Gegen Mittag erstieg ein französischer Soldat mit einer weißen Parlamentärflagge, die er an den Lauf seiner Muskete gebunden hatte, den Hügel. Zwei Offiziere begleiteten ihn, einer in der blauen Uniform der Infanterie und der andere, Colonel Christopher, im britischen roten Uniformrock mit seinem schwarzen Besatz.
Sharpe und Vicente gingen den beiden Offizieren, die ein Dutzend Schritte vor dem mürrisch aussehenden Mann mit der weißen Flagge angehalten hatten, entgegen. Vicente war verblüfft von der Ähnlichkeit zwischen Sharpe und dem französischen Infanterie-Offizier, der groß und schwarzhaarig war und eine Narbe an der rechten Wange hatte. Seine blaue Uniform mit den grün gefransten Epauletten zeigte, dass er zur Leichten Infanterie gehörte, und sein Helm hatte vorn eine weiße Metallplatte mit dem französischen Adler und der Nummer 31. Das Abzeichen wurde überragt von einem roten und weißen Federbusch, der neu aussah, verglichen mit der befleckten und abgetragenen Uniform.
»Wir werden den Franzmann zuerst killen«, sagte Sharpe zu Vicente, »weil er der gefährlichere Scheißer ist, und dann werden wir Christopher langsam filetieren.«
»Sharpe!« Der Anwalt in Vicente war schockiert. »Sie kommen mit einer Parlamentärflagge!«
Sie stoppten ein paar Schritte vor Colonel Christopher, der einen Zahnstocher aus dem Mund nahm und fortschnippte. »Wie geht es Ihnen, Sharpe?«, fragte er freundlich, dann hob er eine Hand, um eine Antwort zu verhindern. »Geben Sie mir bitte einen Moment«, sagte der Colonel, öffnete mit einer Hand eine Zunderbüchse, zündete ein Streichholz an und steckte sich damit eine Zigarre an. Als er ein paar Mal gepafft hatte, schloss er die Zunderbüchse und lächelte. »Der Typ neben mir ist Major Dulong. Er spricht kein Wort Englisch, aber er wollte unbedingt einen Blick auf Sie werfen.«
Sharpe sah Dulong an, erkannte in ihm den Offizier, der die Soldaten so tapfer den Hügel hinaufgeführt hatte, und empfand Mitleid mit einem guten Mann, der sich als Feigling gefühlt haben musste, als er davongegangen war. Als Feigling und Verräter.
»Wo ist mein Fernrohr?«, fragte er Christopher.
»Unten«, sagte Christopher leichthin, »Sie können es später wiederhaben.« Er paffte an seiner Zigarre und blickte zu den Gefallenen zwischen den Felsen. »Brigadier General Vuillard war etwas übereifrig, finden Sie nicht auch? Zigarre?«
»Nein.«
»Wie Sie wollen.« Der Colonel inhalierte den Rauch. »Sie haben Ihre Sache gut gemacht, Sharpe, ich bin stolz auf Sie. Die 31. Leger ...«, er nickte zu Dulong hin, »... ist es nicht gewohnt zu verlieren. Sie haben den verdammten Franzmännern gezeigt, wie ein Engländer kämpft, was?«
»Und wie Iren kämpfen«, sagte Sharpe. »Und Schotten und Waliser und Portugiesen.«
»Anständig von Ihnen, dass Sie auch an die anderen denken, Sharpe«, sagte Christopher, »aber es ist jetzt vorüber, Sharpe, aus und vorbei. Zeit, zu packen und zu gehen. Die Franzosen haben Ihnen einen Kampf geboten und all das. Marschieren Sie mit Ihren Gewehren auf den Schultern, lassen Sie die Fahnen fliegen und die Vergangenheit ruhen. Die Franzmänner sind nicht glücklich darüber, aber ich habe sie überredet.«
Sharpe sah wieder Dulong an, und er fragte sich, ob der Blick des Franzosen warnend war. Dulong hatte nichts gesagt. Er stand einen Schritt seitlich hinter Christopher, und Sharpe hatte den Eindruck, dass sich der Major von Christophers Botengang distanzieren wollte. Sharpe blickte wieder zu Christopher.
»Sie halten mich für total bescheuert, wie?«, erwiderte er.
Christopher ignorierte die Bemerkung. »Ich nehme an, Sie können Lissabon nicht mehr erreichen. Cradock wird in ein, zwei Tagen fort sein und seine Armee mit ihm. Sie kehren heim, Sharpe. Zurück nach England, also ist es vermutlich das Beste für Sie, in Oporto zu warten. Die Franzosen haben zugestimmt, alle britischen Bürger in die Heimat zurückzuführen, und ein Schiff wird vermutlich in ein, zwei Wochen segeln. Sie und Ihre Kameraden können an Bord sein.«
»Werden Sie an Bord sein?«, fragte Sharpe.
»Danke, dass Sie fragen. Ja, das könnte gut der Fall sein. Und wenn Sie mir die Unbescheidenheit verzeihen, ich freue mich, heimzufahren und als Held willkommen geheißen zu werden. Der Mann, der Portugal den Frieden gebracht hat! Da muss eine Ritterschaft drin sein, meinen Sie nicht auch? Nicht, dass mir das was ausmacht, aber Kate wird sich gewiss freuen, Lady Christopher zu sein.«
»Wenn Sie nicht unter einer Parlamentärflagge stünden, würde ich Sie hier und jetzt zusammenschlagen. Ich weiß, was Sie getan haben. Dinnerpartys mit französischen Generälen. Sie herzubringen, damit sie uns überfallen können. Sie sind ein verdammter Verräter, Christopher, ein verdammter Vaterlandsverräter.« Die Heftigkeit von Sharpes Worten brachte ein kleines Lächeln auf Major Dulongs grimmiges Gesicht.
»Ach du meine Güte.« Christopher blickte gequält drein. Er starrte einen Moment auf einen französischen Gefallenen und schüttelte dann den Kopf. »Ich werde über Ihre Unverschämtheit hinwegsehen, Sharpe. Ich nehme an, mein verdammter Diener hat den Weg zu Ihnen gefunden? Ist das so? Das dachte ich mir. Luis hat ein einzigartiges Talent, die Tatsachen misszuverstehen.« Er paffte an seiner Zigarre, und der Rauch wurde vom Wind davongetrieben. »Ich bin von der Regierung Seiner Majestät hierher geschickt worden, Sharpe, um herauszufinden, ob Portugal es wert ist, für das Land zu kämpfen, ob es wert ist, dass dafür britisches Blut vergossen wird, und ich bin zu einem negativen Schluss gelangt - und ich habe keinerlei Zweifel, dass Sie anderer Meinung sind. So habe ich den zweiten Teil meiner Aufgabe erfüllt, nämlich das Aushandeln von Bedingungen. Keine Kapitulationsbedingungen, Sharpe, sondern Vereinbarungen. Wir ziehen unsere Streitkräfte ab und sie ihre, und ihnen wird erlaubt, dass sie der Form halber eine Scheindivision durch die Straßen von Lissabon marschieren lassen. Dann gehen sie: bonsoir, adieu und au revoir. Ende Juli wird kein einziger fremder Soldat mehr auf portugiesischem Boden sein. Das habe ich erreicht, Sharpe, und deshalb war es nötig, mit französischen Generälen, Marschällen und Beamten zu dinieren, um das zu sichern.« Er legte eine Pause ein, als erwarte er irgendeine Reaktion, aber Sharpe enthielt sich einer Äußerung. Christopher seufzte. »Das ist die Wahrheit, Sharpe, wenn Sie sie auch nicht glauben wollen, aber merken Sie sich, ›es gibt mehr Dinge auf der Welt ...‹«
»Ich weiß«, unterbrach Sharpe. »Mehr Dinge zwischen Himmel und Erde, von denen ich keine Ahnung habe. Aber was, zur Hölle, haben Sie hier getan?« Seine Stimme klang jetzt ärgerlich. »Warum haben Sie eine französische Uniform getragen? Luis hat mir davon erzählt.«
»Ich konnte natürlich nicht diesen roten Rock hinter den französischen Linien tragen, Sharpe«, sagte Christopher, »und Zivilkleidung flößt heutzutage wenig Respekt ein, also ja, ich trage manchmal die französische Uniform. Es ist ein ruse de guerre, Sharpe - eine Kriegslist.«
»Verdammte Kriegslist hin oder her«, schnarrte Share. »Diese Bastarde haben versucht, meine Männer umzubringen, und Sie haben sie hergebracht!«
»Oh, Sharpe«, sagte Christopher traurig. »Wir brauchten irgendwo einen ruhigen Platz, wo wir eine Vereinbarung unterzeichnen konnten und wo der Pöbel nicht randalieren konnte, und so bot ich die Quinta an. Ich muss zugeben, dass ich Ihre missliche Lage nicht so sorgfältig beachtet habe, wie es hätte sein sollen, und das war mein Fehler. Es tut mir leid.« Er bot Sharpe sogar die Andeutung einer Verneigung an. »Die Franzosen kamen her und schätzten Ihre Anwesenheit als Falle ein und versuchten - wider meinen Rat - Sie anzugreifen. Ich entschuldige mich noch einmal, Sharpe, zutiefst, aber es ist jetzt vorüber. Sie haben freies Geleit, ohne kapitulieren, ohne die Waffen abgeben zu müssen. Sie können mit hoch erhobenem Haupt marschieren und mit meinen Glückwünschen, und natürlich werde ich dafür sorgen, dass Ihr Colonel erfährt, was Sie hier geleistet haben.« Er wartete auf Sharpes Antwort und lächelte, als keine kam. »Und natürlich«, fuhr er fort, »wird es mir eine Ehre sein, Ihnen Ihr Fernrohr zurückzugeben. Ich hatte ganz vergessen, es vorhin mitzunehmen.«
»Sie haben nichts vergessen, Sie Bastard«, grollte Sharpe.
