4. KAPITEL

Marmion Hall war eine optische Illusion. Weil das Gebäude in einer Bodensenke lag und von einem Halbkreis aus Bäumen umgeben war, wirkte es kleiner als in Wirklichkeit. Hinter der bescheidenen Fassade war es bemerkenswert geräumig, denn der Hauptteil des Hauses war weit ausladend, und es gab einen großen Flügelanbau, der hinter einem Platanendickicht verborgen lag. Vor etwa zehn Jahren hatte ein Feuer am rückwärtigen Teil des Hauses erheblichen Schaden angerichtet, langwierige Reparaturarbeiten waren erforderlich gewesen. Sir Clarence Marmion nutzte diese Gelegenheit, um einige bauliche Veränderungen vornehmen zu lassen, die jedoch nicht auf den ersten Blick erkennbar waren. Wie sein Besitzer, so umgab auch Marmion Hall sich mit einer gewissen Verschwiegenheit.

Der Sonntagnachmittag fand Sir Clarence im Speisesaal, wo er am Kopfende eines glänzenden Eichentisches saß und die Bibel studierte. Er war in gedeckten Farben gekleidet und zeigte höchste Konzentration. Er hatte sich seinen geistlichen Bedürfnissen gewidmet und schloß gedankenverloren die Augen.

Es klopfte an die Tür, ein Diener betrat den Saal.

»Was gibt es?«

»Die Gäste sind eingetroffen, Sir Clarence.«

»Alle?«

»Jawohl, Sir Clarence.«

»Wieviel Uhr ist es?«

»Genau vier Uhr.«

»Danke.«

Eine abschließende Handbewegung, der Diener verließ den Saal. Sir Clarence hob die Augen und las erneut den Abschnitt, den er studiert hatte. Dann schloß er das Buch vorsichtig, klemmte es sich unter den Arm und verließ den Saal. Er fühlte sich jetzt gut vorbereitet für das, was vor ihm lag.

Die Halle war ein großes Rechteck, drei Seiten waren mit Eichenholz getäfelt, die vierte Wand von einer Reihe hoher Fenster mit Bleiverglasung durchbrochen. Goldgerahmte Spiegel und Familienporträts unterbrachen die monotone Fläche. Die geschwungene Decke vermittelte den Eindruck von Eleganz. Die Möbel waren aus feinster Eiche und geschmackvoll arrangiert. Der große, gemauerte Feuerplatz am entfernten Ende der Halle hatte eine eiserne Kaminumrandung, die das Wappen der Marmions zeigte. Eiserne Feuerböcke neben dem Kamin trugen hohe Holzstapel.

Als Sir Clarence die Halle betrat, warteten seine Besucher bereits, die gemurmelten Gespräche verstummten auf der Stelle. Er betrachtete sie alle mit einer Mischung aus Stolz und Mitleid, dann breitete er in einem Willkommensgruß beide Arme aus. Die ganze Familie trat heran, um ihn zu begrüßen, mit jedem wechselte er ein paar freundliche Worte. Dann kam der Augenblick, in dem ihm das Baby in den Arm gelegt wurde. Es war ein Junge, kaum drei Monate alt, jedoch schon kräftig und lebhaft, und er schüttelte seine kleinen Fäuste mit dem typischen Trotz der Marmions gegen die Welt. Er strampelte in seinem weißen, spitzenbesetzten Kleidchen herum, als habe er wichtige Dinge zu erledigen.

Sir Clarence hob das Baby hoch und gab ihm einen Kuß auf die Stirn, was ihm beinahe einen Nasenstüber für seine Kühnheit eingetragen hätte. Mit einem sanften, nur angedeuteten Lächeln reichte er sein erstes Enkelkind seiner Schwiegertochter zurück, dann trat er vor das letzte Bild der Porträtgalerie. Es war das Bild seines Vaters, der mit gestrengem Gesichtsausdruck aus dem Rahmen auf sie herabschaute und alle Charakterzüge zeigte, die man mit einem Herrscherhaus verbindet. Es war außerordentlich bedauerlich, daß er nicht mehr lebte, um an Familienfeierlichkeiten teilzunehmen.

»Gib uns deinen Segen, Vater«, sagte Sir Clarence.

Dann streckte er die Hand aus und tastete hinter der unteren Ecke des Rahmens. Man hörte ein Klicken, eine enge Tür öffnete sich auf geölten Scharnieren in der Wandtäfelung. Man konnte einen schmalen Durchgang erkennen. Steinerne Stufen führten hinab.

Sir Clarence deutete auf seinen kleinen Enkelsohn.

»Laßt ihn uns den Weg vorangehen.«

Auf dem Arm seiner Mutter wurde das Kind durch die Tür und die Stufen hinabgetragen. Kerzenlicht erhellte den Gang. Der Rest der Familie folgte dem Kind, am Ende schritt das Familienoberhaupt. Als er durch die Tür ging, zog Sir Clarence sie hinter sich zu, sie schloß sich mit einem Klicken. Ein Geruch von Weihrauch erfüllte die Luft. Er folgte der Treppe und einem feuchtkalten, unterirdischen Gang bis zu einem Raum, in dem die anderen sich bereits versammelt hatten.

Es war eine Kapelle. Sir Clarence hatte den Befehl zum Bau gegeben, sie war ihm immer wieder eine Quelle des Trostes und der Freude. Obwohl sie klein, kalt und notwendigerweise geheim war, wirkte sie für ihn so erhebend wie das Münster von York, Auch jetzt ließ er wieder ihren Eindruck auf sich wirken. Die anderen nahmen ihre Plätze in den Bänken ein und knieten nieder, um ihrem Schöpfer zu danken. Auch Sir Clarence kniete zwischen seiner Frau und seinem Enkelsohn und bekreuzigte sich.

Der Altar war von Kerzen beleuchtet. In seiner Mitte stand ein großes, goldenes Kruzifix, das im Schein der Kerzen funkelte, als ob es brenne. Als die kleine Versammlung aufblickte, waren ihre Augen von dem Schauspiel wie gebannt. Neben dem Altar öffnete sich eine Stahltür, eine Gestalt in den Gewändern eines katholischen Priesters betrat die Kapelle. Sofort erhoben sich alle Anwesenden, um ihren Respekt zu bekunden. Der Priester begab sich schweigend neben das steinerne Taufbecken und betrachtete das Kind mit gütigen Augen. Seine ruhige und zuversichtliche Haltung ließ niemand auch nur ahnen, daß er im Begriff stand, ein abscheuliches Verbrechen zu begehen.

