Hört mal. (Erwachsene lassen diesen Absatz bitte weg.)
Ich will Euch nicht erzählen, dieses Buch gehe tragisch aus. Ich sagte schon im allerersten Satz, daß es mein Lieblingsbuch ist. Aber es kommen jetzt eine Menge übler Sachen.
William Goldman, Die Brautprinzessin
Meggie setzte sich auf die Bank hinterm Haus, neben der immer noch Staubfingers abgebrannte Fackeln steckten. Noch nie hatte sie so lange gezögert, ein Buch aufzuschlagen. Sie hatte Angst vor dem, was darin wartete. Das war ein ganz neues Gefühl. Noch nie hatte sie Angst gehabt vor dem, was ihr ein Buch erzählen würde, im Gegenteil, meist war sie so begierig, sich in eine unentdeckte, nie gesehene Welt locken zu lassen, dass sie zu den unpassendsten Gelegenheiten zu lesen begann. Beim Frühstück lasen Mo und sie oft beide, und es war mehr als einmal vorgekommen, dass er sie deshalb zu spät zur Schule gebracht hatte. Auch unter der Schulbank hatte sie so manches Mal gelesen, an Bushaltestellen, bei Verwandtenbesuchen, spätabends unter der Decke, bis Mo sie ihr wegzog und ihr androhte, jedes Buch aus ihrem Zimmer zu verbannen, damit sie endlich genug Schlaf bekam. Natürlich hätte er so etwas nie getan und er wusste, dass sie das wusste, doch ein paar Tage schob sie ihr Buch nach solchen Ermahnungen trotzdem gegen neun unter ihr Kissen und ließ es im Traum weiterflüstern, damit Mo das Gefühl hatte, ein wirklich guter Vater zu sein.
Dieses Buch jedoch hätte sie nicht unter ihr Kissen geschoben, aus Furcht vor dem, was es ihr zuflüstern könnte. All das Unheil, das in den letzten drei Tagen geschehen war, schien aus seinen Seiten hervorgekrochen zu sein, und vielleicht war es nur ein Schatten dessen, was dadrinnen noch auf sie wartete?
Trotzdem musste sie hinein. Wo sonst sollte sie nach Mo suchen? Elinor hatte Recht, es hatte keinen Sinn, einfach loszulaufen. Sie musste versuchen, Mos Spur zwischen den Buchstaben von Tintenherz zu finden.
Doch kaum hatte sie die erste Seite aufgeschlagen, da hörte sie Schritte hinter sich.
»Du wirst dir einen Sonnenstich holen, wenn du weiter so in der prallen Sonne sitzt«, sagte eine vertraute Stimme.
Meggie fuhr herum.
Staubfinger verbeugte sich. Sein Lächeln war natürlich auch wieder da.
»Ah, sieh an, welch eine Überraschung!«, sagte er, beugte sich über ihre Schulter und betrachtete das aufgeschlagene Buch auf ihrem Schoß. »Es ist also noch hier. Du hast es.«
Meggie musterte fassungslos sein narbiges Gesicht. Wie konnte er dastehen und tun, als sei nichts geschehen? »Wo warst du?«, fuhr sie ihn an. »Haben sie dich nicht mitgenommen? Und wo ist Mo? Wo haben sie ihn hingebracht?« Sie konnte die Worte gar nicht schnell genug über die Zunge bringen.
Aber Staubfinger ließ sich Zeit mit der Antwort. Er musterte die Büsche ringsum, als hätte er noch nie etwas Ähnliches gesehen. Er trug seinen Mantel, obwohl es ein warmer Tag war, so warm, dass ihm der Schweiß in kleinen glitzernden Perlen auf der Stirn stand.
»Nein, sie haben mich nicht mitgenommen«, sagte er endlich und wandte das Gesicht wieder Meggie zu. »Aber ich habe gesehen, wie sie mit deinem Vater davongefahren sind. Ich bin ihnen nachgerannt, quer durchs Gebüsch, ein paar Mal habe ich gedacht, ich breche mir den Hals an diesem verfluchten Hang, doch ich war noch rechtzeitig unten am Tor, um zu sehen, dass sie in südlicher Richtung davonfuhren. Natürlich habe ich sie sofort erkannt. Capricorn hatte seine besten Männer geschickt. Sogar Basta war dabei.«
Meggie hing mit den Augen an seinen Lippen, als könnte sie die Worte so schneller hervorlocken. »Und? Weißt du, wo sie Mo hingebracht haben?« Ihre Stimme bebte vor Ungeduld.
