9. KAPITEL

Es war die schlimmste Nacht seines Lebens. Ein Mann, der die Höhen nächtlicher Wonnen sooft und mit solch freudigem Selbstvertrauen genossen hatte, stürzte jetzt hinterrücks durch den leeren Raum ins Bodenlose. Lawrence Firethorn war verzweifelt. Sein Regisseur war verschwunden, sein Lehrling entführt, seine Kostümkiste gestohlen, seine Gruppe völlig durcheinander. Susan Becket lag oben unbefriedigt im Bett, und Eleanor Budden lag unberührt zwischen ihren Laken. Sie waren so nah und doch so weit von ihm entfernt. Firethorn war fertig.

Barnaby Gill und Edmund Hoode teilten seine Panik.

»Sie haben uns den Kopf abgeschlagen, Sirs«, sagte Firethorn.

»Und die Schwänze dazu«, meinte Hoode.

»Meiner ist noch an Ort und Stelle«, bemerkte Gill hochnäsig.

»Ich hätte nie gedacht, daß sie so tief sinken würden.«

»Können wir denn sicher sein, daß dies ihr Werk ist, Lawrence?« fragte Hoode. »Vielleicht hat irgendein normaler Dieb unsere Kiste mitgehen lassen.«

»Warum sollte der die nehmen, wenn er unsere Geldbeutel hätte haben können?« sagte Firethorn. »Nein, Edmund. Die Spuren von Banbury's Men sind überall deutlich zu erkennen. Nur eine andere Theatergruppe wußte so genau, wie sie uns am schlimmsten treffen konnte. Und zwar, indem sie uns die Kleider stehlen, die wir benötigen.«

Sie saßen im Schankraum ihres Gasthauses und starrten mit kollektiver Melancholie in ihre Gläser. Barnaby Gill sprang plötzlich auf, warf den Kopf zurück, verschränkte die Arme über der Brust und reckte sich zu seiner ganzen Würde auf.

»Ich werde nicht ohne mein goldenes Wams auftreten«, verkündete er gereizt. »Wenn sich meine grünen Samthosen und meine gelben Strümpfe nicht finden und die Schuhe mit den silbernen Schnallen und den Hut mit den drei Federn, dann werde ich keinen Fuß auf die Bühne setzen!«

»Wir sitzen alle zusammen in der Patsche, Barnaby«, sagte Edmund Hoode.

»Wo ist mein blauer Samtanzug und mein grüner Mantel?«

»Seid ruhig«, schnarrte Firethorn.

»Was ist mit meinen Batisthemden und meiner Halskrause?«

»Hört mit diesem Gewinsel auf!«

Das Gebrüll des Obersten Schauspielers ließ das pikierte Jammern verstummen. Gill fiel auf seinen Stuhl zurück und starrte mürrisch in sein Glas. In Krisenzeiten konnte man sich darauf verlassen, daß er seine persönlichen Interessen allem anderen voranstellte. Edmund Hoode hatte viel mehr Mitleid für seine Freunde.

»Ich muß immer an den armen Dick denken!« sagte er.

»ich auch gelegentlich«, murmelte Gill.

»Ich würde sofort jeden Fetzen unserer Kleidung hergeben, um den Jungen gesund zurückzubekommen. Wo kann er nur stecken?«

»Nick wird ihn schon finden«, sagte Firethorn.

»Ja«, meinte Hoode. »Nick ist unsere einzige Hoffnung.«

»Wie könnt Ihr so was nur denken?« fragte Gill. »Es liegt doch nur an unserem hochverehrten Regisseur, daß wir uns in diesem Schlamassel befinden. Ich gebe ihm die ganze Schuld.« Trotz ihrer Protestes redete er weiter. »Verteidigt ihn nur, soviel Ihr könnt, Sirs, aber ich sage: Nicholas Bracewell trägt die ganze Schuld. Er ist derjenige, der die Verantwortung für die Sicherheit der Lehrlinge trägt, und trotzdem wird uns einer unter seiner Nase gestohlen.«

»Nick kann nicht überall gleichzeitig sein«, verteidigte Hoode den Regisseur.

»Das ist ja klar, Edmund. Wenn er nicht im ganzen Land herumschäkerte, wären unsere Kostüme in Sicherheit. Dann wäre er hier, könnte seine Pflicht tun und auf unsere Sachen aufpassen.« Gill setzte sich aufrecht. »Und ich hätte immer noch mein goldenes Wams.«

»Irgend jemand mußte Dick Honeydew ja suchen«, sagte Hoode.

»Und der einzige Mann, der dazu in der Lage ist, war Nick«, fügte Firethorn hinzu. »Vielleicht kann er uns noch aus diesem Sumpf befreien. Ich will keine Nörgelei über ihn hören.«

»Dann werde ich meine Zunge im Zaum halten«, sagte Gill sarkastisch.

Firethorn nahm einen großen Schluck und stieß einen lauten Seufzer aus.

»Was ist diese Tournee doch für ein Elend! Mir gefällt diese Reise nicht, und ich fürchte, ich gefalle ihr auch nicht. Nichts außer Schwierigkeiten bisher. Wir haben Regen, Raub und Ruin erduldet. Und das schlimmste ist, daß ich so weit von zu Hause weg bin und keinen Trost am sanften Busen meiner Frau finden kann.«

Gill und Hoode wechselten einen Blick erschöpfter Belustigung. Mit einer Frau oben in seinem Bett und einer anderen, die in seinen Phantasien eine wichtige Rolle spielte, schaffte Lawrence Firethorn es immer noch, in einem Anfall ehelicher Sentimentalität zu zerfließen, mit allen Anzeichen völlig Ernsthaftigkeit. Ein Glück war aber auch seine Fähigkeit, Margery vollkommen aus seinen Gedanken zu verdrängen. Nur in Zeiten größter Anspannung tauchte sie wieder vor seinem inneren Auge auf und erinnerte ihn daran, daß er ihr Ehemann war.

Seine Kollegen lauschten seinen weinerlichen Worten mit einem gewissen Maß an Zynismus. Ihre Lage war schlimm, dennoch konnte man noch ein paar lustige Aspekte daran finden. Ais Firethorn den Höhepunkt des Selbstmitleids erreicht hatte, wurde er von der Ankunft eines ängstlichen George Dart unterbrochen.

»Was willst du?« grollte Firethorn.

»Ich bringe Euch eine Nachricht von der Dame, Sir.«

»Mistress Becket?«

»Mistress Budden.«

»So redet schon.«

»Wir saßen nebeneinander auf dem Kutschbock, Master, und ich war so frei. Euch vor ihren Ohren zu loben.« Ein Lächeln erschien auf Firethorns Gesicht. »Ich habe von Eurer schönen Stimme gesprochen und daß Ihr das Gebetbuch so schön aufsagen könntet, als sei es Musik des Himmels.«

»So ist es, George, so ist es.«

»Mistress Budden war davon sehr beeindruckt.«

»Wie lautet ihre Botschaft?«

»Sie sitzt im Bett«, sagte Dart. »Es ist ihr größter Wunsch, daß Ihr ihr aus den Psalmen vorlest, bevor sie die Augen zu christlichem Schlafe schließt.«

Lawrence Firethorn spürte das Wiedererwachen seiner Lust. Eine Gelegenheit, die er niemals erhofft hatte, breitete sich jetzt vor ihm aus. Eleanor Budden lag in ihrem Schlafzimmer, voller Vertrauen auf den Klang seiner Stimme. Psalme konnten zu Liebesseufzern führen. Während die Versuchung an seinen Lenden leckte, sah er die Hindernisse. Susan Becket wartete im Nachbarzimmer. Eine Kostümkiste mußte aufgespürt, Pläne gemacht werden. Die Arbeit würde ihn noch für Stunden hier unten festhalten.