Robert Rawlins begann mit der Taufe.

*

»Wirklich, Ihr tut ihm Unrecht, solche Dinge über ihn zu sagen.«

»Ich muß dem Wort Gottes gehorchen.«

»Aber es war Gott, der Euch in heiliger Ehe verband.«

»Jetzt hat er andere Aufgaben für mich, Sir.«

»Euer Ehemann ist schmerzlich getroffen.«

»Jeder muß im Dienste Gottes leiden.«

Miles Melhuish schüttelte verzweifelt den Kopf. Er stand in seiner Sakristei neben Eleanor Budden, weil er es für klug hielt, auf den Beinen zu sein, um fliehen zu können, falls das nötig sein sollte. Man konnte nicht vorsichtig genug sein. Die Frau wirkte jetzt ruhig auf ihn, doch er hatte den überwältigenden Ausbruch von Leidenschaft noch nicht vergessen, derer sie fähig war, und er tat alles, um einen erneuten Anfall zu vermeiden, während sie sich allein auf geheiligtem Grund und Boden befanden.

Er trat hinter den Stuhl, auf dem sie saß.

»Ich werde Euch eine Frage stellen, Mistress.«

»Ich höre voller Bescheidenheit.«

»Ihr berichtet mir, daß Ihr keusch geblieben seid, seitdem Gottes Stimme zu Euch gesprochen hat.«

»Das stimmt, Sir.«

»Hier also nun meine Frage…«

Melhuish suchte nach den richtigen Worten. Dies war ein Thema, das er zuvor noch nie mit einer Frau besprochen hatte, ein Test für seinen Entschluß. Wenn er mit anderen weiblichen Pfarrangehörigen in seiner Sakristei sprach, ging es normalerweise um Tadel, weil sie den Gottesdienst nicht eifrig genug besuchten, oder um die Frage, wie man die Kinder im christlichen Geist erziehen soll. Seine Pflicht zwang ihn jetzt dazu, mit einem Ehepaar ins Bett zu steigen und dafür zu sorgen, daß sie ihre ehelichen Pflichten erfüllten. Für ihn war das unbekanntes Terrain.

»Jetzt meine Frage, Eleanor«, sagte er nervös. »Wenn jetzt ein Mann mit einem scharfen Schwert käme, der deinem Mann den Kopf abschlagen würde, wenn du den guten Kerl nicht wieder in dein Bett nähmst, sag mir ehrlich, denn du hast versprochen, die Wahrheit zu sagen, was würdest du tun?«

»Ich will Euch ehrlich antworten, Sir.«

»Würdest du Humphrey Budden erlauben, mit der zu schlafen, oder würdest du wünschen, daß ihm der Kopf abgeschlagen würde?«

»Ich würde lieber sehen, daß er getötet würde.«

»Das ist die reinste Grausamkeit, Frau!«

»Ich kann nichts daran ändern«, sagte Eleanor ruhig. »Wir müssen allem Schmutz den Rücken kehren.«

»Gott hat die Liebe zwischen Mann und Frau befohlen.«

»Ich habe mich Seinen Zwecken bereits dreimal unterworfen.«

»Ist das alles?« fragte der Priester voller Überraschung. »Humphrey sprach aber von täglicher Befriedigung.«

»Ich meine, daß ich mein Bett mit drei Ehemännern geteilt habe, Sir. Keiner von ihnen hat sich über meine Liebeslust beschwert.«

»Aber jetzt, Schwester.«

»Die Zeiten haben sich geändert.«

Miles Melhuish spürte, daß ihm die Kontrolle entglitt. Der Zweck seiner Prüfung war es gewesen, genügend Druck auf Eleanor Budden auszuüben, daß sie ihre Irrwege erkannte, aber sie war völlig ungerührt, als er sie zurechtwies. Sie kam immer wieder darauf zurück, daß dies das Wort Gottes sei; das genau war der Punkt, den er widerlegen mußte. Unzählige Jahre unermüdlichen Gebetes hatten ihm seinen eigenen besonderen Zugang zum göttlichen Auftrag gegeben, und er spürte, daß er die Stimme Gottes wesentlich besser kannte als die Frau irgendeines Spitzenmachers, sosehr sie auch ihre Unterwürfigkeit verteidigte.

»Wann hat Gott zum erstenmal mit dir gesprochen?« fragte er.

»Das ist jetzt vierzehn Tage her.«

»Wo befandest du dich zu dem Zeitpunkt?«

»Auf dem Markt, Fische kaufen, Sir.«

Miles Melhuish zuckte zusammen. »Gott der Herr sprach zu dir inmitten des Gestanks von Makrelen?«

»Ich habe Ihn klar und deutlich gehört.«

»Welche Worte benutzt Er auf dem Markt?«

»Er sagte: ›Schieb deinen Gatten beiseite und folge mir.‹ Gott rief mich bei meinem Namen, und ich habe Ihm sofort gehorcht.«

»Was hast du dann gemacht?«

»Ich ging nach Hause und in unser Schlafzimmer. Dort haben wir ein Kreuz an der Wand, damit Jesus auf uns aufpassen kann. Dann habe ich meine Sendung verkündet.«

»Und wie geschah das, gute Frau?«

»Das ist ja das Wunder dabei«, sagte sie mit einem Schulterzucken, das ihre Brüste in einladende Bewegung versetzte. »Ich weiß nicht, was dann über mich kam. Aber als ich die Augen öffnete, lag ich auf dem Fußboden, und Ihr standet mit meinem Mann vor mir, und überall war glückseliger Friede.«

»Erinnert Ihr Euch nicht an das Geschrei, das Ihr gemacht habt?«

»Geschrei, Sir?«

»Ihr habt einen geradezu wahnsinnigen Schrei ausgestoßen.«

»Ich weinte über den schmerzhaften Tod des Herrn.«

Miles Melhuish schlug alle Vorsicht in den Wind und setzte sich ihr gegenüber. Bisher hatten irregeleitete Hausfrauen immer auf einen schweren Verweis reagiert. Jetzt war Schluß damit, die Frau in ihren Wahnvorstellungen zu ermutigen, jetzt mußte sie mit fester Hand auf den schmalen und geraden Weg ehelicher Pflichten zurückgeführt werden. Er runzelte die Stirn und sammelte seine Fähigkeiten als Prediger.