»Sharpe«, sagte Christopher tadelnd, »versuchen Sie, nicht so grob zu sein. Versuchen Sie, zu verstehen, dass Diplomatie Feinheiten, Intelligenz und, ja, Verrat erfordert. Und versuchen Sie zu verstehen, dass ich Ihre Freiheit ausgehandelt habe. Sie können den Hügel im Triumph verlassen.«
Sharpe starrte in Christophers Gesicht, das so unschuldig wirkte, so erfreut, der Überbinger dieser Nachrichten zu sein. »Und was passiert, wenn wir bleiben?«, fragte er.
»Ich habe nicht die geringste Ahnung«, sagte Christopher, »aber ich werde es natürlich herausfinden, wenn dies Ihr Wunsch ist. Aber ich sage Ihnen, Sharpe, dass die Franzosen solche Hartnäckigkeit als eine feindliche Geste betrachten würden. Es gibt leider Leute in diesem Land, die gegen unsere Vereinbarung sein werden. Das sind irregeleitete Leute, die es vorziehen würden zu kämpfen, statt einen ausgehandelten Frieden zu akzeptieren, und wenn Sie hierbleiben, wird sie das in ihrer Dummheit bestärken. Meine persönliche Meinung ist, dass die Franzosen es als einen Verstoß gegen unsere Vereinbarung betrachten, wenn Sie darauf bestehen, hierzubleiben, und Mörser aus Oporto herschaffen und ihr Bestes tun werden, um Sie zum Gehen zu überzeugen.« Er sog an seiner Zigarre. Dann zuckte er zusammen, als ein Rabe an den Augen eines Gefallenen pickte. »Major Dulong möchte diese Männer einsammeln.« Er wies mit der Zigarre auf die Gefallenen.
»Er bekommt eine Stunde«, sagte Sharpe, »und er kann zehn unbewaffnete Männer mitbringen. Und sagen Sie ihm, dass einige meiner Männer auf dem Hügelhang sein werden, ebenfalls unbewaffnet.«
Christopher runzelte die Stirn. »Warum müssen Männer von Ihnen auf dem Hügelhang sein?«
»Weil wir unsere Toten begraben müssen«, sagte Sharpe. »Hier oben ist der Boden zu felsig.«
Christopher sog an der Zigarre. »Ich finde, es wäre viel besser, wenn Sie Ihre Männer jetzt hinunterbringen.«
Sharpe schüttelte den Kopf. »Ich werde darüber nachdenken«, sagte er.
»Sie wollen darüber nachdenken?« Christopher blickte jetzt verwirrt. »Und wie lange wird Ihr Nachdenken dauern?«
»So lange, wie ich brauche«, sagte Sharpe, »und manchmal bin ich ein sehr langsamer Denker.«
»Sie haben eine Stunde, Lieutenant«, sagte Christopher. »Genau eine Stunde.« Er sprach auf Französisch mit Dulong, der Sharpe zunickte. Sharpe erwiderte das Nicken. Dann warf Christopher die halb gerauchte Zigarre weg, machte auf dem Absatz kehrt und ging davon.
»Er lügt«, sagte Sharpe.
Vicente hatte Zweifel. »Wie können Sie da so sicher sein?«
»Das kann ich Ihnen sagen«, erwiderte Sharpe. »Der Scheißer hat mir keinen Befehl gegeben. Dies ist die Armee. Sie schlagen nichts vor. Man befiehlt, tu dies, tu das, aber so war das nicht. Er hat mir schon zuvor Befehle gegeben, aber heute nicht.«
Vicente übersetzte für Feldwebel Macedo, der wie Sergeant Harper hinzugebeten worden war, um sich Sharpes Bericht anzuhören. Beide blickten besorgt wie Vicente drein, sagten jedoch nichts. »Warum«, fragte Vicente, »hat er Ihnen keinen Befehl gegeben?«
»Weil er will, dass ich aus eigenem Entschluss von dieser Hügelkuppe runtergehe, denn was dann unten geschieht, wird nicht schön sein. Weil er gelogen hat.«
»Dessen können Sie nicht sicher sein«, sagte Vicente und klang mehr wie Anwalt, der er gewesen war, bevor er Soldat geworden war.
»Wir können bei verdammt gar nichts sicher sein«, grollte Sharpe.
Vicente blickte nach Osten. »Die Geschütze schweigen bei Amarante. Ist dort vielleicht Frieden?«
»Und warum sollte dort Frieden sein?«, fragte Sharpe. »Warum sind die Franzosen überhaupt erst hergekommen?«
»Um den Handel mit Britannien zu stoppen«, sagte Vicente.
»Und warum sollen wir uns jetzt zurückziehen? Der Handel wird fortgesetzt werden. Sie haben den Job noch nicht erledigt, und die Franzosen geben nicht so schnell auf.«
Vicente dachte darüber nach. »Vielleicht wissen sie, dass sie zu viele Männer verlieren werden. Je weiter sie in Portugal einmarschieren, desto mehr Feinde machen sie sich und desto länger müssen sie ihre Nachschublinien beschützen. Vielleicht sind sie vernünftig.«
»Die Franzmänner kennen die Bedeutung dieses Wortes gar nicht. Und da ist noch etwas. Christopher hat mir kein Schriftstück gezeigt, keine unterzeichnete und versiegelte Vereinbarung.«
Vicente nickte nachdenklich. »Wenn Sie möchten, werde ich nach unten gehen und das Schriftliche verlangen.«
»Es gibt nichts Schriftliches«, sagte Sharpe, »und keiner von uns geht von diesem Hügel runter.«
Vicente starrte ihn an. »Ist das ein Befehl, senhor?«
»Das ist ein Befehl«, sagte Sharpe. »Wir bleiben.«
»Dann bleiben wir.« Vicente klopfte Macedo auf die Schulter, und die beiden kehrten zu ihren Männern zurück, damit sie ihnen sagen konnten, was geschehen war.