»Zu Capricorns Dorf, denke ich. Aber ich wollte sichergehen, also ...« Staubfinger zog den Mantel aus und hängte ihn über die Bank. »Also bin ich ihnen nachgelaufen. Ich weiß, das klingt lächerlich, zu Fuß hinter einem Auto her«, sagte er, als Meggie ungläubig die Stirn runzelte. »Aber ich war einfach so wütend. Alles war umsonst gewesen: Dass ich euch gewarnt hatte, dass wir hierher gekommen sind ... Irgendwann konnte ich ein Auto anhalten, das mich in den nächsten Ort mitnahm. Dort hatten sie getankt, vier Männer, schwarz gekleidet und nicht sehr freundlich. Sie waren noch nicht lange fort. Also habe ich mir ein Moped ... ausgeliehen und versucht ihnen weiter zu folgen. Guck mich nicht so an, du kannst beruhigt sein, ich habe es später zurückgebracht. Es war nicht besonders schnell, doch zum Glück machen die Straßen hier viele, viele Kurven, und irgendwann sah ich sie noch mal, tief unten im Tal, während ich mich noch die Serpentinen hinunterquälte. Und da war ich sicher: Sie bringen deinen Vater in Capricorns Hauptquartier. Nicht in eins der Verstecke weiter nördlich, sondern direkt in die Höhle des Löwen.«
»Die Höhle des Löwen?«, wiederholte Meggie. »Wo ist das?«
»Etwa ... dreihundert Kilometer südlich von hier.« Staubfinger setzte sich neben sie auf die Bank und blinzelte in die Sonne. »Unweit der Küste.« Wieder sah er das Buch an, das immer noch auf Meggies Schoß lag. »Capricorn wird nicht erfreut sein, dass seine Männer ihm das falsche Buch bringen«, sagte er. »Ich kann nur hoffen, dass er seine Enttäuschung nicht an deinem Vater auslässt.«
»Aber Mo wusste doch nicht, dass es das falsche Buch ist! Elinor hat es heimlich ausgetauscht!« Da waren sie schon wieder, die verwünschten Tränen. Meggie fuhr sich mit dem Ärmel über die Augen.
Staubfinger runzelte die Stirn und musterte sie, als wäre er nicht sicher, ob er ihr glauben könnte.
»Sie wollte es sich nur ansehen, sagt sie! Sie hatte es in ihrem Schlafzimmer. Mo kannte das Versteck, in das sie es gelegt hatte, und weil es in Packpapier eingeschlagen war, hat er nicht gemerkt, dass es das falsche Buch war! Und Capricorns Männer haben auch nicht nachgesehen.«
»Natürlich nicht, wozu auch?« Staubfingers Stimme klang verächtlich. »Sie können nicht lesen. Ein Buch ist für sie wie das andere, nichts als bedrucktes Papier. Außerdem sind sie gewohnt, dass man ihnen gibt, was sie wollen.«
Meggies Stimme wurde schrill vor Angst. »Du musst mich hinbringen in dieses Dorf! Bitte!« Flehend sah sie Staubfinger an. »Ich werd Capricorn alles erklären. Ich geb ihm das Buch und er lässt Mo gehen. Ja?«
Staubfinger blinzelte in die Sonne. »Ja, sicher«, sagte er, ohne Meggie anzusehen. »Das ist wohl die einzige Lösung ...«
Bevor er mehr sagen konnte, schallte Elinors Stimme vom Haus herüber. »Na, wen haben wir denn da?«, rief sie und lehnte sich aus ihrem offenen Fenster. Der blassgelbe Vorhang blähte sich im Wind, als hätte sich ein Geist darin verfangen. »Wenn das nicht der Streichholzschlucker ist!«
Meggie sprang auf und lief über den Rasen auf sie zu. »Elinor, er weiß, wo Mo ist!«, rief sie.
»Ach ja?« Elinor stützte sich auf die Fensterbrüstung und musterte Staubfinger mit zusammengekniffenen Augen. »Legen Sie das Buch wieder hin!«, rief sie ihm zu. »Meggie, nimm ihm das Buch ab.«
Verdutzt drehte Meggie sich um. Staubfinger hatte Tintenherz tatsächlich in der Hand, doch als Meggie zu ihm hinübersah, legte er es schnell wieder auf die Bank. Dann winkte er sie zu sich, mit einem bösen Blick in Elinors Richtung.
Zögernd kehrte Meggie zu ihm zurück. »Einverstanden, ich bringe dich zu deinem Vater, auch wenn das für mich gefährlich werden könnte!«, raunte er ihr zu. »Aber sie« - er wies mit dem Kopf unauffällig zu Elinor hinüber - »bleibt hier, verstanden?«
Meggie blickte unsicher zum Haus.
»Soll ich mal raten, was er dir zugeflüstert hat?«, rief Elinor über den Rasen.
Staubfinger warf Meggie einen warnenden Blick zu, doch sie beachtete ihn nicht.
»Er will mich zu Mo bringen!«, rief sie.
»Das kann er gern machen!«, rief Elinor zurück. »Aber ich werde mitkommen! Auch wenn ihr zwei vielleicht gern auf meine Gesellschaft verzichten würdet!«
»Das würden wir allerdings gern!«, flüsterte Staubfinger, wäh-rend er unschuldsvoll in Elinors Richtung lächelte. »Aber wer weiß, vielleicht können wir sie ja gegen deinen Vater eintauschen? Capricorn kann bestimmt noch eine Dienerin gebrauchen. Kochen kann sie zwar nicht, aber vielleicht reicht es fürs Wäschewaschen -auch wenn man das nicht aus Büchern lernt.«
Meggie musste lachen. Obwohl sie in Staubfingers Gesicht nicht lesen konnte, ob er gescherzt oder im Ernst gesprochen hatte.