»Werft diese falschen Gedanken über Bord!« warnte er sie. »Wenn Ihr Gott dienen wollt, dann tut das, indem Ihr einem Seiner Diener den gehörigen Respekt erweist. Nur innerhalb der vier Wände dieser Pfarrkirche vermögt Ihr Seine Stimme zu vernehmen, und nicht auf dem Fischmarkt in Nottingham.« Sie wirkte ordentlich zerknirscht, das spornte ihn an. »Kehrt zu Humphrey Budden zurück. Er ist ein guter Ehemann und verdient eine bessere Behandlung von seiner Gefährtin. Ich will von dieser Keuschheit im Ehebett nichts mehr hören. Umarmt Euren Gemahl. Schenkt ihm die Kinder, die er sich wünscht. Fügt unserer Pfarre ein paar kleine Pfarrkinder hinzu. Nur das ist Eure heilige Pflicht und Aufgabe auf dieser Erde.«

Er hatte gewonnen. Eleanor Budden saß da mit gesenktem Kopf und hängenden Schultern, verschüchtert, sanft und von seinen ernsthaften Vorhaltungen getroffen. Das war wie ein kleiner Sieg für ihn, der ihm ein mageres Gefühl von Bedeutung vermittelte. Er setzte sich auf seinem Stuhl aufrecht hin, um seine ganze kirchliche Autorität auszuspielen.

Währenddessen saß sie da in vollständiger Unterwürfigkeit.

Dann fing sie an zu lachen. Es begann als Glucksen, halb unterdrückt durch ihre vorgehaltene Hand. Dann wurde es zum Kichern, geradezu mädchenhaft vorlaut, steigerte sich von Sekunde zu Sekunde bis zu einer Lachsalve, aus vollem Hals, die ihren ganzen Körper in Bewegung brachte, steigerte sich zu einem brüllenden Gelächter, das die Sakristei erfüllte, und verwandelte sich schließlich und völlig unerklärlich in ein unheimliches und unkontrollierbares Lachen, das zu einem Crescendo anstieg und plötzlich anbrach.

Ihre Augen, die voller Schalk blitzen konnten, füllten sich mit Tränen der Zerknirschung, ihre Hände, die wild durch die Luft gewedelt hatten, schlossen sich zum Gebet. Miles Melhuish krümmte sich unter der Intensität ihres Blickes und schwor sich, den Fall an die Generalsynode weiterzugeben. Er befand sich in der unmittelbaren Nähe von Zauberei. Nur der Dekan war in der Lage, zu solch schwerwiegenden Dingen Stellung zu nehmen.

Die Tränen versiegten, doch der starre Blick blieb. Er ertrug ihr besessenes Glühen, bis ihm klar wurde, daß sie gar nicht ihn anstarrte, sondern irgend etwas hinter ihm. Als er sich herumdrehte, sah er, was sie versteinert und verklärt hatte. Es war ein kleines Spitzbogenfenster, in dem ein eifriger Künstler ein sehr zu Herzen gehendes Bild in Blei gefaßt hatte. Christus am Kreuz, die Dornenkrone auf dem Kopf. Das runde Gesicht war von langem, blondem Haar und einem Vollbart umrahmt, beides mit goldenem Glanz von der Sonne, die durch das Fenster schien. Märtyrerqualen und Majestät spiegelten sich in diesem Bild.

Eleanor Budden stieß einen Seufzer reinster Verzauberung aus.

Sie war verliebt.

*

Nicholas Bracewell fuhr sich mit nassen Händen durchs Haar und warf seine Mähne zurück, als er die Waschungen unter der Pumpe im Hof des Gasthauses beendet hatte. Kurz nach dem Morgengrauen war er aufgestanden, die Sonne warf ihre ersten Strahlen auf den jungen Tag. Vor der Abreise gab es noch viel zu tun. Nicholas mußte das Füttern und Anschirren der Pferde überwachen, das Beladen des Fuhrwerks, die Kontrolle der Ladung überprüfen, um sicher zu sein, daß nichts Wertvolles vergessen wurde, die Abrechnung mit dem Gastwirt machen und die Beschwichtigung der Frau des Wirtes versuchen, die Lawrence Firethorn in seinem trunken Überschwang mit einem der Schankmädchen verwechselt und liebestoll in seine Arme gerissen hatte. Ferner hatte er den Lehrlingen Fechtunterricht versprochen, und dann mußten Vorräte für die Reise eingekauft werden. Die Arbeit des Regisseurs ging nie aus.

»Einen schönen guten Tag, Master Bracewell!«

»Euch desgleichen, Christopher.«

»Wir wollen nur hoffen, daß er bessere Früchte trägt als der gestrige.«

»Ich bin sicher, das wird er.«

»Wo werden wir heute Station machen?«

»In Royston, mit Gottes Hilfe.«

»Royston…«

Der Ortsname ließ einen Gedanken in seinem Kopf lebendig werden. Zwei Tage Fußmarsch hatten nichts von Christopher Millfields Elan gedämpft. Er wirkte schlank und gepflegt in Rock und Hose. Nicholas, der nur ein altes Hemd und sein Lederwams trug, fühlte sich im Vergleich mit ihm derangiert. Er hatte den jungen Schauspieler eigentlich nie so recht gemocht, führte das aber auf die gezwungen wirkende Freundlichkeit des anderen zurück.

Christopher Millfield setzte sein lässiges Grinsen auf.

»Darf ich es wagen, einen Vorschlag zu machen?«

»Bitte, redet, Sir.«

»Falls wir auch in Royston kein Publikum finden, wie es ja bereits in Ware der Fall war, könnte es trotzdem noch eine Aufführung für uns geben.«

»Wo sollte das sein?«

»In Pomeroy Manor.«

»Kennt Ihr das Haus?«

»Nur vom Hörensagen«, sagte Millfield leichthin. »Es liegt auf dem Landbesitz eines gewissen Neville Pomeroy, ein Mann bester Herkunft und Kultur, dem Theater durchaus freundlich gesinnt, der uns vermutlich anders begrüßen wird als die Leute in Ware.«

Nicholas nickte dankend. Der Name Pomeroy kam ihm irgendwie bekannt vor. Er hatte ihn einmal bei Lord Westfield gehört, und zwar in lobendem Zusammenhang, was bei ihrem Schirmherrn eine Seltenheit war. Ein hiesiger Grundbesitzer mit Freude an guter Unterhaltung würde bestimmt in der Lage sein, seine größte Halle mit Zuschauern für sie zu füllen.