Harper setzte sich neben Sharpe. »Sind Sie sich völlig sicher?«
»Das bin ich mir verdammt nicht, Pat«, sagte Sharpe gereizt, »aber mein Gefühl sagt mir, dass er lügt. Er hat mich überhaupt nicht gefragt, wie viele Verluste wir hier oben haben. Wenn er auf unserer Seite wäre, würde er das fragen, oder etwa nicht?«
Harper zuckte mit den Schultern, als könne er diese Frage nicht beantworten. »Also, was passiert, wenn wir gehen?«
»Sie nehmen uns gefangen. Bringen uns ins verdammte Frankreich.«
»Oder schicken uns heim?«
»Wenn der Krieg vorbei ist, Pat, dann werden sie uns heimschicken, aber in diesem Fall wird uns jemand anderer das mitteilen. Ein portugiesischer Offizieller, aber nicht Christopher. Und wenn das Kämpfen vorbei ist, warum gibt er uns nur eine Stunde? Wir hätten den Rest unseres Lebens Zeit, von diesem Hügel runterzukommen, nicht nur eine Stunde.« Sharpe schaute den Hang hinab, wo der letzte französische Gefallene von einem Trupp Infanteristen geborgen wurde, der zuvor mit einer Parlamentärflagge und ohne Waffen heraufgeklettert war. Dulong hatte ihn angeführt, und er hatte daran gedacht, zwei Spaten mitzubringen, sodass Sharpes Männer ihre Leichen beisetzen konnten: die beiden Portugiesen, die im Morgengrauen beim Haubitzenbeschuss getötet worden waren, und Schütze Donnelly, der unter Steinen gelegen hatte, seit Dulongs Männer von Sharpe vom Gipfel vertrieben worden waren.
Vicente hatte Feldwebel Macedo und drei Männer geschickt, um die Gräber für ihre Toten auszuheben, und Sharpe hatte den zweiten Spaten Williamson gegeben. »Das Grab auszuheben wird das Ende Ihrer Bestrafung sein«, hatte er gesagt. Seit der Konfrontation im Wald hatte Sharpe Williamson Zusatzdienst gegeben, um ihn beschäftigt zu halten und seinen Widerstand zu brechen, doch jetzt fand Sharpe, dass er genug gestraft war. »Und lassen Sie Ihr Gewehr hier«, fügte Sharpe hinzu.
Williamson hatte sich den Spaten geschnappt, sein Gewehr hingeworfen, und war, von Dodd und Harris begleitet, den Hügel hinabgegangen, bis er eine Stelle mit genügend Erdreich über dem Felsboden gefunden hatte, um ein Grab auszuheben. Harper und Slattery hatten die Leiche von der Hügelkuppe hinabgetragen und in das Loch gerollt, und dann hatte Harper ein Gebet gesprochen, und Slattery hatte den Kopf geneigt, und jetzt schaufelte Williamson in Hemdsärmeln das Grab zu, während Dodd und Harris beobachteten, wie die Franzosen die letzten ihrer Gefallenen forttrugen.
Harper beobachtete ebenfalls die Franzosen. »Was wird, wenn sie einen Mörser holen?«, fragte er.
»Dann gute Nacht«, sagte Sharpe. »Aber es kann viel passieren, bevor ein Mörser hier ist.«
»Was?«
»Keine Ahnung«, sagte Sharpe gereizt. Er wusste es wirklich nicht, ebenso wenig, was er tun konnte. Christopher war sehr ausweichend gewesen, und nur Sharpes Starrköpfigkeit hatte ihn so sicher gemacht, dass der Colonel log. Das und der Ausdruck in Major Dulongs Augen. »Vielleicht irre ich mich, Pat, das ist durchaus möglich. Das Dumme ist, dass es mir hier gefällt.«
Harper lächelte. »Ihnen gefällt es hier?«
»Mir gefällt es, von der Armee weg zu sein. Captain Hogan ist in Ordnung, aber der Rest? Den kann ich nicht leiden. Und hier draußen bin ich auf mich allein gestellt. Also bleiben wir.«
»Aye«, sagte Harper, »und ich finde, Sie haben recht.«
»Tatsächlich?« Sharpe war überrascht.
»Tatsächlich. Meine Mutter hat immer gesagt, dass ich nicht zum Denken tauge.«
Sharpe lachte. »Gehen Sie und reinigen Sie Ihr Gewehr, Pat.«
Cooper hatte Wasser erhitzt, und einige der Schützen benutzten es, um die Läufe ihrer Waffen abzuspülen. Jeder Schuss hinterließ eine dünne Pulverschicht, die dicker werden konnte, bis das Gewehr unbrauchbar wurde, doch heißes Wasser löste die Rückstände. Einige Schützen zogen es vor, in den Lauf zu pinkeln. Hagman benutzte das heiße Wasser und schabte dann mit seinem Ladestock durch den Lauf. »Soll ich auch Ihres reinigen, Sir?«, fragte er Sharpe.
»Das kann warten«, sagte Sharpe. Dann sah er Feldwebel Macedo und seine Männer zurückkehren, und er fragte sich, wo seine eigenen Männer, die Donnelly hatten beerdigen sollen, geblieben waren. So ging er zur nördlichsten Schanze und sah von dort aus, wie Harris und Dodd die Erde über Donnellys Grabstätte feststampfen, während sich Williamson auf den Spaten stützte. »Seid ihr noch nicht fertig?«, rief er ihnen zu. »Beeilt euch!«
»Wir kommen schon, Sir!«, rief Harris zurück, und er und Dodd hoben ihre Röcke auf und stiegen den Hügel herauf. Williamson schulterte den Spaten, und es sah aus, als würde er ihnen folgen, doch plötzlich warf er sich herum und rannte in die entgegengesetzte Richtung hügelabwärts.
Harper fluchte und riss sein Gewehr an die Schulter.
Sharpe drückte den Lauf nieder. Nicht, weil er Williamson das Leben retten wollte, sondern weil ein Waffenstillstand vereinbart worden war. Selbst ein einziger Schuss konnte ihn gefährden, und die Haubitze konnte darauf antworten, während sich Dodd und Harris noch ungedeckt auf dem Hang befanden.
»Der Bastard!« Hagman beobachtete Williamson, der den Hang hinunterhetzte, als könne er so einer Kugel entkommen. Sharpe empfand ein schreckliches Gefühl des Versagens. Er hatte Williamson nicht gemocht, aber trotzdem war es nach Sharpes Meinung sein Versagen als Offizier, wenn ein Mann desertierte. Der Offizier würde natürlich nicht bestraft werden, und der Mann - wenn er je gefasst wurde - würde erschossen werden. Es war ein Tadel für ihn als Offizier.
Harper sah Sharpe die Betroffenheit an, und er schickte sich sogar an, Williamson zu stoppen, doch er verharrte, als Sharpe ihn zurückrief. »Ich hätte Williamson nie zu dieser Aufgabe einteilen sollen«, sagte er bitter.
»Warum nicht?«, sagte Harper. »Sie konnten nicht wissen, dass er desertieren würde.«
»Ich verliere nicht gern Männer«, sagte Sharpe.
»Es ist nicht Ihre Schuld!«, wandte Harper ein.
»Wessen Schuld dann?«, fragte Sharpe ärgerlich. Williamson war in den französischen Reihen verschwunden, vermutlich, um sich Christopher anzuschließen, und Sharpes einziger kleiner Trost war, dass er sein Gewehr nicht hatte mitnehmen können. Aber es war immer noch sein Versagen, und das Schuldgefühl blieb. »Am besten gehen Sie in Deckung«, sagte er, »denn gleich werden sie wieder ihr verdammtes Geschütz abfeuern.«
Die Haubitze feuerte zehn Minuten vor Ablauf der Stunde, und niemandem auf der Hügelkuppe fiel das auf, weil keiner eine Uhr besaß. Das Geschoss streifte einen Felsbrocken unter der niedrigsten Schanze und flog in den Himmel, wo es in Feuer und Rauch explodierte. Ein heißer Splitter bohrte sich in den Kolben von Dodds Gewehr, und die restlichen Splitter schlugen gegen Felsbrocken.
