Zauberzunge



Squire Trelawney, Doktor Livesey und die anderen Herren hatten mich aufgefordert, die ganze Geschichte von der Schatzinsel vom Anfang bis zum Ende niederzuschreiben und nichts zu verschweigen als die Lage der Insel; und so greife ich jetzt, im Jahre des Heils 17.., zur Feder und beginne mit der Zeit, da mein Vater Wirt im »Admiral Benbow« war und der sonnenverbrannte alte Seemann mit der Säbelnarbe sich unter unserem Dach einquartierte.

Robert L. Stevenson, Die Schatzinsel



So kam es, dass Meggie ihren Vater zum ersten Mal nach neun Jahren in einer Kirche lesen hörte, und noch viele Jahre später zog ihr, sobald sie eins der Bücher aufschlug, aus denen er an jenem Morgen vorlas, der Geruch von verbranntem Papier in die Nase.

Es war kühl in Capricorns Kirche, auch daran erinnerte Meggie sich später, obwohl die Sonne draußen sicherlich schon hoch und heiß am Himmel stand, als Mo zu lesen begann. Er setzte sich einfach dort, wo er stand, auf den Boden, die Beine gekreuzt, ein Buch auf dem Schoß, die anderen neben sich. Meggie kniete sich neben ihn, bevor Basta sie festhalten konnte.

»Los, auf die Treppe mit euch!«, befahl Capricorn seinen Männern. »Flachnase, du bringst die Frau mit. Nur Basta bleibt da, wo er ist.«

Elinor sträubte sich, doch Flachnase griff ihr einfach ins Haar und zerrte sie mit sich. Einer neben den anderen, so hockten sich Ca-pricorns Männer auf die Stufen zu Füßen ihres Herrn. Elinor saß zwischen ihnen wie eine aufgeplusterte Taube in einer Schar räuberischer Krähen.

Der Einzige, der ähnlich verloren aussah, war der magere Vorleser, der ganz am Ende der schwarzen Reihe Platz genommen hatte und immer noch unentwegt seine Brille betastete.

Mo schlug das Buch auf seinem Schoß auf und begann mit gerunzelter Stirn darin zu blättern, als suche er zwischen den Seiten nach dem Gold, das er Capricorn herauslesen sollte.

»Cockerell, du schneidest jedem die Zunge heraus, der auch nur einen Laut von sich gibt, während Zauberzunge liest!«, sagte Capricorn, und Cockerell zog ein Messer aus dem Gürtel und blickte an der Reihe der Männer entlang, als suchte er sich schon das erste Opfer aus. Totenstill wurde es in der rot getünchten Kirche, so still, dass Meggie glaubte, Basta hinter sich atmen zu hören. Aber vielleicht war das auch nur ihre Angst.

Capricorns Männer schienen sich, ihren Gesichtern nach zu urteilen, in ihrer Haut ebenfalls alles andere als wohl zu fühlen. Sie musterten Mo mit einer Mischung aus Feindseligkeit und Furcht. Meggie konnte das nur zu gut verstehen. Vielleicht würde schon bald einer von ihnen in dem Buch verschwunden sein, in dem Mo so unschlüssig blätterte. Ob Capricorn ihnen erzählt hatte, dass so etwas passieren konnte? Ob er es überhaupt wusste? Was, wenn passierte, was Mo befürchtete: Dass sie selbst verschwand? Oder Elinor?

»Meggie!«, raunte Mo ihr zu, als hätte er ihre Gedanken gehört. »Halte dich an mir fest, irgendwie, ja?«

Meggie nickte und klammerte sich mit einer Hand an seinen Pullover. Als könnte das nützen!

»Ich glaube, ich habe die richtige Stelle gefunden«, sagte Mo in die Stille hinein. Er warf Capricorn einen letzten Blick zu, sah noch einmal zu Elinor hinüber, räusperte sich - und begann.