»Wo ist das Haus?« fragte er.

»In Richtung Meldreth. In der Nähe unserer Route.«

»In welcher Richtung?«

»Richtung Cambridge.«

Es lohnte sich, darüber nachzudenken. Wenn Banbury's Men es darauf anlegten, ihnen in die Quere zu kommen, konnte es gut sein, daß ihnen Royston verschlossen war. In Pomeroy Manor konnte Giles Randolph ihnen ihre Chance nicht vereiteln. Vielleicht war er doch noch zu bezwingen.

Christopher Millfield stand da und stemmte die Arme in die Seiten.

»Warum mögt Ihr mich nicht, Master Bracewell?«

»Habe ich so etwas gesagt?«

»Das lese ich aus Eurem Verhalten.«

»Ihr irrt Euch. Ich mag Euch durchaus.«

»Aber nicht so sehr wie Gabriel Hawkes.«

»Darüber habe ich noch nicht nachgedacht.«

»Mastor Gill denkt anders darüber. Er sagte mir, Ihr hättet Gabriels Namen dem meinen vorgezogen.«

»Das kann ich nicht abstreiten.«

»Darf ich fragen, aus welchem Grund?«

»Ich hielt ihn für den besseren Schauspieler.«

Millfield krümmte sich. »Da irrt Ihr Euch, Sir.«

»Ich kann nur meine wahre Überzeugung wiederholen.«

»Das kann sich schon bald ändern«, sagte der andere mit einem Anflug von Stolz. »Aber war das der einzige Grund, aus dem Ihr ihn vorgezogen habt? Daß Ihr ihn für besser gehalten habt?«

»Nein, Christopher.«

»Was denn sonst?«

»Ich empfand ihn als den ehrlicheren Menschen.«

Nicholas gab ihm eine klare Antwort, die überhaupt nicht nach Millfields Geschmack war. Er warf dem Regisseur einen feindseligen Blick zu, doch dann setzte er ein unbekümmertes Lächeln auf.

»Das hat alles nichts zu bedeuten.«

»Wieso das?«

»Gabriel ist jetzt im Himmel. Jetzt stehe ich an seiner Stelle.«

»Habt Ihr für die Toten keinen Respekt übrig?«

»Er war mein Rivale. Ich trauere nicht um ihn.«

»Obwohl er umgebracht wurde?«

Für eine Sekunde war Christopher Millfield verblüfft, doch dann gewann seine lässige Haltung sofort wieder die Oberhand. Nicholas, der nicht in der Lage war, einzuschätzen, ob die Reaktion des anderen auf Schuld oder Überraschung basierte, beschloß, der Sache auf den Grund zu gehen.

»Ist Euch der Tod dieses Mannes nicht sehr plötzlich vorgekommen?«

»Er war von der Pest angesteckt.«

»Die bringt normalerweise ihre Opfer nicht so rasch um.«

»Ich habe Leute gesehen, die innerhalb eines einzigen Tages dahinschwanden.«

»Ja, die Alten oder die Schwachen«, sagte Nicholas. »Die Jungen und Starken können ein paar Tage lang kämpfen.«

»Was wollt Ihr damit sagen, Master Bracewell?«

»Bis zu dem Tag, an dem er das Fieber bekam, war Gabriel ein gesunder junger Mann in den besten Jahren. Der wäre niemals so rasch am Ende gewesen.«

»Was schließt Ihr daraus?«

»Jemand hat dabei nachgeholfen.«

»Habt Ihr dafür Beweise?«

»Ich habe das sehr starke Gefühl.«

»Ist das alles?« fragte Millfield mit einem Grinsen. »Ihr werdet mehr als das brauchen, um eine Anzeige daraus zu machen. Außerdem, was soll das Ganze jetzt noch? Gabriel war vom Tode gezeichnet. Wenn ihn jemand tatsächlich umgebracht hat, dann hat er ihm nur einen Gefallen getan, indem er ihm den Todeskampf erspart hat.«

»Ihr nehmt das zu sehr auf die leichte Schulter, Christopher.«

»Es sind nur müßige Gedanken.«

»Wenn ein guter Mann umgebracht wird?«

»Von wem?« forderte der andere ihn heraus.

»Von jemand, der Vorteile durch den schnellen Tod hatte.«

Millficld erwiderte seinen forschenden Blick, ohne mit der Wimper zu zucken.

*

Royston war nicht mehr als ein verherrlichtes Nest mit einer Handvoll strohgedeckter Hütten, die sich wie ängstliche Küken um die Kirche drängten. Westfield's Men waren auch hier wieder zu spät gekommen. Ihre Mitbewerber hatten im Hof des Barley Mow vor einem Publikum gespielt, das aus den Dörfern der ganzen Umgebung herbeigeströmt war. Was aber Lawrence Firethorn an den Rand einer Explosion brachte, war die Tatsache, daß Banbury's Men schon wieder ein Stück aus seinem Repertoire gegeben hatten. »Die beiden Mädchen aus Milchester«, wieder so ein Stück, das für ein einfaches Publikum geeignet war. Sie vergifteten die Brunnen, aus denen Westfield's Men tranken.

Nachdem er jeden in seiner Nähe mit den übelsten Ausdrücken beleidigt hatte, zog sich der Erste Schauspieler mit seiner Gruppe auf ein Feld in der Nähe zurück, um seine nächsten Schritte zu überlegen. Nicholas Bracewell brachte Christopher Millfields Idee vor, die auch rasch Anklang fand. Bevor sie sich zu einem möglichen anderen Spielort weiterkämpften, hielten sie es für richtig, sich etwas mehr in der Nähe umzusehen. Pomeroy Manor klang nach einer interessanten Möglichkeit; Firethorn erwärmte sich für den Gedanken.

»Master Pomeroy ist kein Unbekannter für mich«, sagte er mit seiner lässigen Arroganz. »Lord Westfield stellte ihn mir nach einer meiner Aufführungen in The Rose vor. Er weiß meine Fähigkeiten einzuschätzen.«

»Wer täte das nicht?« fragte Nicholas.