Die Enttäuschung bohrte in seinen Eingeweiden, aber es gab keinen Ausweg für ihn. Ohne auf die grinsenden Gesichter von Gill und Hoode zu achten, wandte er sich mit überlegener Ruhe an den Boten.

»Sag ihr, ich könne heute nacht nicht kommen. Aber ich würde aus ganzem Herzen für Mistress Budden beten.«

Und mit dieser zweideutigen Bemerkung ließ er es bewenden.

*

Das erste, was er bemerkte, war der Gestank, der seinen Geruchssinn attackierte. Der Schuppen war als Stall für einen Esel benutzt worden, dessen Kot sich mit dem Stroh vermischt hatte. Als er versuchte, sich zu bewegen, fühlte sich sein Kopf an, als wolle sich jemand von hinten Zugang zu seinem Schädel verschaffen. Nicholas Bracewell blieb bewegungslos liegen, bis sein Kopf sich geklärt hatte. Irgend etwas kitzelte ihn am Fuß. Er öffnete ein trübes Auge und erkannte die traurige Gestalt des Richard Honeydew, der ein Bein ausstreckte, um ihn anzustupsen. Der Junge war immer noch gefesselt und geknebelt. Nicholas' erster Impuls war, ihn loszubinden, doch als er sich bewegte, merkte er, daß auch er gefesselt und mit einem Strick an einem Eisenring in der Wand festgebunden war. Die Beule an seinem Hinterkopf begann wieder zu schmerzen, doch der Knebel im Mund dämpfte sein Stöhnen.

Nicholas wartete, bis der Schmerz nachließ, dann machte er eine Bestandsaufnahme der Lage. Er saß aufrecht an eine grobe Mauer gelehnt, unfähig, sich zu bewegen, wegen seiner Fesseln. Ihm gegenüber saß Richard Honeydow, den man am eisernen Fenstergitter festgebunden hatte. Seine Freude, den Jungen zu sehen, wurde überschattet von dem Zustand, in dem er ihn fand. Honeydews Gesicht war blutverschmiert, seine Kleider verdreckt und zerrissen. Er sah nicht so aus, als habe er viel zu essen bekommen, seit er entführt worden war. Gewissensbisse überfielen Nicholas. Anstatt den Lehrling zu retten, hatte er sich selbst einfangen lassen.

Er zerrte mit aller Kraft, doch die Fesseln hielten. Als er versuchte, zu sprechen, brachte er nur ein schwaches Grunzen zustande. Er hatte so viele Fragen, aber keine Chance, sie zu stellen. Als er sich nach Hilfe umblickte, fiel sein Blick auf die alten Mauern, deren Kalk abblätterte. Eine Idee bildete sich in seinem Kopf. Er drehte sich so weit herum, daß er die Beine heben und mit den Füßen ein einziges Wort in die Wand kratzen konnte.

WER?

Richard Honeydew reagierte auf gleiche Weise. Er zog sich am Fenstergitter hoch und schwang die Beine herum, bis sie die weißgekalkte Wand berührten. Im Halbdunkel ihrer stinkenden Zelle kratzte er langsam und mühselig einen Namen auf die Wand. Die Buchstaben waren krakelig und undeutlich, aber ihre Bedeutung um so wichtiger.

Nicholas Bracewell war wie vor den Kopf geschlagen. — Es war unglaublich.

*

Trotz allen Übels behielt Christopher Millfield seine gute Laune. Lange Gesichter und schlechte Nerven umgaben ihn, aber seine Spannkraft war bemerkenswert. Anstatt sich von der allgemeinen schlechten Laune beeindrucken zu lassen, war er heiter und behielt eine positive Grundeinstellung. Da er mit George Dart und den drei Schauspielschülern in einem Zimmer zusammenwohnte, hatte er ein reiches Betätigungsfeld.

»Morgen sieht alles schon viel besser aus«, sagte er.

»Es könnte kaum noch schlimmer werden«, stöhnte Dart.

»Für jedes Problem gibt es eine Lösung.«

»Aber wir haben so viele Probleme, Master Millfield.«

»Laß Hoffnung in dein Herz hinein, George.«

»Dafür ist kein Platz mehr da.«

Christopher Millfield lehnte sich vor und gab ihm einen aufmunternden Klaps auf die Schulter. Als er vom Bett sanftes Schnarchen hörte, senkte er die Stimme, um die Schläfer nicht zu stören.

»Wir sind Schauspieler«, sagte er leise, »nichts darf unsere Kunst beeinflussen. Wenn einer unserer Lehrlinge verschwindet, nun, dann füllen wir seine Rolle mit einer anderen Stimme. Wenn sämtliche Kostüme gestohlen werden, dann bitten und betteln wir uns andere zusammen oder machen uns neue. All das sind nur Rückschläge, die wir überwinden können.«

»Ihr vergeßt Master Bracewell.«

»Aber keineswegs, Sir. Ich habe größtes Vertrauen in ihn.«

»Und was ist, wenn er nicht zurückkommt?«

»Nick Bracewell wird zurückkommen«, sagte Millfield voller Vertrauen. »Ich habe noch nie einen fähigeren Mann am Theater getroffen. Die ganze Gruppe dreht sich nur um ihn, er würde sie in der Stunde der Not niemals im Stich lassen.«

»Ich dachte, Ihr mögt ihn nicht«, sagte Dart.

»Es gibt bei Westfield's Men keinen, den ich mehr respektiere, das gilt auch für Master Firethorn. Ich gebe zu, daß ich beleidigt war, als unser Regisseur Gabriel Hawkes an meiner Stelle vorschlug, aber das ist jetzt alles Vergangenheit. Mittlerweile kann ich die Wahrheit akzeptieren, George.«

»Die Wahrheit?«

»Gabriel war besser.«

»Zu mir war er immer freundlich.«

Millfield seufzte. »Es tut mir weh, daß wir solche Rivalen waren. Unter anderen Umständen hätten Gabriel und ich gute Freunde sein können. Er war ein großer Verlust.« Die positive Stimmung kehrte zurück. »Das ist der Grund, daß ich so dankbar bin, daß ich mit der Gruppe reisen kann. Ich habe Vorteile durch Gabriels Tod gewonnen, und das bedrückt mich, aber es bestärkt mich auch in meiner Absicht, aus dieser Chance das Beste zu machen und mich durch Schwierigkeiten nicht unterkriegen zu lassen. Wir sind Leute, die Glück haben, George. Wir haben Arbeit. Denk mal darüber nach.«

Der andere tat, wie ihm gesagt wurde, und sank schon bald mit allerlei tröstlichen Gedanken in Schlaf. Millfield war ein echter Mann des Theaters. Was auch immer passierte, die Gruppe mußte trotzdem weitermachen. George Darts Schnarchen vereinigte sich mit den Schlafgeräuschen der anderen unschuldigen Kinder.

Christopher Millfield wartete eine halbe Stunde, bevor er sich bewegte. Dann stand er auf, zog sich leise an und verließ den Raum. Ein paar Minuten später sattelte er ein Pferd und führte es auf mit Sackleinen umwickelten Hufen in den gepflasterten Hof.

Dann ritt er wohlgemut in die Dunkelheit hinaus.

*

Nicholas Bracewell war immer noch benommen. Sein Schädel hämmerte, seine Augen blickten trübe, Blut tropfte in seinen Nacken. Der Gestank in dem Schuppen war atemberaubend, sein Magen drehte sich um. Stramm gefesselt wie er war, schmerzte ihn jeder Muskel seines Körpers. Was ihn jedoch am meisten schmerzte, war die Tatsache, daß Richard Honeydew ihn in diesem Zustand sah. Der Junge brauchte dringend Hilfe, aber alles, was sein vermeintlicher Retter geschafft hatte, war, sich selbst in die gleiche Misere zu manövrieren. Schuldgefühle brannten wie Feuer in Nicholas Bracewell. Es half, sich auf ihre schwierige Lage zu konzentrieren.

