Capricorns Dorf



Aber auf die letzte Frage antwortete Selig: »Wahrscheinlich ist er in das Land jenseits der Dunkelheit geflogen, wohin kein Mensch gelangt und wohin sich kein Tier verirrt, wo der Himmel kupfern ist und die Erde aus Eisen, und wo die bösen Mächte unter den Schirmen versteinerter Blätterpilze und in verlassenen Maulwurfsgängen hausen.«

Isaac B. Singer, Naftali, der Geschichtenerzähler, und sein Pferd Sus



Die Sonne stand schon hoch am wolkenlosen Himmel, als sie aufbrachen. Schon bald war die Luft in Elinors Wagen so stickig, dass Meggie das T-Shirt schweißnass auf der Haut klebte. Elinor öffnete ihr Wagenfenster und reichte eine Wasserflasche herum. Sie selbst trug eine Strickjacke, zugeknöpft bis unters Kinn, und irgendwann fragte Meggie sich, ob Elinor unter der Jacke nicht vielleicht längst flüssig geworden war - irgendwann, als sie gerade einmal nicht an Mo dachte oder an Capricorn.

Staubfinger saß so schweigsam auf dem Rücksitz, dass man fast hätte vergessen können, dass er da war. Er hatte sich Gwin auf den Schoß gesetzt. Der Marder schlief, während Staubfingers Hände rastlos über sein Fell strichen, immer wieder. Ab und zu sah Meggie sich zu ihm um. Meist blickte er aus dem Fenster, unbeteiligt, als sähe er durch die Berge und Bäume, die Häuser und Felshänge hindurch, die draußen vorbeizogen. Ganz leer schien sein Blick, weit fort, und einmal, als Meggie sich umsah, lag eine solche Traurigkeit auf dem narbigen Gesicht, dass sie schnell wieder nach vorn blickte.

Sie hätte auch gern ein Tier auf dem Schoß gehabt auf dieser langen, langen Fahrt. Vielleicht hätte es die dunklen Gedanken vertrieben, die sich so hartnäckig in ihrem Kopf breit machten. Draußen faltete sich die Welt in immer höhere Berge, manchmal schienen sie die Straße zerdrücken zu wollen zwischen ihren steinig grauen Hängen. Doch schlimmer als die Berge waren die Tunnel. In ihnen lauerten Bilder, die nicht einmal Gwins warmer Körper hätte verscheuchen können. Sie schienen sich in der Dunkelheit versteckt zu haben, um dort auf Meggie zu warten: Bilder von Mo an einem finsteren, kalten Ort und von Capricorn ... Meggie wusste, dass er es war, obwohl er jedes Mal ein anderes Gesicht hatte.

Eine Weile versuchte sie zu lesen, aber sie merkte bald, dass sie kein Wort von dem im Gedächtnis behielt, was sie las, und so gab sie es schließlich auf und sah aus dem Fenster wie Staubfinger. Elinor nahm kleinere, wenig befahrene Straßen (»Sonst ist diese Fahrerei einfach zu langweilig«, sagte sie). Meggie wäre das egal gewesen. Sie wollte nur ankommen. Ungeduldig musterte sie die Berge und Häuser, in denen andere zu Hause waren. Manchmal erhaschte sie durch das Fenster eines entgegenkommenden Autos einen Blick auf ein fremdes Gesicht, und dann war es wieder fort, wie ein Buch, das man öffnet und gleich wieder zuschlägt. Als sie durch einen kleinen Ort fuhren, sahen sie am Straßenrand einen Mann, der einem weinenden Mädchen ein Pflaster auf das aufgeschlagene Knie klebte. Er strich ihr tröstend übers Haar und Meggie musste daran denken, wie oft Mo das bei ihr getan hatte, wie er manchmal fluchend durchs Haus gerannt war, wenn sich kein Pflaster fand, und die Erinnerung ließ ihr die Tränen in die Augen schießen.

»Du meine Güte! Hier ist es ja stiller als in der Grabkammer einer Pyramide!«, sagte Elinor irgendwann. (Meggie fand, dass sie ziemlich oft »Du meine Güte« sagte.) »Könnte nicht wenigstens ab und zu mal jemand so etwas sagen wie: >Ah, schöne Landschaft! < oder >Oh, was für eine prächtige Burg.

