»Immerhin wüßte ich gern, ob wir jemals in Liedern und Geschichten vorkommen werden. Wir sind natürlich in einer; aber ich meine: in Worte gefaßt, weißt du, am Kamin erzählt oder aus einem großen, dicken Buch mit roten und schwarzen Buchstaben vorgelesen, Jahre und Jahre später. Und die Leute werden sagen: >Laß uns von Frodo und dem Ring hören! < Und sie werden sagen: >Das ist eine meiner Lieblingsgeschichten.<«
J. R. R. Tolkien, Der Herr der Ringe
Basta schimpfte ohne Unterbrechung vor sich hin, während er Meggie hinüber zur Kirche brachte. »Auf die Zunge beißen? Seit wann fällt die Alte auf so etwas herein? Und wer darf das freche Gör in die Gruft bringen? Basta, wer sonst? Was bin ich hier eigentlich? Die einzige männliche Magd?«
»Gruft?« Meggie hatte geglaubt, dass die Gefangenen immer noch in den Netzen steckten, doch als sie in die Kirche traten, war nichts von ihnen zu sehen und Basta stieß sie ungeduldig zwischen die Säulen.
»Ja, die Gruft!«, fuhr er sie an. »Aufbewahrungsort für Tote und solche, die es bald sein werden. Da geht's runter. Na los, ich hab heute noch Besseres zu tun, als den Babysitter für das Fräulein Zauberzunge zu spielen.«
Die Treppe, auf die er wies, führte steil hinunter in die Dunkelheit. Die Stufen waren ausgetreten und so ungleichmäßig hoch, dass Meggie bei jedem zweiten Schritt ins Stolpern kam. Unten war es so dunkel, dass sie erst nicht merkte, dass die Treppe zu Ende war, und mit dem Fuß nach der nächsten Stufe tastete, bis Basta sie unsanft nach vorne stieß. »Was soll das nun wieder?«, hörte sie ihn fluchen. »Warum ist die verdammte Laterne schon wieder aus?« Ein Streichholz flammte auf, und Bastas Gesicht tauchte aus dem dunklen Nichts.
»Besuch für dich, Staubfinger!«, verkündete er höhnisch, während er die Laterne anzündete. »Zauberzunges Töchterchen will sich von dir verabschieden. Ihr Vater hat dich in diese Welt gebracht und seine Tochter wird dafür sorgen, dass du sie heute Abend wieder verlässt. Ich hätte sie ja nicht hergelassen, aber die Elster wird noch richtig weich auf ihre alten Tage. Die Kleine scheint dich wirklich zu mögen. An deinem schönen Gesicht kann das ja wohl kaum liegen, oder?« Bastas Lachen hallte hässlich von den feuchten Wänden wider.
Meggie trat auf das Gitter zu, hinter dem Staubfinger stand. Sie sah ihn nur kurz an, dann blickte sie über seine Schulter. Capricorns Magd saß auf einem steinernen Sarkophag. Die Laterne, die Basta angezündet hatte, verbreitete nur spärlich Licht, aber es genügte, um ihr Gesicht zu erkennen. Es war das Gesicht von Mos Foto. Nur das Haar, das es umrahmte, war jetzt dunkler, und von einem Lächeln war auch nichts zu entdecken.
Als Meggie an das Gitter trat, hob ihre Mutter den Kopf und sah sie an, unverwandt, als gäbe es auf der Welt nichts anderes als sie.
»Mortola hat sie hergelassen?«, sagte Staubfinger. »Schwer zu glauben.«
»Die Kleine hat gedroht, dass sie sich auf die Zunge beißt.« Basta stand immer noch an der Treppe. Er spielte mit der Kaninchenpfote herum, die er als Glücksbringer um den Hals trug.
»Ich wollte mich bei dir entschuldigen.« Meggie sagte die Worte zu Staubfinger, doch sie sah dabei ihre Mutter an, die immer noch auf dem Sarkophag saß.
»Wofür?« Staubfinger lächelte sein seltsames Lächeln.
