Men her.«

»Weißt du denn, wo die sich aufhalten?«

»Ich werde sie schon irgendwie aufspüren.«

»Ganz allein?«

»Allein komme ich schneller vorwärts«, sagte Nicholas. »Außerdem kann Master Firethorn auf niemand verzichten, um mir einen Begleiter zu geben. Jede Hand wird hier gebraucht. Vor der Aufführung von ›Robin Hood‹ wollte er mich nicht gehen lassen.«

»Ohne dich hätte es überhaupt keine Aufführung gegeben.«

»Auch trotz meiner Anwesenheit war sie nicht gerade eine Glanzleistung.«

»Das Publikum war begeistert.«

»Die Ansprüche der Leute hier sind nicht hoch, Anne.«

»Sei doch nicht zu streng mit der Gruppe.«

Die beiden spazierten durch die engen Straßen zum Saracen's Head, ihrem Gasthaus, zurück. Nachdem der Regisseur alle erforderlichen Arbeiten in der Stadthalle organisiert hatte, fand er etwas Zeit mit Anne allein, bevor er sich wieder auf die Suche nach Richard Honeydew machte. Er erwähnte die paar handfesten Fakten, die er kannte.

»Master Quilley hat mir ziemlich geholfen.«

»Der Künstler?«

»Ja«, sagte Nicholas. »Er ist zuvor in Leicester gewesen und hat Banbury's Men in der Stadt gesehen. Anstatt auf der Great North Road zu bleiben und rauf nach Doncaster zu ziehen, müssen sie Grantham verlassen und nach Südwesten gezogen sein.«

»Warum nach Leicester?«

»Vielleicht sind wir der Grund dafür, Anne.«

»Westfield's Men?«

»Vielleicht haben sie gedacht, wir würden uns beeilen und versuchen, sie einzuholen, um sie zur Rede zu stellen, und deshalb wollten sie uns abschütteln, indem sie ihre Reiseroute änderten. Aber es gibt noch einen wichtigeren Grund dafür. Leicester ist für jede Theatergruppe ein sicheres Pflaster. Master Quilley hat mir erzählt, daß Banbury's Men drei Aufführungen dort hatten und eine in Ashby-de-la-Zouche.«

»Und dann in Nottingham mit ›Pompeius der Große‹.«

»Das hat Master Firethorn schwer getroffen.«

»Seine Eitelkeit war verletzt.«

»Das geht ja besonders schnell.«

Sie mußten beide lachen und blieben vor dem Haupteingang zum Saracen's Head stehen. Es war wunderschön gewesen, ihn so unerwartet wiederzusehen, aber Anne wußte auch, daß sie sich nun wieder trennen mußten, und das ohne die Freuden eines langen und zärtlichen Abschieds. Sie küßte ihn auf die Wange und drückte ihn ein paar Augenblicke fest an sich.

»Sei bitte vorsichtig, Nick.«

»Das bin ich.«

»Komm gesund nach Hause.«

»Mit Gottes Hilfe bringe ich Dick Honeydew mit zurück.«

»Wo kann er nur sein?«

»Er wartet, Anne.«

»Worauf?«

»Auf seine Befreiung.«

*

Der Schuppen war klein, finster und stickig. Ein unangenehmer Geruch von verrottenden Pflanzen lag in der Luft. Durch die Spalten der Holzwände konnte man gerade erkennen, daß es draußen hell war. Ansonsten hatte er keine Ahnung, welche Tageszeit es war. Als die Schatten länger wurden und die Dämmerung in sein kleines Gefängnis zurückkehrte, beschloß Richard Honeydew, größere Anstrengungen zu seiner Befreiung zu unternehmen. Was ihn bei seiner Entführung am meisten beunruhigte, war die Tatsache, daß er immer noch nicht wußte, wer eigentlich dafür verantwortlich war. Als man ihn im Smith and Anvil kidnappte, war er an Händen und Füßen gefesselt worden und bekam einen Sack über den Kopf. Beim ersten Teil einer unbeschreiblich mühseligen Reise hatte man ihn quer auf ein Pferd gebunden und über ein Gelände geschleppt, das sich sehr hügelig anfühlte. Geschunden und atemlos, wurde er schließlich losgebunden und eingesperrt.

Sie verköstigten ihn einigermaßen gut, ließen ihm aber keine Bewegungsfreiheit. Er war immer noch gefesselt, und wenn einer zu ihm kam, wurden ihm die Augen verbunden. Gelegentliche Gänge, um sein Geschäft zu machen, führten nur zu weiteren Peinlichkeiten, denn man behielt ihn stets unter genauer Beobachtung. Sie wußten alles über ihn, aber er wußte nichts über sie. Außer daß sie ihm bisher nichts getan oder ihn bedroht hatten. Der Schuppen war sein drittes Gefängnis bisher, er war entschlossen, daß es auch das letzte sein sollte.

Einzelhaft war Folter.

Der Junge stand von seinem Schemel auf und hüpfte über den Boden; seine Fußgelenke waren fest verschnürt. In einer Ecke stand eine Holzkiste. Er beugte sich vor, um einen Haufen Rhabarberblätter herunterzufegen. Seine Handgelenke waren ebenfalls gefesselt, aber mit den Fingern konnte er die Kiste in die Mitte des Schuppens zerren, direkt unter den Mittelbalken. Über seinem Kopf saß ein großer, rostiger Haken in dem Balken, der als Keil in das Holz eingeschlagen worden war. Seine zackige Kante war seine einzige Hoffnung auf Rettung.

Als erstes mußte er diesen Haken erreichen, und das hieß, daß er auf die Kiste springen mußte. Das war wesentlich schwieriger, als er sich das vorgestellt hatte.

