Wer Bücher stiehlt oder ausgeliehene Bücher zurückbehält, in dessen Hand soll sich das Buch in eine reißende Schlange verwandeln. Der Schlagfluß soll ihn treffen und all seine Glieder lähmen. Laut schreiend soll er um Gnade winseln, und seine Qualen sollen nicht gelindert werden, bis er in Verwesung übergeht. Bücherwürmer sollen in seinen Eingeweiden nagen wie der Totenwurm, der niemals stirbt. Und wenn er die letzte Strafe antritt, soll ihn das Höllenfeuer verzehren auf immer.
Inschrift in der Bibliothek des Klosters San Pedro in Barcelona, zitiert von Alberto Manguel
Sie hatten das Buch ausgepackt, Meggie sah das Packpapier auf einem Stuhl liegen. Keiner bemerkte, dass sie hereingekommen war. Elinor beugte sich über eins der Lesepulte, Mo stand neben ihr. Beide kehrten der Tür den Rücken zu.
»Unfassbar. Ich dachte, es gäbe kein einziges Exemplar mehr«, sagte Elinor gerade. »Es kursieren eigenartige Geschichten über dieses Buch. Ein Antiquar, bei dem ich oft einkaufe, hat mir erzählt, dass ihm vor Jahren drei Exemplare gestohlen wurden, und zwar am selben Tag. Fast dieselbe Geschichte habe ich von zwei Buchhändlern gehört.«
»Tatsächlich? Wirklich seltsam!«, sagte Mo, doch Meggie kannte seine Stimme gut genug, um zu hören, dass seine Verwunderung geheuchelt war. »Na ja, wie dem auch sei. Auch wenn es kein seltenes Buch wäre, für mich ist es sehr wertvoll und ich wüsste gern, dass es gut aufgehoben ist, für eine Weile, bis ich es wieder abhole.«
»Bei mir ist jedes Buch gut aufgehoben«, antwortete Elinor ungnädig. »Das weißt du. Sie sind meine Kinder, meine tintenschwarzen Kinder, und ich hege und pflege sie. Ich halte das Sonnenlicht von ihren Seiten fern, staube sie ab und beschütze sie vor hungrigen Bücherwürmern und schmutzigen Menschenfingern. Dieses hier wird einen Ehrenplatz erhalten, und niemand wird es zu Gesicht bekommen, bis du es zurückhaben willst. Besucher sind in meiner Bibliothek eh unerwünscht. Sie hinterlassen nur Fingerabdrücke und Käserinden in meinen armen Büchern. Außerdem verfüge ich, wie du weißt, über eine sehr kostspielige Alarmanlage.«
»Ja, das ist besonders beruhigend!« Mos Stimme klang erleichtert. »Ich danke dir, Elinor! Ich danke dir wirklich sehr. Und sollte in nächster Zeit doch jemand an deine Tür klopfen und nach dem Buch fragen, dann tu bitte so, als hättest du nie davon gehört, ja?«
»Selbstverständlich. Was tut man nicht alles für einen guten Buchbinder? Außerdem bist du der Mann meiner Nichte. Weißt du, dass ich sie manchmal vermisse? Nun ja, ich denke, das geht dir genauso. Deine Tochter scheint ganz gut ohne sie auszukommen, oder?«
»Sie erinnert sich kaum«, sagte Mo leise.
»Nun, das ist ein Segen, nicht wahr? Manchmal ist es schon praktisch, dass unser Gedächtnis nicht halb so gut ist wie das der Bücher. Ohne sie wüssten wir vermutlich gar nichts mehr. Es wäre alles vergessen: der Trojanische Krieg, Kolumbus, Marco Polo, Shakespeare, all die verrückten Könige und Götter ...« Elinor drehte sich um - und erstarrte.
»Habe ich dein Klopfen überhört?«, fragte sie und starrte Meggie so feindselig an, dass diese allen Mut zusammennehmen musste, um sich nicht einfach umzudrehen und schnell wieder hinaus auf den Flur zu schlüpfen.
»Wie lange stehst du schon da, Meggie?«, fragte Mo.