»Ich seh keine Burg«, murmelte Meggie. Doch es dauerte nicht lange, bis Elinor eine entdeckte. »Sechzehntes Jahrhundert«, verkündete sie, als die zerfallenen Mauern an einem Berghang auftauchten, »tragische Geschichte. Verbotene Liebe, Verfolgung, Tod, Herzschmerz.« Zwischen nichts sagenden Felswänden erzählte Elinor von einer Schlacht, die genau hier vor mehr als sechshundert Jahren getobt habe (»Wenn du zwischen den Steinen gräbst, findest du bestimmt ein paar Knochen und verbeulte Helme«). Zu jedem Kirchturm schien sie eine Geschichte zu kennen. Manche waren so seltsam, dass Meggie misstrauisch die Stirn runzelte. »Genau so ist es passiert, glaub mir!«, sagte Elinor dann jedes Mal, ohne den Blick von der Straße zu wenden. Besonders die blutrünstigen Geschichten schienen es ihr angetan zu haben: Geschichten von unglücklichen Liebespaaren, die man geköpft, und Fürsten, die man lebendig eingemauert hatte. »Sicher, jetzt sieht alles ganz friedlich aus«, stellte sie fest, als Meggie bei einer Geschichte doch etwas blass wurde. »Aber ich sage dir, irgendwo verbirgt sich immer eine dunkle Geschichte. Nun ja, vor ein paar hundert Jahren waren die Zeiten eben einfach aufregender.«

Meggie wusste nicht, was an einer Zeit aufregend war, in der die Leute, wenn man Elinor glaubte, nur die Wahl gehabt hatten, an der Pest zu sterben oder von herumziehenden Soldaten umgebracht zu werden. Doch Elinors Gesicht bekam beim Anblick einer niedergebrannten Burg rote Flecken vor Aufregung, und in den sonst so kieselkühlen Augen zeigte sich ein romantisches Leuchten, wenn sie von kriegslüsternen Fürsten und goldgierigen Bischöfen erzählte, die einst die Berge, durch die sie auf gut gepflasterten Straßen fuhren, mit Angst und Tod erfüllt hatten.

»Liebe Elinor, Sie scheinen ganz offensichtlich in der falschen Geschichte geboren worden zu sein«, sagte Staubfinger irgendwann. Es waren die ersten Worte, die er seit ihrem Aufbruch sprach.

»In der falschen Geschichte? In der falschen Zeit, meinen Sie. Ja, das habe ich auch schon des Öfteren gedacht.«

»Nennen Sie es, wie Sie wollen«, sagte Staubfinger. »Auf jeden Fall müssten Sie sich mit Capricorn bestens verstehen. Er mag dieselben Geschichten wie Sie.«

»Soll das eine Beleidigung sein?«, fragte Elinor gekränkt. Der Vergleich schien ihr zu schaffen zu machen, denn danach schwieg sie für fast eine Stunde, sodass Meggie erneut nichts von ihren dunklen Gedanken ablenkte. Und schon warteten in jedem Tunnel wieder die Schreckensbilder.

Es begann zu dämmern, als die Berge zurückwichen und hinter grünen Hügeln, weit wie ein zweiter Himmel, plötzlich das Meer auftauchte. Die tief stehende Sonne ließ es schimmern wie die Haut einer schönen Schlange. Es war lange her, dass Meggie das Meer gesehen hatte. Es war ein kaltes Meer gewesen, schiefergrau und blass vom Wind. Dieses Meer sah anders aus, ganz anders.

Es wärmte Meggie das Herz, es nur anzusehen, aber es verschwand viel zu oft hinter hässlich hohen Häusern. Überall wucherten sie auf dem schmalen Streifen Land, der zwischen dem Wasser und den herandrängenden Hügeln lag. Doch manchmal ließen die Hügel den Häusern keinen Platz, machten sich breit, drängten bis ans Meer und ließen es an ihren grünen Füßen lecken. Wie Wellen, die an Land gekrochen waren, lagen sie da im Licht der untergehenden Sonne.

Während sie der sich windenden Küstenstraße folgten, begann Elinor wieder zu erzählen, irgendetwas über die Römer, die angeblich ebendiese Straße gebaut hatten, die sie entlangfuhren, über ihre Angst vor den wilden Bewohnern dieses schmalen Streifen Landes ...