Sharpe, der sich immer noch wegen Williamsons Fahnenflucht schuldig fühlte, beobachtete die Hauptstraße im fernen Teil des Tals. Dort war Staub zu sehen, und er konnte Reiter im Nordwesten auf der Oporto-Straße erkennen. Kam der Mörser? Wenn ja, dachte er, muss ich mir Gedanken über eine Flucht machen. Wenn sie sich nach Westen wandten, konnten sie vielleicht den Kordon der Dragoner durchbrechen und auf höheres Terrain gelangen, wo Felsen die Dinge für Reiter erschweren würden. Trotzdem würde ein Entkommen auf dieser Route nicht leicht werden. Sollten sie es in der Nacht versuchen? Wenn es ein Mörser war, der sich da näherte, würde er noch vor Mitternacht im Einsatz sein. Er starrte auf die ferne Straße - fluchend, weil Christopher ihm sein Fernrohr nicht wiedergegeben hatte - und konnte keinerlei Fahrzeug, weder einen Munitionswagen noch eine Lafette, zwischen den Reitern entdecken, aber sie waren sehr weit entfernt und deshalb blieb die Ungewissheit.
»Mister Sharpe, Sir?« Es war Dan Hagman. »Kann ich rausgehen und mir die Bastarde ansehen?«
Sharpe brütete noch über sein Versagen, und sein erster Impuls war, Hagman zu sagen, dass er nicht seine Zeit verschwenden sollte. Doch dann wurde ihm die sonderbare Atmosphäre auf dem Hügel bewusst. Seine Männer waren verlegen wegen Williamson. Vermutlich befürchteten viele von ihnen, dass Sharpe sie in seinem Zorn für die Sünde eines Kameraden bestrafen würde, und einige wenige wären vielleicht Williamson gern gefolgt, aber die meisten empfanden die Desertion als Tadel für sie alle. Sie waren eine Einheit, sie waren Kameraden, und einer von ihnen hatte die Kameradschaft einfach weggeworfen. Doch jetzt bot Hagman an, etwas von diesem Stolz wiederherzustellen, und Sharpe nickte. »Gehen Sie nur, Dan. Aber nur Sie.« Er hob die Stimme und rief: »Nur Hagman!«
Sharpe blickte wieder zu der Staubwolke. Die Reiter waren auf einen schmaleren Pfad abgebogen, der nach Vila Real de Zedes führte, und er konnte keinerlei Fahrzeug sehen. So richtete er das Ersatzfernrohr wieder auf die Mannschaft der Haubitze und sah, dass sie eine neue Granate in den Lauf schob. »Geht in Deckung!«
Hagman blieb allein im Freien. Er lud sein Gewehr. Die feindliche Granate explodierte weit vom Wachturm entfernt über dem steilen westlichen Hang, und obwohl das Krachen ohrenbetäubend war, blickte Hagman nicht einmal auf. Er schob die in dünnes, flexibles Leder gehüllte Kugel in den Lauf und benutzte dann den Ladestock, um ihn hinabzustoßen. Es war harte Arbeit, und er schnitt eine Grimasse bei der Mühe, dann nickte er dankend, als Sharpe zu ihm trat und es ihm abnahm. Schließlich schob Sharpe den Ladestock wieder in die Ösen unter dem Lauf und gab die Waffe Hagman zurück. Hagman grinste Vicente an. »Es ist wie eine Frau«, sagte er und klopfte auf das Gewehr. »Kümmere dich liebevoll um sie, und sie revanchiert sich.«
»Sie werden bemerkt haben, dass Mister Sharpe das Rammen übernommen hat«, sagte Harper unschuldig.
Vicente lachte. Sharpe erinnerte sich plötzlich wieder an die Reiter, nahm das kleine Ersatzfernrohr und richtete es auf die Straße, die ins Dorf führte, doch er sah nur noch den Staub, den die Pferde der Reiter aufgewirbelt hatten. Sie waren hinter den Bäumen rund um die Quinta verschwunden, und so konnte er nicht sehen, ob sie einen Mörser gebracht hatten. Er fluchte. Nun, er würde es früh genug erfahren.
Hagman lag jetzt hinter einem Felsen und hatte das Gewehr angelegt. »Wind, Sir?«
»Von links nach rechts«, sagte Sharpe, »sehr leicht.«
»Sehr leicht«, wiederholte Hagman und führte einige winzige Korrekturen beim Zielen aus. Es war kein unmöglicher Weitschuss, aber er feuerte hügelabwärts, was offenkundig schwer war. Niemand bewegte sich, Sharpe beobachtete die Haubitzenmannschaft durch das Fernrohr. Der Kanonier hielt die brennende Lunte ins Zündloch. Sharpe wusste, dass er Hagmans Konzentration nicht stören sollte, um seinen Männern zu befehlen, in Deckung zu gehen, aber in diesem Augenblick drückte Hagman bereits ab.
Das Krachen des Gewehrs ließ einige Vögel am Hang erschreckt aufflattern. Rauch wallte um die Felsen, und Sharpe sah, dass der Kanonier herumgewirbelt wurde, wobei ihm die Lunte entfiel und er die Hand auf seinen rechten Oberschenkel presste. Er taumelte sekundenlang, dann stürzte er.
»Rechter Oberschenkel, Dan«, sagte Sharpe, der wusste, dass Hagman nichts durch den Rauch vor seinem Gewehr sehen konnte. »Und jetzt liegt er am Boden. In Deckung. Alle! Schnell!« Ein anderer Kanonier hatte sich die brennende Lunte geschnappt.
Sie hetzten hinter Felsen und zuckten zusammen, als die Granate an einem großen Felsbrocken explodierte. Sharpe klopfte Hagman auf den Rücken. »Unglaublich guter Schuss, Dan!«
»Ich hatte auf seine Brust gezielt, Sir.«
»Sie haben ihm den Tag versaut, Dan«, sagte Harper. »Das war ein verdammt guter Treffer.« Die anderen Schützen gratulierten Hagman ebenfalls. Sie waren stolz auf ihn, erfreut, dass er wieder auf den Füßen und so ein meisterhafter Schütze war, wie sie ihn kannten. Und der Schuss hatte sie irgendwie für Williamsons Verrat entschädigt. Die Schützen waren wieder eine Elitetruppe.
»Soll ich noch einmal, Sir?«, fragte Hagman Sharpe.
»Warum nicht?«, sagte Sharpe. Und er dachte: Wenn der Mörser kommt, wird die Mannschaft in Schrecken versetzt sein, weil sie sich in Schussweite der tödlichen Gewehre befindet.
Hagman begann wieder die mühsame Prozedur des Ladens, doch kaum war er fertig, als zu Sharpes Erstaunen plötzlich die Haubitze mitsamt der Lafette in den Wald gezogen wurde und verschwand. Im ersten Augenblick nahm Sharpe an, dass die Haubitze entfernt worden war, um Platz für den Mörser zu schaffen. Er wartete angespannt, doch kein Mörser war zu sehen. Niemand erschien. Selbst die Infanterie, die nahe bei der Haubitze postiert gewesen war, hatte sich zwischen die Bäume zurückgezogen, und der nördliche Hang lag zum ersten Mal, seit Sharpe sich zum Wachturm zurückgezogen hatte, völlig verlassen unter ihnen. Dragoner patrouillierten immer noch im Osten und Westen, doch nach einer halben Stunde ritten auch sie nordwärts zum Dorf.
»Was ist geschehen?«, fragte Vicente.
»Das weiß der Himmel.«
Dann sah Sharpe die gesamte französische Streitmacht, das Geschütz, die Kavallerie und Infanterie. Alle marschierten die Straße von Vila Real de Zedes hinab. Sie mussten sich nach Oporto zurückziehen, und er starrte benommen hin, glaubte seinen Augen nicht trauen zu können. »Das muss ein Trick sein!« Sharpe gab Vicente das Fernrohr.
»Vielleicht ist Frieden?«, meinte Vicente, als er den Rückzug der Franzosen sah. »Vielleicht ist das Kämpfen wirklich vorbei. Warum sonst würden sie abmarschieren?«
»Sie ziehen ab«, sagte Harper, »nur das zählt.« Er hatte das Glas von Vicente übernommen und konnte einen Wagen sehen, der mit französischen Verwundeten beladen war. »Jesus, Maria und Joseph«, entfuhr es ihm, »sie verschwinden tatsächlich.«
Aber warum? War es Frieden? Hatten die Reiter statt des Mörsers eine Botschaft gebracht, einen Befehl zum Rückzug? Oder war es doch ein Trick? Hofften die Franzosen, dass Sharpe ins Dorf hinabgehen würde und somit den Dragonern eine Chance gab, seine Männer auf ebenem Terrain anzugreifen? Er war so verwirrt wie nie.