Alles verschwand. Die roten Wände der Kirche, die Gesichter von Capricorns Männern und Capricorn selbst auf seinem Stuhl. Es gab nur noch Mos Stimme und die Bilder, die sich aus den Buchstaben formten wie ein Teppich auf dem Webstuhl. Hätte Meggie Capricorn noch mehr hassen können, dann hätte sie es jetzt getan. Schließlich war nur er schuld, dass Mo ihr all die Jahre nicht ein einziges Mal vorgelesen hatte. Was hätte er ihr alles ins Zimmer zaubern können mit seiner Stimme, die jedem Wort einen anderen Geschmack gab und jedem Satz eine Melodie! Selbst Cockerell hatte sein Messer vergessen und die Zungen, die er abschneiden sollte, und lauschte mit abwesendem Blick. Flachnase starrte so verzückt in die Luft, als kreuzte ein Piratenschiff mit geblähten Segeln geradewegs durch eins der Kirchenfenster. Alle schwiegen.

Kein Laut war zu hören außer Mos Stimme, die Buchstaben und Wörter zum Leben erweckte.

Nur einer schien immun gegen den Zauber. Mit ausdruckslosem Gesicht, die blassen Augen auf Mo gerichtet, saß Capricorn da und wartete: auf das Klirren von Münzen in all dem Wohlklang der Worte, auf Kisten aus feuchtem Holz, schwer von Gold und Silber.

Mo ließ ihn nicht lange warten. Während er las, was Jim Haw-kins, der Junge, der kaum älter als Meggie war, als er seine schrecklichen Abenteuer erlebte, in einer dunklen Höhle sah, passierte es:

Goldstücke, die die Köpfe von George oder einem der Louis trugen, Dublonen, doppelte Guineen, Moidore und Zechinen, die Köpfe sämtlicher Könige von Europa im Verlauf der letzten hundert Jahre, seltsame orientalische Goldstücke, deren Schrift wie ein Gewirr von Fäden oder wie ein Stück von einem Spinnennetz aussah, runde Stücke, viereckige Stücke, Stücke, die in der Mitte durchbohrt waren, als hätte man sie um den Hals getragen - so ziemlich jede Art von gemünztem Gold musste in dieser Sammlung ihren Platz gefunden haben; und an der Zahl waren sie wie Blätter im Herbst, sodass mein Rücken wehtat, so viel musste ich mich bücken, und meine Finger vom Aussondern schmerzten.

Die Mägde waren noch dabei, die letzten Krümel von den Tischen zu wischen, als über das blanke Holz plötzlich Münzen rollten. Die Frauen stolperten zurück, ließen die Tücher fallen, pressten die Hände vor den Mund, während die Münzen ihnen zwischen die Füße sprangen, goldene, silberne, kupferfarbene Münzen, sie klimperten auf den Steinboden, häuften sich klirrend unter den Bänken, mehr und immer mehr. Einige rollten bis vor die Treppenstufen. Capricorns Männer fuhren hoch, bückten sich nach den glitzernden Dingern, die ihnen gegen die Stiefel sprangen -und zogen die Hände wieder zurück. Keiner von ihnen traute sich, das verhexte Geld anzufassen. Denn was sonst war es? Gold, gemacht aus Papier und Druckerschwärze - und dem Klang einer menschlichen Stimme.

Als der Goldregen aufhörte - im selben Moment, in dem Mo das Buch zuklappte -, sah Meggie, dass sich in all das Glitzern und Glänzen auch hier und da etwas Sand gemischt hatte. Ein paar bläulich schimmernde Käfer krabbelten hastig davon, und aus einem Berg von winzig kleinen Münzen schob sich der Kopf einer smaragdgrünen Eidechse. Mit starren Augen sah sie sich um. Die Zunge tanzte ihr vor dem eckigen Maul. Basta warf sein Messer nach ihr, als könnte er mit der Eidechse die Furcht aufspießen, die sie alle ergriffen hatte, doch Meggie stieß einen Warnruf aus und die Eidechse huschte so schnell davon, dass die Klinge sich die scharfe Nase an den Steinen stieß. Basta sprang hin, hob sein Messer auf und deutete mit der Spitze drohend in Meggies Richtung.

Capricorn aber erhob sich von seinem Stuhl, das Gesicht immer noch so ausdruckslos, als sei nichts geschehen, das einer Regung wert wäre, und klatschte gönnerhaft in die beringten Hände.