Meggie hörte nur mit halbem Ohr zu. Am Straßenrand wuchsen Palmen, die Köpfe staubig und stachlig. Zwischen ihnen blühten riesige Agaven, wie Spinnen hockten sie da mit ihren fleischigen Blättern. Der Himmel hinter ihnen färbte sich rosa und zitronengelb, während die Sonne immer tiefer aufs Meer zusank und von oben ein dunkles Blau herabsickerte wie auslaufende Tinte. Der Anblick war so schön, dass es schmerzte.

Meggie hatte sich den Ort, an dem Capricorn hauste, ganz anders vorgestellt. Schönheit und Angst tun sich nur schwer zusammen.

Sie fuhren durch einen kleinen Ort, vorbei an Häusern, die so bunt waren, als hätte ein Kind sie gemalt. Orange und rosa waren sie, rot und immer wieder gelb: blassgelb, braungelb, sandig gelb, schmutzig gelb, mit grünen Fensterläden und rotbraunen Dächern. Selbst die aufziehende Dämmerung konnte ihnen nicht die Farben nehmen.

»Gefährlich sieht es hier nicht gerade aus«, stellte Meggie fest, als wieder so ein rosa Haus vorbeihuschte.

»Weil du immer nur nach links siehst!«, sagte Staubfinger hinter ihr. »Aber es gibt immer eine helle und eine dunkle Seite. Sieh mal nach rechts.«

Meggie gehorchte. Zuerst waren auch da nur die bunten Häuser. Ganz dicht am Straßenrand standen sie, lehnten sich aneinander, als hielten sie einander im Arm. Doch dann waren die Häuser plötzlich fort, und steile Hänge, in deren Falten schon die Nacht nistete, säumten die Straße. Ja, Staubfinger hatte Recht, dort sah es unheimlich aus, und die wenigen Häuser schienen zu ertrinken in der aufziehenden Finsternis.

Es wurde rasch dunkler, die Nacht kommt schnell im Süden, und Meggie war froh, dass Elinor weiter die hell erleuchtete Küstenstraße entlangfuhr. Doch schließlich wies Staubfinger sie an, eine Straße zu nehmen, die fort von der Küste führte, fort vom Meer und den bunten Häusern, hinein in die Dunkelheit.

Immer tiefer wand die Straße sich in die Hügel hinein, mal hinauf, mal hinab, bis die Abhänge am Straßenrand immer steiler wurden. Das Licht der Scheinwerfer fiel auf Ginster und verwilderte Weinstöcke, auf Olivenbäume, die sich am Straßenrand krümmten wie alte Männer.

Nur zweimal kam ihnen ein anderer Wagen entgegen. Ab und zu tauchten die Lichter eines Dorfes aus der Dunkelheit auf. Aber die Straßen, die Staubfinger Elinor wies, führten fort von allen Lichtern und nur immer tiefer hinein in die Nacht. Mehrere Male fiel das Scheinwerferlicht auf die verfallenen Reste eines Hauses, doch Elinor wusste über keins von ihnen eine Geschichte zu erzählen. Zwischen den ärmlichen Mauern hatten keine Fürsten gewohnt, keine Bischöfe im roten Mantel, nur Bauern und Landarbeiter, deren Geschichten niemand aufgeschrieben hatte, und nun waren sie verloren, verschwunden unter wildem Thymian und wuchernder Wolfsmilch.

»Sind wir etwa immer noch richtig?«, fragte Elinor irgendwann mit gedämpfter Stimme, als wäre die Welt um sie her zu still, um laut zu sprechen. »Wo soll denn in dieser gottverlassenen Einöde ein Dorf sein? Wahrscheinlich haben wir schon mindestens zweimal die falsche Abzweigung genommen.«

Aber Staubfinger schüttelte nur den Kopf. »Wir sind genau richtig«, antwortete er. »Nur noch über den Hügel da und Sie können die Häuser sehen.«

»Na, hoffentlich!«, brummte Elinor. »Im Moment kann ich kaum die Straße erkennen. Du meine Güte, ich wusste nicht, dass es irgendwo auf der Welt noch so dunkel ist. Hätten Sie mir nicht sagen können, dass es so weit ist? Dann hätte ich noch mal getankt. Ich weiß nicht mal, ob wir es mit dem Benzin wieder zurück an die Küste schaffen.«

»Wessen Auto ist das? Meins?«, fragte Staubfinger gereizt zurück. »Ich habe doch gesagt, ich habe mit den Dingern nichts im Sinn. Und jetzt sehen Sie nach vorn. Gleich müsste die Brücke kommen.«

»Brücke?« Elinor fuhr um die nächste Biegung und trat abrupt auf die Bremse. Mitten auf der Straße stand, beleuchtet von zwei Baulampen, ein Absperrgitter. Das Metall sah angerostet aus, als stünde das Gitter schon seit Jahren da.