Er brauchte nur ungefähr einen halben Meter hochzuspringen, ein Kinderspiel für jemanden seines Alters, der auch noch gut tanzen kann. Doch seine ermüdende Gefangenschaft hatte ihn an Leib und Seele erschöpft, und die Fesseln hatten zu Krämpfen in Händen und Füßen geführt. Der erste Sprung war entschieden zu niedrig, der zweite auch nicht besser. Er riß sich zusammen, um sich zu konzentrieren, sprang hoch, erwischte aber nur die Kante der Kiste. Sie kippte um, er flog hart gegen die Wand des Schuppens, schlug sich den Kopf an dem groben Holz auf und spürte, wie das Blut durch seine Haare sickerte.

Richard Honeydew weigerte sich aufzugeben. Er biß die Zähne zusammen und versuchte es erneut. Er schüttelte sich am ganzen Körper wie ein nasser Hund, der aus dem Wasser kommt, hockte sich auf die Knie und stellte die Kiste in die richtige Position, dann stützte er sich darauf und kam auf die eigenen Füße. Diesmal absolvierte er ein paar Übungssprünge, bevor er den nächsten Versuch machte. Als er glaubte, daß es klappen würde, stellte er sich neben die Kiste, beugte die Knie, katapultierte sich hoch und brachte die Füße im richtigen Moment auf die Kiste. Sie wackelte wild hin und her, aber irgendwie behielt er das Gleichgewicht. Doch sein Triumph verwandelte sich in eine Enttäuschung. Selbst auf Zehenspitzen und mit ausgestreckten Armen war er immer noch ungefähr zwanzig Zentimeter von dem Haken entfernt.

Jetzt mußte er einen weiteren komplizierten Sprung machen. Falls er den Haken verpaßte, würde er noch härter zu Boden stürzen als vorher. Falls er mit der Hand eine falsche Bewegung machte, konnte er sich auf dem rostigen Haken aufspießen. Sein erster Gedanke war, die ganze Sache vollständig aufzugeben, doch dann dachte er an das Elend seiner Gefangenschaft und an die Schmerzen der Einsamkeit, weil er von seinen Freunden in der Theatergruppe getrennt war. Nicholas Bracewell würde niemals aufgeben in einer solchen Lage, und er durfte das auch nicht. Er mußte das Risiko auf sich nehmen. Er berechnete jede Bewegung ganz genau, dann sammelte er seine Kräfte für den Sprung.

Mehrere Minuten sorgfältiger Vorbereitung zerbarsten in dem Bruchteil einer Sekunde, als er die Knie beugte und hochsprang. Seine Hände kamen an dem Haken vorbei, die Handgelenke zuckten vor - und schon hing er frei in der Luft, mit dem ganzen Gewicht an den Handfesseln. Stechende Schmerzen zuckten durch seine Arme und Schultern, in seinem Kopf hämmerte es unerträglich. Er konnte kaum richtig atmen. Tief schnitten die Stricke in seine Handgelenke, an denen die Adern dick hervortraten. Die Schmerzen waren unerträglich; um ihn zu retten, mußte schon ein Wunder geschehen.

Doch er durfte keine Zeit verlieren. Je länger er an dem Haken hing, desto gefährlicher wurde es für ihn. Er sammelte seine letzten Kräfte und begann, mit den Beinen hin und her zu schwingen, langsam zunächst, doch dann mit mehr Schwung und in vollem Tempo. Die Schmerzen steigerten sich. Sein schlanker Körper troff von Schweiß, während er in der widerlichen Hütte in der Luft hing, die Stricke schienen seine Handgelenke abschneiden zu wollen. Die ersten Blutstropfen, die ihm ins Gesicht fielen, versetzten ihn in Panik, doch seine Qualen waren schon bald zu Ende. Die Reibung brachte Ergebnisse. Während die Stricke hart über die rostige Kante des Hakens rieben, wurden die einzelnen Fäden nach und nach durchgewetzt. In derselben Sekunde, in der er fast in Ohnmacht gefallen wäre, kam das Ende der letzten Faser. Sein Gewicht erledigte den Rest.

Richard Honeydew fiel von dem Haken herunter, warf die Kiste um und knallte zu Boden. Mehrere Minuten lang konnte er sich vor lauter Erschöpfung nicht bewegen, doch er lächelte triumphierend. Sein Plan war gelungen. Mit neuen Kräften setzte er sich aufrecht, band seine Füße los und bewegte Beine und Füße. Beide Handgelenke waren dick voll Blut, aber das machte ihm nichts. Er war frei. Die Tür war das letzte Hindernis. Sie war von außen verriegelt und rührte sich nicht, als er sich dagegenwarf, doch er benutzte List statt Stärke. Er schlug seinen Hocker so lange auf den Boden, bis eines der drei Beine abbrach, und das benutzte er jetzt als Hebel an der Tür. Er konnte einen Bretterspalt so erweitern, daß er mit seinem dünnen Arm durchgreifen und den Riegel von außen zurückschieben konnte.

Die Tür der Hütte schwang auf. Es war spät am Abend, er konnte nur ein paar undeutliche Schatten in der Dunkelheit erkennen. Der Duft von nachtblühenden Blumen stieg ihm in die Nase und erfrischte und erfreute ihn. Leichter Wind trocknete seinen schweißnassen Körper. Die Schmerzen fielen von ihm ab, seine Lebensgeister kehrten zurück.

Er hatte keine Ahnung, wo er sich befand, er wußte nur, daß er von hier verschwinden mußte. Er setzte sich in Bewegung und lief über unebenen Boden auf ein großes Gebäude zu, das an einem Ende eines Feldes stand. Weit kam er nicht. Schon nach wenigen Schritten wurde ihm der Weg von einer großen Gestalt versperrt, die ihm so energisch entgegentrat, daß der Junge in sie hineinrannte und rückwärts zu Boden fiel. Völlig verwirrt blickte er hoch in ein Gesicht, das vom Halbmond ein wenig beleuchtet wurde.

»Du bleibst schön hier, Bursche«, sagte der Mann.

Richard Honeydew fiel vor lauter Entsetzen in Ohnmacht.