»Für heute Abend. Dass ich doch lese.«
Wie konnte sie den beiden nur von Fenoglios Plan erzählen? Wie?
»Gut, jetzt hast du dich entschuldigt!«, sagte Basta ungeduldig. »Komm, die Luft hier unten wird dein Stimmchen noch heiser machen.«
Aber Meggie drehte sich nicht um. Sie schloss die Finger um die Gitterstäbe, so fest sie konnte. »Nein«, sagte sie, »ich will noch bleiben.« Vielleicht fiel ihr ja noch etwas ein, ein paar unverdächtige Sätze ... »Ich hab noch etwas herausgelesen«, sagte sie zu Staubfinger. »Einen Zinnsoldaten.«
»Aha!« Staubfinger lächelte wieder. Eigenartig, diesmal kam ihr sein Lächeln weder rätselhaft vor noch überheblich »Nun, dann kann ja heute Abend nichts mehr schief gehen, oder?«
Er sah sie nachdenklich an und Meggie versuchte, es ihm mit den Augen zu sagen: Wir retten euch. Alles wird anders kommen, als Capricorn erwartet! Glaub mir!
Staubfinger sah sie immer noch an. Er versuchte zu verstehen. Fragend hob er die Augenbrauen. Dann sah er zu Basta hinüber. »He, Basta, wie geht es der Fee?«, fragte er. »Lebt sie noch oder hat deine Gegenwart sie schon umgebracht?«
Meggie sah, dass ihre Mutter auf sie zukam, zögernd, als ginge sie über zerbrochenes Glas.
»Sie lebt noch!«, antwortete Basta mürrisch. »Klingelt herum, dass man kein Auge zubekommt. Wenn das so weitergeht, sag ich Flachnase, er soll ihr den Hals umdrehen, so wie er es immer mit den Tauben tut, die seinen Wagen voll scheißen.« Meggie sah, wie ihre Mutter ein Stück Papier aus der Tasche ihres Kleides zog und es Staubfinger unauffällig in die Hand drückte.
»Das brächte euch beiden mindestens zehn Jahre Unglück«, sagte Staubfinger. »Glaub mir. Du weißt doch, mit Feen kenne ich mich aus. He, pass auf, da ist etwas, hinter dir ...«
Basta fuhr herum, als hätte ihn etwas in den Nacken gebissen.
Blitzschnell schob Staubfingers Hand sich durch das Gitter und drückte Meggie den Zettel in die Hand.
»Verdammt!«, fluchte Basta. »Versuch das nicht noch mal, verstanden?« Er drehte sich um, als Meggies Finger sich gerade um das Papier schlossen. »Ein Zettel! Na, sieh mal an.«
Meggie versuchte vergebens, die Hand geschlossen zu halten, Basta bog ihre Finger ohne große Mühe auseinander. Dann starrte er die winzigen Buchstaben an, die ihre Mutter geschrieben hatte.
»Los, lies!«, knurrte er und hielt ihr den Zettel vor die Augen.
Meggie schüttelte den Kopf.
»Lies!« Bastas Stimme senkte sich drohend. »Oder soll ich dir ein genauso hübsches Muster aufs Gesicht schnitzen wie deinem Freund hier?«
»Lies schon, Meggie«, sagte Staubfinger. »Der Bastard weiß sowieso, wie verrückt ich auf einen guten Schluck bin.«
»Wein?« Basta lachte auf. »Die Kleine soll dir Wein besorgen? Wie soll sie das denn anstellen?«
Meggie starrte den Zettel an. Jedes Wort prägte sie sich ein, bis sie sie auswendig konnte. Neun Jahre sind lang. Ich habe all deine Geburtstage gefeiert. Du siehst noch viel schöner aus, als ich es mir ausgemalt habe.
Sie hörte Basta lachen.
»Ja, das sieht dir ähnlich, Staubfänger«, sagte er. »Denkst, du kannst deine Angst im Wein ertränken. Aber dafür würde ein ganzes Fass nicht ausreichen.«
Staubfinger zuckte die Schultern. »Es war einen Versuch wert.« Vielleicht sah er etwas zu zufrieden aus, als er das sagte.
