Kapitel 11

Die Dunkelheit brach herein, als Fidelma und Eadulf die Abtei verließen. Sie achteten darauf, daß niemand sie sah, und folgten dann der Beschreibung des Weges zum Brunnen von Gurteen, die Samradans Kutscher ihnen gegeben hatte. Der Tag war warm gewesen, die anbrechende Nacht aber versprach kalt zu werden, und ein schwacher Bodennebel stieg bereits von den Feldern auf. Er bewegte sich nicht, denn es ging kein Wind, nicht einmal eine Abendbrise ließ die Blätter der Bäume und Büsche rascheln.

Sie hatten beschlossen, lieber zu Fuß dorthin zu gehen als zu reiten, denn Fidelma meinte, so würde ihr Ausflug weniger Aufmerksamkeit erregen. Eadulf nahm einen kräftigen Knüttel mit, einen Pilgerstab, den jemand in der Abtei vergessen hatte. Es war gut, etwas bei sich zu haben, womit man sich wehren konnte, wenn man so spät noch ausging. Nachts streiften Wolfsrudel umher und griffen manchmal einsame Wanderer an. In manchen Gegenden waren sie so zahlreich in den Wäldern und Bergen, daß sie, vom Hunger getrieben, ganzen Gemeinschaften gefährlich werden konnten, von den Bewohnern einsamer Höfe ganz zu schweigen.

Als sie den Weg entlanggingen, zerriß ein Heulen nicht weit entfernt die Stille. Eadulf packte seinen Knüttel fester und spähte in die Richtung, aus der der klagende Schrei gekommen war.

»Jetzt verstehe ich, weshalb das irische Wort für Wolfsrudel glademain heißt«, bemerkte er mit besorgtem Blick. Es war von glaid, »Schrei«, abgeleitet, also Wolfsgeheul.

»Sie stoßen seltsame, irgendwie verlockende Laute aus«, gab Fidelma zu. »Manchmal sind Menschen davon so fasziniert, daß sie die Gefahr vergessen. Sie sind die einzigen Tiere in diesem Land, die den Menschen gefährlich werden können. Viele Edelleute halten jährlich Wolfsjagden ab, um ihre Zahl zu verringern.«

Ein Hund bellte zur Antwort auf das Wolfsgeheul.

»Das ist eine andere Gefahr«, bemerkte Fidelma. »Nach Gewohnheit und Gesetz werden die Wachhunde der Bauernhöfe morgens angebunden, aber nach dem abendlichen Hereintreiben der Rinder freigelassen, damit sie die Hofstätten beschützen. Manchmal greifen sie ebenso wütend an wie der >Sohn des Landes<, den du gerade gehört hast.«

Eadulf wollte antworten, als der Wolf wieder seinen unheimlichen Ruf ertönen ließ. Er wartete, bis er verklang.

»Ich habe schon viele Bezeichnungen für den Wolf gehört, aber >Sohn des Landes< - wieso das?« Er erschauerte leicht.

»Mir fallen vier Namen für den Wolf ein, dazu noch ein Sammelname. Wir nennen ihn mac-tire, >Sohn des Landes<, weil er die wilden Wälder und Bergzüge bewohnt.«

Plötzlich blieb sie stehen und bedeutete ihm mit einer Geste, es ihr gleichzutun.

»Da vorn«, sagte sie leise. »Ich glaube, das ist das bestellte Feld, das Samradans Kutscher meinte. Der Brunnen muß in der Nähe sein.«

Zwielicht und Bodennebel hatten das Feld noch nicht ganz in Dunkelheit gehüllt. Der Nebel blieb dicht über dem Boden und wirbelte um ihre Beine, als wateten sie durch flaches weißes Wasser. Eadulfs Blick folgte ihrem ausgestreckten Arm, und er sah im Dämmerlicht eine rechteckige Einfriedung, die sich deutlich gegen die sie umstehenden Bäume abzeichnete.