»Na bitte!«, rief Elinor und schlug die Hände aufs Lenkrad. »Wir sind falsch. Sag ich es doch!«

»Gar nichts sind wir.« Staubfinger zog Gwin von seiner Schulter und stieg aus. Er sah sich lauschend um, während er auf die Absperrung zuschlenderte. Dann zerrte er das Gitter zum Straßenrand.

Meggie musste fast lachen, als sie Elinors entgeistertes Gesicht sah. »Ist der Kerl jetzt vollständig übergeschnappt?«, flüsterte sie. »Der glaubt doch wohl nicht, dass ich in dieser Finsternis eine abgesperrte Straße hinunterfahre.«

Trotzdem ließ sie den Motor an, als Staubfinger sie ungeduldig weiterwinkte. Sobald sie an ihm vorbei war, zog er das Gitter zurück auf die Straße.

»Sehen Sie mich nicht so an!«, sagte er, als er wieder in den Wagen stieg. »Diese Sperre ist immer da. Capricorn hat sie aufstellen lassen, um unerwünschte Besucher abzuhalten. Es traut sich nicht oft jemand hierher. Die meisten Leute werden von den Geschichten fern gehalten, die Capricorn über das Dorf verbreiten lässt, aber ...«

»Was für Geschichten?«, unterbrach Meggie ihn, obwohl sie sie eigentlich nicht hören wollte.

»Schaurige Geschichten«, antwortete Staubfinger. »Die Leute hier sind abergläubisch, wie überall. Die beliebteste Geschichte ist die, dass der Teufel persönlich hinter dem Hügel dort wohnt.«

Meggie ärgerte sich über sich selbst, aber sie konnte den Blick nicht von der dunklen Hügelkuppe wenden. »Mo sagt, den Teufel haben die Menschen erfunden«, sagte sie.

»Nun, das mag sein.« Staubfinger klebte wieder das rätselhafte Lächeln auf dem Mund. »Aber du wolltest hören, was man sich erzählt. Man sagt, dass die Männer, die in dem Dorf hausen, keine Kugel töten kann, dass sie durch Wände gehen können und sich in jeder Neumondnacht drei Jungen holen, die Capricorn das Stehlen, das Brandschatzen und das Morden lehrt.«

»Himmel, wer hat sich das alles ausgedacht? Die Leute hier oder dieser Capricorn selbst?« Elinor beugte sich tief über das Steuer. Die Straße war voller Schlaglöcher und sie musste im Schritttempo fahren, um nicht stecken zu bleiben.

»Beides.« Staubfinger lehnte sich zurück und ließ Gwin an seinen Fingern knabbern. »Capricorn belohnt jeden, der sich eine neue Geschichte einfallen lässt. Der Einzige, der bei diesem Spiel nie mitmacht, ist Basta, denn er ist selbst so abergläubisch, dass er jeder schwarzen Katze aus dem Weg geht.«

Basta. An den Namen erinnerte Meggie sich, doch bevor sie nachfragen konnte, sprach Staubfinger schon weiter. Das Erzählen schien ihm Spaß zu machen.

»Ach ja! Fast hätte ich es vergessen! Natürlich haben alle, die in dem verfluchten Dorf wohnen, den bösen Blick, selbst die Frauen.«

»Den bösen Blick?« Meggie sah ihn an.

»O ja. Ein Blick und du wirst sterbenskrank. Und spätestens nach drei Tagen bist du mausetot.«

»Wer glaubt denn so was?«, murmelte Meggie und sah wieder nach vorn.

»Dummköpfe glauben so was.« Elinor trat wieder auf die Bremse. Der Wagen schlitterte über den Schotter. Vor ihnen lag die Brücke, von der Staubfinger gesprochen hatte. Die grauen Steine leuchteten bleich im Scheinwerferlicht, und der Abgrund darunter schien bodenlos.

»Weiter, weiter!«, sagte Staubfinger ungeduldig. »Sie hält, auch wenn sie nicht so aussieht!«

»Sie sieht aus, als hätten die alten Römer sie gebaut«, brummte Elinor. »Und zwar für Esel, nicht für Autos.«

Aber weiter fuhr sie trotzdem. Meggie kniff die Augen zu und öffnete sie erst wieder, als sie erneut den Straßenschotter unter den Reifen knirschen hörte.