Basta runzelte die Stirn und musterte nachdenklich sein narbiges Gesicht. »Andererseits«, sagte er langsam, »warst du schon immer ein gerissener Hund. Und für eine Flasche Wein stehen da ziemlich viele Buchstaben. Was meinst du, Schätzchen?« Er hielt Meggie den Zettel noch einmal hin. »Willst du ihn mir nun vorlesen oder soll ich ihn der Elster zeigen?«
Meggie griff so schnell zu, dass sie den Zettel schon hinter dem Rücken verbarg, als Basta noch seine leeren Finger anstarrte.
»Her damit, du kleines Biest!«, zischte er sie an. »Her mit dem Zettel, oder ich schneid ihn dir aus den Fingern.«
Aber Meggie wich vor ihm zurück, bis sie mit dem Rücken gegen das Gitter stieß.
»Nein!«, stieß sie hervor, klammerte sich mit der einen Hand an die Stäbe und schob mit der anderen den Zettel hindurch. Staubfinger verstand sofort. Sie spürte, wie er ihr das Papier aus den Fingern zog.
Basta schlug ihr so heftig ins Gesicht, dass ihr Kopf gegen das Gitter prallte. Eine Hand strich ihr übers Haar, und als sie sich wie betäubt umsah, sah sie ihrer Mutter ins Gesicht. Gleich merkt er es, dachte sie, gleich weiß er alles. Doch Basta hatte nur Augen für Staubfinger, der den Zettel hinter dem Gitter hin und her schwenkte wie einen Wurm vorm Schnabel eines hungrigen Vogels.
»Na, wie ist es?«, sagte Staubfinger, während er einen Schritt zurücktrat. »Traust du dich zu mir herein oder willst du dich lieber weiter mit dem Mädchen schlagen?«
Basta stand regungslos da, wie ein Kind, das jemand plötzlich und ganz unerwartet geohrfeigt hat. Dann packte er Meggies Arm und riss sie an sich. Sie spürte etwas Kaltes an ihrem Hals. Sie musste es nicht sehen, um zu wissen, was es war.
Ihre Mutter schrie auf und zerrte an Staubfingers Hand, doch der hielt den Zettel nur noch höher. »Wusste ich's doch!«, sagte er. »Du bist ein Feigling, Basta! Hältst lieber einem Kind das Messer an den Hals, statt dich hier hereinzutrauen. Ja, wenn du jetzt Flachnase bei dir hättest, mit seinem breiten Kreuz und seinen fleischigen Fäusten - aber er ist nicht da. Nun komm schon, du hast das Messer! Ich habe nur meine Hände, und du weißt, wie ungern ich sie zum Kämpfen missbrauche.«
Meggie spürte, wie Bastas Griff sich lockerte. Die Klinge drückte sich nicht mehr in ihre Haut. Sie schluckte und fasste nach ihrem Hals. Fast erwartete sie, warmes Blut zu fühlen, aber da war nichts. Basta stieß sie so heftig von sich, dass sie stolperte und auf dem feuchtkalten Boden landete. Dann griff er in die Hosentasche und zerrte einen Schlüsselbund heraus. Die Wut ließ ihn keuchen wie einen Mann, der weit und zu schnell gelaufen ist. Mit zitternden Fingern schob er einen Schlüssel in das Zellenschloss.
Staubfinger beobachtete ihn mit ausdruckslosem Gesicht. Er winkte Meggies Mutter vom Gitter weg und wich selbst ebenfalls zurück, behände wie ein Tänzer. Sein Gesicht verriet nicht, ob er Angst hatte, die Narben schienen nur noch dunkler als sonst.
»Was soll das?«, sagte er, als Basta in die Zelle trat und ihm sein Messer entgegenhielt. »Steck das Ding weg. Wenn du mich tötest, verdirbst du Capricorn den ganzen Spaß. Das würde er dir kaum verzeihen.« Ja, er hatte Angst. Meggie hörte sie in seiner Stimme, die Worte kamen ihm etwas zu schnell über die Lippen.