»Das muß es sein«, stimmte er ihr zu und wies auf eine Ecke, in der er den fast drei Meter langen Brunnenschwengel erkannt hatte, an dem an einem Seil der Holzeimer hing.

Fidelma ging voran, stieg über die niedrige Steinmauer auf das Feld und schritt über den feuchten, gepflügten Acker auf den Brunnen zu.

»Es scheint noch niemand hier zu sein«, brummte Eadulf und sah sich im Halbdunkel um.

Fast im selben Moment bewegte sich etwas auf der anderen Seite der kleinen Steinmauer, die den Brunnen umgab; sie war ohne Mörtel aus Feldsteinen verschiedener Größe aufgeschichtet worden.

»Wer ist da?« fragte Fidelma.

Als Antwort ertönte ein schwaches Husten und die Stimme von Samradans Kutscher.

Sie gingen um den Brunnenschacht herum und sahen den Mann mit dem Rücken an die Mauer gelehnt sitzen, die Beine lang ausgestreckt, die Arme locker an der Seite. Sein Gesicht war im Dunkeln nicht zu erkennen.

»Ich ... ich hab gehofft, daß ihr bald kommt«, sagte er und hob den Kopf.

Fidelma schaute stirnrunzelnd auf ihn hinunter. »Ist dir nicht gut?« fragte sie, denn sie wunderte sich, daß er nicht aufstand.

»Ich hab nicht viel Zeit«, unterbrach er sie ungeduldig. »Sprecht nicht, hört mir zu.«

Fidelma und Eadulf tauschten erstaunte Blicke.

In der Nähe erklang wieder das klagende Geheul eines Wolfs. Diesmal fielen mehrere andere ein, von überallher schien Wolfsgeheul zu kommen.

»Dann sprich«, forderte ihn Fidelma auf und setzte sich auf die niedrige Mauer. »Was hast du uns zu sagen?«

Eadulf blieb stehen, die Hände am Knüttel, und starrte besorgt in die Dunkelheit. »Ein schöner Ort für ein Treffen«, murmelte er. »Könnten wir nicht von hier weggehen und uns einen geschützteren Platz suchen?«

Der Mann blieb sitzen und beachtete Eadulf nicht. »Schwester Fidelma ... ich bin aus Cashel. Lassen wir’s dabei, mein Name bedeutet dir nichts. Cred hat dir nicht die ganze Wahrheit gesagt.«

»Daran hatte ich keinen Zweifel«, erwiderte Fidel-ma gelassen. »Wir alle biegen die Wahrheit so zurecht, wie wir sie verstehen.«

»Sie log auch mit dem, was sie zugab«, sagte der Kutscher. »Ich habe gesehen, wie sich der Mann, den sie den Bogenschützen nannte, im Gasthaus mit anderen getroffen hat. Sie wußte das und belog euch.«

»Warum sollte sie das tun?«

»Hört mir zu. Der Bogenschütze traf sich mit einem Glaubensbruder. Ich sah, wie der Bruder hereinkam. Cred war auch da. Sie dachte wohl, ich hätte es nicht bemerkt, weil ich nach dem Mittag am Feuer eingenickt war. Ich war jedoch wach geworden, als der Bogenschütze eintrat, und wollte schon aufstehen, als der Mönch kam. Er war so nervös, daß ich tat, als ob ich noch schliefe, und ihn beobachtete.«

»Wer war das? Kanntest du ihn?«

»Nein. Aber ich fand es merkwürdig, daß ein Mönch ein Gasthaus der Art betrat, wie Cred es führt, wenn ihr wißt, was ich meine.«

»Du sahst also einen Mönch eintreten. War er rundlich und hatte er ein Mondgesicht?« fragte Fi-delma.

Der Kutscher nickte.