Das wichtigste war, daß er mit dem Jungen sprechen konnte, und das hieß, daß er den Knebel loswerden mußte. Mit den Knien konnte er ihn nicht abstreifen, deshalb sah er sich nach einem anderen Hilfsmittel um. Rechts von ihm an der Wand stand ein hölzerner Rechen. Weil er ihn mit den Füßen nicht erreichen konnte, zog er mehr und mehr Stroh auf sich zu, und das brachte das Werkzeug näher an ihn heran. Gleichzeitig rückten ihm auch Berge von Kot immer näher, und seine Schuhe waren schon bald davon verdreckt, aber er ließ nicht nach. Richard Honeydew beobachtete mit Interesse, wie sein Freund den Rechen näherzog und dann beide Beine hob, um die Füße heftig auf die Zacken des Rechens zu schlagen. Der Rechen schlug hoch, Nicholas mußte den Kopf einziehen, als der Schaft dicht neben ihm gegen die Wand schlug. Er klemmte das Gerät mit der Schulter ein und benutzte das Endstück, um den Knebel langsam nach oben zu schieben. Das war fürchterliche Arbeit und brachte ihm zahlreiche Stöße ins Gesicht ein, aber irgendwann schaffte er es, das Ding so weit zu verschieben, daß er sprechen konnte.

Die Worte sprudelten neben tiefen Atemzügen aus ihm hervor.

»Wie geht es dir, Junge?«

Der Junge nickte tapfer mit dem Kopf, in seinen Augen glitzerte Mut.

»Bist du schwer verletzt?«

Richard Honeydew schüttelte den Kopf und machte ein Geräusch.

»Ich will versuchen, dich von deinem Knebel zu befreien, Dick.«

Mit seinem Körper und den Füßen stieß Nicholas den Rechen auf den Jungen zu, und der versuchte, Nicholas' Methode nachzumachen. Er brauchte viel länger dazu und holte sich manchen harten Schlag ins Gesicht, aber irgendwann schaffte auch er es, den Knebel aus dem Mund zu stoßen. Gierig füllte er die Lungen mit Luft, dann hustete er schrecklich.

»Die stinken uns hier drin noch zu Tode«, sagte Nicholas.

»Wie habt Ihr mich gefunden, Master Bracewell?«

»Das ist jetzt nicht wichtig, Dick. Hauptsache, ich kriege dich hier gesund heraus. Wie viele von ihnen sind hier?«

»Zwei. Sie haben mich zusammen entführt.«

»Im Auftrag von Banbury's Men.«

»Waren die das, die mich entführt haben? Ich hatte keine Ahnung. Sie halten mich hier gefangen und kommen nur, wenn es Zeit zum Essen ist.«

»Du siehst erbärmlich aus.«

»Mir geht es gut«, sagte der Junge mit wenig Überzeugungskraft.

»Die werden dafür bezahlen, was sie dir angetan haben.«

»Die sind es nicht, vor denen ich Angst habe, Master. Die haben mich gefesselt, aber nicht schlecht behandelt.« Voller Ekel sah er sich um. »Was mir angst macht, ist die Dunkelheit, die Nässe und der Gestank, besonders aber die Ratten.«

»Ratten?«

»Manchmal schnüffeln sie hier herum. Ich habe Angst, daß sie mich bei lebendigem Leibe auffressen!« Er entspannte sich sichtlich. »Aber jetzt, wo Ihr da seid, nicht mehr. Bei Euch fühle ich mich in Sicherheit.«

»Keine Ratte wird dir etwas antun, Dick.«

Der Junge lächelte. »Ich wußte, daß Ihr mich holen würdet.«

»Sag mir ganz genau, was alles passiert ist.«

Während er zuhörte, was Honeydew zu erzählen hatte, glitten seine Augen durch den ganzen Schuppen auf der Suche nach einer Fluchtmöglichkeit, doch keine zeigte sich. Plötzlich bemerkte er eine Bewegung unter dem Stroh neben einem hölzernen Wassereimer. Als der Junge die Bewegung bemerkte, geriet er in Panik.

»Eine Ratte! Eine Ratte! Schon wieder eine Ratte!«

Das Untier kam unter dem Stroh hervor und trippelte auf den entsetzten Jungen zu. Nicholas schrie und trat mit den Füßen nach der Ratte, trieb sie in die Flucht und warf auch den Wassereimer um. Als das kalte Wasser seine Lage nur noch schlimmer machte, fing er an zu schimpfen und zu zetern, hörte aber schon bald damit auf. Der Zwischenfall konnte vielleicht doch noch etwas Gutes haben. Fast mußte er lächeln.

»Ich sehe einen Hoffnungsschimmer, Dick.«

»Wirklich, Master?«

»Vielleicht gibt es doch noch einen Weg hier raus.«

»Wie denn?«

»Das wirst du schon sehen. Aber ich brauche deine Hilfe.«

»Ich tue alles, was ich kann, Sir.«

»Dann ermutige mich bei der Arbeit.«

Richard Honeydew verstand schon bald, was er meinte. Die festgetretene Erde unter dem Stroh war durch die Überschwemmung lockerer geworden. Nicholas benutzte seine Schuhe als primitive Spaten und kratzte dicht an der Wand ein Loch in den Boden. Je tiefer er kam, desto weicher wurde die Erde, die er neben sich aufhäufte. Es war eine lange und anstrengende Arbeit, die ihm den Schweiß aus jeder Pore trieb und seinen Körper ächzen ließ, als ob er zerspringen würde. Jedesmal, wenn er dicht vor dem Aufgeben stand, sah er zu dem Jungen hinüber und bekam alle Anfeuerung, die er brauchte.

»Macht weiter, Sir! Ihr schafft ein Wunder! Weiter so!«

Nicholas machte weiter, bekam Schrammen ab und wurde völlig verdreckt, aber er machte gute Fortschritte. Irgendwann war das Loch groß genug, um sich darin herabzulassen und eine letzte Anstrengung zu unternehmen.

Er hatte die Mauer vollständig unterhöhlt. Als er sich testweise gegen die Mauer stemmte, bewegte sie sich ganz leicht. Richard Honeydew kicherte vor Freude.

»Wir haben es fast geschafft!«

»Noch nicht, Junge.«

»Ich kenne Eure Kräfte, Sir. Ihr schafft es.«

Nicholas nickte erschöpft. Die wirkliche Anstrengung kam erst noch. Er schob, spürte, wie die Mauer leicht nachgab, rastete einen Moment und rückte sich in die richtige Position. Dann nahm er alle seine Kräfte zusammen, stemmte sich mit den Füßen ab und preßte sich mit seinen breiten Schultern gegen die Wand. Er brauchte mehrere schmerzhafte Minuten, doch seine Mühe war nicht umsonst. Mit einem dumpfen Poltern gab die Wand nach, große Steinbrocken fielen krachend um ihn herum zu Boden. Nicholas war zerschrammt, zerschürft und blutig, aber seine Hände waren frei von dem Metallring. Wieder und wieder rieb er seine Handgelenke gegen die scharfe Kante eines Mauerbrockens.

»Ihr habt es geschafft, Master Bracewell!« sagte der Junge.

»Mit deiner Hilfe.«

»Ich habe Euch nur zugesehen.«

»Und mich moralisch unterstützt.«

»Könnt Ihr den Strick durchreiben?«

»Schon fertig!« sagte Nicholas und hob seine ungefesselten Hände.

Er warf die Strickreste beiseite und kroch zu dem Jungen, um auch seine Stricke zu lösen. Bevor er sich jedoch an die Fußgelenke machen konnte, hörten sie das Geräusch rennender Füße. Nicholas richtete sich auf und sprang zur Tür, als sie gerade von außen geöffnet wurde. Ein kräftiger junger Mann kam mit einem Dolch in der Hand hereingestürmt. Nicholas packte ihn am Gelenk der Messerhand und am Genick, stieß ihn hart gegen die Reste der Wand, entriß ihm die Waffe und setzte sie ihm an die Kehle. Der Mann war überrumpelt und hatte Angst.