»Nicht schlecht für den Anfang, Zauberzunge!«, sagte er. »Sieh es dir an, Darius! So sieht Gold aus, nicht wie der rostige, verbogene Plunder, den du mir hergelesen hast. Aber nun hast du ja gehört, wie man es macht, ich hoffe, du hast daraus etwas gelernt, für den Fall, dass ich deine Dienste doch noch mal brauchen sollte.«

Darius antwortete nicht. Seine Augen hingen so bewundernd an Mo, dass es Meggie nicht überrascht hätte, wenn er sich ihrem Vater zu Füßen geworfen hätte. Als Mo sich aufrichtete, ging er zögernd auf ihn zu.

Capricorns Männer standen immer noch da und starrten das Gold an, als wüssten sie nicht, was nun damit geschehen sollte.

»Was steht ihr da und glotzt wie Kühe auf der Weide?«, rief Capricorn. »Sammelt es ein.«

»Das war wunderbar!«, raunte Darius Mo zu, während Capricorns Männer widerstrebend damit begannen, die Münzen in Säcke und Kisten zu schaufeln. Die Augen hinter seiner Brille glänzten wie die eines Kindes, dem jemand ein lang ersehntes Geschenk gemacht hat. »Ich habe dieses Buch schon viele Male gelesen«, sagte er mit unsicherer Stimme. »Doch noch nie habe ich alles so deutlich gesehen wie heute. Und nicht nur gesehen ... gerochen habe ich es, das Salz und den Teer und den modrigen Geruch, der über der verteufelten Insel hängt. «

»Die Schutzinsel! Himmel, ich habe mir fast in die Hosen gemacht vor Angst!« Elinor tauchte hinter Darius auf und schob ihn unsanft zur Seite. Flachnase hatte sie offenbar fürs Erste vergessen. »Gleich ist er da, habe ich immer nur gedacht, gleich ist der alte Silver da und schlägt uns seine Krücke um die Ohren.«

Mo nickte nur, aber Meggie sah die Erleichterung auf seinem Gesicht. »Da, nehmen Sie es!«, sagte er zu Darius und drückte ihm das Buch in die Hand. »Ich hoffe, ich muss nie wieder daraus lesen. Man soll das Glück nicht zu oft herausfordern.«

»Du hast seinen Namen jedes Mal etwas falsch ausgesprochen«, flüsterte Meggie ihm zu.

Mo strich ihr zärtlich über den Nasenrücken. »Ah, du hast es gemerkt!«, flüsterte er zurück. »Ja, ich dachte mir, vielleicht hilft das. Vielleicht fühlt der grausame alte Pirat sich auf die Art nicht angesprochen und bleibt, wo er hingehört. Was siehst du mich so an?«

»Na, was denkst du?«, fragte Elinor an Meggies Stelle. »Warum sieht sie ihren Vater so bewundernd an? Weil niemand je so gelesen hat - auch wenn das mit den Münzen nicht passiert wäre. Ich hab alles gesehen, das Meer und die Insel, einfach alles, als könnte ich es anfassen, und deiner Tochter wird es da nicht anders gegangen sein.«

Mo musste lächeln. Er schob mit dem Fuß ein paar Münzen zur Seite, die vor ihm auf dem Boden lagen. Einer von Capricorns Männern hob sie auf und stopfte sie verstohlen in seine Taschen. Dabei warf er Mo einen so beunruhigten Blick zu, als fürchtete er, von ihm mit einem Zungenschlag in einen Frosch oder einen der Käfer verwandelt zu werden, die immer noch zwischen den Münzen herumkrabbelten.

»Sie haben Angst vor dir, Mo!«, flüsterte Meggie. Selbst auf Bastas Gesicht konnte sie die Furcht sehen, auch wenn er sich alle Mühe gab, sie zu verbergen, indem er besonders gelangweilt dreinblickte.