»Und ergrauendes lockiges Haar, in das früher eine römische Tonsur geschnitten war?« fragte Eadulf. »Eine Tonsur wie meine?«

»Nein«, widersprach der Mann. »Er trug die Tonsur eines irischen Mönchs, die des heiligen Johannes, wie ihr es nennt. Aber rundlich war er, und er hatte ein Mondgesicht.«

»Wann war das?«

»Vor einer knappen Woche. Genau kann ich es nicht sagen.«

»Hast du gesehen, wie der Mönch das Gasthaus verließ?«

»Einige Zeit später. Ich war inzwischen zum Schmied gegangen. An einem Wagen war die Achse gebrochen, und der Schmied machte sie heil. Als ich dort war, sah ich, wie derselbe Mönch zur Abtei eilte.«

»Bruder Mochta?« fragte Eadulf, mehr an Fidelma gewandt als an den Kutscher.

»Der Name sagt mir nichts«, erklärte der Mann.

»Woher weißt du, daß er sich mit dem Bogenschützen traf? Er hätte auch jemand anderen im Gasthaus aufsuchen können.«

»Außer mir und den beiden anderen Kutschern wohnte nur der Bogenschütze im Gasthaus. Als der Mönch hereinkam, sagte er etwas zu Cred, und die antwortete: >Er wartet oben auf dich.< Wer sollte sonst auf ihn warten als der Bogenschütze?«

»Na gut«, stimmte ihm Fidelma zu. »Dein Schluß ist nicht zu widerlegen. Also traf sich der Bruder aus der Abtei mit dem Bogenschützen.«

»Es gibt noch einen Beweis dafür, daß der Mönch den Bogenschützen aufsuchte.«

»Welchen?«

»Ein paar Tage später kam er wieder ins Gasthaus, diesmal am hellen Tage und mit einem anderen Mönch zusammen. Er fragte Cred nach dem Bogen-schützen. Der war aber nicht da, also gingen die beiden Mönche wieder weg.«

»Hast du diesen Mönch oder seinen Begleiter noch einmal gesehen?«

»Nein. Aber es gibt noch etwas anderes und Wichtigeres. Ich sah, wie sich der Bogenschütze mit einem anderen Mann traf, in derselben Nacht, in der der Mönch zum erstenmal in das Gasthaus kam. Ich wurde im Schlaf gestört und hörte Stimmen unter meinem Fenster im Hof. Aus Neugier sah ich hinaus. Dort standen zwei Männer, einer von ihnen hatte ein Pferd. Sie unterhielten sich unter der Lampe der Herberge.«

Zu den gesetzlichen Pflichten eines Wirts gehörte es auch, daß die ganze Nacht eine Lampe brennen mußte, um Reisende zur Herberge zu leiten, ob auf dem Lande oder in der Stadt.

Der Kutscher wurde plötzlich von einem Husten geschüttelt. Dann fuhr er fort: »Einer der beiden war natürlich der Bogenschütze.«

»Und der andere?« forschte Eadulf eifrig. »Hast du den anderen erkannt?«

»Nein. Er trug einen Mantel mit Kapuze. Ich kann nur sagen, daß er reich gekleidet war. Sein Mantel war aus Wolle, mit Pelz besetzt. Sonst konnte ich nicht viel ausmachen, aber auch Sattel und Zügel verrieten einen Reichtum, den sich wenige leisten können. Ich versuchte, etwas von dem Gespräch zu erfassen, verstand aber wenig. Der Bogenschütze sprach sehr respektvoll mit dem Mann im Mantel. Dann .«

Der Kutscher hielt inne und mußte erneut husten. Fidelma und Eadulf warteten geduldig.

»Dann sagte der feine Herr, also ... Ich glaube, es war ein altes Sprichwort: Rioghacht gan duadh, ni dual go bhfagthar

»Kein Königreich wird ohne Mühe gewonnen«, wiederholte Fidelma leise. »Das ist tatsächlich ein altes Sprichwort und bedeutet, daß man ohne Anstrengung nichts erreicht.«

Der Kutscher hustete wieder.

»Mit deinem bösen Husten solltest du nicht auf der feuchten Erde sitzen«, tadelte ihn Eadulf.