»Capricorn schätzt diese Brücke sehr«, sagte Staubfinger leise. »Ein einziger gut bewaffneter Mann reicht aus, sie unpassierbar zu machen. Aber zum Glück steht nicht jede Nacht ein Posten hier.«

»Staubfinger ...« Meggie drehte sich zögernd zu ihm um, während Elinors Wagen sich den letzten Hügel hinaufquälte. »Was sollen wir erzählen, wenn man uns fragt, wie wir das Dorf gefunden haben? Es ist doch bestimmt nicht gut, wenn Capricorn erfährt, dass du es uns gezeigt hast, oder?«

»Nein, da hast du Recht«, murmelte Staubfinger, ohne Meggie anzusehen. »Obwohl wir ihm schließlich das Buch bringen.« Er fing Gwin ein, der auf der Lehne der Rückbank herumkletterte, packte ihn so, dass er nicht nach ihm schnappen konnte, und lockte ihn mit einem Stück Brot in den Rucksack. Der Marder war unruhig geworden, seit es draußen dunkel war. Er wollte auf die Jagd gehen.

Sie hatten den Kamm des Hügels erreicht. Um sie herum war die Welt verschwunden, verschluckt von der Nacht, aber nicht weit entfernt zeichneten sich ein paar bleiche Vierecke in der Dunkelheit ab. Erleuchtete Fenster.

»Da ist es«, sagte Staubfinger, »Capricorns Dorf. Oder, wenn euch das besser gefällt: das Dorf des Teufels.« Er lachte leise.

Elinor drehte sich ärgerlich zu ihm um. »Nun hören Sie schon auf!«, fuhr sie ihn an. »Diese Geschichten scheinen Ihnen ja wirklich sehr zu gefallen. Wer weiß, vielleicht haben Sie selbst sie erfunden und dieser Capricorn ist nichts als ein etwas wunderlicher Büchersammler.«

Darauf sagte Staubfinger nichts. Er sah nur aus dem Fenster, mit seinem seltsamen Lächeln, das Meggie ihm manchmal zu gern von den Lippen gewischt hätte. Auch diesmal schien es nur eins zu sagen: Was seid ihr doch dumm!

Elinor hatte den Motor abgestellt, und die Stille, die sie daraufhin umgab, war so vollkommen, dass Meggie kaum zu atmen wagte. Sie blickte hinab zu den erleuchteten Fenstern. Sonst fand sie helle Fenster in der Nacht stets einladend, aber diese schienen bedrohlicher als die Dunkelheit ringsum.

»Hat dieses Dorf auch irgendwelche normalen Einwohner?«, fragte Elinor. »Harmlose Großmütter, Kinder, Männer, die nichts mit Capricorn zu tun haben ...«

»Nein. Nur Capricorn und seine Männer wohnen dort«, raunte Staubfinger, »und die Frauen, die für sie kochen, putzen und was sonst noch so anfällt.«

»Was sonst noch so anfällt ... Na, wunderbar!« Elinor schnaubte vor Abscheu. »Dieser Capricorn wird mir immer sympathischer. Nun gut, bringen wir die Sache hinter uns. Ich will wieder nach Hause, zu meinen Büchern, zu einer anständigen Beleuchtung und einer Tasse Kaffee.«

»Tatsächlich? Ich dachte, Sie sehnen sich nach ein bisschen Abenteuer?« Wenn Gwin sprechen könnte, dachte Meggie, dann hätte er Staubfingers Stimme.

»Es ist mir lieber, wenn dabei die Sonne scheint«, entgegnete Elinor ihm barsch. »Herrgott, wie ich diese Dunkelheit hasse, aber wenn wir hier noch bis zum Morgengrauen herumsitzen, sind meine Bücher verschimmelt, bevor Mortimer sich um sie kümmern kann. Meggie, geh nach hinten und hole die Tüte. Du weißt schon.«

Meggie nickte und wollte gerade ihre Tür öffnen, als grelles Licht sie blendete. Jemand stand vor der Fahrertür, das Gesicht war nicht zu erkennen, und leuchtete mit einer Taschenlampe in den Wagen. Dann klopfte er unsanft damit gegen die Scheibe.