Meggie schob das Kinn vor. »Sie darf es sehen, aber vor mir versteckst du es!«, sagte sie. Angriff war immer noch die beste Verteidigung. »Du hast noch nie ein Buch vor mir versteckt! Was ist denn so Besonderes an diesem? Werde ich blind, wenn ich es lese? Beißt es mir die Finger ab? Was für furchtbare Geheimnisse stehen dadrin, die ich nicht erfahren darf?«
»Ich hab meine Gründe, es dir nicht zu zeigen«, antwortete Mo. Ganz blass war er. Ohne ein weiteres Wort ging er auf sie zu und wollte sie zur Tür ziehen, aber Meggie riss sich los.
»Oh, sie ist starrköpfig!«, stellte Elinor fest. »Das macht sie mir fast sympathisch. Ich erinnere mich, dass ihre Mutter früher genauso war. Komm her.« Sie trat zur Seite und winkte Meggie zu sich. »Du wirst sehen, es ist nichts sonderlich Spannendes an diesem Buch, zumindest nicht für deine Augen. Aber überzeuge dich selbst. Den eigenen Augen glaubt man immer noch am ehesten. Oder ist dein Vater da anderer Meinung?« Sie warf Mo einen fragenden Blick zu.
Mo zögerte - und schüttelte schicksalergeben den Kopf.
Das Buch lag aufgeschlagen auf dem Lesepult. Es schien nicht besonders alt zu sein. Meggie wusste, wie ein wirklich altes Buch aussah. In Mos Werkstatt hatte sie schon Bücher gesehen, deren Seiten fleckig wie Leopardenfell waren und fast ebenso gelb. Sie erinnerte sich an eins, dessen Einband von Holzwürmern befallen gewesen war. Wie winzige Einschusslöcher hatten die Fressspuren ausgesehen, und Mo hatte den Buchblock herausgelöst, die Seiten sorgsam neu zusammengeheftet und ihnen, wie er es nannte, ein neues Kleid geschneidert. So ein Kleid konnte aus Leder sein oder aus Leinen, schlicht oder mit einer Prägung versehen, die Mo mit winzigen Stempeln hineindrückte und manchmal auch vergoldete.
Dieses Buch hatte einen Einband aus Leinen, silbrig grün wie die Blätter einer Weide. Die Kanten waren leicht angestoßen, und die Seiten waren noch so hell, dass jeder Buchstabe klar und schwarz auf dem Papier stand. Über den aufgeschlagenen Seiten lag ein schmales rotes Lesebändchen. Auf der rechten Seite war ein Bild zu sehen. Es zeigte prächtig gekleidete Frauen, einen Feuerspucker, Akrobaten und so etwas wie einen König. Meggie blätterte weiter. Es gab nicht viele Bilder, doch der Anfangsbuchstabe jedes Kapitels war selbst so etwas wie ein kleines Bild. Auf einigen Buchstaben saßen Tiere, um andere rankten sich Pflanzen, ein B brannte lichterloh. So echt sahen die Flammen aus, dass Meggie mit dem Finger darüber strich, um sich zu vergewissern, dass sie nicht heiß waren. Das nächste Kapitel begann mit einem K. Es spreizte sich wie ein Krieger, auf seinem gestreckten Arm hockte ein Tier mit pelzigem Schwanz. Keiner sah, wie er aus der Stadt schlüpfte, las Meggie, aber bevor sich mehr Wörter zusammenfügen konnten, klappte Elinor ihr das Buch vor der Nase zu.
»Ich denke, das reicht«, sagte sie und klemmte es sich unter den Arm. »Dein Vater hat mich gebeten, dieses Buch für ihn an einem sicheren Ort aufzubewahren, und das werde ich jetzt tun.«
Mo griff noch einmal nach Meggies Hand. Diesmal folgte sie ihm. »Bitte, Meggie, vergiss dieses Buch!«, raunte er ihr zu. »Es bringt Unglück. Ich besorge dir hundert andere.«
Meggie nickte nur. Bevor Mo die Tür hinter ihnen schloss, erhaschte sie noch einen letzten Blick auf Elinor. Sie stand da und betrachtete das Buch so zärtlich, wie Mo sie manchmal ansah, wenn er ihr abends die Decke unters Kinn zog.