Der Kutscher fuhr fort, als habe er ihn nicht gehört. »Der Bogenschütze erwiderte: >An mir soll es nicht fehlen, rigdomna.< Genau das waren seine Worte.«

Fidelma beugte sich gespannt vor. »Rigdomna? Bist du sicher, daß er diese Anrede benutzte?«

»Ja, das tat er, Schwester.«

Eadulf blickte in die Dunkelheit, die sich nun über das Feld gesenkt hatte. »Das ist ein Wort für Prinz, wenn ich mich nicht irre?«

Der Ausdruck bedeutete wörtlich »Königsmaterial« und war die offizielle Anrede für den Sohn eines Königs.

Der Kutscher mußte wieder husten.

»Was ist mit dir?« fragte Fidelma, besorgt über den Zustand des Mannes.

Er rang nach Atem. »Ich glaube, ich muß euch bitten, mir zur Stadt zurück zu helfen, allein schaffe ich es wohl nicht mehr.«

Er wollte aufstehen, mußte erneut husten, stieß plötzlich einen seltsamen klagenden Schrei aus und fiel auf die Seite.

Eadulf ließ seinen Knüttel los und kniete sich hin, denn durch die Dunkelheit und den Nebel war nichts mehr zu erkennen. Er langte nach dem Kopf des Mannes und fühlte den Puls am Hals. Der Pulsschlag flatterte und setzte dann ganz aus.

»Was ist?« fragte Fidelma ungeduldig.

Eadulf blickte auf, konnte aber ihr Gesicht nicht mehr sehen. »Er ist tot.«

»Tot? Wie das?«

Eadulf spürte etwas Warmes, Feuchtes am Mundwinkel des Mannes.

»Er hat Blut ausgehustet«, sagte er überrascht. »Bei Tageslicht hätten wir es bemerkt.«

»Aber er sah doch heute nachmittag nicht krank aus. Er war nicht der Typ, der Blut spuckt.«

Eadulf beugte sich vor und versuchte den Körper des Mannes aufzurichten. Mit der linken Hand stützte er ihn von hinten und spürte eine warme, klebrige Masse am Rücken des Toten. Das Hemd hatte einen Riß, und Eadulfs Finger ertasteten zerfetztes Fleisch.

»Ach, dabit deus his quoque finem!« murmelte er.

»Was ist denn?« Fidelma ärgerte sich, daß sie in der Dunkelheit nicht sehen konnte, was Eadulf tat.

»Der Mann ist von hinten erdolcht worden. Während er hier saß und mit uns geredet hat, war er bereits tödlich verwundet. Nur Gott weiß, wie er noch so lange leben konnte. Er hatte eine Stichwunde im Rücken ...«

Eadulf überlegte. »Die Bewegung, als er aufstehen wollte, hat wahrscheinlich die Wunde weiter aufgerissen und zu seinem Tode geführt. Vielleicht hätte er noch länger gelebt, wenn er sitzen geblieben wäre. Ich weiß es nicht.«

Fidelma schwieg einen Moment.

»Er hätte es uns vorher sagen sollen«, meinte sie schließlich. »Jetzt können wir ihm nicht mehr helfen.«

Eadulf langte nach dem wassergefüllten Brunneneimer und wusch sich die Hände.

»Soll ich die Leiche zur Herberge zurücktragen?« fragte er. »Wir müßten Samradan verständigen.«

Fidelma schüttelte den Kopf. Dann wurde ihr klar, daß Eadulf das in der Dunkelheit nicht sehen konnte.