»Ich gehe runter«, sagte er. »Ich, Cooper, Harris, Perkins, Cresacre und Sims.« Er nannte absichtlich die beiden Letzten, weil sie Freunde von Williamson gewesen waren. Wenn jemand dem Beispiel des Deserteurs folgen würde, dann diese beiden, und er wollte ihnen zeigen, dass er ihnen noch vertraute. »Der Rest von euch bleibt hier.«
»Ich möchte mitkommen«, sagte Vicente, und als er spürte, dass Sharpe ihn abweisen wollte, fügte er erklärend hinzu: »Das Dorf, senhor. Ich möchte ins Dorf, um zu sehen, was mit unseren Leuten geschehen ist.«
Vicente nahm wie Sharpe fünf Männer mit. Sergeant Harper und Feldwebel Macedo wurden mit dem Kommando auf dem Hügel zurückgelassen. Sharpes Patrouille marschierte den Hügel hinab. Sie gingen an dem fächerförmigen Brandmal am Boden vorbei, das anzeigte, wo die Haubitze abgefeuert worden war, und Sharpe rechnete fast mit einem Beschuss aus dem Wald, aber kein Geschütz krachte, und dann waren sie im Schatten der Bäume.
Sharpe und Cooper gingen voran und hielten zwischen den Lorbeerbäumen, Birken und Eichen Ausschau nach Anzeichen auf einen Hinterhalt, doch sie blieben unbehelligt. Sie folgten dem Pfad zur Quinta, deren blaue Läden geschlossen waren und die unbeschädigt wirkte. Eine getigerte Katze putzte sich auf dem von der Sonne erwärmten Pflaster vor dem Stall und verharrte kurz, als sie die Soldaten wahrnahm. Sharpe versuchte, die Küchentür zu öffnen, doch sie war verschlossen. Er spielte mit dem Gedanken, sie aufzubrechen, verwarf den Gedanken und führte die Männer stattdessen ums Haus. Die Vordertür war abgeschlossen, der Zufahrtsweg verlassen.
Langsam wich er vom Haus zurück, beobachtete die Fensterläden und rechnete fast damit, dass sie aufgestoßen und eine Salve Musketenfeuer abgefeuert werden würde. Doch das Haus schlief in der Wärme des frühen Nachmittags.
»Ich glaube, es ist leer, Sir«, sagte Harris, und er klang nervös.
»Ich nehme an, Sie haben recht«, sagte Sharpe, wandte sich um und ging den Zufahrtsweg hinab. Der Kies knirschte unter seinen Stiefeln, als er an den Rand des Grundstücks schritt. Er signalisierte seinen Männern, dass sie ihm folgen sollten. Der Tag war heiß und still. Selbst die Vögel waren stumm.
Und dann roch er es. Sofort dachte er an Indien und stellte sich für einen Augenblick sogar vor, wieder in dem geheimnisvollen Land zu sein, denn dort hatte er den Geruch so oft wahrgenommen. Ihm wurde übel. Dann hatte er den Brechreiz niedergekämpft, und er bemerkte, dass der junge Perkins aussah, als müsste er sich übergeben. Auch Pendleton sah plötzlich krank aus. »Atmet tief durch«, sagte Sharpe, »ihr werdet es brauchen.«
Vicente, der ebenso nervös wie Perkins wirkte, blickte Sharpe an. »Ist es ...«, begann er.
»Ja«, sagte Sharpe.
Es war der Tod.
Vila Real de Zedes war nie ein großes oder bedeutendes Dorf gewesen. Keine Pilger waren gekommen, um die Heiligen in der Kirche zu verehren. Sankt Joseph mochte lokal verehrt werden, doch sein Einfluss hatte nie über die Weingärten hinaus gereicht. So unbedeutend das Dorf auch gewesen war, es war keine schlechte Ansiedlung gewesen. Es gab stets Arbeit in den Savage-Weingärten, die Erde war fruchtbar, und selbst die ärmste Familie hatte einen Gemüsegarten. Einige der Dorfbewohner hatten Kühe besessen, die meisten hatten Hühner gehalten und ein paar Schweine gezüchtet. Jetzt gab es kein Vieh mehr. Pater Josefa war die wichtigste Person in Vila Real de Zedes gewesen, abgesehen von den Engländern in der Quinta. Der Priester war manchmal gereizt gewesen, aber er hatte die Kinder unterrichtet und war nie unfreundlich gewesen.
Und jetzt war er tot. Seine Leiche, zur Unkenntlichkeit verbrannt, lag in der Asche der Kirche mit anderen zwischen den verkohlten Trümmern. Ein toter Hund lag auf der Straße, eine Spur von eingetrocknetem Blut vor der Schnauze, und eine Wolke von Fliegen schwirrte um die Wunde in seiner Flanke. Weitere Fliegenschwärme summten in der größten der beiden Tavernen, als Sharpe die Tür mit dem Gewehrkolben aufstieß und erschauerte.
Maria, das Mädchen, das Harper gemocht hatte, lag nackt auf dem einzigen nicht zertrümmerten Tisch im Schankraum. Sie war von Wurfmessern in den Händen aufgespießt, und Fliegen krochen über ihre blutigen Brüste. Jedes Weinfass war zersplittert, jeder Topf zerbrochen, und jedes Möbelstück außer dem Tisch war zerschmettert.
Sharpe schlang das Gewehr am Riemen über die Schulter und zog die Messer aus Marias Handflächen, sodass ihre weißen Arme frei waren. Perkins starrte entgeistert von der Tür her. »Stehen Sie da nicht rum«, blaffte Sharpe. »Suchen Sie eine Decke, irgendetwas, und bedecken Sie sie.«
»Jawohl, Sir.«
Sharpe kehrte auf die Straße zurück. Vicente hatte Tränen in den Augen. Es gab Leichen in einem halben Dutzend Häusern, Blut in jedem Haus, jedoch keine Lebenden. Alle Überlebenden des Massakers waren vor der Brutalität der Sieger aus Vila Real de Zedes geflüchtet.
»Wir hätten hierbleiben sollen«, sagte Vicente ärgerlich.
»Und mit ihnen sterben sollen?«, fragte Sharpe.
»Sie hatten niemanden, der für sie gekämpft hat!«, sagte Vicente.
»Sie hatten Lopes«, sagte Sharpe, »und er wusste nicht, wie man kämpft, und wenn er es gewusst hätte, dann wäre er nicht hiergeblieben. Und wenn wir für ihn gekämpft hätten, wären wir jetzt tot wie alle anderen.«
»Wir hätten bleiben sollen«, beharrte Vicente.
Sharpe ignorierte ihn. »Cooper? Sims?« Die beiden Männer spannten ihre Gewehre. Cooper schoss als Erster. Sharpe zählte bis zehn, und dann drückte Sims ab. Sharpe zählte wieder bis zehn, dann feuerte er in die Luft. Es war ein verabredetes Signal, dass Harper die anderen von der Hügelkuppe hinabführen sollte. »Sucht nach Spaten«, sagte Sharpe zu Vicente.
»Spaten?«
»Wir werden sie beerdigen.«
Der Friedhof war ein ummauertes Grundstück nördlich des Dorfes. Dort gab es einen kleinen Geräteschuppen mit Schaufeln, die Sharpe an seine Männer verteilte. »Tief genug, damit die Tiere nicht an sie herankommen«, befahl er, »aber nicht zu tief.«
»Warum nicht zu tief?«, fragte Vicente empört. Für ihn war ein flaches Grab wie eine Beleidigung der Toten.
»Wenn die Dorfbewohner zurückkehren«, sagte Sharpe, »dann werden sie graben und ihre Verwandten suchen.« Er fand in dem Schuppen ein großes Stück Sackleinen und benutzte es, um die verkohlten Leichen damit auf den Friedhof zu schleifen. Als Sharpe die Leiche von Pater Josefa vom verkohlten Kreuz zerren wollte, löste sich der linke Arm, doch Sims sah es und eilte Sharpe zu Hilfe, um die Leiche auf das Sackleinen zu legen.