»Ware tut das nicht! Royston - zum Teufel damit — tut es nicht!«

»Zu ihrer eignen ewigen Schande, Master.«

»Ich würde vor diesen Flachköpfen nicht spielen, und wenn man mir das Geld eines Königs böte. Gaumen, die durch den Geschmack eines Giles Randolph abgestumpft wurden, wären niemals in der Lage, den exquisiten Geschmack meiner Kunst zu erkennen. Es gibt noch eine andere Welt irgendwo anders.«

»Soll ich nach Pomeroy Manor reiten?«

»Auf dem schnellsten Weg, Nick«, sagte Firethorn. der eine Chance witterte, doch noch zu einer Aufführung zu kommen. »Nehmt Master Millfield mit. Er kennt den Weg und kann Euch Gesellschaft leisten.«

Nicholas hätte sich wohl einen anderen Begleiter gewünscht, aber er hatte keine Wahl. Edmund Hoode war sofort bereit, dem Regisseur sein Pferd zu leihen, und - was noch überraschender war - Barnaby Gill gab Millfield sein Pferd und erweckte den Eindruck einer gewissen Willfährigkeit. Es war eine Geste, an die Nicholas sich später noch erinnern sollte.

Die beiden Reiter brachen zu ihrer Expedition auf. Obwohl Millfield noch nie zuvor in dem Haus gewesen war, schien er eine geistige Landkarte vor seinem inneren Auge zu haben. Vier Meilen flotten Rittes auf ausgetrampelten Pfaden brachten sie auf die Spitze eines Hügels, von wo sie einen herrlichen Blick auf Pomeroy Manor hatten. Sie hielten ihre Tiere an, um den Anblick zu genießen. Der war wirklich beeindruckend.

Das Gebäude stand auf der Fläche eines alten, von Gräben umgebenen Rittersitzes, der der Kirche gehört hatte. Als die Klöster unter Heinrich VIII. aufgelöst wurden, hatte die Familie Pomeroy den Besitz erworben und mit Ziegeln aus der Tudor-Zeit wieder aufgebaut, mit acht Kaminen, die über Stufen-Giebeln aufragten. Die Fenster hatten niedrige Mittelpfosten und Sprossen, gemauert aus Lehmziegeln in einem sanften Grau. Ein überdachter Vorbau förderte die Harmonie des Bauwerkes und diente einem Feuerwerk der schönsten Rosen als Rankhilfe. Efeu setzte zum Angriff auf die vorderen Wände an.

»Es ist genau so, wie ich es mir vorgestellt hatte«, sagte Millfield.

»Ein seltener Anblick in dieser Grafschaft«, bemerkte Nicholas.

»Was meint Ihr damit, Sir?«

»Aus Ziegelstein gebaute Häuser dieses Typs findet man normalerweise nur in East Anglia. Hat Master Pomeroy Verbindungen zu jenem Teil des Landes?«

»So muß ich wohl annehmen.«

»Woher stammen all diese Informationen?«

»Vom Zuhören an den richtigen Stellen.«

Millfield gluckste und trieb sein Pferd vorwärts.

Nach den Enttäuschungen in Ware und Royston bekamen sie hier eine angemessene Entschädigung. Als der Hausherr von ihrer Ankunft erfuhr, ließ er sie in den Raum führen, in dem er mit seinem Verwalter über den Wirtschaftsbüchern gesessen hatte.

Neville Pomeroy war ein kräftig gebauter Mann mittleren Alters, mit lockigem grauem Haar und gemessenen Bewegungen. Er begrüßte sie herzlich, hörte sie an und nickte begeistert. Sie hatten Glück.

»Ihr konntet zu keiner besseren Zeit kommen. Gentlemen«, sagte er. »Ich bin gerade heute erst aus London zurückgekehrt und fürchtete schon, Euch verpaßt zu haben, als Ihr in Royston wart.«

»Ihr wußtet von unserer Anwesenheit dort?« fragte Nicholas.

»Durch Lord Westfield persönlich. Wir haben gemeinsame Freunde in der Stadt. Ich habe seine Gruppe auf der Bühne gesehen und behaupte, es gibt keine bessere. Master Firethorn erwiese mir eine ganz besondere Ehre, wenn er in meinem Hause spielen würde.«

»Dann können wir also einen Vertrag aufsetzen?«

»In der Tat, Master Bracewell. Ich brauche einen Tag, um die Nachricht zu verbreiten und ein Publikum zusammenzutrommeln, aber - wenn Ihr solange warten wollt — dann kann ich Euch für morgen einen herzlichen Empfang versprechen. Aus wieviel Personen besteht die Gruppe?«

»Gerade fünfzehn Personen, Sir.«

»Dann müßt Ihr im nahe gelegenen Gasthof übernachten. The Pomeroys Arms gibt Euch auf mein Geheiß freie Kost und Logis. Es ist nur ein kleines Haus, aber es sollte Euren Zwecken genügen.«

»Wir danken Euch ganz herzlich, Sir.«

»Der Dank ist ganz auf meiner Seite. Ich liebe das Theater. «

»Welches Stück möchtet Ihr sehen?«

»›Tarquinius von Rom‹.«

Das war eine unerwartete Wahl, aber Nicholas stellte keine Fragen. Das Stück war eine Tragödie um Tyrannei und Verrat, etwas merkwürdig für eine Aufführung an einem warmen Sommerabend in einem Privathaus, dennoch bewies es den ernsthaften Kenner der dramatischen Kunst. »Tarquinis von Rom« war ein außergewöhnlich gut geschriebenes Stück. Es bediente die Titelrolle mit Partien, die das Blut beschleunigten und die Seele entflammten. Pomeroy hatte klug gewählt.

Nicholas und Millfield ritten zu ihren Freunden zurück. Ihre Nachrichten wurden mit Genugtuung aufgenommen. Firethorn traf auf der Stelle seine Entscheidungen. »Tarquinius von Rom« war nicht geplant gewesen auf ihrer Tournee, sie hatten weder die Kostüme noch die Kulissen dafür bei sich, doch der Erste Schauspieler ließ sich dadurch keineswegs abhalten.

»Sie sollen das Stück bekommen, Nick.«

»Das habe ich Master Pomeroy auch so versprochen.«

»Wir haben einen Tag, um uns vorzubereiten. Das reicht. Gebt mir vierundzwanzig Stunden, und ich bin Tarquinius, wie er leibt und lebt.«

Er stürzte sich auf die Rede beim Höhepunkt der Sterbeszene, die Verse sprudelten aus ihm heraus wie ein Sturzbach. Lawrence Firethorn hatte das hervorragende Gedächtnis des wahren Schauspielers, der keine Zeile eines Textes vergißt, den er jemals auswendig gelernt hat. Er hatte an die fünfzig Rollen im Kopf, jede von besonderer Komplexität, doch er konnte sie auf Befehl sofort vortragen. In seinem mitreißenden Überschwang rezitierte er weitere Monologe des Tarquinius und ließ seine Zuhörer einem Wunder lauschen.