Nur Capricorn schien das, was geschehen war, immer noch vollkommen kalt zu lassen. Mit verschränkten Armen stand er da und beobachtete seine Männer dabei, wie sie die letzten Münzen zusammenklaubten. »Wie lange soll das noch dauern?«, rief er schließlich. »Lasst das Kleingeld liegen und setzt euch wieder. Und du, Zauberzunge, hol dir das nächste Buch!«

»Das nächste?« Elinors Stimme überschlug sich fast vor Empörung. »Was soll das? Das Gold, das Ihre Männer da zusammenschaufeln, reicht für mindestens zwei Leben. Wir fahren jetzt nach Hause!«

Sie wollte sich umdrehen, doch Flachnase hatte sich an sie erinnert. Grob griff er nach ihrem Arm.

Mo blickte zu Capricorn hoch.

Basta aber legte Meggie mit bösem Lächeln die Hand auf die Schulter. »Nun mach schon, Zauberzunge!«, sagte er. »Du hast es doch gehört. Da liegen noch jede Menge Bücher.«

Mo sah Meggie lange an, bevor er sich bückte und nach dem Buch griff, das er schon einmal in der Hand gehabt hatte: Die Erzählungen aus 1001 Nacht.

»Das unendliche Buch«, murmelte er, während er es aufschlug.

»Wusstest du, dass die Araber sagen, niemand könne es je zu Ende lesen, Meggie?«

Meggie schüttelte den Kopf, während sie sich wieder neben ihn auf die kalten Fliesen hockte. Basta ließ sie gewähren, aber er stellte sich dicht hinter sie. Meggie wusste nicht viel über 1001 Nacht. Sie wusste nur, dass das Buch eigentlich aus vielen Bänden bestand. Das Exemplar, das Darius Mo gegeben hatte, konnte nur ein kleiner Auszug sein. Ob die 40 Räuber darin steckten und Ala-din und seine Lampe? Was würde Mo lesen?

Diesmal glaubte Meggie zwei sich widerstreitende Gefühle auf den Gesichtern von Capricorns Männern zu entdecken: Angst vor dem, was Mo zum Leben erwecken würde, und gleichzeitig den fast sehnsüchtigen Wunsch, noch einmal von seiner Stimme davongetragen zu werden, weit fort, an einen Ort, an dem man alles vergessen konnte, sogar sich selbst.

Es roch nicht mehr nach Salz und Rum, als Mo diesmal zu lesen begann. Es wurde heiß in Capricorns Kirche. Meggies Augen begannen zu brennen, und als sie sie rieb, klebte ihr Sand an den Fingerknöcheln. Wieder lauschten Capricorns Männer Mos Stimme so atemlos, als hätte er sie in Stein verwandelt. Und wieder war Capricorn der Einzige, der von dem Zauber nichts zu spüren schien. Nur an seinen Augen sah man, dass auch er gefesselt war. Starr wie Schlangenaugen hingen sie an Mos Gesicht. Der rote Anzug ließ Capricorns Pupillen noch farbloser aussehen. Sein Körper schien gespannt wie der eines Hundes, der die Beute schon wittert.

Aber diesmal enttäuschte Mo ihn. Die Worte gaben sie nicht frei, all die Schatzkisten, die Perlen und juwelenbesetzten Säbel, die Mos Stimme blinken und blitzen ließ, bis Capricorns Männer glaubten, sie aus der Luft pflücken zu können. Etwas anderes rutschte aus den Seiten, etwas Atmendes, aus Fleisch und Blut.

Ein Junge stand plötzlich zwischen den immer noch rauchenden Tonnen, in denen Capricorn die Bücher hatte brennen lassen. Meggie war die Einzige, die ihn bemerkte. Alle anderen waren zu versunken in die Geschichte. Selbst Mo bemerkte ihn nicht, so weit fort war er, irgendwo zwischen Sand und Wind, während seine Augen sich durch das Geflecht der Buchstaben tasteten.

Der Junge war vielleicht drei oder vier Jahre älter als Meggie. Der Turban um seinen Kopf war schmutzig, die Augen in dem braunen Gesicht dunkel vor Angst. Er fuhr sich mit der Hand darüber, als könnte er es fortwischen, das falsche Bild, den falschen Ort. Er blickte sich in der leeren Kirche um, als hätte er noch nie ein Gebäude wie dieses gesehen. Wie auch? In seiner Geschichte gab es bestimmt keine spitztürmigen Kirchen und grüne Hügel, wie sie ihn draußen erwarteten, auch nicht. Das Gewand, das er trug, hing ihm bis auf die braunen Füße, es leuchtete blau wie ein Stück vom Himmel in der dämmrigen Kirche.