»Bringt mich nicht um, bitte!« flehte er.

»Wer seid Ihr?«

»Ich bin nur ein Pferdeknecht, Sir. Ich arbeite hier in dem Gasthof.«

»Ihr habt uns hier eingesperrt.«

»Nur, weil ich dafür bezahlt wurde. Ich wollte Euch nichts Böses tun.«

»Keine Bewegung!«

Nicholas nahm den Dolch, um die Stricke an seinen Fußgelenken zu durchtrennen, dann tat er bei dem Jungen das gleiche. Er setzte dem Pferdeknecht ein Knie auf die Brust und hielt ihm den Dolch unter die Nase.

»Ihr wart es, der mich von hinten niedergeschlagen hat«, beschuldigte er ihn.

»Ich hatte den Befehl, den Jungen zu bewachen.«

»Was hat man Euch sonst noch befohlen?«

»Die Kiste im Stall zu verstecken.«

»Welche Kiste?«

»Da sind Kostüme drin, Sir.«

»Von Westfield's Men?«

»So lautete der Name.«

Nicholas stand auf und riß den Mann auf die Füße. Er brauchte seinen Gefangenen nicht mehr zu bedrohen. Völlig eingeschüchtert führte der Mann sie sofort zu dem Teil der Stallungen, wo er die Kostümkiste versteckt hatte. Nicholas war froh, als er auch die beiden Pferde dort vorfand, und bekam bei der Gelegenheit auch sein Schwert und seinen Dolch zurück. Mit dem Rapier heftete er den Mann an die Wand, während er überlegte.

»Ist die Gruppe schon zurück?« erkundigte er sich.

»Noch nicht, Sir. Sie feiern noch in Lavery Grange.«

»Führt mich ins Zimmer von Master Randolph.«

»Wer, Sir?«

»Der hat hier das beste Zimmer.«

»Das ist an der Vorderseite des Gasthofes, Sir.«

»Zeigt mir den Weg.«

»Ich hab' dort oben nichts zu suchen.«

»Aber ich«, sagte Nicholas. »Führt mich hin, oder Ihr verliert ein Ohr!«

Vorsichtig gingen sie über den Hof.

*

Lambert Pym stand in seinem Brauhaus am Ende des Gasthofes und beobachtete, wie ein weiteres Faß gefüllt wurde. Es kam jetzt in den Keller, um zu reifen, bis es angezapft und getrunken werden konnte. Pym

war mit dem Geruch von Bier und Ale in der Nase aufgewachsen, und der blieb an ihm, wohin er auch ging. Seine Kunden im Trip to Jerusalem kauften Bier, oder Ale, wenn sie ein bißchen mehr Geld hatten. Er importierte etwas Wein aus Bordeaux, aber der war den meisten Leuten zu teuer. Griechischer Malvasier war sogar noch teurer, wie Kanarienwein, aber Pym hielt für bestimmte Kunden einen kleinen Vorrat von beidem bereit. Während der drei Pfingstfeiertage würde es seinen Vorräten tüchtig ans Leder gehen.

Der Gastwirt kam gerade in den Schankraum zurück, als Robert Rawlins im Begriff war zu gehen. Lambert Pym lächelte einladend.

»Werdet Ihr Pfingsten bei uns sein, Master?«

»Ich hoffe es, Sir.«

»Ihr werdet erleben, daß ein Meer aus Bier hier getrunken wird.«

»Nicht gerade ein erhebender Anblick.«

»Trinken hat seinen Platz im Leben der Männer.«

»Ich weiß«, sagte Rawlins mit offenkundigem Abscheu.

»Gott im Himmel hat es persönlich gutgeheißen, Sir.«

»Keine Gotteslästerungen!«

»Bei der Hochzeit zu Kanaan hat er Wasser in Wein verwandelt«, sagte Pym. »Das war sein erstes Wunder.«

»Aber offen für jede Art der Interpretation.«

»Wein hat seinen festen Platz«, sinnierte der andere, »aber einen Engländer kann man nicht von seinem Bier wegbekommen. Schaut Euch das Beispiel von Fuenterrabia an.«

»Wo?«

»Das ist in Nordspanien.« Pym grinste ölig, während er seine Lieblingsgeschichte erzählte. »Der erste Feldzug unter der Herrschaft des guten Königs Henry, dem Vater unserer derzeitigen geliebten Königin. Er schickte eine Armee von siebentausend englischen Soldaten, um seinem Schwiegervater, dem König Ferdinand, dabei zu helfen, den Franzosen Navarro abzunehmen, Wißt Ihr, was diese standhaften Männer vorfanden?«

»Was denn, Sir?«

»Es gab kein Bier in Spanien! Nur Wein und Süßmost.« Er lachte fröhlich. »Die Soldaten meuterten auf der Stelle, und ihr Befehlshaber, der Marquis von Dorset, war gezwungen, sie wieder nach Hause zu führen. Sie konnten nicht mit leerem Magen kämpfen, Sir, und Bier war ihr einziger Wunsch.«

Robert Rawlins hörte sich diese Erzählung mit höflicher Ungeduld an, dann wandte er sich um, um zu gehen, doch jetzt war ihm der Weg versperrt. Auf der Türschwelle standen zwei Konstabler. Einer von ihnen hielt einen Haftbefehl hoch, als er auf ihn zuging.

»Ihr müßt mit uns kommen, Sir.«

»Unter welcher Beschuldigung?«

»Ich denke, die kennt Ihr.«

Bevor er noch etwas sagen konnte, wurde Rawlins völlig unzeremoniell hinausgeschleppt. Lambert Pym war verblüfft, doch sein Instinkt leitete ihn. Sofort rief er seinen Jungen zu sich.

»Bring sofort eine Nachricht nach Marmion Hall.«

*

»Sir Clarence Marmion hat ein Porträt in Auftrag gegeben.«

»Von ihm selbst, Master Quilley?«

»Ja, Sir.«

»Eine Miniatur?«

»Ich bin Miniaturmaler. Ich mache nichts anderes, Sir.«

»Euer Ruhm wird immer größer.«

»Genialität ist sich selbst die beste Empfehlung.«

»Freut Ihr Euch darauf, Sir Clarence zu malen?«

»Nein, Sir. Ich hoffe nur ganz einfach, daß er mich für meine Arbeit auch bezahlt.«

Oliver Quilley betrachtete seine Kunst mit realistischen Augen. Aufträge zu bekommen war nie das Problem gewesen. Das lag vielmehr im Einkassieren seines gerechten Lohns. Viel zu viele seiner Modelle, besonders jene am königlichen Hof, waren wohl der Meinung, ihr gönnerhaftes Benehmen sei bereits Bezahlung genug, und Quilley hatte Dutzende der glühendsten Dankesbezeugungen eingeheimst anstelle seines hartverdienten Lohns. Das verursachte bei ihm einen Zynismus, der ihn nie wieder ganz verließ.

Er ritt neben Lawrence Firethorn, als die Gruppe weiter nach Norden zog. Westfield's Men befanden sich im Zustand der Depression. Ohne ihre Kostüme, ohne ihren Lehrling und ohne ihren Regisseur sahen sie keine Überlebens-Chance mehr. Sie bildeten eine jämmerliche Prozession.

»Wie habt Ihr Anthony Rickwood kennengelernt?« fragte Firethorn.