Dann war die Tür zu.
»Wo tut sie es hin?«, fragte Meggie, während sie Mo den Flur hinunter folgte.
»Oh, sie hat ein paar wunderbare Verstecke für solche Gelegenheiten«, antwortete Mo ausweichend. »Aber sie sind geheim, wie das mit Verstecken eben so ist. Was hältst du davon, wenn ich dir jetzt dein Zimmer zeige?« Er versuchte unbeschwert zu klingen, doch es gelang ihm nicht besonders gut. »Es sieht aus wie ein teures Hotelzimmer. Ach was, viel besser.«
»Hört sich gut an«, murmelte Meggie und blickte sich um, doch von Staubfinger war nichts zu entdecken. Wo war er? Sie musste ihn etwas fragen. Sofort. Sie konnte an nichts anderes denken, während Mo ihr das Zimmer zeigte und ihr erzählte, dass nun alles in Ordnung sei, dass er nur noch seine Arbeit machen und sie dann nach Hause fahren würden. Meggie nickte und tat, als hörte sie ihm zu, aber in Wirklichkeit konnte sie nur an die Frage denken, die sie Staubfinger stellen wollte. Sie brannte ihr so auf den Lippen, dass sie sich wunderte, dass Mo sie nicht dort sitzen sah. Mitten auf ihrem Mund.
Als er sie allein ließ, um das Gepäck aus dem Bus zu holen, lief Meggie in die Küche, aber auch dort war Staubfinger nicht. Selbst in Elinors Schlafzimmer sah sie nach, doch so viele Türen sie auch in dem riesigen Haus öffnete, Staubfinger blieb unauffindbar. Schließlich war sie zu müde, um weiter zu suchen. Mo hatte sich längst hingelegt und auch Elinor war in ihrem Schlafzimmer verschwunden. Also ging Meggie in ihr Zimmer und legte sich auf das gewaltige Bett. Ganz verloren kam sie sich darin vor, zwergenhaft, als wäre sie geschrumpft. Wie die Alice im Wunderland, dachte sie und strich über die geblümte Bettwäsche. Sonst gefiel ihr das Zimmer. Es war voller Bücher und Bilder. Sogar einen Kamin gab es, aber er sah aus, als hätte ihn seit mehr als hundert Jahren niemand benutzt. Meggie schwang die Beine aus dem Bett und trat ans Fenster. Draußen war es längst dunkel, und als sie die Fensterläden aufstieß, fuhr ihr ein kühler Wind ins Gesicht. Das Einzige, was sie in der Dunkelheit erkennen konnte, war der kiesbestreute Platz vor dem Haus. Eine Laterne warf ihr blasses Licht auf die grauweißen Steine. Mos gestreifter Bus stand neben Elinors grauem Kombi wie ein Zebra, das sich in einen Pferdestall verlaufen hatte. Er hatte die Streifen auf den weißen Lack gepinselt, nachdem er Meggie Das Dschungelbuch geschenkt hatte. Sie dachte an das Haus, das sie so hastig verlassen hatten, an ihr Zimmer und die Schule, in der ihr Platz heute leer geblieben war. Sie war sich nicht sicher, ob sie Heimweh hatte.
Sie ließ die Fensterläden offen stehen, als sie sich schlafen legte. Mo hatte ihre Bücherkiste neben das Bett gestellt. Müde zog sie ein Buch heraus und versuchte sich in den vertrauten Wörtern ein Nest zu bauen, doch es gelang ihr nicht. Immer wieder verwischte die Erinnerung an das andere Buch die Wörter, immer wieder sah Meggie die Anfangsbuchstaben vor sich, groß und bunt, umringt von Gestalten, deren Geschichte sie nicht kannte, weil das Buch keine Zeit gehabt hatte, sie ihr zu erzählen.
Ich muss Staubfinger finden, dachte sie schläfrig. Er muss doch da sein! Aber dann rutschte ihr das Buch aus den Fingern und sie schlief ein.