Elinor fuhr so erschrocken zusammen, dass sie sich das Knie am Lenkrad stieß, doch sie hatte sich schnell wieder gefasst. Fluchend rieb sie sich das schmerzende Bein und öffnete ihr Fenster.

»Was soll das?«, fuhr sie den Fremden an. »Müssen Sie uns zu Tode erschrecken? Man kann leicht überfahren werden, wenn man so in der Dunkelheit herumschleicht.«

Als Antwort schob der Fremde den Lauf einer Flinte durch das offene Fenster. »Das hier ist Privatbesitz!«, sagte er. Meggie glaubte die Katzenstimme aus Elinors Bibliothek zu erkennen. »Und man kann sehr leicht erschossen werden, wenn man nachts auf Privatbesitz herumfährt.«

»Ich klär das!« Staubfinger beugte sich über Elinors Schulter.

»Ach, sieh einer an. Staubfinger!« Der Fremde zog den Flintenlauf zurück. »Musst du mitten in der Nacht hier aufkreuzen?«

Elinor drehte sich um und warf Staubfinger einen mehr als misstrauischen Blick zu. »Ich wusste gar nicht, dass Sie mit diesen angeblichen Teufeln auf so vertrautem Fuß stehen!«, stellte sie fest.

Aber Staubfinger war schon ausgestiegen. Auch Meggie fand es seltsam, wie vertraulich die beiden Männer die Köpfe zusammensteckten. Sie erinnerte sich noch sehr genau an das, was Staubfinger ihr über Capricorns Männer gesagt hatte. Wie konnte er so mit einem von ihnen sprechen? Von dem, was die beiden redeten, war kein Wort zu verstehen, so sehr Meggie auch die Ohren spitzte, nur eins hörte sie heraus: Staubfinger nannte den Fremden Basta.

»Das gefällt mir nicht!«, flüsterte Elinor. »Sieh dir die beiden an. Die zwei reden miteinander, als ginge unser streichholzfressender Freund hier ein und aus!«

»Wahrscheinlich weiß er, dass sie ihm nichts tun werden, weil wir das Buch bringen!«, wisperte Meggie, während sie die beiden Männer nicht aus den Augen ließ. Der Fremde hatte zwei Hunde dabei, Schäferhunde. Sie beschnupperten Staubfingers Hände und stießen ihm schwanzwedelnd die Schnauzen in die Seite.

»Siehst du das?«, zischte Elinor. »Sogar die verdammten Hunde behandeln ihn wie einen alten Freund. Was, wenn ...«

Bevor sie weitersprechen konnte, öffnete Basta die Fahrertür. »Raus mit euch«, befahl er.

Elinor schwang widerstrebend die Beine aus dem Auto. Meggie stieg auch aus und stellte sich neben sie. Das Herz schlug ihr bis zum Hals. Sie hatte noch nie einen Mann mit einem Gewehr gesehen. Im Fernsehen, ja, aber doch nicht in Wirklichkeit.

»Hören Sie mal, mir gefällt Ihr Ton nicht!«, fuhr Elinor Basta an. »Wir haben eine unerfreuliche Autofahrt hinter uns und sind nur in diese Einöde gekommen, um Ihrem Chef oder Boss oder wie sonst Sie ihn nennen, etwas zu bringen, das er schon lange haben will. Also benehmen Sie sich gefälligst.«

Basta warf ihr einen so abfälligen Blick zu, dass Elinor scharf Luft holte und Meggie unwillkürlich ihre Hand drückte.

»Wo hast du die denn her?«, fragte Basta und drehte sich wieder zu Staubfinger um, der mit so unbeteiligter Miene dastand, als ginge ihn das alles nicht das Geringste an.

»Ihr gehört das Haus, du weißt schon ...« Staubfinger sprach mit gesenkter Stimme, doch Meggie konnte ihn trotzdem verstehen. »Ich wollte sie nicht mitbringen, aber sie ist stur.«

»Das kann ich mir vorstellen!« Basta musterte Elinor noch einmal, dann sah er Meggie an. »Und das da ist dann wohl Zauberzunges Töchterchen, was? Sehr ähnlich sieht sie ihm nicht.«

»Wo ist mein Vater?«, fragte Meggie. »Wie geht es ihm?« Es waren die ersten Worte, die sie über die Lippen brachte. Ihre Stimme klang heiser, als hätte sie sie lange nicht benutzt.