*

York war ohne Zweifel eine schöne Stadt. Es lag inmitten des Waldes von Galtres, umgeben von drei Meilen langen, weißen, steinernen Befestigungen, die von vier Ausfalltoren durchbrochen waren. Die Römer hatten diese Stadt an der Mündung von Fosse und Ouse gegründet, wodurch sie einen wichtigen Zugang zum Meer an der Ostküste hatten. Schiffsladungen von Fellen, Wolle und anderen Gütern segelten flußabwärts zum Haupthandelshafen Hull, wo zur Weiterreise auf das Festland umgeladen wurde. Auf der Rückreise waren die Laderäume randvoll gefüllt mit Seife, Seide, Farben, Parfüm, exotischen Gewürzen und edlen Weinen. York war eine aufstrebende Stadt. Sie ließ sich vielleicht von London noch an Größe übertreffen, aber gewiß nicht an Würde.

Die Straßen waren eng, gepflastert und von Giebelhäusern überschattet. Stinkende Mittelgossen trugen mit ihren Gerüchen zur außergewöhnlichen Atmosphäre der Stadt bei. York vibrierte geradezu vor Leben.

Robort Rawlins verließ seine Wohnung in der Trinity Lane und ging durch die wimmelnden Straßen zum Trip to Jerusalem. Er betrat den Schankraum, in dem Lambert Pym seine Bediensteten mit scharfen Befehlen herumscheuchte. Der Wirt erkannte ihn und lächelte.

»Guten Tag auch, Master Rawlins.«

»Auch Euch einen guten Tag, Sir.«

»Wir haben arbeitsreiche Tage vor uns, fürchte ich.«

»So scheint es.«

»Pfingsten steht vor der Tür, und der Markt wird zusätzlich Kunden bringen. Wir müssen mehr Bier brauen und haben mehr hungrige Mäuler zu füttern. Alles muß sorgfältig vorbereitet sein.«

»Wann sollen die Schauspieler eintreffen?«

»Genau zur selben Zeit«, sagte Pym und kratzte sich am Bart. »Hier im Jerusalem wird es uns überrollen. Sämtliche Gästezimmer sind zum Bersten belegt, der Hof muß als Schauspielhalle herhalten.«

»Ich mache mir nichts aus Dramen«, sagte Rawlins kühl.

»Sir Clarence Marmion ist regelmäßig dabei.«

»Wenn es ihm gefällt.«

»Werdet Ihr länger hier in York bleiben, Sir?«

»Das weiß ich noch nicht, Master Pym.«

»Bis Ihr Eure Geschäfte erledigt habt?«

»Wir werden sehen.«

Ohne irgend etwas durchblicken zu lassen, öffnete Rawlins die Tür zur Treppe, und schon bald ließ er sich in einem Sessel in dem Privatzimmer im Obergeschoß nieder. Aus den Falten seines Mantels zog er ein kleines, schwarzes Buch hervor und begann, ernsthaft darin zu lesen. Er war so in seine Lektüre versunken, daß es minutenlang dauerte, bis er die vertrauten Schritte auf der Treppe wahrnahm. Sir Clarence kam mit solchem Tempo ins Zimmer gerannt, daß Rawlins zusammenzuckte und auf die Füße sprang.

Sir Clarence winkte einen fröhlichen Gruß.

»Endlich bringe ich einmal gute Nachrichten, Sir.«

»Ist die Königin tot?«

»Das wäre zu viel der Hoffnung«, sagte Sir Clarence und zog einen Brief aus der Tasche. »Aber wir haben andere Gründe zur Freude. Unsere Freunde sind nicht untätig gewesen.«

»Es ist tröstlich, das zu hören.«

»Walsingham sitzt wie eine dicke Spinne in ihrem Netz in London und wartet, daß er uns alle erwischt. Aber wir haben unser eigenes Agentennetz, das uns beschützt. Sie haben den Informanten ausgeliefert.«

Rawlins nahm den Brief, den Sir Clarence ihm reichte.

»Das ist also der Mann, der Master Rickwood verriet?«

»Und Master Pomeroy«, sagte Sir Clarence. »Ich wußte, daß die Spur ihn irgendwann hierher führen würde. Wir sind vorbereitet. Der wird keinen Marmion mehr in die Hände eines Ministers Walsingham liefern.«

»Vorgewarnt heißt vorbereitet.«

»Gott schickt den widerlichen Kerl hierher.«

»Reist er allein?«

»Nein, er kommt mit einer Theatergruppe aus London. Sie ist ihm ein willkommener Schutz für seine Zwecke, aber er wird sich hier nicht dahinter verstecken können. Die Reise dieses Mannes endet in York. Ein für allemal.«

*

Kynaston Hall konnte bestätigen, daß Banbury's Men dort eine Aufführung des Stückes »Der Renegat« gegeben hatten, aber niemand im Haus wußte, was das nächste Ziel der Gruppe war. Nicholas Bracewell bedankte sich für die Auskunft und lenkte seinen haselnußbraunen Hengst, den er sich von Lawrence Firethorn ausgeliehen hatte, genau nach Norden. Das Tier hatte Freude am Rennen und konnte sich austoben. Nicholas hielt in jedem Dorf, in jedem Flecken und an jedem Haus an der Straße und erkundigte sich nach dem Ziel seiner Suche, doch er bekam nur wenig hilfreiche Informationen. Welchen Weg Banbury's Men auch immer eingeschlagen haben mochten, sie schienen ihre Spuren sehr gut verwischen zu können. Es war sehr frustrierend.

Irgendwann wandte sich sein Glück zum Besseren. Er stieß auf einen alten Hirten, der mit seinen Hunden im Schatten eines Baumes saß und einen Apfel verzehrte. Obwohl er niemals ins Theater ging, konnte der alte Schäfer eine Theatergruppe erkennen, wenn er sie vor sich sah. Seine dürren Finger deuteten auf einen rumpeligen Feldweg.