Nicholas Bracewell wurde nachdenklich, dann schnippte er mit den Fingern und nickte sich selbst zu.

Edmund Hoode stand nahe genug bei ihm, um dieses merkwürdige Verhalten zu bemerken.

»Warum nickt Ihr denn so, Nick?«

»Ich glaube, ich habe ihr Geheimnis entdeckt, Edmund.«

»Wessen Geheimnis?«

»Banbury's Men.«

»Diese widerlichen Typen! Die haben unsere Stücke gestohlen!«

»Ich glaube, ich weiß jetzt auch wie.«

*

Grantham gab ihnen Applaus, der mehrere Minuten anhielt, Giles Randolph badete geradezu darin. Das Publikum, das auch aus den umliegenden Dörfern der Grafschaft Lincolnshire in Massen herbeigeströmt war, hatte etwas so Großartiges wie »Pompeius der Große« noch nie erlebt. Die Zuschauer, die erschienen waren, um einen von diesen ländlichen Schwänken zu sehen, die typisch waren für herumziehende Theatergruppen, fühlten sich zu Beginn etwas unwohl. Sie wurden mit einem Stück voller militärischer Pracht und politischer Intrigen konfrontiert, doch schon bald waren sie begeistert bei der Sache, während sich das Drama in meisterlicher Darstellungskunst vor ihnen entfaltete. Es gehörte zu Edmund Hoodes besten Stücken, und Banbury's Men machten das Beste daraus.

Giles Randolph zeigte eine interessante und anregende Interpretation der Hauptrolle, doch es fehlte ihm eben Lawrence Firethorns martialisches Gewicht und schauspielerische Präsenz. Doch die Mängel seiner Darstellung blieben ihm und seinem Publikum glücklicherweise verborgen. Er selber war durch und durch davon überzeugt, daß seine Kunst eine Qualität weit jenseits der Möglichkeiten des verhaßten Rivalen erreicht hatte, und daß er seine überragende Meisterschaft auf unmißverständliche und eindeutige Weise bewiesen hatte. Der aufbrandende Applaus bestärkte noch seine Selbstgefälligkeit. Im Theater seiner eigenen Phantasie hatte er Firethorn tot und begraben hinter sich gelassen.

Eine Triumphfeier war angebracht. Pompeius der Große tafelte stilvoll mit seiner Gruppe in einem Gasthaus am Ort. Nach all den Jahren im Schatten von Westfield's Men war es ein wunderbares Gefühl, seine Rivalen beiseite zu fegen und in den vollen Glanz der Sonne hinauszutreten.

Neben Giles Randolph saß ein gedankenverlorener junger Mann mit einem Ausdruck stiller Selbstzufriedenheit auf dem Gesicht. Der führende Schauspieler wollte noch mehr Applaus hören.

»War ich nicht großartig auf der Bühne, Sir?«

»Ihr wart geradezu der Geist des Pompeius.«

»Habe ich seine Größe nicht wunderbar getroffen?«

»Mit jedem Wort und in jeder Geste, Master Randolph.«

»Das Publikum war fasziniert.«

»Wie hätte es anders sein können?«

»Ich wandelte im Elysium.«

Mark Scruton lächelte zustimmend. Seine ganze Zukunft hing vom Erfolg von Banbury's Men ab, und er ließ sich von niemand in der Lobpreisung des Stars übertreffen. Giles Randolph ließ eben nur die Qualität des absoluten Meisters vermissen. In den meisten Stücken des eigenen Repertoires war er zwar nie weniger als hypnotisch, aber auch nie ganz brillant. Die Qualität der Stücke, mit denen er auftrat, setzte ihm Grenzen. Bei einem wirklich hervorragenden Stück und in einer Rolle, die er mit Leib und Seele verkörpern konnte, schaffte er es durchaus, wahre Meisterschaft zu beweisen.

Dies alles war Giles Randolph durchaus bewußt.

»Wirklich ein gut geschriebenes Stück«, sagte er voller Neid.

»Master Hoode ist ein guter Dichter.«

»Die Schlußrede hätte einen Stein erweichen können.«

»Bei solchen Szenen kann ihn niemand übertreffen.«

»Da habt Ihr recht, Sir«, sagte Randolph. »Schluß mit dem Geschreibsel von lehrlingshaften Dichterlingen! Gebt mir Männer, die wirklich schreiben können. Wir haben selber gute Stücke, aber keines, das sich mit der Wirkung des ›Pompeius‹ vergleichen lassen könnte. Dieses Geständnis ist sehr schmerzhaft für mich, doch ich würde mir wirklich wünschen, daß dieser Master Hoode seine Stücke für Banbury's Men schriebe.«

»Das tut er, Master, das tut er.«

Giles Randolph lachte zustimmend.

»Wenn er Grantham erreicht, erlebt er eine Überraschung.«

»Und hebt ein Geschrei an, als sei er unter die Räuber gefallen.«

»Und Master Firethorn schreit ›Mord!‹ in seinem Echo.« Sein Ton wurde geschäftsmäßig. »Wir müssen einen gewissen Vorsprung halten. Es wäre nicht gut, wenn Westfield's Men uns überholten. Wenn das passiert, kommt es zu einem Zusammenstoß.«

»Ich habe einen Trick, um sie zum völligen Stillstand zu bringen.«

»Sprecht, Master Scruton.«

»Kommt etwas näher.«

Giles Randolph beugte sich vor, damit er das Flüstern hören konnte. Ein Grinsen zog über sein dunkles Gesicht. Ihm gefiel die Idee so gut, daß er seinem Begleiter zum Dank ein paar Münzen über den Tisch zusteckte. Es war nur ein geringer Lohn für einen Mann, der sich als ein so guter Freund von Banbury's Men herausstellte.

Mark Scruton war ihre Rettung.