»Durch einen Freund.«

»Habt Ihr ihn nicht für einen Verräter gehalten?«

»Ich habe es ihm am Gesicht angesehen.«

»Aber trotzdem habt Ihr seinen Auftrag angenommen?«

»Sein Geld war genausogut wie das jedes anderen.«

»Aber befleckt, Master Quilley.«

»Wieso?«

»Rickwood hat seine Königin verraten.«

»Er hat mich mit Gold bezahlt«, sagte der Künstler. »Nicht mit dreißig Silberlingen.«

»Ich persönlich könnte nicht für einen solchen Mann arbeiten.«

»Eure Gefühle ehren Euch, Master Firethorn, aber sie sind fehl am Platze. Ihr habt viele hundert Male vor Leuten wie Anthony Rickwood gespielt, jawohl, und vor schlimmeren als ihm.«

»Das weise ich entschieden zurück, Sir!«

»Habt Ihr nicht in Pomeroy Manor gespielt?«

»Ja, das haben wir. Mein Tarquinius hat sie fasziniert. «

»Der wird dort nicht mehr zur Aufführung kommen«, sagte Quilley selbstzufrieden. »Master Pomeroy liegt im Tower in Ketten. Es sieht so aus, als hättet Ihr vor Verrätern gespielt.«

»Ist das wirklich wahr?« fragte Firethorn.

»Ich weiß es von Leuten, die es wissen müssen.«

»Der Herr möge uns retten.«

»Für Master Pomeroy kommt Er vielleicht zu spät.«

Firethorn ritt etwas abseits, um über die Folgen dessen nachzudenken, was er gerade gehört hatte. Das bewirkte mehr als nur ein sanftes Kräuseln auf der Oberfläche seiner Eitelkeit. Der Besuch auf Pomeroy Manor war ein Triumph gewesen, den er auf der Rückreise nach London gerne wiederholt hätte. Es war nicht gut für den Ruf von Westfield's Men, wenn sie zugeben mußten, daß einer ihrer begeistertsten Zuschauer ein Feind des Staates gewesen war. Von seiner Speerspitze über Bishopsgate würde Neville Pomeroy keine Theaterstücke mehr sehen.

Der Erste Schauspieler suchte Trost bei der Aussicht auf Eleanor Budden, doch den fand er nicht. Obwohl ihre Schönheit eine Reife hatte, die einfach großartig war, fand er keinen Zugang dazu. Mit gerunzelter Stirn befand sie sich mitten in einer Diskussion mit Christopher Millfield, der jetzt den Wagen fuhr. Die beiden saßen lebhaft debattierend auf dem Kutschbock.

»Ich habe der Stimme Gottes gehorcht«, sagte sie.

»Ihr seid irgendeinem inneren Sehnen gefolgt, Mistress.«

»Sein Wort steht an allerhöchster Stelle.«

»Wenn es das war, was Ihr gehört habt.«

»Dessen bin ich ganz sicher, Master Millfield.«

»Diese Sicherheit haben sie alle«, argumentierte er. »Die Puritaner, die Presbyterianer, die Römisch-Katholischen und noch viele andere. Sie alle sind absolut sicher, daß sie Gottes Wort deutlicher gehört haben als alle anderen. Warum solltet Ihr einen besonderen Zugang zum göttlichen Befehl haben?«

»Weil ich ausgewählt wurde.«

»Von Gott — oder von Euch selber?«

»Hinweg mit Eurer Unverschämtheit, Sir!«

»Ich frage in aller Freundlichkeit, Mistress Budden.«

»Zweifelt Ihr an meiner Aufrichtigkeit?«

»Nicht im geringsten. Eine Frau, die Haus und Familie aufgibt und sich auf eine so beschwerliche Reise begibt, der muß es wirklich ernst sein. Was ich in Frage stelle, ist die Stimme Gottes.«

»Ich habe sie klar und deutlich gehört, Sir.«

»Aber kam sie von außen oder von innen?«

»Ist das wichtig?«

»Ich denke schon.«

»Es steht uns nicht zu, Gottes Geheimnisse ergründen zu wollen.«

»Aber auch nicht, uns ihnen blind zu unterwerfen.«

»Das ist ja Gotteslästerung!«

»Ihr habt Eure Überzeugungen und ich habe meine.«

»Seid Ihr vielleicht ein Atheist, Sir?«

Bevor er noch antworten konnte, tauchten vor ihnen zwei Gestalten auf einem haselnußbraunen Hengst auf. Ein zweites Pferd zog eine Kiste hinter sich, die auf einem Geflecht aus langen, dünnen Ästen befestigt war. Sie erkannten die Kiste sofort. Nicholas Bracewell war wieder da. Er brachte den verschwundenen Lehrling zurück, die gestohlenen Kostüme und sogar Oliver Quilleys Pferd. Die ganze Gruppe brach in laute Rufe aus, als sie vorwärtsstürmten, um ihren Held zu begrüßen.

Die Ankömmlinge wurden von ihren Freunden umringt und mit Fragen bombardiert. Eleanor Budden starrte ihren Geliebten an und rief seinen Namen. Barnaby Gill wollte wissen, ob seinem goldenen Wams auch nichts passiert war. Edmund Hoode fragte, ob sie wüßten, wer seine Rolle als Sicinius gespielt habe. Martin Yeo, Stephen Judd und John Tallis begrüßten ihren wiedergefundenen Freund mit einer Begeisterung, die schon fast an Hysterie grenzte. Susan Becket schnalzte mit der Zunge. George Dart konnte wieder ein lustiger Geselle sein.

Lawrence Firethorn brachte sie alle zur Ruhe und verlangte einen kompletten Bericht. Obwohl sie schmutzig und erschöpft waren, hatten sich die beiden an einer Quelle etwas waschen können und festgestellt, daß ihre Verletzungen nur harmlos waren. Die Wiedervereinigung mit ihren Freunden ließ neue Kraft in ihre Adern strömen.

»Wer hat den Jungen entführt?« fragte Firethorn.

»Banbury's Men«, antwortete Nicholas.

»Diese widerlichen Hunde! Dafür schleppen wir sie vor Gericht!«

»Es gibt andere Möglichkeiten, es ihnen heimzuzahlen.«

»Und die Kostüme, Nick?«

»Das waren dieselben Übeltäter.«

»Wo habt Ihr mein Pferd gefunden?« fragte Quilley.

»Das war durch göttliche Vorsehung bewirkt.,«

Nicholas erzählte die Geschichte und spürte, daß Eleanor Budden ihn bewundernd anblickte. Als er davon berichtete, wie er vier Männer in die Flucht geschlagen hatte - und er berichtete in einfachen Worten - verspürte auch Susan Becket ein gewisses Herzflattern. Diese weiblichen Reaktionen blieben Lawrence Firethorn nicht verborgen, der versuchte, wenigstens ein paar dieser bewundernden Blicke auf sich zu lenken.

»Beim Himmel!« brüllte er, riß sein Schwert heraus und reckte es gen Himmel. »Ich werde diesem Giles Randolph so viele Löcher in den Pelz brennen, daß er Pfeiftöne macht, wenn er über die Bühne geht! Ich fordere ihn zu einem Duell heraus und mache den Schuft ein paar Nummern kleiner! Ich lasse ihn für jedes Verbrechen zahlen, das er gegen uns verübt hat! An den Galgen mit ihm!«

»Macht Euch wegen Master Randolph keine Sorgen«, sagte Nicholas.

»Froschlaich in Menschengestalt!«

»Der hat genug eigene Probleme.«

»Das Gefängnis ist zu gut für so einen Halunken!« kreischte Firethorn. »Er hat es gewagt, ›Pompeius den Großem zu stehlen!«

»Mein Stück«, rief Hoode. »Meine Rolle des Sicinius.«

»Das werden sie nicht mehr aufführen, Edmund.«

»Wieso könnt Ihr da so sicher sein, Nick?«

»Weil wir sie gestoppt haben.« Er winkte seinem Begleiter. »Zeig sie ihnen, Dick.«

Der Junge rannte zu der Kostümkiste, öffnete sie und holte einen ganzen Packen Textbücher hervor. Laut las er die Titel seinem begeisterten Publikum vor.