Am nächsten Morgen weckte sie die Sonne. Die Luft war noch kühl von der Nacht, aber der Himmel war wolkenlos, und als Meggie sich aus dem Fenster lehnte, konnte sie in der Ferne, zwischen den Zweigen der Bäume, den See schimmern sehen. Das Zimmer, das Elinor ihr zugewiesen hatte, lag im ersten Stock. Mo schlief nur zwei Türen weiter, aber Staubfinger hatte mit einer Kammer unter dem Dach vorlieb nehmen müssen. Meggie hatte sie gestern gesehen, auf der Suche nach ihm. Nur ein schmales Bett stand darin, umgeben von Bücherkisten, die sich bis zum Dachstuhl türmten.
Mo saß schon mit Elinor am Tisch, als Meggie zum Frühstück in die Küche kam, aber Staubfinger war nicht da. »Oh, der hat schon gefrühstückt«, sagte Elinor spitz, als Meggie nach ihm fragte, »und zwar in Gesellschaft eines spitzzahnigen Tieres, das auf dem Tisch saß und mich anfauchte, als ich nichts ahnend in die Küche kam. Ich habe eurem seltsamen Freund klar gemacht, dass Stubenfliegen die einzigen Tiere sind, die ich auf meinem Küchentisch dulde, und daraufhin ist er mit dem Pelztier nach draußen verschwunden.«
»Was willst du von ihm?«, fragte Mo.
»Oh, nichts weiter, ich ... wollte ihn nur was fragen«, sagte Meggie, aß hastig eine halbe Scheibe Brot, trank etwas von dem abscheulich bitter schmeckenden Kakao, den Elinor gekocht hatte, und lief nach draußen.
Sie fand Staubfinger hinter dem Haus, auf einem stachlig kurzen Rasen, auf dem neben einem Gipsengel ein einsamer Liegestuhl stand. Von Gwin war nichts zu entdecken. Ein paar Vögel stritten sich in dem rot blühenden Rhododendron, und Staubfinger stand mit selbstvergessenem Gesicht da und jonglierte. Meggie versuchte die bunten Bälle zu zählen, vier, sechs, acht waren es. Er pflückte sie so schnell aus der Luft, dass ihr schwindelig vom Zuschauen wurde. Auf einem Bein stehend fing er sie, lässig, als brauchte er nicht mal hinzuschauen. Erst als er Meggie bemerkte, entwischte ein Ball seinen Fingern und rollte ihr vor die Füße.
Meggie hob ihn auf und warf ihn Staubfinger zu. »Woher können Sie das?«, fragte sie. »Das sah ... wunderbar aus.«
Staubfinger verbeugte sich spöttisch. Da war es wieder, sein seltsames Lächeln. »Ich verdiene mein Geld damit«, sagte er. »Damit und mit ein paar anderen Dingen.«
»Wie kann man damit Geld verdienen?«
»Auf Märkten. Auf Festen. Auf Kindergeburtstagen. Warst du schon mal auf einem dieser Märkte, wo die Leute so tun, als lebten sie noch im Mittelalter?«
Meggie nickte. Mit Mo war sie mal auf einem solchen Markt gewesen. Wunderschöne Sachen hatte es dort gegeben, fremd, als wären sie nicht einer anderen Zeit, sondern einer anderen Welt entsprungen. Mo hatte ihr eine Dose gekauft, verziert mit bunten Steinen und einem kleinen Fisch aus grün und golden schimmerndem Metall, mit weit aufgesperrtem Maul und einer Kugel im hohlen Bauch, die wie ein Glöckchen klingelte, wenn man die Dose schüttelte. Die Luft hatte nach frisch gebackenem Brot gerochen, nach Rauch und feuchten Kleidern, und Meggie hatte beim Schmieden eines Schwertes zugesehen und sich vor einer verkleideten Hexe hinter Mos Rücken versteckt.
Staubfinger sammelte seine Bälle auf und warf sie zurück in seine Tasche. Offen stand sie hinter ihm im Gras. Meggie schlenderte hin und lugte hinein. Sie sah Flaschen und weiße Watte, eine Tüte Milch, doch bevor sie noch mehr entdecken konnte, klappte Staubfinger die Tasche zu. »Tut mir Leid. Berufsgeheimnisse«, sagte er. »Dein Vater hat dieser Elinor das Buch gegeben, stimmt's?«
Meggie zuckte die Achseln.
