Eine Geschichte, ein Roman, ein Märchen - diese Dinge gleichen den Lebewesen, und vielleicht sind es sogar welche. Sie haben ihren Kopf, ihre Beine, ihren Blutkreislauf und ihren Anzug wie richtige Menschen.
Erich Kästner, Emil und die Detektive
Fenoglio schwieg lange, nachdem Mo mit seiner Geschichte fertig war. Paula hatte sich längst auf die Suche nach Pippo und Rico gemacht. Meggie hörte sie einen Stock höher über die Holzdielen laufen, hin und her, ein Sprung, ein Rutschen, Gekicher und Geschrei. Doch in Fenoglios Küche war es so still, dass man das Ticken der Uhr hörte, die neben dem Fenster an der Wand hing.
»Hat er diese Narben im Gesicht, Sie wissen schon ...?« Fragend sah er Mo an.
Der nickte.
Fenoglio wischte sich mit der Hand ein paar Krümel von der Hose. »Die Narben hat Basta ihm beigebracht«, sagte er. »Weil den beiden dasselbe Mädchen gefiel.«
Mo nickte. »Ja, ich weiß.«
Fenoglio sah aus dem Fenster. »Die Feen haben die Schnitte verarztet«, sagte er. »Deshalb blieben nur feine Narben, kaum mehr als drei blasse Striche auf der Haut, stimmt's?« Fragend sah der alte Mann sich zu Mo um.
Der nickte. Und Fenoglio blickte erneut nach draußen. Im Haus gegenüber stand ein Fenster offen und man hörte, wie eine Frau mit einem Kind stritt.
»Eigentlich müsste ich jetzt sehr, sehr stolz sein«, murmelte Fenoglio. »Jeder Schriftsteller wünscht sich Figuren, die voller Leben sind, und meine sind geradewegs aus Ihrem Buch herausspaziert!«
»Weil mein Vater sie herausgelesen hat«, sagte Meggie. »Er kann das auch bei anderen Büchern.«
»Ah, natürlich.« Fenoglio nickte. »Gut, dass du mich daran erinnerst. Sonst würde ich mich womöglich noch für einen kleinen Gott halten, nicht wahr? Aber das mit deiner Mutter tut mir Leid. Obwohl, so besehen, es dann ja eigentlich auch nicht meine Schuld ist.«
»Für meinen Vater ist es schlimmer«, sagte Meggie. »Ich erinnere mich nicht an sie.«
Mo sah sie überrascht an.
»Natürlich. Du warst jünger als meine Enkel!«, stellte Fenoglio nachdenklich fest. Er trat ans Fenster. »Ich würde ihn wirklich gern mal sehen«, sagte er. »Staubfinger, meine ich. Nun tut es mir natürlich Leid, dass ich dem armen Kerl so ein schlimmes Ende angedichtet habe. Aber irgendwie passte es zu ihm. Wie es so schön bei Shakespeare heißt: Jeder spielt seine Rolle, und meine ist eine traurige.« Er blickte auf die Gasse hinunter. Im Stockwerk über ihnen ging etwas zu Bruch, doch Fenoglio schien das nicht sonderlich zu interessieren.
»Sind das eigentlich Ihre Kinder?«, fragte Meggie und wies nach oben.
»Gott bewahre, nein. Es sind meine Enkel. Eine meiner Töchter lebt auch hier im Ort. Sie kommen ständig zu mir und ich erzähle ihnen Geschichten. Ich erzähle dem halben Dorf Geschichten, aber ich habe keine Lust mehr, sie aufzuschreiben. Wo ist er jetzt?« Fragend drehte sich Fenoglio zu Mo um.
»Staubfinger? Das darf ich nicht sagen. Er will Sie nicht sehen.«
»Er hat einen ziemlichen Schreck bekommen, als mein Vater ihm von Ihnen erzählt hat«, fügte Meggie hinzu. Aber Staubfinger muss erfahren, was mit ihm passiert, dachte sie, er muss. Dann wird er verstehen, dass er wirklich nicht zurückkann. Und trotzdem weiter Heimweh haben, dachte sie. Für alle Zeit.
»Ich muss ihn sehen! Nur einmal. Verstehen Sie das nicht?« Fenoglio sah Mo bittend an. »Ich könnte euch einfach unauffällig folgen. Woran soll er mich schon erkennen? Ich will mich doch nur vergewissern, ob er wirklich so aussieht, wie ich ihn mir vorgestellt habe.«
Aber Mo schüttelte den Kopf. »Ich denke, Sie sollten ihn besser in Ruhe lassen.«
»Unsinn! Ich kann ihn mir ansehen, wann ich will. Schließlich habe ich ihn erfunden!«
»Und umgebracht«, fügte Meggie hinzu.
»Nun ja.« Fenoglio hob hilflos die Hände. »Ich wollte es spannend machen. Magst du keine spannenden Geschichten?«
»Nur wenn sie ein gutes Ende haben.«
»Ein gutes Ende!« Fenoglio ließ ein verächtliches Schnauben hören - und lauschte nach oben. Etwas oder jemand war unsanft auf die Holzdielen gefallen, lautes Weinen folgte dem Aufprall. Fenoglio hastete zur Tür. »Warten Sie hier! Ich bin gleich zurück!«, rief er und verschwand auf den Flur.