»Nein. Wenn wir bekannt werden lassen, daß wir mit diesem Mann zu tun hatten, wird man uns womöglich daran hindern, dem nachzugehen, was wir von ihm erfahren haben.«

»Wieso? Der Mann wurde hinterrücks erstochen, ermordet. Er war auf dem Wege, sich mit uns zu treffen. Als er sich heute nachmittag mit uns verabredete, fürchtete er, im Gespräch mit uns gesehen zu werden. Wen fürchtete er? Derjenige muß ihn getötet haben, um zu verhindern, daß er seine Beobachtungen weitergab.«

»Das wissen wir nicht genau, aber ich bin geneigt, dir zuzustimmen. Wenn er getötet wurde, damit er uns nicht sagen sollte, was er wußte, dann ist es klüger, seinen Mörder in dem Glauben zu lassen, er habe nicht mehr mit uns sprechen können. Man wird ihn morgen finden, wenn jemand zum Brunnen kommt. Wahrscheinlich hat man ihn getötet, um ihn zum Schweigen zu bringen. Wir sollten so tun, als habe er dieses Schweigen bewahrt.«

»Das gefällt mir nicht«, gestand Eadulf. »Mir erscheint es unchristlich, einfach wegzugehen und ihn hier zu lassen.«

»Ihm wird es nichts ausmachen, und da wir es um der Gerechtigkeit willen tun, wird auch Gott es uns nicht übelnehmen. Es könnte dazu beitragen, seine Mörder aufzuspüren, denn wenn sie mit den Attentätern von Cashel im Bunde sind, haben wir etwas Wichtiges erfahren, was uns einen kleinen Vorsprung verschafft.«

Sie kniete neben der Leiche nieder und sprach einen kurzen Segen, dann erhob sie sich.

»Sic itur ad astra«, murmelte Eadulf spöttisch. So gelangt man zu den Sternen.

Eadulf vernahm wieder das ständige Heulen der Wölfe, das in der Zeit, die sie am Brunnen verbracht hatten, näher gekommen zu sein schien. Er nahm seinen Knüttel auf und sagte zu Fidelma: »Wir gehen wohl lieber zurück.«

Fidelma stimmte ihm zu. Auch ihr war aufgefallen, daß die Wölfe immer dichter herankamen.

Sie gingen über das Feld, kletterten über die niedrige Steinmauer und erreichten den Weg. Inzwischen war der Mond aufgegangen, ein heller Mond in der Mitte des Septembers. Es war nicht mehr so dunkel. Die wenigen Wolken am Himmel beeinträchtigten den blassen hellen Schein kaum. Dunkelheit und Nebel hatten nur das Feld um den Brunnen herum bedeckt, weil es dort feucht war. Hier auf dem Weg warf das schwache Licht leichte Schatten, während sie auf die fernen Lichter des Ortes zueilten.

Das anschwellende Wolfsgeheul ließ nicht zum erstenmal einen unwillkürlichen Schauer über Eadulfs Rücken laufen.

Unruhig schaute er sich um. »Es hört sich an, als ob sie ziemlich nahe sind«, murmelte er.

»Uns kann nichts passieren«, erwiderte Fidelma zuversichtlich. »Wölfe greifen keine erwachsenen Menschen an, wenn sie nicht am Verhungern sind.«

»Wer weiß, ob diese Biester keinen Hunger haben?« knurrte Eadulf.

In Wahrheit fragte sich Fidelma das auch.

Eadulf war sich nicht sicher, ob er richtig gesehen hatte, so schnell flitzte der Schatten durch sein Blickfeld. Es war ein großer schwarzer Schatten, der zwanzig Meter vor ihnen den Weg kreuzte. Instinktiv blieb Eadulf stehen.

»Was ist?« flüsterte Fidelma. Sie stand neben ihm und spähte nach vorn.

»Ich weiß nicht genau ...«, sagte Eadulf.

Ein leises Knurren ließ ihre Glieder wie im Frost erstarren.

Der Schatten bewegte sich wieder, ein langer, niedriger, muskulöser Schatten, und plötzlich spiegelte sich das Mondlicht in zwei winzigen Punkten, aus denen Feuer zu sprühen schien. Das Knurren wurde lauter.

»Stell dich hinter mich, Fidelma«, zischte Eadulf und hob zum Schutz seinen Knüttel.

Das Tier kam knurrend einen Schritt näher.

»Ich kann nicht erkennen, ob es ein Wolf ist oder ein Wachhund von einem Bauernhof«, flüsterte Fi-delma und spähte in die Dunkelheit.