Was passiert, wenn sie ihn sehen?, dachte Meggie. Er ist bestimmt nicht das, was Capricorn sich erhofft hat.

Aber da hatte der ihn auch schon bemerkt. »Halt!«, rief er so scharf, dass Mo mitten im Satz abbrach und den Kopf hob.

Abrupt und etwas unwillig, kehrten Capricorns Männer in die Wirklichkeit zurück. Cockerell war als Erster auf den Beinen. »He, wo kommt der her?«, knurrte er.

Der Junge duckte sich, sah sich mit angststarrem Gesicht um und rannte los, hakenschlagend wie ein Kaninchen. Aber er kam nicht weit. Gleich drei Männer rannten ihm nach und fingen ihn ein, vor den Füßen von Capricorns Statue.

Mo legte das Buch neben sich auf die Fliesen und vergrub das Gesicht in den Händen.

»He! Fulvio ist weg!«, rief einer von Capricorns Männern. »Hat sich einfach in Luft aufgelöst.« Alle starrten Mo an. Da war sie wieder, die Angst auf ihren Gesichtern, doch diesmal mischte sie sich nicht mit Bewunderung, sondern mit Wut.

»Schaff den Jungen fort, Zauberzunge!«, befahl Capricorn ärgerlich. »Von der Sorte habe ich mehr als genug. Und bring mir Fulvio zurück.«

Mo nahm die Hände vom Gesicht und stand auf.

»Zum hunderttausendsten Mal: Ich kann niemanden zurückbringen!«, stieß er hervor. »Und das ist keine Lüge, nur weil du es nicht glaubst. Ich kann es nicht. Ich kann weder bestimmen, was oder wer herauskommt, noch, wer geht.«

Meggie fasste nach seiner Hand. Ein paar von Capricorns Männern kamen näher, zwei von ihnen hielten den Jungen gepackt. Sie zerrten an seinen Armen, als wollten sie ihn mittendurch reißen. Mit schreckgeweiteten Augen starrte er in ihre fremden Gesichter.

»Zurück an euren Platz!«, rief Capricorn den aufgebrachten Männern zu. Ein paar waren Mo schon bedrohlich nahe gekommen. »Was soll die Aufregung? Habt ihr vergessen, wie dumm Fulvio sich beim letzten Auftrag angestellt hat? Fast hätten wir die Polizei am Hals gehabt. Es hat also genau den Richtigen getroffen. Und wer weiß? Vielleicht steckt in dem Jungen da ja ein begabter Brandstifter? Trotzdem möchte ich jetzt Perlen sehen, Gold, Juwelen. Diese Geschichte dreht sich schließlich um nichts anderes, also heraus damit!«

Unter den Männern erhob sich beunruhigtes Gemurmel. Trotzdem kehrten die meisten zur Treppe zurück und hockten sich wieder auf die ausgetretenen Stufen. Nur drei standen immer noch vor Mo und starrten ihn feindselig an. Einer von ihnen war Basta.

»Na gut! Fulvio ist entbehrlich!«, rief er, ohne Mo aus den Augen zu lassen. »Aber wen wird er als Nächstes in Luft auflösen, der verdammte Hexer? Ich will nicht in einer dreimal verfluchten Wüstengeschichte enden und plötzlich mit einem Turban herumlaufen!«

Die Männer, die bei ihm standen, nickten zustimmend und musterten Mo so finster, dass Meggie fast das Atmen vergaß.

»Basta, ich sage es nicht noch einmal.« Capricorns Stimme klang bedrohlich ruhig. »Ihr lasst ihn weiterlesen! Und wem von euch dabei vor Angst die Zähne klappern, der verschwindet besser nach draußen und hilft den Frauen beim Wäschewaschen.«

Ein paar der Männer blickten sehnsüchtig zum Kirchenportal, aber nicht einer traute sich zu gehen. Schließlich drehten sich auch die zwei, die bei Basta gestanden hatten, wortlos um und hockten sich zu den anderen.