»Du kannst es mir ruhig sagen. Ich weiß es eh. Ich habe gelauscht. Er ist verrückt, es hier zu lassen, aber was soll's.« Staubfinger setzte sich in den Liegestuhl. Im Gras daneben lag sein Rucksack. Ein buschiger Schwanz lugte heraus.
»Ich habe Gwin gesehen«, sagte Meggie.
»Ach ja?« Staubfinger lehnte sich zurück und schloss die Augen. Im Sonnenlicht sah sein Haar heller aus. »Ich auch. Er steckt im Rucksack. Es ist seine Schlafenszeit.«
»Ich hab ihn in dem Buch gesehen.« Meggie ließ Staubfingers Gesicht nicht aus den Augen, während sie das sagte, aber es regte sich nichts darin. Ihm standen die Gedanken nicht auf der Stirn geschrieben wie Mo. Staubfingers Gesicht war wie ein zugeklapptes Buch, und Meggie hatte das Gefühl, dass er jedem auf die Finger schlug, der versuchte darin zu lesen. »Er saß auf einem Buchstaben«, fuhr sie fort. »Auf einem K. Ich habe die Hörner gesehen.«
»Tatsächlich?« Staubfinger öffnete nicht einmal die Augen. »Weißt du, in welches ihrer tausend Regale diese Büchernärrin es gestellt hat?«
Meggie tat, als hätte sie seine Frage nicht gehört. »Warum sieht Gwin so aus wie das Tier in dem Buch?«, fragte sie. »Haben Sie ihm die Hörner wirklich angeklebt?«
Staubfinger öffnete die Augen und blinzelte in die Sonne.
»Tja, hab ich das?«, fragte er, während er den Himmel musterte. Ein paar Wolken trieben über Elinors Haus. Die Sonne verschwand hinter einer von ihnen und der Schatten fiel auf das grüne Gras wie ein hässlicher Fleck.
»Liest dein Vater dir oft vor, Meggie?«, fragte Staubfinger.
Meggie musterte ihn misstrauisch. Dann kniete sie sich neben den Rucksack und strich über Gwins seidigen Schwanz. »Nein«, sagte sie. »Aber er hat mir das Lesen beigebracht, als ich fünf war.«
»Frag ihn, warum er dir nicht vorliest«, sagte Staubfinger. »Aber lass dich nicht mit irgendwelchen Ausreden abspeisen.«
»Wieso?« Meggie richtete sich ärgerlich auf. »Er mag es nicht, das ist alles.«
Staubfinger lächelte. Er beugte sich aus dem Liegestuhl und schob die Hand in den Rucksack. »Ah, das fühlt sich nach einem vollen Bauch an«, stellte er fest. »Ich glaube, Gwins nächtliche Jagd war erfolgreich. Hoffentlich hat er nicht wieder irgendein Nest geplündert. Oder sind das nur Elinors Brötchen und Eier?« Gwins Schwanz zuckte hin und her, fast wie der einer Katze.
Meggie musterte den Rucksack voll Unbehagen. Sie war froh, dass sie Gwins Schnauze nicht sehen konnte. Vielleicht klebte ja noch Blut daran.
Staubfinger lehnte sich wieder in Elinors Liegestuhl zurück. »Soll ich dir heute Abend zeigen, wozu die Flaschen, die Watte und all die anderen geheimnisvollen Dinge in meiner Tasche gut sind?«, fragte er, ohne sie anzusehen. »Dazu muss es allerdings dunkel sein, rabenschwarz dunkel. Traust du dich mitten in der Nacht aus dem Haus?«
»Natürlich!«, antwortete Meggie gekränkt, obwohl sie im Dunkeln alles andere als gern draußen war. »Aber sagen Sie mir erst, warum -«
»Sie?« Staubfinger lachte auf. »Herrgott, demnächst sagst du noch Herr Staubfinger zu mir. Ich kann dieses Siezen nicht leiden, also lass es, ja?«
Meggie biss sich auf die Lippen und nickte. Er hatte Recht - das Sie passte nicht zu ihm. »Also gut, warum hast du Gwin die Hörner angeklebt?«, beendete sie ihre Frage. »Und was weißt du über das Buch?«
Staubfinger verschränkte die Arme hinter dem Kopf. »Eine ganze Menge weiß ich darüber«, sagte er. »Und vielleicht erzähle ich dir irgendwann auch davon, aber jetzt haben wir zwei erst einmal eine Verabredung. Heute Nacht, gegen elf, genau hier. Einverstanden?«
Meggie blickte zu einer Amsel hinauf, die sich auf Elinors Dach das Herz aus dem Leib zwitscherte. »Ja«, sagte sie. »Elf Uhr.« Dann lief sie zum Haus zurück.