»Jedenfalls bedroht uns das Biest«, antwortete Ea-dulf.

Ohne Warnung schoß das mächtige Tier plötzlich auf sie zu. Hätte Eadulf nicht so schnell gehandelt, hätte es ihn an der Kehle gepackt. In dem Moment, als es zum Sprung abhob, schwang er seinen Knüttel und traf es mitten im Sprung, mehr mit Glück als gut zielend, genau auf die Schnauze. Er hatte seine ganze Kraft in den Schlag gelegt. Vor Schmerz jaulend, stürzte das Tier zu Boden, zog sich wimmernd ein paar Schritte zurück, doch dann verhielt es, und sein Winseln ging in ein wütendes Fauchen über.

Als Fidelma sprach, hörte Eadulf zum erstenmal, seit er sie kannte, Angst aus ihrer Stimme heraus.

»Das ist kein Hund, Eadulf, das ist ein Wolf.«

Eadulf hatte kein Auge von dem Tier gelassen, das knurrend vor ihnen hin und her lief, als suche es eine schwache Stelle zum Angriff. Es machte kurze Ansätze, kam ihnen aber nicht näher. Die funkelnden roten Augen waren beständig auf Eadulf gerichtet, der ihm mit vorgehaltenem Knüttel immer zugewandt blieb.

»Das kann nicht die ganze Nacht so weitergehen«, murmelte er.

»Wir können nirgendwo hin«, erwiderte Fidelma.

»Ein paar Meter weiter steht ein Baum . wenn ich das Tier in Schach halte, kannst du’s schaffen - hoch auf die Äste klettern .?«

»Und was willst du machen?« wandte sie ein. »Ehe du den Baum erreichst, hat dich das Biest eingeholt.«

»Welchen Ausweg haben wir sonst?« antwortete Eadulf. Die Furcht ließ seine Worte gereizt klingen. »Sollen wir beide uns hier zerreißen lassen? Ich versuche das Vieh abzulenken, damit du vorbeikommst. Dann kannst du rennen. Wenn ich rufe, dann lauf los! Sieh dich nicht um und klettere, so hoch du kannst.«

Sein Ton war so entschlossen, daß Fidelma einsah, jeder Widerspruch war zwecklos. Logisch gesehen hatte Eadulf sowieso recht. Sie hatten keine andere Wahl.

Eadulf machte ein paar Ausfallschritte gegen den knurrenden Wolf, die diesen vor Überraschung über soviel Frechheit zurückprallen ließen. Dann verengten sich seine glühenden Augen, und er bleckte wieder die großen geifernden Zähne. Er hatte sich leicht abgewandt. Eadulf ging wieder vor.

Da ertönte ein Heulen, das Fidelma und Eadulf erschauern ließ. Es kam aus der Richtung des Feldes, das sie gerade verlassen hatten.

Der angriffsbereite Wolf stand still und hob den Kopf ins Mondlicht, dessen weiche Strahlen auf seine emporgereckte Schnauze fielen. Tief aus seiner Kehle drang ein Laut, zuerst schwach, dann zunehmend an Stärke, bis sich die Kiefer öffneten und ein geisterhaft schrilles Geheul die Luft zerriß. So etwas hatte Eadulf noch nie vernommen. Dreimal hintereinander durch-bohrte der Ruf die abendliche Stille um sie her. Als er verklang, schien der Wolf abwartend zu lauschen.

Tatsächlich kam vom Feld her ein antwortender Ruf, ein fürchterlicher, klagender Schrei.

Ohne auch nur einen weiteren Blick auf Eadulf zu werfen, drehte der Wolf ab, sprang über die Steinmauer und verschwand auf dem Feld hinter ihnen.

Eadulf stand noch wie versteinert da. Der Schweiß lief ihm von der Stirn, und der Knüttel in seiner Hand war feucht.

Fidelma bewegte sich als erste.