»Ich werde ihn auf den Friedhof bringen«, sagte Sims und packte das Sackleinen.
»Das müssen Sie nicht.«
Sims blickte verlegen drein. »Wir werden nicht weglaufen wie Williamson, Sir«, platzte er heraus und blickte Sharpe dann furchtsam an, als erwarte er eine scharfe Reaktion von ihm.
Sharpe schaute ihn an und sah einen weiteren Dieb, einen anderen Säufer, ein weiteres Versagen, einen weiteren Schützen. Dann lächelte er. »Danke, Sims. Sagen Sie Pat Harper, er soll Ihnen etwas von seinem Weihwasser geben.«
»Weihwasser?«, fragte Sims.
»Der Brandy, den er in seiner zweiten Feldflasche bewahrt und meint, ich wüsste nichts davon.«
Später, als die Männer von der Hügelkuppe gekommen waren, um zu helfen, die Toten zu begraben, ging Sharpe zur Kirche zurück, wo Harper ihn fand. »Posten sind aufgestellt, Sir«, meldete Harper.
»Gut.«
»Und Sims hat gesagt, ich soll ihm etwas Brandy geben.«
»Ich hoffe, das haben Sie getan, Pat.«
»Das habe ich, Sir. Und Mister Vicente, Sir, möchte ein Gebet oder zwei sprechen.«
»Ich hoffe, Gott hört ihn.«
»Wollen Sie dabei sein?«
»Nein, Pat.«
»Das dachte ich mir.« Der große Ire suchte sich einen Weg durch die Asche. Einige Trümmer rauchten immer noch, wo der Altar gestanden hatte, aber er schob eine Hand in das geschwärzte Durcheinander und zog ein verbogenes, schwarzes Kruzifix hervor. Er legte das kleine Kruzifix auf die linke Handfläche und bekreuzigte sich. »Mister Vicente ist traurig, Sir.«
»Ich weiß.« Sharpe starrte in den Rauch. »Vielleicht hätten wir wirklich hierbleiben sollen.«
»Jetzt reden Sie wie ein Ire, Sir«, sagte Harper, »weil es nichts bringt, über verpasste Möglichkeiten nachzudenken. Und wenn Sie sehen, dass an Gatakers Gewehr der Abzugsbügel locker ist, machen Sie ihn nicht zur Sau. Die Schrauben sind verschlissen.«
Sharpe lächelte über Harpers Versuch, ihn abzulenken. »Ich weiß, dass wir das Richtige getan haben, Pat. Ich wünschte nur, Vicente könnte das verstehen.«
»Er ist ein Anwalt, Sir. Er kann nichts normal sehen. Und er ist jung. Er würde seine Kuh verkaufen für einen Becher Milch.«
»Wir haben das Richtige getan«, sagte Sharpe, »aber was machen wir jetzt?«
Harper versuchte das Kreuz gerade zu biegen. »Als ich ein Kind war, habe ich mich verirrt«, sagte Harper. »Ich war nicht älter als sieben, vielleicht acht. Da waren Soldaten beim Dorf, die Anzahl Ihrer Männer in Rot, und ich wusste damals nicht, was diese Bastarde dort machten, und so rannte ich vor ihnen davon. Sie ließen mich laufen, aber ich fühlte mich trotzdem verfolgt und flüchtete, denn das tat man, wenn man die roten Bastarde sah. Ich rannte und rannte, bis ich nicht mehr wusste, wo, zum Teufel, ich war.«
»Und - wie ging es weiter?«
»Ich folgte einem Fluss«, sagte Harper, »und kam zu dem Haus, in dem meine Tante wohnte, und sie brachte mich heim.«
Sharpe begann zu lachen, obwohl es nicht wirklich lustig war.
»Maire hieß sie«, sagte Harper. »Tante Maire, sie ruhe in Frieden.« Er steckte das Kruzifix in die Tasche.
»Ich wünschte, Ihre Tante Maire wäre hier. Aber wir haben uns nicht verirrt.«
»Nicht?«
»Wir marschieren nach Süden, überqueren den Fluss und gehen weiter nach Süden.«
»Und wenn die Armee aus Lissabon verschwunden ist?«
»Dann gehen wir nach Gibraltar«, sagte Sharpe, obwohl er wusste, dass es dazu nicht kommen würde. Wenn Frieden war, würde er jemanden mit Autorität suchen, der sie zum nächsten Hafen schickte, und wenn noch Krieg war, dann würde er jemanden zum Kämpfen finden. Wirklich einfach, dachte er. »Aber wir marschieren des Nachts, Pat.«
»Sie meinen also, wir sind immer noch im Krieg?«
»Oh, das sind wir, Pat«, sagte Sharpe. Er schaute auf die Zerstörung und dachte an Christopher. »Wir sind verdammt im Krieg.«
Vicente starrte auf die neuen Gräber. Er nickte, als Sharpe vorschlug, des Nachts nach Süden zu marschieren, doch er sagte erst etwas, als sie den Friedhof verlassen hatten.
»Ich gehe nach Oporto«, kündigte er an.
»Sie glauben, dass es einen Friedensvertrag gibt?«
»Nein«, sagte Vicente. Dann zuckte er mit den Schultern. »Vielleicht? Ich weiß es nicht. Aber ich weiß, dass Colonel Christopher und Brigadier General Vuillard vermutlich dort sind. Ich habe hier nicht gegen sie gekämpft, so muss ich sie dorthin verfolgen.«
»Sie werden also nach Oporto gehen«, sagte Sharpe, »und sterben?«
»Vielleicht«, sagte Vicente, »aber man kann sich nicht vor dem Teufel verstecken.«
»Nein«, sagte Sharpe, »aber wenn Sie ihn bekämpfen, seien Sie klug.«
»Ich lerne zu kämpfen«, sagte Vicente, »und ich weiß bereits, wie man tötet.«
Das ist ein Rezept für Selbstmord, dachte Sharpe, doch er wollte sich nicht streiten. »Ich plane, auf demselben Weg zurückzugehen, auf dem wir gekommen sind«, sagte er stattdessen. »Den Weg kann ich leicht finden. Und wenn ich in Barca d'Avintas bin, werde ich nach einem Boot suchen. Da muss irgendetwas sein, das schwimmen wird.«
»Das glaube ich auch.«
»Dann kommen Sie so weit mit mir«, schlug Sharpe vor, »denn es ist nahe an Oporto.«
Vicente stimmte zu, und seine Männer schlossen sich an, als sie das Dorf verließen. Sharpe freute sich darüber, denn die Nacht war stockfinster, und trotz seiner Zuversicht, den Weg leicht zu finden, hätte er sich hoffnungslos verirren können, wenn Vicente nicht dabei gewesen wäre. So kamen sie langsam voran und rasteten schließlich mitten in der Nacht. Danach, als das erste Grau am östlichen Horizont zu sehen war, konnten sie sich besser orientieren und kamen schneller voran.
Sharpe bedachte zweierlei bei seiner Rückkehr nach Barca d'Avintas. Es bestand ein Risiko, weil das Dorf gefährlich nahe bei Oporto lag, doch andererseits wusste er, dass dort der Fluss sicher zu überqueren war, und er nahm an, dass er von den Hütten und Schuppen genügend Trümmerstücke finden würde, aus denen sie ein Floß zimmern konnten. Vicente war der gleichen Meinung. Er sagte, der Rest des Douro-Tals sei eine Felsenschlucht, in der Sharpe Mühe haben werde, sich dem Fluss zu nähern oder eine Stelle zum Durchfurten zu finden. Ein größeres Risiko war, dass die Franzosen Barca d'Avintas bewachten, aber Sharpe hoffte darauf, dass sie sich mit dem Zerstören aller Boote im Dorf zufriedengegeben hatten.
Im Morgengrauen befanden sie sich in einigen bewaldeten Hügeln. Sie hielten an einem Bach und machten sich ein Frühstück aus trockenem Brot und so hartem Räucherfleisch, dass die Männer witzelten, es sei härter als die Ledersohlen ihrer Stiefel. Sie murrten, weil Sharpe kein Feuer erlaubte und sie auf Tee verzichten mussten.