»Sie sind da lang gegangen, Master.«

»Seid Ihr sicher, mein Freund?«

»Ich sitze hier jeden Tag, sie sind an mir vorbeigezogen.«

»Wie viele waren es denn?«

»Oh, ich weiß nicht. Zwölf oder fünfzehn vielleicht.«

»Zu Pferde oder zu Fuß?«

»Beides, Sir. Sie hatten ein paar Pferde und ein Fuhrwerk, das hoch mit Kisten und Körben beladen war. Die meisten gingen hinter dem Wagen zu Fuß.«

»Könnt Ihr sicher sein, daß es Schauspieler waren?«

»Schäfer waren sie jedenfalls nicht, soviel weiß ich«, sagte der alte Mann mit gackerndem Lachen. »Dafür waren ihre Kleider zu bunt, und sie machten auch zu viel Krach. Meine Schafe würden vor mir weglaufen, wenn ich hier solchen Krach machte.«

»Wie weit waren sie von Euch entfernt, als Ihr sie saht?«

»Nicht mehr als etwa dreißig Meter.«

Der Schäfer hatte sich nicht getäuscht. Banbury's Men waren offensichtlich hier vorbeigezogen, er hatte das korrekt bemerkt. Nicholas drückte ihm eine Münze in die rauhe Hand und stieg wieder auf sein Pferd. Mittlerweile war es Abend geworden, die Gruppe würde bestimmt vor Anbruch der Nacht eine Unterkunft suchen. Er gab dem Pferd die Sporen und galoppierte los. Fünf Meilen später hatte er sie gefunden.

Sie kampierten am Straßenrand und zündeten ein Feuer an. Da die Nacht klar und trocken war, wollten sie sie offensichtlich unter freiem Himmel verbringen. Nicholas näherte sich mit aller Vorsicht, das Erlebnis mit den Zigeunern steckte ihm noch in den Knochen. Er legte keinen Wert darauf, daß sich die ganze Gruppe auf ihn stürzte. Nachdem er sein Pferd hinter ein paar Büschen angebunden hatte, schlich er zu Fuß weiter, während die typischen Scherze der Schauspieler die Abendluft erfüllten. Er hatte Banbury's Men also endlich erwischt. Jetzt brauchte er nur noch herauszufinden, ob sie Richard Honeydew bei sich hatten oder nicht.

Er kroch vorsichtig näher und konnte erstmals einen guten Blick auf das Lager werfen. Sein Herz krampfte sich zusammen. Vor sich hatte er ungefähr ein Dutzend Leute, wie der Schäfer berichtet hatte, und sie trugen auch die grellbunten Kleider von wandernden Schauspielern, aber das war keine Londoner Theatergruppe auf Tournee. Ihre Kleider waren Lumpen, die Pferde abgewrackte Klepper. Was da über ihrem Feuer röstete, war bestimmt nicht bezahlt worden, denn sie waren ganz eindeutig vollkommen abgebrannt. Hagere Gesichter kauten an ihrem Essen, magere Leiber lagerten nahe beim Feuer. Sie waren zwar Schauspieler, aber von anderer Art und Sorte als Banbury's Men. Die hatten nie in ihrem Leben in einem richtigen Theater gespielt oder an den Fleischtöpfen der Hauptstadt gegessen. Ohne einen adligen Schirmherren waren sie nichts Besseres als Banditen und konnten wegen Landstreicherei verhaftet werden. Sie kratzten ihren mageren Lebensunterhalt zusammen, indem sie wie die Zigeuner immer unterwegs waren.

Es war ein ernüchternder Gedanke, sich vorzustellen, wie weit ihre Welt von der einer Londoner Theatergesellschaft entfernt war, und Nicholas verspürte Gewissensbisse, als er daran dachte, daß Westfield's Men diesen Leuten das Publikum weggenommen hatte. Dann rief er sich den Grund seiner Reise ins Gedächtnis zurück und schob solche Gedanken beiseite. Aufrechten Ganges marschierte er in das Lager, stellte sich vor als Schauspieler wie sie und wurde freundlich empfangen. Das änderte sich ein wenig, als er nach Banhury's Men fragte, die man als räuberisches Volk aus London betrachtete, das in ihren Landstrichen wilderte. Sie waren zornig auf diese Gruppe, hatten aber keine Ahnung, wo sie sich zur Zeit befand. Nicholas bedankte sich und zog weiter.

Dunkelheit senkte sich herab, es wurde Zeit, daß er ein Bett für die Nacht fand. Ein paar Meilen zurück war er an einem kleinen Gasthof vorbeigekommen, jetzt ritt er dorthin zurück, während seine Gedanken fieberhaft mit der Frage kämpften, wo Banbury's Men wohl sein könnten. Seine Sorge um Richard Honeydew steigerte sich immer mehr. Tief in solche Gedanken versunken, ließ er seine Wachsamkeit außer Acht.

»Stehenbleiben, Sir!«

»Prima Pferd habt Ihr da.«

»Wir werden uns mal sein Gebiß ansehen.«

Drei Männer traten aus dem Wald und kamen langsam und mit freundlichem Lächeln auf ihn zu. Nicholas ließ sich nicht zum Narren halten. Jeder der drei hatte ein Schwert in der Hand. Sie hatten ihn auf einem einsamen Stück Weg erwischt, das zwischen den Bäumen verlief. Nicholas wußte, daß sie niemals so dicht an ihn herankommen würden, wenn nicht jemand in seinem Rücken wäre. In der letzten Sekunde riß er sein Pferd herum. Ein vierter Mann rannte mit einer Keule leise auf ihn zu, um ihn von hinten zu erschlagen, während er vorne abgelenkt wurde.

Nicholas landete seinen Tritt, bevor die Keule niederfuhr, und ließ den Mann zurückprallen. Als er erneut heranstürmte, spürte er, wie ein Schwert sauber durch seine Schulter fuhr, und brüllte vor Schmerzen auf. Seine Komplizen rannten herbei, um Rache zu üben, doch sie hatten sich das falsche Opfer ausgesucht. Als der erste sein Schwert sausen ließ, antwortete Nicholas' Rapier mit einem so heftigen Schlag, daß dem Mann das Schwert aus der Hand flog. Wie der Blitz war der Regisseur aus dem Sattel, zog dabei seinen Dolch und wartete auf die beiden Bewaffneten, die jetzt auf ihn zukamen. Sie schlugen und stießen mit ihren Schwertern, kamen aber überhaupt nicht an ihn heran. Der dritte, dem es nicht gelang, an sein am Boden liegendes Schwert zu kommen, zog einen Dolch hervor und hob den Arm, um ihn zu werfen, aber er war bei weitem zu langsam. Nicholas' eigener Dolch zischte durch die Luft und bohrte sich in das Handgelenk des Mannes, der seine eigene Waffe mit einem Aufschrei fallen ließ.