»Komm weiter, falls noch mehr von diesen Biestern in der Nähe sind. Wir müssen uns in der Ortschaft in Sicherheit bringen.«

Als Eadulf sich nicht rührte, zog sie ihn am Ärmel.

Er faßte sich und eilte ihr mit raschen Schritten nach, wobei er unruhige Blicke zurückwarf.

»Aber sie laufen zu dem Feld, wo wir ...«

»Natürlich!« fauchte Fidelma. »Was denkst du denn, weshalb der Wolf von uns abgelassen hat? Sein Partner ...« ihre Stimme zitterte etwas, »hat die Leiche gefunden, eine leichtere Beute als wir. Das bedeuteten die furchtbaren Schreie, die sie gewechselt haben. Mit seinem Tode hat der arme Mann uns gerettet. Deo gratias!«

Übelkeit stieg in Eadulf auf, als ihm klar wurde, welch grausiges Mahl jetzt am Brunnen gehalten wurde. Aber auch sie hätten als Speise dienen können. Fi-delma hätte ... Er murmelte: »Agnus Dei ... o Lamm Gottes ...« Es war das Gebet zur Begräbnisfeier.

»Spar deinen Atem«, unterbrach ihn Fidelma gereizt. »Ehre das Opfer des Mannes, indem du dich seiner würdig erweist und in Sicherheit gelangst.«

Eadulf verstummte, von Fidelmas Schroffheit verletzt. Schließlich lag ihm ihre Sicherheit mehr am Herzen als seine eigene. Doch er begriff zum erstenmal, seit er sie kannte, daß auch sie nicht frei von Furcht war.

Sie schwiegen, bis sie den Rand der Ortschaft erreicht hatten und die Hauptstraße entlanggingen, rasch an der brennenden Lampe vor der Herberge Creds vorbei. Es waren nur wenige Leute auf der Straße, und niemand schien von ihnen Notiz zu nehmen, bis sie zur Schmiede kamen.

Trotz der späten Stunde saß der Schmied noch an einem glühenden Kohlenkorb neben seinem Amboß. Er polierte eine Schwertklinge. Er blickte auf und erkannte sie.

»Ich würde in der Dunkelheit lieber nicht mehr ausgehen, Lady«, begrüßte er sie.

Fidelma blieb vor ihm stehen. Sie hatte ihre Fassung vollständig wiedergewonnen und sah ihn gelassen an. »Warum nicht?«

Der Schmied hielt lauschend den Kopf schief. »Hast du sie nicht gehört, Lady?«

In der abendlichen Stille drang fernes Wolfsgeheul an ihre Ohren.

»Ja, wir haben sie gehört«, sagte sie gepreßt.

Der Schmied nickte langsam. Er hatte seine Tätigkeit nicht unterbrochen. »Ich habe sie selten so dicht am Ort erlebt«, bemerkte er. »An eurer Stelle würde ich schnell in die Abtei zurückkehren.«

Er vertiefte sich wieder in seine Arbeit, doch dann hob er erneut den Kopf. »Ich glaube, als bo-aire des Ortes müßte ich wohl morgen eine Jagd veranstalten und diese Halunken aus ihren Verstecken herausscheuchen.«

Eadulf schien es, als hätten diese Worte noch eine andere Bedeutung. Er fragte sich, ob das wirklich so sei oder ob er infolge der Aufregung des Abends schon Dinge hörte, die es gar nicht gab.

Fidelma schritt ohne ein weiteres Wort auf dem Weg an dem großen Eibenbaum vorbei und auf die hohen dunklen Mauern der Abtei zu. Eadulf eilte ihr nach. Als sie außer Hörweite waren, sprach er seine Gedanken aus.

»Meinst du, daß seine Worte noch eine verborgene Bedeutung hatten?«

»Ich weiß es nicht. Wohl eher nicht. In diesem Stadium sollten wir für alles offen sein.«

»Was tun wir als nächstes?«

»Ich denke, das liegt doch auf der Hand.«

Eadulf überlegte einen Moment.