Elinor hatte Mo vorgeschlagen, seine Werkstatt gleich neben der Bibliothek einzurichten. Dort gab es einen kleinen Raum, in dem sie ihre Sammlung alter Tier- und Pflanzenführer aufbewahrte (es schien keine Art von Büchern zu geben, die Elinor nicht sammelte). Diese Sorte stand in Regalen aus hellem, honigfarbenem Holz. Auf einigen Borden stützten die Bücher gläserne Schaukästen mit aufgespießten Käfern, was Elinor in Meggies Augen nur noch unsympathischer machte. Vor dem einzigen Fenster stand ein Tisch, es war ein schöner Tisch mit gedrechselten Beinen, doch er war kaum halb so lang wie der, den Mo zu Hause in seiner Werkstatt stehen hatte. Vermutlich fluchte er deshalb leise vor sich hin, als Meggie den Kopf durch die Tür steckte.
»Sieh dir den Tisch an!«, sagte er. »Auf dem kann man seine Briefmarkensammlung sortieren, aber keine Bücher binden. Der ganze Raum ist zu klein. Wo soll ich die Presse aufstellen, wo das Werkzeug lassen ... Letztes Mal habe ich oben unter dem Dach gearbeitet, aber dort stapeln sich inzwischen auch überall die Bücherkisten.«
Meggie strich mit der Hand über die dicht an dicht stehenden Buchrücken. »Sag ihr einfach, du brauchst einen größeren Tisch.«
Vorsichtig zog sie ein Buch aus dem Regal und schlug es auf. Die eigenartigsten Insekten waren darin abgebildet, Käfer mit Hörnern, Käfer mit Rüsseln, einer hatte sogar eine richtige Nase. Meggie fuhr mit dem Zeigefinger über die blassfarbigen Bilder. »Mo, warum hast du mir eigentlich nie vorgelesen?«
Ihr Vater drehte sich so abrupt um, dass ihr fast das Buch aus der Hand rutschte. »Wieso fragst du mich das? Du hast mit Staubfinger gesprochen, stimmt's? Was hat er dir erzählt?«
»Nichts. Gar nichts!« Meggie wusste selbst nicht, warum sie log. Sie schob das Käferbuch zurück an seinen Platz. Fast kam es ihr vor, als spinne jemand ein hauchfeines Netz um sie beide, ein Netz aus Geheimnissen und Lügen, das immer dichter wurde. »Ich finde, es ist eine gute Frage«, sagte sie, während sie nach einem anderen Buch griff. Es hieß Meister der Tarnung. Die Tiere darin sahen aus wie lebendige Zweige oder trockene Blätter.
Mo kehrte ihr wieder den Rücken zu. Er begann sein Werkzeug auf dem viel zu kleinen Tisch auszulegen: Ganz links die Falzbeine, dann den rundköpfigen Hammer, mit dem er die Buchrücken in Form klopfte, das scharfe Papiermesser ...
Sonst pfiff er dabei immer leise vor sich hin, aber jetzt war er ganz still. Meggie spürte, dass seine Gedanken weit fort waren. Aber wo waren sie?
Schließlich setzte er sich auf die Tischkante und sah sie an. »Ich lese nun mal nicht gerne vor«, sagte er, als gäbe es nichts Uninteressanteres auf der Welt. »Das weißt du doch. Es ist einfach so.«
»Warum nicht? Du erzählst mir doch auch Geschichten. Du kannst wunderbar Geschichten erzählen. Du kannst all die Stimmen nachmachen, du kannst es spannend machen und dann wieder komisch ...«
Mo verschränkte die Arme vor der Brust, als wolle er sich dahinter verbergen.