Die anderen hatten bereits genug. Jetzt, da ihre Chancen nicht so eindeutig auf ihrer Seite lagen, sammelten sie ihre beiden niedergemachten Kumpane ein und humpelten davon. Nicholas jagte hinterher und lüftete dem einen ein wenig das Wams. Drei von ihnen schafften es in ihre eigenen Sättel, aber der Keulenmann war zu schwer verwundet, um reiten zu können, und mußte von einem seiner Freunde aufs Pferd genommen werden. Laut fluchend verdrückten sie sich in größter Hast in den Wald.

Nicholas ging zu dem Pferd, das sie zurückgelassen hatten, und klopfte ihm den Hals. Das Pferd war viel zu gut für normale Straßenräuber und war ganz eindeutig gestohlen worden. In dem schwächer werdenden Licht konnte er gerade noch das goldverzierte Monogramm auf den Satteltaschen erkennen - O. Q. Als er in den Taschen wühlte, fand er ein paar Lebensmittel und Kleidungsstücke. Was ihn jedoch wirklich interessierte, war ein gefaltetes Stück Pergament, das tief unten in einer der Satteltaschen steckte. Es war eine Liste von Namen und Adressen, in lesbarer Schrift geschrieben. Zwei der Namen waren abgehakt, sie sprangen Nicholas geradezu in die Augen.

Anthony Rickwood und Neville Pomeroy.

Ein dritter Name war mit einem Fragezeichen versehen.

Sir Clarence Marmion.

Die Initialen auf den Satteltaschen waren für Nicholas der Beweis, daß er Oliver Quilleys gestohlenes Pferd gefunden hatte. Er hatte aber das Gefühl, etwas wesentlich Wichtigeres zusätzlich gefunden zu haben. Der Künstler hatte ihm von der Verhaftung Master Neville Pomeroys unter der Anklage des Hochverrats erzählt und daß man den Gefangenen in den Tower geworfen hatte. Diese Dinge ereigneten sich mehr als hundertfünfzig Meilen entfernt von hier.

Wieso wußte Oliver Quilley etwas davon?

*

Lawrence Firethorn war in seiner eigenen Falle gefangen. Nachdem er sie dazu überredet hatte, mit ihm nach Nottingham zu ziehen, damit sie wilde Liebesnächte mit ihm durchleben konnte, war es jetzt nicht gut möglich, sie zu entlassen, als sie sich entschloß, noch weiter mit ihm zu reisen. Das war sehr hinderlich. Gerade als er hoffte, einer neuen Eroberung näher zu kommen, mußte er jetzt mit der Wirtin reiten und ihrem liebenswürdigen Geschnatter lauschen. Unterdessen saß Eleanor Budden neben dem Fahrer des Wagens, George Dart, kümmerte sich um seine religiösen Bedürfnisse und ging jedem auf dem Wagen mit ihrer Anwesenheit auf die Nerven. Firethorn warf einen Blick in ihre Richtung. Eleanor und Susan waren die Extreme der Weiblichkeit, die ehrenhafte und die unmögliche, die tugendhafte und die wollüstige, die Heilige und die Hure. Wenn man aus den beiden eine neue machen könnte, sinnierte Firethorn, hätte man endlich die Perfektion in Menschengestalt gefunden.

Die glucksende Susan Becket stieß ihn freundlich in die Rippen.

»Die ist nicht für dich, Lawrence.«

»Ein solcher Gedanke wäre mir niemals in den Sinn gekommen.«

»Mistress Budden ist bereits versprochen.«

»Ich habe ihren Mann getroffen, als wir abreisten.«

»Den meine ich ja gar nicht, Sir. Die Dame ist anderweitig verliebt. Sie redet von niemandem so viel wie von Eurem Regisseur.«

»Nicholas hat sie in der Tat sehr beeindruckt.«

»Wenn ich ihn nackt im River Trent gesehen hätte, wäre ich auch sehr beeindruckt gewesen«, sagte Susan kichernd. »Er ist ein schönes Stück Mann und hat ein sehr gutes Benehmen.«

»Nick trieb nur auf dem Wasser«, sagte Firethorn gereizt. »Sie tut ja gerade, als sei er über das Wasser gegangen.«

Sie zogen in nördlicher Richtung durch dichtes Waldgebiet, das voller Erinnerungen an den berühmten Banditen war. Christopher Millfield ließ sich in seine Rolle in dem Stück zurückfallen und sang einzelne Strophen seiner Balladen. Jetzt, da Nicholas nicht in der Nähe war, hatte er seine ganze Munterkeit wiedergewonnen. Die älteren Angestellten gingen neben ihm und grummelten über die drei Fremdlinge, die mit ihnen reisten. Oliver Quilley gab sich wie ein Lord, als er nahe der Spitze des Zuges dahinritt, Susan Becket reservierte ihre Freundlichkeit ausschließlich für den Ersten Schauspieler, und Eleanor Budden brachte einen unerwünschten Ton von Christlichkeit in die Gruppe. Sie hatten einen wertvollen Lehrling verloren und drei unnütze Passagiere hinzugewonnen. Sie waren davon überzeugt, daß dabei nichts Gutes herauskommen konnte.

George Dart dachte da etwas anders. Zuerst war es ihm peinlich gewesen, daß Eleanor Budden so dicht neben ihm saß, doch schon bald hatte er Spaß an ihrer Gesellschaft. Sie hatten einen gemeinsamen Helden.

»Erzählt mir von Master Bracewell«, sagte sie.