»Wer spricht denn vom Töten?«, schnurrte Basta, während er die Zellentür hinter sich zuzog.
Staubfinger wich bis an den Steinsarkophag zurück. »Ah, du willst mir das Gesicht noch etwas mehr verzieren?« Er flüsterte fast. Jetzt war da noch etwas anderes in seiner Stimme, Hass, Abscheu, Wut. »Denk nicht, dass das diesmal so leicht wird«, sagte er leise. »Ich habe mir inzwischen ein paar praktische Dinge beigebracht.«
»Tatsächlich?« Basta stand kaum noch einen Schritt von ihm entfernt. »Und was soll das sein? Dein Freund, das Feuer, ist nicht hier, um dir zu helfen. Nicht mal den stinkenden Marder hast du dabei.«
»Ich habe da mehr an Worte gedacht!« Staubfinger legte die Hand auf den Sarkophag. »Hab ich es dir noch nicht erzählt? Die Feen haben mir beigebracht, wie man jemanden verflucht. Sie hatten Mitleid mit meinem zerschnittenen Gesicht und sie wussten, wie schlecht ich mich aufs Kämpfen verstehe. Ich verfluche dich, Basta - bei den Knochen des Toten, der in diesem Sarg liegt. Ich wette, es liegt längst nicht mehr irgendein Priester darin, sondern einer, den ihr habt verschwinden lassen, stimmt's?«
Basta antwortete nicht, doch sein Schweigen war beredter als alle Worte.
»Ja, natürlich. So ein alter Sarg ist ein wunderbares Versteck.« Staubfinger strich mit den Fingern über den zersprungenen Deckel, als wollte er den Toten mit der Wärme seiner Hand ins Leben zurückrufen. »Sein Geist soll dich heimsuchen, Basta!«, sagte er mit beschwörender Stimme. »Er soll dir meinen Namen ins Ohr flüstern bei jedem Schritt, den du tust ...«
Meggie sah, wie Bastas Hand zu der Kaninchenpfote wanderte.
»Das Ding wird dir nichts helfen!« Staubfingers Hand lag immer noch auf dem Sarkophag. »Armer Basta! Wird dir schon heiß? Fangen deine Glieder an zu zittern?«
Basta stieß mit dem Messer nach ihm, doch Staubfinger wich der Klinge leichtfüßig aus.
»Gib mir den Zettel, den du ihr zugesteckt hast!« Basta schrie es ihm ins Gesicht, doch Staubfinger schob den Zettel in seine Hosentasche. Meggie stand da, reglos wie eine Puppe. Aus dem Augenwinkel sah sie, wie ihre Mutter in die Tasche ihres Kleides griff. Als sie die Hand wieder herauszog, hielt sie einen Stein darin, grau und kaum größer als ein Vogelei.
Staubfinger strich mit den Händen über den Deckel des Sarkophags und streckte sie Basta entgegen. »Soll ich dich damit anfassen?«, fragte er. »Was passiert, wenn man einen Sarg berührt, in dem jemand liegt, der ermordet wurde? Sag schon. Du kennst dich mit solchen Dingen doch aus.« Wieder machte er einen Schritt zur Seite, wie ein Tänzer, der sein Gegenüber umkreist.
»Ich schneid dir deine stinkenden Finger ab, wenn du versuchst mich anzufassen!«, brüllte Basta, das Gesicht zornrot. »Jeden einzelnen und deine Zunge dazu.« Wieder stieß er mit dem Messer zu, zerschnitt die Luft mit der blanken Klinge, aber Staubfinger wich ihr aus. Immer schneller sprang er um Basta herum, duckte sich, trat zurück und wieder vor, doch plötzlich hatte er sich selbst gefangen mit seinem verwegenen Tanz. Hinter ihm war nur noch die kahle Mauer, rechts von ihm das Gitter - und Basta kam auf ihn zu.