*

Die Nacht hatte Pomeroy Arms mit ihrem dunklen Mantel umhüllt. Mit dem sicheren Wissen, daß am nächsten Morgen ein Publikum auf sie wartete, probten Westfield's Men bis in den Abend hinein und hockten noch bis Mitternacht zusammen. Dann fielen sie ins Bett und überließen sich zufrieden ihren Träumen. Nicholas Bracewell teilte sich mit vier anderen Männern einen Raum am Ende des Gebäudes. Angenehme Gedanken an Anne Hendrik begleiteten seinen Schlaf, an denen er sich die ganze Nacht erfreut hätte, wenn ihn nicht irgend etwas gestört hätte. Er war sofort hellwach und sah sich mit blinzelnden Augen um. In der Dunkelheit konnte er nichts erkennen, er hörte lediglich das friedliche Schnarchen der anderen. Er lauschte sorgfältig, dann wurde ihm klar, was nicht stimmte.

Einer der Männer war verschwunden.

Das entfernte Geräusch von Schritten auf dem gepflasterten Hof ließ ihn aus dem Bett springen und zum Fenster hasten. Er konnte gerade noch die große Gestalt eines Mannes erkennen, der sich von dem Gasthaus entfernte. Nicholas starrte in die Finsternis hinaus. Der Mann erreichte eine Anhöhe, und seine Silhouette stand ein paar Sekunden vor dem Himmel. Das reichte. Der Regisseur erkannte das Profil und die Gangart.

Christopher Millfield rannte in die Nacht hinaus.

*

Auf ihrer Reise ins antike Rom improvisierten Westfield's Men mit großem Geschick. Bettücher wurden zu Togen, lange Schwerter zu kurzen Schwertern, Büsche wurden geplündert, um Lorbeerkränze abzugeben, und ein Schemel mit hohem Rücken aus dem Gasthof geholt, um als Thron zu dienen. Unter der Anleitung des Regisseurs verwandelten sich die Schauspieler in Zimmerleute und bauten einfache Bühnenbilder zusammen. Edmund Hoode arbeitete tüchtig mit Beitel, Hobel und Säge. »Tarquinius von Rom« war ein langes Stück mit großer Besetzung. Fände ihre Aufführung in einer Stadt von der Größe Bristols, Newcastles oder Exeters statt, hätten sie ohne Probleme Hilfskräfte als Statisten anheuern können, doch diese Möglichkeit gab es hier nicht. Das Stück mußte also der geringen Zahl von Mitwirkenden angepaßt werden, dennoch war es auch in der verkleinerten Besetzung ein starkes Drama. Nur vollblütiges Spielen und hektisches Doubeln konnten es über die Bühne bringen. Das war die Art von Herausforderung, die ihnen gefiel.

Lawrence Firethorn gab ihnen Herz und Hoffnung zurück.

»Laßt uns so spielen, daß das alte Gemäuer von Begeisterung widerhallt!«

Pomeroy Manor wurde zum Anziehungspunkt des einfachen Landadels. Die Leute kamen in Massen, um den ungewohnten Anblick eines Lucius Tarquinius Superbus zu genießen, des siebten und letzten Königs von Rom, und das in der Banketthalle eines Landhauses in Hertfordshire. Es war wie eine Offenbarung für sie. Auf einer Hilfsbühne, mit minimalen Bühnenbildern und Kostümen versetzten Westfield's Men ihr Publikum zweitausend Jahre in die Vergangenheit zurück.

Lawrence Firethorn riß sie zu wahrer Begeisterung hin mit seiner Darstellung des Tarquinius, der, trunken von Machtgier und ein Meister des Ränkespiels, Roms Macht und Reichtum an sich reißt, um sie zu seinem Nutzen auszubeuten.

Christopher Millfield war es, der das Stück zu Ende führte.

Tapfre Kämpfer haben Euer feiges Heer bezwungen, den Frieden unsrem leidgeprüften Land wieder errungen.

Verflucht seist Du, Tyrann, laß uns zufrieden, an diesem Tag des Siegs sei Ehre uns beschieden. Wenn Herrscher grausam uns den Tod auch senden, wird Freiheits Fahne siegreich doch den Tag beenden.

Neville Pomeroy riß es vom Sitz zum langanhaltenden Applaus für ein Stück, das gleichermaßen tiefbewegt und wunderbar unterhalten hatte. Westfield's Men wurden gefeiert. Das war eine Wohltat nach all ihren Rückschlägen. Als sie Pomeroy Manor verließen, hatten sie Geld in der Tasche und Triumph in der Brust. Ein sehr belebendes Gefühl.

Ihr Gastgeber überschüttete sie nochmals mit seinem Dank.

»Ihr könnt nicht ahnen, welche Freude Ihr uns gebracht habt.«

»Wir sind tief befriedigt«, sagte Firethorn mit der Stimme des Tarquinius. »Wir armen Wichte leben von der Nachsicht unserer Schirmherren. Pomeroy Manor war uns ein Quell großer Freude. Es wäre schön, wenn wir auch anderswo einen so herzlichen Empfang erlebten.«

»Den werdet Ihr gewiß bekommen, Sir.«

»Nicht in Ware oder Royston, fürchte ich.«

»Geht weiter nach Norden, dem sicheren Sieg entgegen.«

»Das ist auch unsere Absicht.«

»Ich habe meinen Teil dazu beigetragen«, sagte Pomeroy. »Als ich von Euren Plänen erfuhr, habe ich von London aus an meinen besten Freund geschrieben, um ihn von Eurer Ankunft zu unterrichten. Westfield's Men werden dort einen freundlichen Empfang bekommen.«

»Wir danken Euch für Eure Freundlichkeit, Sir. Wo liegt der Ort?«

»Es ist Marmion Hall.«

»In welcher Stadt?«

»Nahe bei York.«

Lawrence Firethorn mußte mal wieder den Kreuzritter spielen.

»York, sagt ihr? Wir kennen einen anderen Namen dafür.«

»Wie könnte der lauten?«

»Jerusalem!«

*

Der Keller lag tief unter dem Haus. Kein natürliches Licht drang hinein, an den dicken Mauern schlug sich die Feuchtigkeit nieder. Ein Geruch von Verzweiflung lag in der Luft. Der Mann war bis zum Gürtel nackt. Mit gespreizten Armen und Beinen lag er auf einem hölzernen Tisch, auf eine Weise gefesselt, die seine Qualen noch verstärkte. Stricke schnitten tief in seine Hand- und Fußgelenke und zogen Arme und Beine so weit auseinander, daß es ihn fast zerriß. Schweiß vermischte sich mit dem Blut, das seine Brust und Arme bedeckte. Sein Gesicht war nur noch eine blutige Masse. Während er in seinen eigenen Exkrementen lag, hatte er kaum noch die Kraft zu stöhnen, und spürte nichts von der Spinne, die über seine Stirn kroch.