»Das ist ein wunderbarer Mann, der die Gesellschaft bei allem führt, worauf es ankommt. Vielleicht bekommen ja andere das Lob und die Belohnung, aber in Wirklichkeit ist er es, der sie verdient, dennoch werdet Ihr nie ein eingebildetes Wort von ihm zu hören bekommen.«

»Seine Bescheidenheit paßt gut zu ihm.«

»Er ist mein einziger richtiger Freund, Mistress.«

»Das kann nicht stimmen«, meinte sie. »Was ist mit Eurer Mutter? Ist sie ihrem Sohn kein echter Freund?«

»Vielleicht war sie das, als sie noch lebte. Ich weiß es nicht. Sie starb, als ich noch ein kleines Kind war.«

»Wie seid Ihr denn zu diesem Beruf gekommen?«

»Niemand anderes wollte mich nehmen, Mistress. Nicholas Bracewell hat dafür gesorgt. Er hat mir alles beigebracht, was ich weiß, und das hat mich bis heute am Leben erhalten und vor dem Verhungern bewahrt.«

»Er hat ein christliches Herz.«

»Kein anderer ist wie er, in der ganzen Gruppe.«

»Wie lange ist er schon beim Theater?«

»Vielleicht vier Jahre oder auch länger. Ich kann's nicht sagen.«

»Und davor?«

»Da fuhr er zur See«, sagte George Dart voller Stolz. »Er ist mit Drake um die ganze Welt gesegelt und hat Sachen gesehen, die die meisten von uns sich nicht mal vorstellen können, solche Wunderdinge. Master Bracewell ist schon überall gewesen.«

»Außer in Jerusalem.«

»Warum sagt Ihr das, Mistress?«

»Weil ich ihn dorthin mitnehme.«

»Und er geht mit?« fragte Dart überrascht.

Eleanor Budden zeigte ein engelsgleiches Lächeln.

»Oh, ja. Er muß. Er hat überhaupt keine andere Wahl.«

*

Lavery Grange lag in der nördlichsten Ecke der Grafschaft Nottingham, und der Chef des Hauses, Sir Duncan Lavery, war ein zugänglicher und geselliger Herr. Als er die Chance hatte, Banbury's Men bei sich zu Gast zu haben, begrüßte er sie mit offenen Armen und stellte ihnen seine Große Halle für die Aufführung des Stückes »Der Renegat« zur Verfügung. Ihr Glück mischte sich mit schlechten Nachrichten. Banbury's Man erfuhren von einem Besucher in Lavery Crange, daß ihre Rivalen soeben in Nottingham einen Triumph mit einem Stück über Robin Hood verbuchen konnten.

Giles Randolph stieß übellaunig mit dem Fuß auf.

»Sie sind uns dichter auf den Fersen, als wir dachten.«

»Aber immer noch einen ganzen Tag hinter uns«, sagte Mark Scruton.

»So viel Nähe mag ich nicht, Sir.«

»Noch erwischen sie uns nicht.«

»Findet etwas heraus, womit Ihr sie verzögern könnt.«

»Ich habe da bereits eine Idee.«

Randolph stolzierte durch die Große Halle und sah zu, wie die Bühne errichtet wurde. Er prüfte die Akustik, indem er eine Rede aus dem Stück vortrug; seine Stimme hatte einen schönen Klang. Die Tournee war bisher eine Aneinanderreihung von Erfolgen gewesen, was um so schöner war, als damit auch der jämmerliche Niedergang von Westfield's Men verbunden war. Jetzt saß ihm die Konkurrenz im Nacken, und das machte ihn nervös.

Er schnippte mit den Fingern, um Scruton heranzuholen.

»Ja, Master?«

»Ihr habt noch einen weiteren Trick im Ärmel, Sir?«

»Der läßt sie nackt und schamrot dastehen.«

»Dann los damit.«

»Was, jetzt?« fragte Scruton überrascht.

»Bevor sie uns erreichen.«

»Aber wir haben die Aufführung des ›Renegaten‹.«

»Die werdet Ihr verpassen.«

»Dann verpasse ich die beste Rolle, die ich habe«, protestierte der andere. »Laßt sie mich heute abend hier spielen, dann überfalle ich sie morgen und lege meine Stricke aus.«

»Morgen ist zu spät.«

»Wie wollt Ihr denn ohne mich spielen?«

»Der junge Harry Paget wird die Rolle übernehmen.«

»Aber es ist meine Rolle!« beschwerte sich Scruton zornig.

»Achtet auf Euren Ton, Sir!«

»Ihr tut mir großes Unrecht.«

»Es handelt sich nur um eine Aufführung, Mark«, besänftigte der andere ihn. »Sobald wir das Stück erneut aufführen, werdet Ihr Eure glorreiche Rolle zurückbekommen. Darauf gebe ich Euch mein Wort.«

»Und wenn wir York erreichen?«

»Ihr unterzeichnet einen Vertrag, der Euch größere Rollen in jedem Stück gibt, das wir aufführen. Falls ich zustimme, heißt das.«

Mark Scruton war in die Ecke gedrängt. Trotz allem, was er für die Gruppe getan hatte, war er juristisch gesehen immer noch kein Teilhaber. Solange er das nicht geschafft hatte, hing er immer wieder von Randolphs Lust und Laune ab. Er setzte wieder die freundliche Unterwürfigkeit auf, die ihm in der Vergangenheit schon sooft gute Dienste geleistet hatte.

»Ich werde sofort aufbrechen.«

»Verursacht eine Katastrophe in den Reihen von Westfield's Men.«

»Sie werden es nicht wagen, anschließend noch zu spielen.«

»Dieser Gedanke gefällt mir.«

»Und meine Belohnung?«

»Die erwartet Euch in York.«

*

Die vier livrierten Diener ritten in sanftem Trab auf der Great North Road. Sie trugen das Wappen ihres Herrn auf dem Ärmel und sein Geld in den Taschen. Seine Befehle waren aufs Wort auszuführen; sie kannten die Strafen, die ihnen drohten, wenn sie seinen Wünschen nicht entsprachen. Es war ein merkwürdiger Auftrag, doch er führte sie aus Hertfordshire heraus und in Gegenden, die ihnen neu waren; das war wenigstens interessant für sie. Ihr Anführer bestimmte das Tempo, sie ritten ungefähr fünf Meter auseinander, wie am unteren Ende eines gewaltigen Keils. In der Mitte dieser Formation befand sich die Person, die sie mit so viel Sorgfalt und Aufmerksamkeit begleiteten. Sie befanden sich auf einer sehr wichtigen Mission.