In dem Moment hob Meggies Mutter die Hand. Der Stein traf Bastas Kopf. Verblüfft fuhr er herum, sah sie an, als versuchte er sich daran zu erinnern, wer sie sei, und presste die Hand an den blutenden Kopf. Meggie wusste nicht, wie Staubfinger es anstellte, aber plötzlich hielt er Bastas Messer in der Hand. Basta starrte die vertraute Klinge so entgeistert an, als könnte er nicht fassen, dass sie sich treulos gegen seine Brust richtete.
»Na, wie fühlt sich das an?« Staubfinger näherte die Messerspitze langsam Bastas Bauch. »Spürst du, wie weich dein Fleisch ist? So ein Körper ist ein zerbrechliches Ding, und du kannst dir keinen neuen besorgen. Wie macht ihr das noch mal mit den Katzen und Eichhörnchen? Flachnase erzählt es zu gern ...«
»Ich jage keine Eichhörnchen.« Bastas Stimme klang heiser. Er versuchte, nicht auf die Klinge zu sehen; kaum eine Handbreit war sie von seinem blütenweißen Hemd entfernt.
»Ach ja, stimmt. Ich erinnere mich. Daran hast du weniger Spaß als die anderen.«
Bastas Gesicht war weiß. Alle Zornesröte war daraus verschwunden. Die Angst ist nicht rot. Die Angst ist blass wie das Gesicht eines Toten. »Was hast du jetzt vor?«, stieß er hervor. Er atmete schwer, als wäre er am Ersticken. »Glaubst du etwa, du kommst lebend aus dem Dorf heraus? Sie werden euch erschießen, bevor du über den Platz bist.«
»Nun, das ziehe ich einer Begegnung mit dem Schatten vor«, erwiderte Staubfinger. »Außerdem kann keiner von euch besonders gut schießen.«
Meggies Mutter trat neben ihn. Sie tat, als schriebe sie mit dem Finger in die Luft. Staubfinger griff in seine Hosentasche und gab ihr den Zettel. Basta folgte dem Papier mit den Augen, als könnte er es mit seinen Blicken an sich ziehen. Resa schrieb etwas darauf und gab es Staubfinger zurück. Mit gerunzelter Stirn las er, was sie geschrieben hatte. »Warten, bis es dunkel wird? Nein, ich will nicht warten. Aber vielleicht sollte das Mädchen besser hier bleiben.« Er sah Meggie an. »Capricorn wird ihr nichts tun. Sie ist schließlich seine neue Zauberzunge und irgendwann wird ihr Vater kommen und sie holen.« Staubfinger steckte den Zettel wieder ein und fuhr mit der Messerspitze an Bastas Hemdknöpfen entlang. Sie klickten, als das Metall sie berührte. »Geh schon zur Treppe, Resa«, sagte er. »Ich werde das hier erledigen, und dann schlendern wir über Capricorns Platz davon, als wären wir ein unschuldiges Liebespaar.«
Zögernd öffnete Resa die Zellentür. Sie trat vor das Gitter und griff nach Meggies Hand. Ihre Finger waren kalt und etwas rau, die Finger einer Fremden, doch das Gesicht war vertraut, auch wenn es auf dem Foto jünger und nicht so besorgt ausgesehen hatte.
»Resa! Wir können sie nicht mitnehmen!« Staubfinger griff nach Bastas Arm und stieß ihn mit dem Rücken gegen die Mauer. »Ihr Vater bringt mich um, wenn sie da draußen erschossen wird. Und jetzt dreh dich um und halt ihr die Augen zu, oder willst du, dass sie zusieht ...« Das Messer zitterte in seiner Hand. Resa sah ihn erschrocken an, sie schüttelte heftig den Kopf, aber Staubfinger tat, als sähe er sie nicht.