»Du könntest mir Tom Sawyer vorlesen«, schlug Meggie vor, »oder Wie das Nashorn seine Runzeln bekam.« Das war eine von Mos Lieblingsgeschichten. Als sie noch kleiner war, hatten sie manchmal gespielt, dass in ihren Kleidern auch lauter Krümel säßen, wie in der Haut des Nashorns.
»Ja, das ist eine wunderbare Geschichte.« Mo drehte ihr wieder den Rücken zu. Er hob die Mappe auf den Tisch, in der er seine Vorsatzpapiere aufbewahrte, und blätterte abwesend darin herum. »Jedes Buch sollte mit so einem Papier beginnen«, hatte er mal zu Meggie gesagt. »Am besten mit einem dunklen: dunkelrot, dunkelblau, je nachdem, wie der Einband des Buches ist. Wenn du dann das Buch aufschlägst, ist es wie im Theater: Erst ist da der Vorhang. Du ziehst ihn zur Seite, und die Vorstellung beginnt.«
»Meggie, ich muss jetzt wirklich arbeiten!«, sagte er, ohne sich umzudrehen. »Je schneller ich mit Elinors Büchern fertig bin, desto eher fahren wir auch wieder nach Hause.«
Meggie stellte das Buch mit den verkleideten Tieren zurück an seinen Platz. »Was, wenn er die Hörner nicht angeklebt hat?«, fragte sie.
»Was?«
»Gwins Hörner. Was, wenn Staubfinger sie nicht angeklebt hat?«
»Er hat sie angeklebt.« Mo schob sich einen Stuhl an den viel zu kurzen Tisch. »Übrigens, Elinor ist einkaufen gefahren. Wenn du vor Hunger umkommst, bevor sie zurück ist, mach dir ein paar Pfannkuchen. In Ordnung?«
»In Ordnung«, murmelte Meggie. Einen Moment lang überlegte sie, ob sie ihm von der nächtlichen Verabredung mit Staubfinger erzählen sollte, aber dann beschloss sie, es nicht zu tun. »Meinst du, ich kann mir ein paar von den Büchern hier mit aufs Zimmer nehmen?«, fragte sie stattdessen.
»Sicher. Solange du sie nicht in deiner Kiste verschwinden lässt.«
»So wie dieser Bücherdieb, von dem du mir erzählt hast?« Meggie klemmte sich drei Bücher unter den linken und vier unter den rechten Arm. »Wie viele hatte er noch mal gestohlen? 30000?«
»40000«, antwortete Mo. »Aber er hat die Besitzer immerhin nicht umgebracht.«
»Nein, das war dieser spanische Mönch, den Namen hab ich vergessen.« Meggie schlenderte zur Tür und schob sie mit der Schuhspitze auf.
»Staubfinger sagt, Capricorn würde dich auch umbringen, um das Buch zu bekommen.« Sie versuchte ihre Stimme gleichgültig klingen zu lassen. »Würde er das, Mo?«
»Meggie!« Mo drehte sich um und zeigte drohend mit dem Papiermesser auf sie. »Leg dich in die Sonne oder steck deine hübsche Nase in die Bücher da, aber lass mich jetzt arbeiten. Und richte Staubfinger aus, dass ich ihn mit diesem Messer hier in sehr dünne Scheiben schneide, wenn er dir weiter solchen Unsinn erzählt.«
»Das war keine Antwort!«, sagte Meggie und schob sich mit ihren Bücherstapeln auf den Flur hinaus.
In ihrem Zimmer angekommen, breitete sie die Bücher auf dem riesigen Bett aus und begann zu lesen: von Käfern, die in verlassene Schneckenhäuser einzogen wie Menschen in ein leeres Haus, von blattförmigen Fröschen und Raupen mit bunten Dornen, weißbärtigen Affen, gestreiften Ameisenfressern und Katzen, die in der Erde nach Süßkartoffeln graben. Alles schien es zu geben, jedes Wesen, das Meggie sich vorstellen konnte, und noch viele mehr, die sie sich nicht hatte vorstellen können.
Aber in keinem von Elinors klugen Büchern fand sie auch nur ein Wort über gehörnte Marder.