»Narretei und Liebe, Zwei Mädchen aus Milchester, Doppelte Täuschung, Eheglück und Mißvergnügen, Pompeius der Große.«

»Alle wieder da, wo sie hingehören«, sagte Nicholas. »Sie können unsere Stücke ohne diese Textbücher nicht mehr aufführen.«

»Bei allem, das ist ja wunderbar!« schrie Firethorn. »Laßt mich Euch beide umarmen, meine tollen Teufel!«

Er sprang vom Pferd und legte den beiden gratulierend die Arme um die Schultern. Die schlimmste Nacht seines Lebens war von einem der besten Tage abgelöst worden. Nicholas fügte noch weiteren Grund zur Freude hinzu.

»Die Zeit wird ihre Rache bringen, Sir.«

»Was meint Ihr damit?«

»Master Randolph hat heute morgen nichts zu lachen.«

»Ihr habt einen Schlag für Westfield's Men geführt?«

*

»Ich denke schon.«

Giles Randolph starrte die leere Kiste an mit einer Mischung aus Furcht und Schrecken. Sie hatte die ganze Nacht unter seinem vierpfostigen Bett gestanden, an einen der Füße gekettet. Das schwere Schloß war offenbar unversehrt, und dennoch war die Kiste leer. Der wertvollste Besitz der Gruppe war verschwunden. Randolph kreischte einen Namen, Mark Scruton kam angerannt. Ein einziger Blick auf die Kiste ließ ihn schneeweiß werden.

»Wann habt Ihr das entdeckt, Sir?«

»Gerade eben.«

»Habt Ihr die Kiste letzte Nacht geöffnet?«

»Die Rückfahrt von Lavery Grange war zu anstrengend, und es war viel Wein getrunken worden. Ich fiel sofort ins Bett und habe bis heute morgen tief geschlafen.« Randolph gab der leeren Kiste einen Tritt. »Wenn ich das gewußt hätte, hätte ich kein Auge zugetan.«

Mark Scruton überlegte schnell und blickte zur Tür. Dann winkte er dem anderen, ihm zu folgen, rannte aus dem Schlafzimmer und die Treppe hinunter zu der Tür, die in den Hof führte. Mit Randolph auf den Fersen lief er über den Hof und zu dem Schuppen jenseits der Stallungen. Er entriegelte die Tür, riß sie auf und erblickte etwas, das unter anderen Umständen komisch gewirkt hätte. Der stämmige Pferdeknecht war an Händen und Füßen gefesselt und am Fenstergitter angebunden. Man hatte ihm einen dicken Apfel in den Mund gesteckt und mit einem Lappen um den Kopf befestigt. Seine Augen waren rotunterlaufen und so groß wie Tomaten.

»Wo sind sie?« fragte Scruton.

Der stämmige Mann schüttelte den Kopf und hob die Schultern.

Giles Randolph stieß ein Geheul aus und kniete nieder. Mitten auf dem Stroh sah er einen Stapel Textbücher, die klatschnaß und dick von Kot bedeckt waren. Der Symbolismus entging ihm nicht. Er sprang entsetzt wieder hoch und zeigte mit zitterndem Finger auf seinen verdreckten Besitz.

»Mark Scruton!« zischte er.

»Ja, Sir?«

»Das ist Eure Schuld.«

»Ich bitte tausendmal um Entschuldigung.«

»Bringt Euren Mist in Ordnung!«

Kochend vor Wut verließ er diesen Ort des Entsetzens.

*

Der Hufschmied schlug den letzten Nagel ein, dann ließ er das Bein des Pferdes sinken. Mit einem haarigen Arm wischte er sich den Schweiß von der Stirn und drehte sich zu der vollbusigen Frau um, die die Zügel hielt.

»Geht ein bißchen vorsichtiger mit dem Tier um, Madam.«

»Dafür fehlt mir die Zeit, Sir.«

»Es wurde auf rauhem Grund zu hart geritten«, sagte der Hufschmied. »Deshalb hat es auch das Hufeisen verloren.«

»Davon wird es vielleicht noch mehr verlieren, bevor wir am Ziel sind.«

»Wohin reitet Ihr?«

»Nach York.«

»Das ist noch eine ganz schöne Strecke, Mistress.«

»Dann haltet uns nicht mit Eurem Geschwätz auf.«

Margery Firethorn steckte den Fuß in den Steigbügel und hievte sich in den Sattel, ohne irgend jemand um Hilfe zu bitten. Mit herrischem Fingerschnippen brachte sie einen der livrierten Diener an ihre Seite.

»Bezahl den Burschen!«

Dann galoppierte sie mit noch größerer Geschwindigkeit davon.

*

Als Westfield's Men den ersten Blick auf York warfen, blieben sie stehen und betrachteten die Stadt in all ihrer Größe. Aus dieser Entfernung und Höhe sah sie aus wie eine Märchenstadt vor einer gemalten Kulisse, und sogar die, die die Stadt früher schon gesehen hatten, staunten aufs neue.

Eleanor Budden faßte alles in einem Wort zusammen: »Jerusalem!«

Sie machten eine Pause, um Erfrischungen zu sich zu nehmen und die Kräfte für die letzten paar Meilen einer Reise zu sammeln, die immer anstrengender geworden war, seit sie die Grenze der Grafschaft überschritten hatten. Die Pferde wurden getränkt, Proviant verzehrt. Nicholas Bracewell wählte diese Pause, um allein mit Christopher Millfield zu sprechen. Obwohl er den Schauspieler zu Beginn der Reise überhaupt nicht gemocht hatte, wurde er ihm jetzt zunehmend sympathischer.

»Wie ist es Euch während meiner Abwesenheit ergangen, Christopher?«

»Unser Vertrauen in Euch war unerschütterlich.«

»Ich bin froh, daß die Sache so gut ausgegangen ist.«

»Ihr seid mit großer Beute heimgekehrt«, sagte Millfield. »Master Quilley freute sich, als er sein Pferd zurückbekam.«

»Ein glücklicher Zufall.« Nicholas sah den Schauspieler an. »Was haltet Ihr von unserem Miniaturmaler?«

»Maler sind immer ein bißchen verrückt.«

»Ist Euch irgend etwas an ihm aufgefallen?«

»Verschiedenes, aber das habe ich auf seinen Beruf zurückgeführt.«

»Schaut Euch diese Kleidung an«, sagte Nicholas. »Sehr teuer für einen Mann, der behauptet, kein Geld zu haben. Dann die Qualität seines Pferdes und vor allem die Satteltaschen aus feinstem Leder und mit goldverziertem Monogramm. Master Quilley ist nicht der arme Mann, der zu sein er vorgibt.«

»Woher soll sein Reichtum denn stammen?«

»Ich wünschte, ich wüßte es.«

»Vielleicht hat er einen reichen Gönner irgendwo.«

»Ein Name fällt mir spontan ein.«

»Welcher?«

»Sir Francis Walsingham.«

»Tatsächlich?« sagte Millfield überrascht. »Es fällt mir schwer, das zu glauben. Soll Master Quilley tatsächlich als Informant in seinen Diensten stehen?«

»Wer wäre besser dazu geeignet, Christopher? Er besucht die Häuser reicher Leute, wird bevorzugt behandelt und bekommt Dinge zu sehen, die einem normalen Besucher verborgen bleiben. Sein Beruf ist die ideale Tarnung für einen Spion.«

»Habt Ihr dafür irgendeinen Beweis?«

»Keinen, dem ich nicht mißtraute. Außer einer Sache, die ich in seinen Satteltaschen gefunden habe. Seht Euch das an.«

Christopher Millfield nahm das Papier, das Nicholas ihm reichte, und überflog die Namen. Er nickte zustimmend, als er es Nicholas zurückgab.