»Du musst fest zustoßen, Schmutzfinger!«, zischte Basta, während er die Hände gegen den Stein hinter sich presste. »Das Töten ist keine leichte Angelegenheit. Man muss es üben, um es gut zu machen.«
»Unsinn!« Staubfinger packte ihn an der Jacke und hielt ihm das Messer unters Kinn, so wie Basta es bei Mo gemacht hatte, damals, in der Kirche. »Jeder Dummkopf kann töten. Es ist leicht, so leicht wie ein Buch ins Feuer zu werfen, eine Tür einzutreten oder einem Kind Angst zu machen.«
Meggie begann zu zittern, sie wusste selbst nicht, warum. Ihre Mutter machte einen Schritt auf das Gitter zu, doch als sie Staubfingers versteinertes Gesicht sah, blieb sie stehen. Dann drehte sie sich um, zog Meggies Gesicht an ihre Brust und schlang die Arme fest um sie. Ihr Geruch kam Meggie vertraut vor, wie etwas lang Vergessenes, sie schloss die Augen und versuchte, an nichts zu denken, nicht an Staubfinger, nicht an das Messer und nicht an Bastas weißes Gesicht. Und dann, für einen schrecklichen Moment, hatte sie nur einen Wunsch - Basta tot auf dem Boden liegen zu sehen, reglos wie eine weggeworfene Puppe, ein hässliches, dummes Ding, vor dem man sich immer ein bisschen gefürchtet hatte ... Kaum einen Fingerbreit war das Messer von Bastas weißem Hemd entfernt, doch plötzlich griff Staubfinger ihm in die Hosentasche, zerrte die Zellenschlüssel heraus und machte einen Schritt zurück. »Ach was, du hast Recht, ich versteh nichts vom Töten«, sagte er, während er sich rückwärts aus der Zelle schob. »Und für dich werd ich es nicht lernen.«
Auf Bastas Gesicht machte sich ein höhnisches Lächeln breit, doch Staubfinger beachtete es nicht. Er schloss die Gittertür zu, griff nach Resas Hand und zog sie zur Treppe. »Lass sie los!«, drängte er, als er sah, dass sie Meggie immer noch festhielt. »Glaub mir doch, ihr wird nichts geschehen und wir können sie nicht mitnehmen!« Aber Resa schüttelte nur den Kopf und schlang Meggie den Arm um die Schultern.
»He, Staubfinger!«, rief Basta. »Ich wusste, du stichst nicht. Gib mir mein Messer zurück. Du weißt eh nichts damit anzufangen!«
Staubfinger beachtete ihn nicht. »Sie werden dich töten, wenn du bleibst«, sagte er zu Resa, aber er ließ ihre Hand los.
»He, da oben!«, brüllte Basta. »Hierher! Alarm! Die Gefangenen wollen sich davonmachen!«
Erschrocken sah Meggie Staubfinger an. »Warum hast du ihn nicht geknebelt?«
»Womit denn, Prinzessin?«, fuhr Staubfinger sie an.
Resa zog Meggie an sich und strich ihr übers Haar.
»Erschießen, erschießen, sie werden euch erschießen!« Bastas Stimme überschlug sich. »Heeeee! Alaaarm!«, schrie er noch einmal und rüttelte an den Gitterstäben.
Oben wurden Schritte hörbar.
Staubfinger warf Resa einen letzten Blick zu. Dann stieß er einen leisen Fluch aus, drehte sich um und sprang die ausgetretenen Stufen hinauf.
Meggie konnte nicht hören, ob er die Tür oben aufstieß. Nur Bastas Geschrei klang ihr in den Ohren, hilflos lief sie auf ihn zu, sie wollte ihn schlagen, durch das Gitter, mitten in das schreiende Gesicht. Wieder hörte sie Schritte, gedämpfte Schreie ... was sollten sie nur tun? Jemand kam die Treppe heruntergepoltert. Kam Staubfinger zurück? Aber es war nicht sein Gesicht, das aus der Dunkelheit auftauchte, sondern das von Flachnase. Hinter ihm stolperte noch einer von Capricorns Männern die Treppe herunter. Er sah sehr jung aus, das Gesicht rund und bartlos, doch er richtete sofort die Flinte auf Meggie und ihre Mutter.
»He, Basta! Was machst du hinter dem Gitter?«, fragte Flachnase verblüfft.