»Oh, es geht ihm gut«, antwortete Basta mit einem Blick zu Staubfinger. »Obwohl man ihn zurzeit wohl eher Bleizunge nennen müsste, so wenig, wie er spricht.«

Meggie biss sich auf die Lippen. »Wir wollen ihn abholen«, sagte sie. Ihre Stimme klang hoch und dünn, obwohl sie sich alle Mühe gab, erwachsen zu klingen. »Wir haben das Buch, aber Capricorn bekommt es nur, wenn er meinen Vater freilässt.«

Basta drehte sich wieder zu Staubfinger um. »Irgendwie erinnert sie mich doch an ihren Vater. Siehst du, wie sie die Lippen aufeinander presst? Und dann der Blick. Doch, die Verwandtschaft ist eindeutig.« Seine Stimme klang spaßhaft, als er sprach, aber sein Gesicht war es nicht, als er Meggie wieder ansah. Es war ein schmales Gesicht, scharf geschnitten, mit eng zusammenstehenden Augen, die er etwas zusammenkniff, als könnte er so besser sehen.

Basta war kein großer Mann, seine Schultern waren fast so schmal wie die eines Jungen, und doch hielt Meggie den Atem an, als er einen Schritt auf sie zu machte. Sie hatte noch nie vor einem Menschen so viel Angst gehabt, und das lag nicht an der Flinte in seiner Hand. Da war etwas an ihm, etwas Zorniges, Bissiges ...

»Meggie, hol die Tüte aus dem Kofferraum.« Elinor schob sich dazwischen, als Basta Meggie festhalten wollte. »Sie hat nichts Gefährliches dadrin!«, sagte sie ärgerlich. »Nur das, weshalb wir hier sind.«

Basta zog zur Antwort nur die Hunde aus dem Weg. Sie jaulten auf, so grob zerrte er sie an seine Seite.

»Meggie, hör mir zu!«, flüsterte Elinor, als sie das Auto stehen ließen und Basta einen steilen Pfad hinunter folgten, der auf die erleuchteten Fenster zuführte. »Gib das Buch erst aus der Hand, wenn sie uns deinen Vater zeigen, verstanden?«

Meggie nickte und drückte die Plastiktüte fest gegen die Brust. Für wie dumm hielt Elinor sie? Andererseits, wie sollte sie das Buch festhalten, wenn Basta versuchen würde, es ihr abzunehmen? Aber diesen Gedanken dachte sie vorsorglich nicht zu Ende ...

Es war eine schwüle Nacht. Der Himmel über den schwarzen Hügeln war gesprenkelt von Sternen. Der Pfad, den Basta sie hinunterführte, war steinig und so dunkel, dass Meggie kaum ihre Füße sehen konnte, aber jedes Mal, wenn sie stolperte, war eine Hand da, um sie aufzufangen, Elinors, die dicht neben ihr ging, oder die von Staubfinger, der ihr mit so leisen Schritten folgte, als wäre er ihr Schatten. Gwin steckte noch in seinem Rucksack, und Bastas Hunde hoben immer wieder witternd die Schnauzen, als zöge ihnen der scharfe Geruch des Marders in die Nase.

Langsam kamen die erleuchteten Fenster näher. Meggie erkannte Häuser, alte Häuser aus grauem, grob behauenem Stein, über deren Dächer sich bleich ein Kirchturm erhob. Viele der Häuser sahen unbewohnt aus, als sie an ihnen vorbeigingen, durch Gassen, die so eng waren, dass Meggie das Atmen schwer fiel. Einigen Häusern fehlte das Dach, andere waren kaum mehr als ein paar halb eingestürzte Mauern. Es war dunkel in Capricorns Dorf, nur wenige Laternen brannten, sie hingen an gemauerten Bögen über den Gassen. Schließlich kamen sie auf einen engen Platz. Auf der einen Seite erhob sich der Kirchturm, den sie schon von ferne gesehen hatten, und nicht weit entfernt davon, nur durch eine schmale Gasse getrennt, lag ein großes, zweistöckiges Haus, das nichts Baufälliges an sich hatte. Der Platz war heller erleuchtet als der Rest des Dorfes, gleich vier Laternen malten bedrohliche Schatten auf sein Pflaster.

Basta führte sie direkt auf das große Haus zu. Hinter drei Fenstern im obersten Stock brannte Licht. Ob Mo dort war? Meggie horchte in sich hinein, als könnte sie dort die Antwort finden, aber Angst war das Einzige, wovon ihr Herzschlag erzählte. Angst und Sorge.



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