»Ihr habt guten Grund für Euren Verdacht.«

»Wirklich?«

»Zwei der Namen sind von Walsingham bereits erledigt worden. Drei der anderen kenne ich seit meiner Zeit mit den Admiral's Men. Ich möchte schwören, daß sie alle wegen ihrer religiösen Überzeugung verfolgt werden.«

»Was ist mit Sir Clarence Marmion und den anderen?«

»Da können wir nur vermuten.«

»Gleich und gleich gesellt sich gern.«

»Eure Schlußfolgerungen daraus?«

»Quilleys sämtliche Auftraggeber sind Katholiken.«

»Könnte er selbst eventuell ein Diener Roms sein?«

Das war eine weitere Möglichkeit, die sie kurz diskutierten, bevor sie sich anderen Dingen zuwandten. Nicholas war froh, daß er sich seinem neuen Freund anvertraut hatte. Millfield betrachtete ihn jetzt sorgenvoll.

»Wie fühlt Ihr Euch, Nick?«

»Schon viel besser.«

»Habt Ihr Euch von den Strapazen vollständig erholt?« fragte der andere besorgt. »Wir haben uns sehr gefreut, als Ihr und Dick Honeydew zurückkehrtet, aber Ihr beide saht mehr als strapaziert aus.«

»Ihr hättet uns sehen sollen, als wir aufbrachen. Wir waren blutbesudelt und so verdreckt, daß Ihr unseren Gestank in hundert Meter Entfernung hättet riechen können.« Die Erinnerung ließ ihn jetzt noch die Nase rümpfen. »Dick und ich machten an einem Fluß Pause und säuberten uns, bevor wir zurückkamen.«

»Ihr müßt jeden Knochen im Körper spüren.«

»Ich muß wohl noch ein bißchen von dieser Salbe machen.«

»Mir hat sie jedenfalls sehr geholfen.«

»Heute nacht werden wir bestimmt gut schlafen, denke ich.«

Millfield lächelte zustimmend, dann sah er zu Richard Honeydew rüber. Dem Jungen sah man noch die Folgen seiner Gefangenschaft an, aber er war ganz offensichtlich froh, wieder bei der Gruppe zu sein, und sein Gesicht wirkte lebhaft.

»Er steht hoffnungslos in Eurer Schuld, Nick.«

»Ich konnte die doch nicht unseren besten Lehrling klauen lassen.«

»Es geht tiefer als das.«

»Wir sind die besten Freunde.«

»Ihr seid für den Jungen wie ein Vater und riskiertet Euer Leben für ihn. Hattet Ihr je ein eigenes Kind?«

»Ich war nie verheiratet, Christopher.«

»Das eine hängt nicht immer vom anderen ab.«

Nicholas lachte ausweichend und wechselte das Thema. Er freute sich über sein Gespräch mit dem Schauspieler und entdeckte immer wieder Dinge, die er mochte. Als Millfield ging, zeigte sich jedoch, daß nicht alle die gute Meinung des Regisseurs über ihn teilten.

Eine besorgte Eleanor Budden kam auf ihn zu.

»Hört nicht auf ihn, Sir«, flehte sie.

»Auf Master Millfield?«

»Das ist ein sehr gefährlicher junger Mann.«

»Wieso, Mistress?«

»Weil er nicht an Gott glaubt.«

»Hat er das selbst gesagt?«

»Mehr oder weniger, Master Bracewell.«

»Ich kann das kaum glauben.«

»Seid auf der Hut, Sir!«

»Wovor?«

»Vor Atheismus in unserer Mitte!«

Nicholas nahm diese Behauptung nicht allzu ernst, und sie verfolgte das Thema auch nicht weiter, denn sie wollte den seltenen Moment mit ihm allein genießen. Liebe ließ ihre Augen wie Edelsteine glänzen.

»Es war wunderschön, als Ihr wieder zurückkamt!«

»Ich teile Eure Freude, Mistress.«

»Ich wußte, daß Gott Euch nicht von mir nehmen würde.«

»Mein Platz ist hier bei der Gruppe.«

»Und ich gehöre neben Euch.«

»Wir bringen Euch ohne Verzögerung nach York.«

»In Euch habe ich den wahren Weg gefunden!«

Ihre Inbrunst ging ihm ziemlich auf die Nerven, hilfesuchend blickte er sich um. Sich von Straßenräubern überfallen oder von seinen Rivalen gefangennehmen lassen war nichts im Vergleich dazu, von Eleanor Budden bedrängt zu werden. Wenn er nicht aufpaßte, würde sie ihm noch etwas rauben, was er nicht verlieren wollte, und ihn auf eine Weise gefangennehmen, die ihm nicht gefiel. Er hielt sie mit Fragen in Schach.

»Wie gefällt Euch die Kameradschaft der Schauspieler?«

»Eure Gesellschaft ist die einzige, die ich suche, Master Bracewell.«

»Interessiert Euch denn sonst niemand, Mistress?«

»Die verblassen alle neben Euch, Sir.«

»Was ist mit Master Quilley? Das ist ein berühmter Künstler. Habt Ihr Euch bereits mit ihm unterhalten?«

»Nur wenn ich ihn unterbreche«, sagte sie. »Er war ärgerlich, als ich ihn dabei überraschte, wie er mit seinen Karten spielte.«

»Karten?«

»Solche habe ich noch nie gesehen. Da waren merkwürdige Bilder drauf, die er alle mit großer Aufmerksamkeit studierte. Es war fast, als suche er irgendeine Botschaft darin.«

Nicholas Bracewell lächelte dankbar. So unerwünscht ihm ihre Aufmerksamkeit war, so hatte er doch das Gefühl, daß sie ihm eine wertvolle Information gegeben hatte.

Sein Mißtrauen gegenüber Oliver Quilley vertiefte sich.

*

Tage ohne seine Frau und Nächte ohne ihre lustvolle Zärtlichkeit hatten Veränderungen in Humphrey Buddens Leben bewirkt. Das Haus wirkte leer, die Kinder waren zänkisch, sein ganzes Dasein wirkte hoffnungslos und verödet. Langen Gesprächen mit Miles Melhuish folgten noch längere mit dem Dekan. Letzterer war es auch, der einen Vorschlag machte.

»Ihr habt gegen Eure Frau gesündigt.«

»Die Erinnerung daran bedrückt mich.«

»Ihr müßt ihre Vergebung suchen.«

»Wie soll ich das machen?«

»Nicht hier in Nottingham, das ist mal sicher.«

»Wo denn dann?«

»In York«, sagte der Dekan ernst. »Es gibt keinen besseren Ort, um Euch zu reinigen und zu versöhnen. Geht nach York, Sir. Sucht Eure entfremdete Frau in jenem Monument christlicher Hingabe. Das ist der Ort, wo Eure Hoffnungen liegen.«

»Wird sie mich denn zurücknehmen?«

»Wenn Ihr es verdient, Master Budden.«

»Sollte ich die Kinder mitnehmen?«

»Allein, Sir. Das ist eine Angelegenheit zwischen Euch beiden.« Er senkte seelsorgerisch die Lider. »Und zwischen Euren Körpern.«

Humphrey Budden trat am nächsten Tag die Reise nach York an.

*

Eine Glocke hatte die Eröffnung des Pfingstmarktes verkündet, und schon brach der Teufel los. Straßen, die normalerweise schon sehr belebt waren, waren jetzt verstopft. Läden und Stände, die üblicherweise sehr beschäftigt waren, sahen sich jetzt vollkommen umlagert. York barst vor Leben. Kesselflicker, Reisende, Pilger, Landvolk, Händler, Ritter und viele mehr strömten durch vier Tore in die Stadt. Straßensänger, Komödianten, Akrobaten und Jongleure wetteiferten um Aufmerksamkeit. Kindergeschrei und das Gekläff von Hunden steigerten noch eine Kakophonie, die durch das ununterbrochene Glockengeläut geradezu ohrenbetäubend wurde. Drei heilige Tage lang war die Stadt wie verrückt.