Marmion Hall war der angestammte Sitz einer der bekanntesten Familien in Yorkshire. Niemand hätte jemals geglaubt, daß dieses Haus einen solchen Gast unter seinem Dach beherbergte.

Die Kellertür wurde von außen aufgeschlossen und eine Kerze hineingebracht. Ein kleiner, untersetzter Mann in der Livree eines Dieners trat zu dem Gefangenen und ließ das Licht der Kerze auf sein geschundenes Gesicht fallen. Sir Clarence Marmion zeigte keinerlei Regung, als er den gefolterten Leib betrachtete.

»Hat er nichts mehr gesagt?«

»Nichts außer Schmerzensschreien, Sir Clarence.«

»Habt Ihr ihn Euch bis zum Letzten vorgenommen?«

»Mit Stahl und Feuer. Er hat sich halb zu Tode geblutet.«

»Würde eine Tracht Peitschenhiebe ihm nicht die Zunge lösen?«

»Aber nur, um um Gnade zu winseln.«

»Wer keine gewährt, hat auch keine verdient«, sagte der andere kalt. »Walsinghams Leute sind skrupellos. Wir müssen genauso sein.«

Der Diener packte das Haar des Gefangenen und schlug ihm den Kopf auf den Tisch. Dann spähte er ihm direkt ins Gesicht.

»Etwas lauter, Sir! Wir können nichts hören!«

Ein langer Seufzer quälte sich durch die aufgeplatzten Lippen.

»Wer war es?« zischte Sir Clarence. »Ich will den Namen des Spions, der Rickwood verraten hat.«

Der Gefangene wand sich in Todesqualen, sagte jedoch nichts.

»Redet schon!« herrschte ihn der Hausherr an. »Welche von Walsinghams Kreaturen hat ihn in den Tod geschickt?«

»Ich kann die Information nicht aus ihm heraushacken.«

»Seinen Namen!«

Sir Clarence verlor die Kontrolle über sich und schlug den Mann mit mächtigen Hieben ins Gesicht, bis das Blut über seinen ganzen Handschuh spritzte. Dann zog er die Hand zurück und trat zur Tür. Er hatte seine Beherrschung wiedergewonnen.

»Was jetzt, Sir Clarence?« fragte der Diener.

»Tötet ihn.«

*

Obwohl das Haus in Shoreditch jetzt halb leer war und weniger hungrige Münder am Tisch zu füttern waren, hatte Margery Firethorn immer noch eine Menge häuslicher Aufgaben zu erledigen, die sie in Bewegung hielten. Eine davon bestand im regelmäßigen Besuch auf dem Markt, um Lebensmittel zu kaufen und sich mit den Händlern zu streiten, die sie übervorteilen wollten. Die Diener waren unfähig, die besten Stücke zu den niedrigsten Preisen zu ergattern, deshalb hatte sie sich diese Aufgabe persönlich vorbehalten. Das bewirkte, daß sie das Haus auch mal verließ und nicht in Grübelei verfiel.

Sie betrat die Stadt bei Bishopsgate und geriet in einen kleinen Tumult. Bewaffnete Soldaten rannten umher, stießen die Leute zur Seite und gingen rauh mit jedem um, der sich beschwerte. Margery ließ ein paar bissige Bemerkungen fallen und schlenderte zum Markt in der Gracechurchstreet. Schon bald befand sie sich in einem heftigen Streitgespräch mit einem glücklosen Händler über die Qualität seiner Früchte. Als sie ihn auf den Preis heruntergehandelt hatte, den sie zu zahlen bereit war, begab sie sich kampfeslustig zum nächsten Stand und begann ihr Spiel aufs neue.

Nach einiger Zeit befand sie sich dicht am Queen's Head, was zu wehmütigen Gedanken an Westfield's Men führte. Sehr unterschiedliche Gefühle erfüllten sie. Obwohl sie noch immer zornig auf ihren Mann war, vermißte sie ihn doch sehr. Auch wenn sie ihn lautstark zur Rede gestellt hätte, würde sie die Strafpredigt doch mit ein paar Küssen gemildert haben. Margery Firethorn konnte ihrem Ehemann nicht die ganze Schuld geben. Als sie ihn heiratete, heiratete sie auch das Theater, und das brachte eben ein paar Widrigkeiten mit sich.

Dafür erhielt sie jetzt einen weiteren Beweis. Auf einem Hocker vor dem Gasthaus saß ein dünner, asketisch wirkender Mann mit einer Viola zwischen den Beinen, der seinem Instrument klägliche Töne entlockte, in der Hoffnung, damit ein paar Münzen von den Passanten zu ergattern. Es war Peter Digby. Noch vor zehn Tagen war er der stolze Leiter einer Gruppe von Musikanten gewesen, die für Westfield's Men spielten. Jetzt stand er auf der Straße und hoffte auf ein paar dürftige Pennies. Wirklich, das Theater war ein grausamer Arbeitgeber.

»Master Digby! Welche Überraschung!« sagte sie.

»Mistress!«

»Habt Ihr keine andere Arbeit als das hier, Sir?«

»Keine, für die ich Geld bekäme.«

Sie nahm eine Münze aus ihrer Tasche und drückte sie ihm in die Hand. Er dankte ihr für diese Freundlichkeit und erkundigte sich nach der Theatergruppe. Sie wußte nichts Neues, das sie ihm hätte sagen können, sondern redete nur ganz allgemein. Entferntes Geschrei ließ sie beide in Richtung Bishopsgate schauen. Dort liefen noch mehr Soldaten herum.

»Was hat der Tumult zu bedeuten?« fragte sie.

»Habt Ihr es denn nicht gehört?«

»Nein, Master Digby.«

»Einer von den Schädeln ist von den Piken verschwunden.«

»Das ist aber wirklich eine scheußliche Sache!«

»Während der Nacht heruntergeholt«, sagte er. »Und das war kein einfacher Scherz. Wenn der Übeltäter gefaßt wird, muß er mit dem Strang rechnen. Sie suchen sehr nach ihm.«

»Wessen Kopf ist denn heruntergeholt worden?« fragte sie.

»Der eines Verräters, der erst vor kurzem hingerichtet wurde.«

»Wie hieß er denn?«

»Anthony Rickwood.«

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