»Schließ auf, du verdammter Hohlkopf!«, fuhr Basta ihn durch die Gitterstäbe an. »Staubfinger ist weg.«
»Staubfinger?« Flachnase fuhr sich mit dem Ärmel übers Gesicht. »Dann hatte der Junge hier doch Recht. Kam gerade zu mir und erzählt, er hätte den Feuerspucker oben hinter einer Säule gesehen.«
»Du bist ihm nicht hinterher? Ja, bist du denn wirklich so blöd, wie du aussiehst?« Basta presste das Gesicht gegen die Stäbe, als könnte er sich hindurchzwängen.
»He, he, pass auf, was du sagst, klar?« Flachnase trat an das Gitter heran und musterte Basta mit sichtlichem Vergnügen. »Er hat dich also schon wieder reingelegt, der Schmutzfinger. Das wird Capricorn gar nicht gefallen.«
»Schick ihm jemanden nach!«, brüllte Basta. »Oder ich sag Capricorn, dass du ihn hast laufen lassen!«
Flachnase zog ein Taschentuch aus der Hosentasche und putzte sich geräuschvoll die Nase. »Ach ja? Wer steckt denn hinter dem Gitter, ich oder du? Er wird nicht weit kommen. Am Parkplatz stehen zwei Wachen, auf dem Platz stehen noch mal drei, und sein Gesicht kann man ja leicht erkennen, dafür hast du schließlich gesorgt, nicht wahr?« Sein Lachen klang wie Hundegebell. »Weißt du, an den Anblick könnte ich mich glatt gewöhnen! Dein Gesicht macht sich gut hinter Gittern. Da kannst du einem nicht frech kommen und mit deinem Messer unter der Nase herumfuchteln.«
»Schließ endlich die verdammte Tür auf!«, brüllte Basta. »Oder ich schneid dir deine hässliche Nase ab.«
Flachnase verschränkte die Arme. »Ich kann gar nicht aufschließen«, stellte er mit gelangweilter Stimme fest. »Der Schmutzfinger hat die Schlüssel mitgenommen. Oder siehst du sie irgendwo?« Fragend drehte er sich zu dem Jungen um, der Meggie und ihrer Mutter immer noch die Flinte entgegenhielt. Als er den Kopf schüttelte, grinste Flachnase über das ganze eingedrückte Gesicht. »Nein, er sieht ihn auch nirgendwo. Tja, da werde ich wohl mal zu Mortola gehen. Vielleicht hat sie ja einen Ersatzschlüssel.«
»Lass das Grinsen!«, schrie Basta. »Sonst schäl ich es dir von den Lippen.«
»Was du nicht sagst. Ich seh dein Messerchen gar nicht. Hat Staubfinger es dir etwa schon wieder gestohlen? Wenn das so weitergeht, kann er bald eine Sammlung aufmachen.« Flachnase wandte Basta den Rücken zu und zeigte auf die Zelle neben ihm. »Sperr die Frau dort ein und bewach sie, bis ich mit den Schlüsseln zurückkomme«, sagte er. »Ich bring erst mal die kleine Zauberzunge zurück.«
Meggie sträubte sich, als er sie mit sich zerrte, aber Flachnase hob sie kurzerhand hoch und warf sie sich über die Schulter. »Was hat die Kleine eigentlich hier unten gemacht?«, fragte er. »Weiß Capricorn davon?«
»Frag die Elster!«, fauchte Basta.
»Ich werd mich hüten«, brummte Flachnase, während er mit Meggie zur Treppe stapfte. Sie sah noch, wie der Junge ihre Mutter mit dem Flintenlauf in die andere Zelle stieß, dann waren da nur noch die Stufen und die Kirche und der staubige Platz, über den Flachnase sie schleppte wie einen Sack Kartoffeln.
»Na, hoffentlich ist dein Stimmchen nicht so dünn wie du!«, grunzte er, als er sie vor dem Zimmer, in das man sie und Fenoglio gesperrt hatte, wieder auf die Füße stellte. »Sonst wird der Schatten wohl etwas schwachbrüstig sein, wenn er heute Abend tatsächlich hier erscheint.«
Meggie antwortete nicht.
Als Flachnase die Tür aufschloss, ging sie ohne ein Wort an Fenoglio vorbei, kletterte auf ihr Bett und vergrub den Kopf in Mos Pullover.