Sie erreichten eine Kreuzung und erblickten einen großen, weißen Stein neben der Straße. In seine Oberfläche war eine Zahl eingemeißelt, über die die begleitete Person einen Zornesausbruch bekam. Sie schrie laut auf.

»Hundert Meilen bis York!«

»Ja, Mistress«, sagte einer der Reiter.

»Wir kommen ja kaum vorwärts.«

»Das geschieht zu Eurer eigenen Bequemlichkeit.«

»Meine! Ha! Ich reite jeden Mann in Grund und Boden.«

»Warum so eilig, Mistress?«

»Ich muß dorthin.«

Margery Firethorn gab ihrem Pferd die Sporen und fiel in einen Galopp, der die anderen weit zurückließ. Die vier belustigten Diener des Lord Westfield jagten sofort hinterher und fragten sich, was diese Verrückte, die ein schwarzes Pferd ritt und aus Leibeskräften brüllte, eigentlich machte. Ihr merkwürdiges Verhalten brachte sie durcheinander, aber darum kümmerte sie sich nicht.

Margery Firethorn war unterwegs nach York.

Sie hatte etwas mit ihrem Mann zu besprechen.

*

»Haltet still, Master Firethorn, Ihr dürft Euch nicht so viel bewegen.«

»Ich bin aus Fleisch und Blut, Sir, kein lebloser Marmor.«

»Ein Künstler braucht ein bewegungsloses Objekt.«

»Dann wartet, bis ich tot bin, und malt mich dann erst.«

»Ihr seid pervers, Sir.«

»Mir bricht der Nacken ab!«

»Macht fünf Minuten Pause.«

Oliver Quilley schnalzte ärgerlich mit der Zunge. Sie befanden sich in seinem Schlafzimmer in dem Gasthaus, in dem sie die Nacht verbrachten. Der Künstler hatte seinem Modell eine erste Sitzung vorgeschlagen, aber Firethorn war weniger als hilfreich. Nicht nur redete er ununterbrochen, er schaffte es auch nicht, den Kopf länger als ein paar Minuten in der gleichen Stellung zu halten. Höchst unerfreulich das Ganze. Firethorn trat heran, um sich das Ergebnis anzusehen.

»Wie weit sind wir gekommen, Master Quilley?«

»Fast nirgendwohin.«

»Zeigt mir Eure Arbeit.«

»Ich bin ja kaum am Anfang.«

»Aber ich hocke hier doch schon hundert Jahre!«

Quilley saß an einem kleinen Tisch, seine Utensilien vor sich ausgebreitet. Das Porträt befand sich auf Zeichenpergament, das glattgestrichen und auf eine Spielkarte geheftet war. Die Farben wurden in Muschelschalen angerührt und mit Pinseln aus den Schwanzhaaren von Eichhörnchen aufgetragen. Ein in den Griff des Pinsels eingelassener Tierzahn diente zu einem späteren Zeitpunkt zum Glattstreichen. Miniaturmalerei war eine mühevolle Arbeit, für die man das richtige Handwerkszeug benötigte. Kein Wunder, daß Quilley sie in seinem Lederbeutel verwahrte und unter seinem Wams versteckte. Sein Lebensunterhalt befand sich dicht an seinem Herzen.

Firethorn studierte die Skizze seines Gesichtes und des Kopfes und wußte nicht, ob er sich geschmeichelt oder beleidigt fühlen sollte. Es gab eine ziemliche Ähnlichkeit, doch die war so unbedeutend, daß sie für ihn keinen Wert besaß. Die Kunst eines Schauspielers ließ sich in ihrer ganzen Größe innerhalb von zwei Stunden auf einer Bühne darstellen; von dem Miniaturenmaler erwartete er ein ähnliches Tempo. Quilley hatte wohl ein langsameres Genie. Es wuchs im Tempo einer Rose und brauchte bis zur Blüte viel mehr Zeit.

»Da ist nicht viel zu schon, Sir«, sagte Firethorn.

»Da seid Ihr selbst schuld.«

»Könnt Ihr nicht etwas schneller machen?«

»Nicht, wenn Ihr ein wirkliches Kunstwerk haben wollt.«

»Mit weniger wäre ich nicht zufrieden.«

»Dann lernt, still zu sitzen.«

»Ich bin ein Mann der Tat.«

»Denkt über Eure Größe nach.«

Das Pergamentstück, auf dem Quilley arbeitete, maß kaum fünf Zentimeter im Durchmesser. Lawrence Firethorns Persönlichkeit mußte eingefangen und auf diese kleine Fläche gebracht werden, was höchste Konzentration und viel Geschick verlangte. Als der Künstler das erläutern wollte, hatte das Modell bereits einen anderen Gedanken im Kopf.

»Welche Karte habt Ihr gewählt, Sir?«

»Karte, Sir?«

»Die an dem Pergament. Die Spielkarte.«

»Oh, die. Ich habe die Herz-Zwei genommen.«

»Eine so niedrige Zahl?«

»Es bedeutet Liebe, Master Firethorn. Die meisten meiner Modelle wünschen ihr Porträt als ein Geschenk für eine geliebte Person. Herz ist die beliebteste Karte. Ich denke nicht, Ihr hättet lieber den Kreuz-Buben gehabt.«

»In der Tat, nein, Sir«, sagte Firethorn, dem die Idee sofort gefiel. »Zwei miteinander verbundene Herzen sind ideal. Das wird das Siegel meiner Gefühle sein, wenn ich das Geschenk überreiche.«

»Eure Frau wird begeistert sein.«

»Was hat die denn hier zu suchen!«

Firethorn ging zu seinem Stuhl zurück und nahm eine Pose ein. Der Künstler trat heran, um sie geringfügig zu korrigieren, dann setzte er sich wieder an seinen Arbeitstisch. Quilley änderte seine Taktik. Als sich der Schauspieler vor ihm in eine Statue verwandelte, überhäufte er ihn mit Lob über seine Darstellung des Robin Hood, und Firethorn bewegte keinen Muskel. Schmeichelei half, wo Beleidigungen versagten. Der Künstler kam gut vorwärts. Doch es blieb nicht lange so. Firethorn war zwar ruhig, andere dagegen nicht.