Sharpe ging auf einen nahen Hügel und betrachtete das Terrain durch das kleine Fernrohr. Er sah keinen Feind, genauer gesagt, er sah überhaupt keine Menschenseele. Eine verlassene Hütte stand weiter oben im Tal, in dem der Fluss verlief, und dort gab es den Glockenturm einer Kirche, etwa eine Meile im Süden, aber es waren keine Leute zu sehen.
Vicente gesellte sich zu ihm. »Meinen Sie, dort könnten Franzosen sein?«
»Davon gehe ich immer aus«, erwiderte Sharpe.
»Und meinen Sie, dass die Briten heimgekehrt sind?«, wollte Vicente wissen.
»Nein.«
»Warum nicht?«
Sharpe zuckte mit den Schultern. »Wenn wir heimkehren wollten«, sagte er, »hätten wir das nach Sir John Moores Rückzug tun müssen.«
Vicente starrte nach Süden. »Ich weiß, dass wir das Dorf nicht hätten verteidigen können«, sagte er.
»Ich wünschte, wir hätten es tun können.«
»Es ist nur - es sind meine Leute.« Vicente zuckte mit den Schultern.
»Ich weiß.« Sharpe versuchte sich die französische Armee in den Tälern von Yorkshire oder den Straßen von London vorzustellen. Er malte sich brennende Häuser, geplünderte Bierkneipen und schreiende Frauen aus, doch er konnte sich dieses Entsetzen nicht vorstellen. Es kam ihm sonderbar unwirklich vor. Harper konnte sich zweifellos vorstellen, wie sein Heim zerstört wurde, konnte sich vermutlich daran erinnern, aber Sharpe konnte das nicht.
»Warum tun sie das?«, fragte Vicente mit echter Betroffenheit.
Sharpe schob das Fernrohr zusammen, dann scharrte er mit der Spitze seines rechten Stiefels über den Boden. Am Tag, nachdem sie zum Wachturm hochgeklettert waren, hatte er die vom Regen nassen Stiefel an einem Feuer getrocknet, doch er hatte sie zu nahe an die Hitze gehalten und das Leder war gebrochen. »Im Krieg gibt es keine Regeln«, sagte er unbehaglich.
»Doch, es gibt Regeln.«
Sharpe ignorierte den Einwand. »Die meisten Soldaten sind keine Heiligen. Es sind Säufer, Diebe, Schurken, die in allem gescheitert und deshalb zur Armee gegangen sind, weil sie sonst im Gefängnis gelandet wären. Dann hat man ihnen eine Waffe gegeben und ihnen das Töten beigebracht. In der Heimat würden sie dafür gehängt werden, aber in der Armee werden sie dafür belobigt, und wenn man sie nicht am harten Zügel hält, dann halten sie jedes Töten für erlaubt. Diese Kerle ...«, er nickte zu Männern hin, die am Fuß des Hügels zwischen Korkeichen lagerten, »... wissen verdammt genau, dass sie bestraft werden, wenn sie die Regeln verletzen. Aber wenn man sie nicht im Zaum hält? Dann würden sie dieses Land vernichten, Spanien ebenso zerstören und niemals aufhören, bis jemand sie umbringt.« Er legte eine Pause ein, wusste, dass er unfair gegenüber seinen Männern war. »Wissen Sie, sie sind nicht die Schlimmsten, nicht wirklich nur skrupellos, sie sind verdammt feine Soldaten, und ich mag sie.« Er runzelte die Stirn und fühlte sich verlegen. »Aber die Froschfresser? Ich weiß nicht. Sie haben keine Wahl. Sie sind Wehrpflichtige. Einige arme Jungs arbeiten als Bäcker oder Stellmacher, und von einem Tag zum anderen steckt man sie in eine Uniform und lässt sie einen halben Kontinent entfernt marschieren. Es widert sie an, und die Franzosen peitschen ihre Soldaten als Strafe nicht aus, deshalb gibt es auch keine Möglichkeit, sie zu halten.«
»Peitschen Sie auch?«
»Nein, ich nicht.« Er spielte mit dem Gedanken, Vicente zu erzählen, dass er vor gar nicht so langer Zeit ausgepeitscht worden war, auf einem heißen Paradeplatz in Indien, doch dann entschied er sich, nichts davon zu sagen. Es konnte als Prahlerei ausgelegt werden. »Ich kaufe sie mir unter vier Augen und verprügele sie. Das geht schneller.«
Vicente lächelte. »Das könnte ich nicht tun.«
»Sie könnten ihnen stattdessen einen schriftlichen Verweis erteilen«, sagte Sharpe. »Ich würde mich lieber verprügeln lassen, als mich mit einem Anwalt anzulegen.« Wenn ich Williamson geschlagen hätte, dachte er, hätte er mich vielleicht angezeigt. Vielleicht auch nicht. »Wie weit ist der Fluss noch entfernt?«, fragte er.
»Drei Stunden. Nicht viel länger.«
»Wer weiß, was bis dahin noch geschieht. Es könnte jetzt weitergehen.«
»Aber die Franzosen?«, sagte Vicente nervös.
»Keine hier.« Sharpe nickte nach Süden. »Kein Rauch, keine Vögel, die aus Bäumen aufflattern, als wäre eine Katze hinter ihnen her. Und man kann französische Dragoner aus einer Meile Entfernung riechen. Ihre Pferde sind alle sattelwund und stinken wie eine Jauchegrube.«
So marschierten sie weiter. Auf dem Gras war noch Tau. Sie kamen durch ein verlassenes Dorf, das unbeschädigt wirkte. Sharpe nahm an, dass die Dorfbewohner die Franzosen hatten kommen sehen und sich versteckt hatten. Es waren gewiss Leute in dem Dorf, denn Wäsche hing zum Trocknen auf einer Leine zwischen zwei Büschen. Eines der Wäschestücke war ein feines Männerhemd mit Steinknöpfen.
Sharpe sah Cresacre trödeln, er hielt sich hinter den anderen zurück, um allein zu sein und Beute zu machen. »Die Strafe für Diebstahl ist Hängen!«, rief Sharpe seinen Männern zu. »Und hier gibt es gute Galgenbäume.« Cresacre tat, als hätte er das nicht gehört, beeilte sich aber, zu den anderen aufzuschließen.
Als sie den Douro erreichten, hielten sie an. Barca d'Avintas war noch ein Stück entfernt im Westen, und Sharpe wusste, dass seine Männer müde waren. So biwakierten sie in einem Waldstück hoch auf dem Steilufer des Flusses. Kein Boot war darauf zu sehen. Weit entfernt im Süden stieg eine einzige Rauchsäule in den Himmel, und im Westen war ein Dunstschleier zu sehen. Sharpe nahm an, dass er von Oportos Kochfeuern stammte.
Vicente sagte, Barca d'Avintas sei wenig mehr als eine Stunde entfernt, doch Sharpe entschied, bis zum Morgen zu warten, bevor sie weitermarschierten. Ein halbes Dutzend der Männer humpelte, weil ihre Stiefel zerschlissen waren, und Gataker, am Oberschenkel verwundet, empfand Schmerzen. Einer von Vicentes Männern marschierte barfuß, und Sharpe dachte daran, es wegen der Verfassung seiner Stiefel ebenfalls zu tun. Doch es gab einen noch besseren Grund für eine Verzögerung.
»Wenn die Franzosen dort sind«, sagte er, »dann würde ich mich lieber im Morgengrauen anschleichen. Und wenn sie nicht da sind, haben wir den ganzen Tag, um eine Art Floß zu bauen.«
»Und was ist mit uns?«, fragte Vicente.
»Wollen Sie immer noch nach Oporto?«
»Unser Regiment ist dort stationiert«, sagte Vicente. »Es ist seine Heimatstadt. Die Männer sind besorgt. Einige haben dort Familie.«
»Begleiten Sie uns noch bis Barca d'Avintas«, schlug Sharpe vor, »dann kehren Sie heim. Aber seien Sie auf den letzten paar Meilen vorsichtig. Es wird schon alles glattgehen.« Das glaubte er nicht, aber das konnte er nicht sagen.