»Für Fulvio bezahlst du mir noch!«, raunte Basta Mo zu, bevor er sich wieder hinter Meggie stellte. Warum war nicht er verschwunden?

Der Junge hatte immer noch keinen Ton von sich gegeben.

»Sperrt ihn ein, wir werden später sehen, ob wir ihn brauchen können«, befahl Capricorn.

Der Junge sträubte sich nicht einmal, als Flachnase ihn mit sich zog, wie betäubt stolperte er hinterher, als wartete er darauf, endlich aufzuwachen. Wann er wohl begriff, dass dieser Traum kein Ende nehmen würde?

Als die Tür hinter den beiden zufiel, kehrte Capricorn zu seinem Stuhl zurück. »Lies weiter, Zauberzunge«, sagte er. »Der Tag ist noch lang.«

Aber Mo blickte auf die Bücher zu seinen Füßen und schüttelte den Kopf. »Nein!«, sagte er. »Du hast gesehen, es ist wieder passiert. Ich bin müde. Gib dich zufrieden mit dem, was ich dir von der Schatzinsel geholt habe. Die Münzen sind ein Vermögen wert. Ich will nach Hause und dein Gesicht nie wieder sehen.« Seine Stimme klang rauer als sonst, als hätte sie sich durch zu viele Wörter gelesen.

Capricorn blickte ihn einen Moment lang abschätzend an. Dann musterte er die Säcke und Kisten, die seine Männer mit Münzen gefüllt hatten, als rechnete er im Geist nach, wie lange ihr Inhalt ihm das Leben versüßen würde.

»Du hast Recht«, sagte er schließlich. »Wir machen morgen weiter. Sonst erscheint hier womöglich als Nächstes ein stinkendes Kamel oder noch so ein halb verhungerter Junge.«

»Morgen?« Mo machte einen Schritt auf ihn zu. »Was soll das heißen? Gib dich zufrieden! Einer deiner Männer ist schon verschwunden, willst du der Nächste sein?«

»Mit dem Risiko kann ich leben«, antwortete Capricorn unbeeindruckt. Seine Männer sprangen auf, als er sich aus seinem Stuhl erhob und langsam die Altarstufen hinunterschritt. Wie die Schuljungen standen sie da, obwohl etliche größer als Capricorn waren, die Hände auf dem Rücken verschränkt, als hätten sie Angst, er würde im nächsten Moment die Sauberkeit ihrer Fingernägel kontrollieren. Meggie musste an das denken, was Basta gesagt hatte: wie jung er gewesen war, als er zu Capricorn kam. Und sie fragte sich, ob es Angst oder Bewunderung war, die die Männer die Köpfe senken ließ.

Capricorn war vor einem der prall gefüllten Säcke stehen geblieben. »Glaub mir, ich habe noch viel mit dir vor, Zauberzunge«, sagte er, während er in den Sack griff und sich die Münzen durch die Finger gleiten ließ. »Das heute war nur ein Test. Schließlich musste ich mich erst mit eigenen Augen und Ohren von deiner Gabe überzeugen, nicht wahr? All das Gold kann ich wirklich gut gebrauchen, doch morgen wirst du mir etwas anderes herbeilesen.«

Er schlenderte zu den Kartons, in denen die Bücher gelegen hatten, die nun nichts als Asche und ein paar Fetzen verbranntes Papier waren, und griff hinein. »Überraschung!«, verkündete er und hielt mit einem Lächeln ein Buch hoch. Es sah ganz anders aus als das Buch, das Meggie und Elinor ihm gebracht hatten. Es trug noch einen Schutzumschlag aus Papier, bunt, mit einem Bild darauf, das Meggie aus der Ferne nicht erkennen konnte. »Ja, eins habe ich noch!«, stellte Capricorn fest, während er zufrieden die fassungslosen Gesichter musterte. »Mein ganz persönliches Exemplar, könnte man sagen, und morgen, Zauberzunge, wirst du mir daraus vorlesen. Wie ich schon sagte, diese Welt gefällt mir ausgesprochen gut, doch es gibt da einen Freund aus alten Tagen, den ich hier vermisse. Deinem Vertreter habe ich nie erlaubt, seine Kunst an ihm zu erproben, ich hatte zu große Sorge, dass er ihn mir ohne Kopf oder mit nur einem Bein hierher holen würde, aber nun bist du ja da - ein Meister deines Faches.«

Mo starrte das Buch in Capricorns Hand immer noch so ungläubig an, als erwartete er, es würde sich im nächsten Moment in Luft auflösen.