Irgend jemand hämmerte heftig an die Tür.

»Seid Ihr da drinnen, Sir?« rief George Dart.

»Verschwinde!« bellte sein Chef.

»Wir können jetzt nicht gestört werden«, fügte Quilley hinzu.

»Ich habe aber wichtige Nachrichten, Master Firethorn.«

»Gute oder schlechte?«

»Fürchterliche.«

»Wieso das?«

»Schickt ihn weg«, drängte Quilley.

»Wir müssen uns das zuerst anhören, Sir.«

Firethorn stürzte zur Tür und riß sie auf. Dart war so verängstigt, schon wieder der Überbringer schlimmer Nachrichten zu sein, daß er wie verrückt vor sich hin brabbelte. Firethorn packte ihn an den Schultern und schüttelte ihm den Verstand in den Kopf.

»Was ist passiert, Mann?«

»Wir sind schon wieder ausgeraubt worden.«

»Schon wieder ein Lehrling?«

»Nein, Master. Unsere Kostüme sind weg.«

»Weg? Wohin?«

»Sie haben sich in dünne Luft aufgelöst. Sir. Die Kiste ist verschwunden.«

Lawrence Firethorn packte ihn an der Kehle, um ihn zu strangulieren, doch dann überlegte er es sich noch mal. Er rannte nach unten in den Raum, in dem die Kostümkiste gestanden hatte, und stellte mit Entsetzen fest, daß sie tatsächlich verschwunden war. Sämtliche Kostüme waren verschwunden. Die Kosten dafür waren riesig, doch die Konsequenzen des Diebstahls waren noch viel schlimmer. Ohne Kostüme konnten sie kein einziges Stück aufführen. Irgend jemand drängte Westfield's Men schlicht und einfach aus dem Geschäft.

Firethorn raufte sich voller Verzweiflung die Haare.

»Oh, Nick!« heulte er. »Wo steckst du?«

*

Ein ganzer Tag im Sattel brachte ihn schließlich ans Ziel. Mit zwei Pferden zu seiner Verfügung konnte er viel schneller und weiter reiten, wechselte die Pferde häufig, um sie bei Kräften zu halten, und zog das zweite hinter sich her. Nicholas Bracewell war rastlos in seiner Verfolgungsjagd. Endlose Fragerei und endloses Reiten führten ihn schließlich nach Lavery Grange. Diesmal gab es keinen Irrtum. Banbury's Men waren dabei, einem aufmerksamen Publikum den »Renegaten« zu präsentieren. Nicholas gab sich als Spätankömmling aus, betrat die Große Halle und schob sich in den Hintergrund. Giles Randolph dominierte die Bühne, aber Nicholas war viel mehr an seinen Leuten interessiert. Er suchte nach Leuten, die Westfield's Men verrieten, indem sie die Geheimnisse ihres Repertoires weitergaben. Nicholas erinnerte sich an einige Gesichter, doch keiner davon war in seiner Gesellschaft beschäftigt gewesen. Er war verblüfft.

Wer hatte ihre wichtigsten Stücke gestohlen?

Er rechnete nicht damit, Richard Honeydew irgendwo hier auf dem Gelände zu finden. Banbury's Men waren viel zu klug, um sich auf frischer Tat ertappen zu lassen. Wenn sie den Jungen wirklich hatten, dann würden sie ihn irgendwo nicht allzu weit entfernt von hier festhalten. Nicholas glitt aus dem Saal und unterhielt sich mit einem der Diener. Der Mann erwähnte drei Gasthäuser, die alle mit einem kurzen Ritt zu erreichen seien. Nicholas ritt sofort los und kontrollierte diese Gasthöfe. Die beiden ersten stellten sich als Nieten heraus, doch er ließ sich von seiner Überzeugung nicht abbringen. Er war jetzt ganz sicher, daß er Richard Honeydew immer näher kam.

Das dritte Gasthaus war ein Treffer. Obwohl im Haus kein Zeichen von dem Jungen zu sehen war, erzählte ihm der Wirt, die Gruppe werde heute nacht hier übernachten. Für die meisten gab es Zimmer, doch einige mußten mit ihrem Gepäck in den Ställen schlafen. Nicholas ging raus, um sich diese Ersatz-Unterbringung anzusehen, konnte aber immer noch nichts entdecken. Er wollte gerade aufgeben und fortgehen, als er das Geräusch hörte.

Es war ein Klopfen, leise, aber regelmäßig, und schien von einem steinernen Schuppen am Ende der Stallungen zu kommen. Als er näher heranging, hörte er es deutlich genug, um zu erkennen, was es war. Jemand trat mit dem Fuß gegen die schweren Türbalken. Nicholas rannte hin und warf den Riegel zurück. Er riß die Tür auf, starrte ins Innere und erkannte die erbärmliche Gestalt des Richard Honeydew. der gefesselt auf dem Stroh lag. Mit den letzten Resten seiner Kräfte hatte der junge versucht, gegen die Tür zu trommeln. Jetzt nahte die Rettung.

»Dem Himmel sei Dank, daß ich dich gefunden habe, Dick!«

Der Knebel im Mund des Jungen hinderte ihn am Sprechen, doch seine tränengefüllten Augen sprachen Bände. Nicholas verstand ihre schreckliche Botschaft viel zu spät. Irgend etwas Hartes schlug ihm von hinten an den Kopf. Er fiel vornüber ins Stroh.

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