So rasteten sie. Posten beobachteten vom Waldrand aus, während die anderen schliefen, und kurz nach Mittag, als die Hitze jeden schläfrig machte, glaubte Sharpe ein entferntes Donnern zu hören. Es waren keine Regenwolken in Sicht, folglich war es kein Gewitterdonnern, sondern Geschützfeuer, aber er konnte das nicht mit Sicherheit sagen. Harper schlief, und Sharpe fragte sich, ob er nur das Schnarchen des großen Iren gehört hatte, doch dann nahm er wieder das ferne Donnern war, obwohl es so schwach war, dass er es sich auch nur eingebildet haben konnte. Er stieß Harper an, um ihn zu wecken.
»Was ist?«
»Ich versuche zu lauschen«, sagte Sharpe.
»Und ich versuche zu schlafen.«
»Hören Sie mal hin!« Aber jetzt war es still bis auf das Rauschen des Flusses und das Rascheln der Blätter im Ostwind.
Sharpe überlegte, ob er eine Patrouille zur Erkundung nach Barca d'Avintas schicken sollte, doch er entschied sich dagegen. Er wollte nicht seinen bereits gefährlich kleinen Trupp teilen, und die Antwort auf die Frage, welche Gefahren im Dorf lauerten, konnte bis zum Morgen warten.
Bei Einbruch der Dunkelheit glaubte er das ferne Donnern wieder zu hören, doch dann drehte der Wind, und das Geräusch erstarb.
Die Morgendämmerung war still, und der Fluss wirkte glatt und poliert wie Stahl. Luis, der sich gut in Sharpes Team eingefügt hatte, hatte sich als geschickter Schuhmacher erwiesen und einige stark verschlissene Stiefel geflickt. Er hatte Sharpe angeboten, ihn zu rasieren, doch Sharpe hatte nur den Kopf geschüttelt. »Die Rasur kann warten, bis wir auf der anderen Seite des Flusses sind.«
»Ich bete, dass Ihnen kein Bart wächst«, meinte Vicente, und dann marschierten sie los, folgten einem gewundenen Pfad durch das hohe Terrain.
Der Weg war uneben, überwuchert und von tiefen Furchen durchzogen, und sie kamen nur langsam voran, doch sie sahen keinen Feind. Dann wurde das Land flach, der Pfad verbreiterte sich und führte an Weingärten entlang, und Barca d'Avintas, dessen weiße Häuser unter der aufgehenden Sonne leuchteten, lag vor ihnen.
Es befanden sich keine Franzosen dort. Zwei Dutzend Leute waren in die geplünderten Häuser zurückgekehrt, und sie schauten alarmiert, als die Uniformierten, die wie Landstreicher wirkten, auf der kleinen Brücke über den Fluss kamen, doch Vicente beruhigte sie.
Laut Dorfbewohner hatten die Franzosen alle Boote beschlagnahmt oder verbrannt. Sie hatten die Franzosen selten gesehen. Manchmal war eine Patrouille Dragoner durch das Dorf geritten. Sie hatten über den Fluss gespäht, etwas Proviant gestohlen und waren weitergeritten. Eine Frau, die Olivenöl, Eier und Räucherfisch auf dem Markt von Oporto verkaufte, sagte, dass die Franzosen das Flussufer zwischen der Stadt und der See unter Bewachung hielten, doch Sharpe maß ihren Worten nicht viel Gewicht bei. Ihr Mann, ein Riese mit schwieligen Händen, hielt es für möglich, aus dem Holz zertrümmerter Möbel ein Floß zu zimmern.
Sharpe stellte am westlichen Rand des Dorfes Posten auf. Er kletterte dort auf einen Baum und stellte erstaunt fest, dass er einige von Oportos Gebäuden am hügeligen Horizont sehen konnte. Das große weiße Gebäude mit dem Flachdach, das er gesehen hatte, als er Vicente zum ersten Mal begegnet war, zählte zu den auffälligsten, und er war bestürzt, dass sie sich so nahe bei der Stadt befanden. Das große weiße Gebäude konnte kaum mehr als drei Meilen entfernt sein, und gewiss hatten die Franzosen Posten am Stadtrand und beobachteten die Zufahrtsstraßen. Und er musste hier den Fluss überqueren.
Er kletterte vom Baum hinab und wollte gerade den Rock ausziehen, als ein langhaariger junger Mann in verschlissener Kleidung ihn anstarrte und muhte. Sharpe starrte erstaunt zurück. Der Mann muhte von Neuem, dann grinste er albern. Er hatte schmutziges rotes Haar, strahlend blaue Augen und einen schiefen Mund, aus dem Speichel rann, und Sharpe erkannte, dass er ein Idiot und vermutlich harmlos war. Sharpe erinnerte sich an Ronnie, den Dorfidioten in Yorkshire, dessen Eltern ihn an eine Ulme anzuketten pflegten und der die grasenden Kühe anmuhte und die Mädchen anknurrte. Dieser Mann verhielt sich ähnlich, aber er war auch lästig, zerrte an Sharpes Ellbogen und versuchte den Engländer zum Fluss zu ziehen.
»Haben Sie sich einen Freund gemacht, Sir?«, fragte Tongue amüsiert.
»Er ist ein verdammtes Ärgernis, Sir«, meinte Perkins.
»Er meint es nicht böse«, sagte Tongue, »möchte nur mit Ihnen schwimmen gehen, Sir.«
Sharpe riss sich von dem geistig Behinderten los. »Wie heißt du?«, fragte er, dann wurde ihm klar, dass es vermutlich wenig Sinn hatte, mit einem portugiesischen Schwachsinnigen Englisch zu sprechen, doch der Idiot war erfreut, dass jemand mit ihm sprach. Er grinste und hüpfte auf und ab. Dann zog er wieder an Sharpes Ellbogen.
»Ich werde dich Ronnie nennen«, sagte Sharpe. »Was willst du, Ronnie?«
Seine Männer lachten jetzt, aber Sharpe hatte ohnehin zum Flussufer gehen wollen, um zu sehen, welchen Herausforderungen sein Floß gewachsen sein musste, und so ließ er sich von Ronnie mitziehen. Der Idiot plapperte auf dem ganzen Weg, aber nichts davon ergab einen Sinn. Er führte Sharpe zum Fluss, und als Sharpe versuchte, sich aus seinem überraschend festen Griff loszureißen, schüttelte Ronnie den Kopf und zerrte ihn weiter zwischen einigen Pappeln hindurch und durch dichte Büsche. Schließlich ließ er Sharpes Arm los und klatschte in die Hände.
»Du bist überhaupt kein Idiot, nicht wahr?«, sagte Sharpe. »In Wirklichkeit bist du ein verkanntes Genie, Ronnie.«
Da war ein Boot. Sharpe hatte bei seinem ersten Besuch in Barca d'Avintas die niedergebrannte und eingesunkene Fähre gesehen, und jetzt wurde ihm klar, dass es zwei Boote gegeben hatte und dies das andere sein musste. Es war ein flaches, breites und plumpes Boot, die Art Boot, das eine kleine Schafherde oder sogar eine Kutsche und ihre Gespannpferde transportieren konnte. Es war mit Steinen beschwert und lag in einem Graben unter den Bäumen.
Sharpe fragte sich, weshalb ihm die Dorfbewohner das Boot nicht eher gezeigt hatten. Er nahm an, dass sie alle Soldaten fürchteten und das Boot versteckt hatten, bis friedliche Zeiten zurückkehrten. Die Franzosen hatten fast alle Boote zerstört und nie erfahren, dass das zweite Boot noch existierte. »Du bist ein verdammtes Genie«, sagte Sharpe noch einmal zu Ronnie und gab ihm das letzte Stück Brot, das einzige Geschenk, das er hatte.
Jetzt besaß er ein Boot.
Und dann hörte er wieder den Donner, den er so entfernt in der vergangenen Nacht wahrgenommen hatte. Diesmal war er jedoch näher, und es war unverkennbar. Es war kein Gewitterdonner. Christopher hatte gelogen, und es gab keinen Frieden in Portugal.
Es war Kanonenfeuer.