Westfield's Men kamen durch Micklegate in die Stadt und suchten sich ihren Weg durch die Massen zum Trip to Jerusalem, einem Ort, der für sie eine besondere Bedeutung hatte. Lambert Pym hieß sie übertrieben willkommen und geleitete sie bartkratzend zu ihren Zimmern. Auch für Oliver Quilley und Eleanor Budden wurden Zimmer gefunden. Die überschwengliche Susan Becket bestimmte sich erneut zu Lawrence Firethorns Bettgenossin. Jerusalem war eine sehr weiträumige Metapher.

Nicholas Bracewell wurde auf der Stelle zum Oberbürgermeister geschickt, um die Aufführungserlaubnis einzuholen. Als er mit dem Papier in der Hand zurückkam, fand er Lawrence Firethorn vor, der über einem Brief von Sir Clarence Marmion grübelte. Es war eine Einladung, in seinem Hause aufzutreten. Das waren wirklich gute Nachrichten. York zeigte sich als wichtiger Schrein für jegliche Pilgerfahrten. Jetzt wurde keine Zeit verloren. Plakate wurden gedruckt und ausgehängt, im Hof des Gasthauses wurde eine Bühne aufgerichtet, die erste Probe abgehalten. Die Hektik all dieser Aktivitäten ließ sie den Eindruck gewinnen, als seien sie zurück im Queen's Head.

Ein neues Drama von Edmund Hoode sollte seine Erstaufführung außerhalb Londons erleben. »Krieger des Kreuzes« hatte eine besondere Verwandtschaft mit ihrer eigenen Reise, denn es ging um einen Kreuzzug und führte Richard Löwenherz durch eine Reihe epischer Schlachten.

Westfield's Men hatten früher schon einmal ein Kreuzzugs-Stück aufgeführt, ein neues Stück eines gewissen Roger Bartholomew, eines Oxford-Schülers, der falschverstandene Vorstellungen vom Theater hatte. Hoodes Arbeit zeigte indes die Kennzeichen des echten Meisterwerks. Es war flüssig geschrieben, hatte Feuer und Leidenschaft und mitreißende Szenen. In dem Stück über Robin Hood hatte derselbe König nur eine geringfügige Rolle, in der er gegen Ende des Stückes den Held zum Ritter schlug.

»Krieger des Kreuzes« machte ihn zum Mittelpunkt der Handlung, und Firethorns Darstellung erhöhte ihn noch zusätzlich.

Nicholas Bracewell war fleißig und aufmerksam. Er brachte die Probe in Gang und merkte sich alle Fehler und Auslassungen im Verlauf der Handlung. Seine Bühnenarbeiter bekamen eine lange Liste mit Aufträgen, als alles vorbei war. Er selbst arbeitete bis zum späten Abend und begab sich dann in den Schankraum.

Oliver Quilley probierte den Malvasierwein.

»Master Bracewell, laßt mich Euch einen Drink spendieren.«

»Ich kann nicht hierbleiben.«

»Aber ich habe Euch noch gar nicht gedankt, daß Ihr mein Pferd gefunden habt.«

»Ich habe noch etwas anderes gefunden.«

Nicholas zog die Liste aus der Satteltasche hervor und gab sie dem Künstler. Quilley riß sie ihm geradezu aus der Hand.

»Ich sehe, daß einige Namen abgehakt sind, Master.«

»Diese Aufträge sind bereits erledigt.«

»Neben einer Person befindet sich ein Fragezeichen.«

»Wirklich?«

»Sir Clarence Marmion.«

»Ich kann nichts sehen.«

Quilley warf einen Blick auf die Liste, faltete sie zusammen und steckte sie ein. Ein merkwürdiges Lächeln hielt Nicholas in Schach. Der Regisseur sah den Künstler fest an.

»Woher wußtet Ihr etwas über Master Pomeroys Festnahme?«

»Nachrichten reisen schnell.«

»Nur mit besonderen Boten.«

»Ich habe meine Kontakte, Sir.«

»Das glaube ich auch.«

Der Künstler rückte mit nichts heraus. Seine unerschütterliche Ruhe war eine Herausforderung für Nicholas, der er sich jetzt jedoch nicht widmen konnte. Der Regisseur hatte eine wichtigere Aufgabe und entschuldigte sich. Er würde auf Oliver Quilley zurückkommen.

Die Nacht machte ihre ersten Schritte auf York zu, als Nicholas sich durch die Menschenmassen auf den Weg machte. Sogar im Durcheinander ihrer Ankunft hatte er Zeit gefunden, sich nach anderen Theatergesellschaften zu erkundigen. Banbury's Men waren am selben Tag in der Stadt eingetroffen. Sie waren im Three Swans in Fossgate abgestiegen. Er überquerte Ouse Bridge und hielt nach Norden zu, während er sich durch lärmende Straßen bewegte, an die er sich von einem mehrere Jahre zurückliegenden Besuch in der Stadt halbwegs erinnern konnte, und dem Yorkshire-Dialekt lauschte, den er von allen Seiten hörte.

Das erste, was er sah, als er Fossgate betrat, war die Merchant Adventurers Hall, ein schönes, dreischiffiges Gebäude mit einer Kapelle, die zum River Foss hinüberblickte. Erbaut aus Ziegelwerk und halbem Fachwerk, war es ein langes, hohes Gebäude, das die wichtige Stellung der Merchant Adventurers unter den fünfzig Gilden der Stadt unterstrich. Nicholas erinnerte sich an etwas, das er während seines Lebens in London vergessen hatte. Auch York hatte seinen Reichtum.

Three Swans war ein Haus mittlerer Größe, das um einen wellenförmigen Hof herumgebaut war. Banbury's Men waren noch bei der Probe. Laute Stimmen erklangen hinter den Hoftoren, die geschlossen worden waren, um die Neugierigen auszusperren. Nicholas betrat das Gasthaus, kaufte sich einen Becher Ale und schlenderte durch den Schankraum zu einem Fenster, von dem er den Innenhof einsehen konnte. Es gab Galerien auf zwei Ebenen; Nicholas schätzte, daß sich morgen an die vierhundert Zuschauer hier drängen würden. Jerusalem mit dem größeren Hof hatte alle Vorteile auf seiner Seite. Lawrence Firethorn würde das gefallen.

Das Licht wurde jetzt zusehends schwächer, doch die Schauspieler blieben bei der Arbeit und versuchten voller Hektik, die unzähligen Fehler auszubügeln, die ihnen durch die ruinierten Textbücher entstanden waren. Nicholas wartete, bis niemand in seine Richtung schaute, dann huschte er eine Treppe hinauf und öffnete eine Tür. Er befand sich jetzt auf der Galerie der ersten Ebene und konnte den letzten Teil der Probe sehen. Es handelte sich um ein rustikales, derbes Stück von unerheblicher Qualität, und sie spielten es ohne Feuer oder Überzeugung. Durch einen Spalt in dem Vorhang, den sie vor ihrer Garderobe angebracht hatten, konnte er ihren Regisseur sehen, der das Textbuch weit von sich hielt und die Seiten sehr vorsichtig umdrehte.

Giles Randolph hatte wie üblich die Hauptrolle, die anderen Teilhaber waren um ihn gruppiert. Doch soviel er auch schaute, Nicholas konnte das Gesicht, das er am meisten suchte, nicht finden. Er starrte immer noch mit aller Kraft seiner Augen in die Dämmerung, als eine Stimme hinter ihm ihn herumfahren ließ.

»Seid Ihr gekommen, um mich zu sehen, Nick? Hier bin ich.«

Der Regisseur sah sich einem gezückten Schwert gegenüber, und der junge Mann war entschlossen, es zu benützen, falls das nötig sein würde. Selbst nach Richard Honeydews Warnung war er immer noch wie vom Donner gerührt. Hier war der letzte Mensch auf der Erde, den er erwartet hätte. Lawrence hatte gesehen, wie er in einem Massengrab in London verscharrt worden war.

Es war Gabriel Hawkes.

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