»Ruh dich aus, Zauberzunge«, sagte Capricorn. »Schone deine kostbare Stimme. Du wirst viel Zeit dazu haben, denn ich muss fort und werde erst morgen Mittag zurück sein. Bringt die drei zurück in ihr Quartier!«, befahl er seinen Männern. »Gebt ihnen genug zu essen und ein paar Decken für die Nacht. Ach ja, und Mortola soll ihm Tee bringen lassen, so etwas soll Wunder wirken bei Heiserkeit und einer müden Stimme. Hast du nicht immer auf Tee mit Honig geschworen, Darius?« Fragend drehte er sich zu seinem alten Vorleser um.

Der nickte nur und sah Mo voll Mitgefühl an.

»Zurück in ihr Quartier? Reden Sie etwa von dem Loch, in das Ihr Messermensch uns letzte Nacht gesteckt hat?« Elinors Gesicht bekam rote Flecken, ob vor Entsetzen oder Entrüstung, konnte Meggie nicht erraten. »Das ist Freiheitsberaubung, was Sie hier treiben! Ach was, Menschenraub! Ja, Menschenraub. Wissen Sie, wie viele Jahre Gefängnis darauf stehen?«

»Menschenraub!« Basta ließ sich das Wort auf der Zunge zergehen. »Das klingt gut. Wirklich.«

Capricorn lächelte ihm zu. Dann musterte er Elinor, als sähe er sie zum ersten Mal. »Basta«, sagte er. »Nützt uns diese Dame da irgendetwas?«

»Nicht, dass ich wüsste«, antwortete Basta und lächelte wie ein Junge, dem man gerade erlaubt hatte, ein Spielzeug zu zerschlagen. Elinor wurde blass und wollte einen Schritt zurücktreten, doch Cockerell trat ihr in den Weg und hielt sie fest.

»Was tun wir normalerweise mit unnützen Dingen, Basta?«, fragte Capricorn leise.

Basta lächelte immer noch.

»Hör auf damit!«, fuhr Mo Capricorn an. »Hör sofort auf, ihr Angst zu machen, oder ich lese kein Wort mehr.«

Capricorn drehte ihm mit gelangweilter Miene den Rücken zu. Und Basta lächelte.

Meggie sah, wie Elinor sich die Hand auf die zitternden Lippen presste. Schnell trat sie an ihre Seite. »Sie ist nicht unnütz. Sie kennt sich mit Büchern aus, besser als irgendjemand sonst!«, sagte sie, während sie Elinors Hand drückte.

Capricorn drehte sich um. Der Blick seiner Augen ließ Meggie schaudern, als striche ihr jemand mit kalten Fingern über den Rücken. Seine Wimpern waren hell wie Spinnweben.

»Elinor kennt bestimmt mehr Geschichten mit Schätzen als dein dünner Vorleser!«, stammelte sie. »Ganz bestimmt.«

Elinor drückte Meggies Finger so fest, dass sie sie fast zerdrückte. Ihre eigenen Finger waren schweißnass. »Ja! Sicher, ganz bestimmt!«, stieß sie mit belegter Stimme hervor. »Da fallen mir bestimmt noch etliche ein.«

»So, so!«, sagte Capricorn nur und verzog die wohlgeformten Lippen. »Nun, wir werden sehen.« Dann gab er seinen Männern ein Zeichen und sie schubsten Elinor, Meggie und Mo vor sich her - an den Tischen vorbei, an Capricorns Statue und den roten Säulen, hinaus aus der schweren Tür, die ächzte, als sie sie aufstießen.

Die Kirche warf ihren Schatten auf den Platz zwischen den Häusern. Es roch nach Sommer und die Sonne schien vom wolkenlos blauen Himmel, als wäre nichts geschehen.



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