»Mo!«, wisperte Meggie. »Du musst es Staubfinger sagen! Du musst ihm sagen, dass er nicht zurückkann.«
Aber Mo schüttelte den Kopf. »Er will es nicht hören, glaub mir.
Ich habe es mehr als ein Dutzend Mal versucht. Vielleicht wäre es doch keine schlechte Idee, ihn mit Fenoglio zusammenzubringen. Seinem Erfinder glaubt er wahrscheinlich eher als mir.« Mit einem Seufzer wischte er ein paar Kuchenkrümel von Fenoglios Küchentisch. »Es gab da ein Bild in Tintenherz«, murmelte er, während er mit der flachen Hand über die Tischplatte strich, als könnte er das Bild auf die Weise herbeizaubern. »Eine Gruppe von Frauen war darauf zu sehen, sie standen unter einem Torbogen, prächtig gekleidet, als gingen sie zu einem Fest. Eine von ihnen hatte ebenso helles Haar wie deine Mutter. Man sieht ihr Gesicht nicht auf dem Bild, sie kehrt dem Betrachter den Rücken zu, aber ich habe mir immer vorgestellt, dass sie es ist. Verrückt, oder?«
Meggie legte ihre Hand auf seine. »Mo, versprich mir, dass du nicht noch mal zu dem Dorf fährst!«, sagte sie. »Bitte! Versprich mir, dass du nicht versuchst, das Buch zurückzubekommen.«
Der Sekundenzeiger von Fenoglios Küchenuhr schnitt die Zeit in schmerzhaft feine Scheiben, bis Mo endlich antwortete. »Ich verspreche es dir«, sagte er.
»Sieh mich an dabei!«
Er gehorchte. »Ich versprech es!«, wiederholte er. »Es gibt da nur noch eine Sache, die ich mit Fenoglio besprechen will, dann fahren wir nach Hause und vergessen das Buch. Zufrieden?«
Meggie nickte. Obwohl sie sich fragte, was es da noch zu besprechen gab.
Fenoglio kehrte mit einem verweinten Pippo auf dem Rücken zurück. Die anderen beiden Kinder folgten ihrem Großvater mit zerknirschten Gesichtern. »Löcher im Kuchen und jetzt auch noch eins auf der Stirn, ich glaube, ich sollte euch alle nach Hause schicken!«, schimpfte Fenoglio, während er Pippo auf einen Stuhl setzte. Dann wühlte er in dem großen Schrank, bis er ein Pflaster gefunden hatte, und klebte es seinem Enkel nicht allzu behutsam auf die aufgeschlagene Stirn.
Mo schob seinen Stuhl zurück und stand auf. »Ich habe es mir überlegt«, sagte er. »Ich bringe Sie doch zu Staubfinger.«
Fenoglio drehte sich überrascht zu ihm um.
»Vielleicht können Sie ihm ja ein für alle Mal klar machen, dass er nicht zurückkann«, fuhr Mo fort. »Wer weiß, was er sonst als Nächstes tut. Ich fürchte, es könnte gefährlich für ihn werden ... Außerdem habe ich da so eine Idee, sie ist verrückt, aber ich würde gern mit Ihnen darüber sprechen.«
»Verrückter als das, was ich schon gehört habe? Das ist wohl kaum möglich, oder?« Fenoglios Enkel waren wieder im Schrank verschwunden. Kichernd zogen sie die Türen zu. »Ich höre mir Ihre Idee an«, sagte Fenoglio. »Aber vorher will ich Staubfinger sehen!«
Mo blickte Meggie an. Es geschah nicht oft, dass Mo ein Versprechen brach, und er fühlte sich ganz offensichtlich alles andere als wohl dabei. Meggie konnte das nur zu gut verstehen. »Er wartet auf der Piazza«, sagte Mo mit zögernder Stimme. »Aber lassen Sie erst mich mit ihm reden.«
»Auf der Piazza?« Fenoglios Augen weiteten sich. »Das ist ja wunderbar!« Ein Schritt und er stand vor dem kleinen Spiegel, der neben der Küchentür hing, und fuhr sich mit den Fingern durch das dunkle Haar, fast als hätte er Angst, Staubfinger könne vom Aussehen seines Erfinders enttäuscht sein. »Ich werde so tun, als würde ich ihn gar nicht sehen, bis Sie mich rufen!«, sagte er. »Ja, so machen wir es.«
Im Schrank polterte es und Pippo stolperte in einer Jacke heraus, die ihm bis zu den Knöcheln hing. Auf seinem Kopf saß ein Hut, der so groß war, dass er ihm über die Augen rutschte.
»Natürlich!« Fenoglio zog Pippo den Hut vom Haar und setzte ihn sich selbst auf. »Das ist es. Ich nehme die Kinder mit! Ein Großvater mit drei Enkeln, das ist doch wirklich kein beunruhigender Anblick, oder?«
Mo nickte nur und schob Meggie auf den schmalen Flur hinaus.
Als sie die Gasse hinuntergingen, die zurück zur Piazza und zu ihrem Auto führte, folgte Fenoglio ihnen mit ein paar Metern Abstand. Seine Enkel sprangen um ihn herum wie drei junge Hunde.