»Cred, nehme ich an? Wir müssen noch einmal mit ihr reden.«

In Fidelmas Stimme lag Anerkennung. »Ausgezeichnet. Ja, wir müssen noch einmal mit ihr reden, denn wenn Samradans Kutscher recht hatte, dann weiß die Wirtin mehr, als sie uns verraten hat.«

»Nun, ich meine, die Lösung ist klar.«

Das klang so überzeugt, daß Fidelma überrascht war.

»Hast du unser Rätsel schon gelöst, Eadulf?« Der leise Spott in ihrer Stimme entging ihm. »Das ist aber klug von dir.«

»Na, du hast doch gehört, was der Kutscher sagte. Der Bogenschütze erhielt seine Anweisungen von einem Fürsten. Gibt es so viele Fürsten, die Cashel feind sind?«

»Viele«, erwiderte sie trocken. »Obgleich ich zugebe, daß mir zuerst die Ui Fidgente in den Sinn kamen. Doch wir können Donennach nicht einfach anklagen, weil der Kutscher hörte, wie der Bogenschütze einen Mann als ngdomna anredete. Viele Fürsten sähen es gern, wenn die Eoghanacht ihre Macht verlören. Die größten Feinde der Eoghanacht sind die Ui Neill, besonders Mael Düin von den nördlichen Ui Neill, der König von Ailech. Ihre Feindschaft reicht zurück bis in die Zeit von Mile Easpain, dem Ahnherrn der Gae-len. Seine Söhne Eber und Eremon stritten sich um die Aufteilung Eireanns. Eber wurde von Anhängern seines Bruders Eremon getötet. Die Ui Neill behaupten, sie stammten von Eremon ab.«

»Das weiß ich«, erklärte Eadulf ungeduldig. »Und die Eoghanacht des Südens leiten ihre Abkunft von Eber her. Aber glaubst du wirklich, daß Cashel von den Ui Neill aus dem Norden bedroht wird?«

»Was im Knochen wächst, ist dem Fleisch schwer auszutreiben«, bemerkte Fidelma, als sie vor dem Tor der Abtei standen.

»Das verstehe ich nicht«, wandte Eadulf ein.

»Seit tausend Jahren hassen die Ui Neill die Eogha-nacht und neiden ihnen ihr Königreich.«

Der diensttuende Mönch am Tor war Bruder Daig, der muntere junge Mann, den sie kurz zuvor kennengelernt hatten. Er schien erfreut, sie zu sehen.

»Gott sei Dank, daß ihr unversehrt zurück seid. Seit mehr als zwei Stunden höre ich das Geheul der Wölfe in den Bergen. An so einem Abend sollte man nicht ohne Herberge sein.«

Er zog das Tor hinter ihnen zu.

»Wir haben sie auch gehört«, bemerkte Eadulf.

»Ihr müßt wissen, daß es viele Wölfe in den Wäldern und auf den Feldern in dieser Gegend gibt«, fuhr Bruder Daig mitteilsam fort. »Sie können sehr gefährlich werden.«

Eadulf wollte gerade erwidern, daß ihm das sehr wohl bekannt sei, doch da fing er Fidelmas warnenden Blick auf.

»Du bist sehr aufmerksam, Bruder«, sagte sie. »Das nächste Mal passen wir besser auf, wenn wir uns im Dunkeln hinauswagen.«

»Es gibt noch ein kaltes Mahl im Speisesaal, Schwester, falls ihr noch nichts gegessen habt«, fuhr der junge Mönch fort. »Es ist schon so spät, daß ich fürchte, das warme Essen habt ihr versäumt.«

»Das spielt keine Rolle. Bruder Eadulf und ich gehen in den Speisesaal. Vielen Dank für deine Fürsorge. Wir wissen sie sehr zu schätzen.«

Auf dem Wege zum Speisesaal flüsterte Eadulf: »Wollen wir nach der Mahlzeit noch mit Cred reden?«

»Wie Bruder Daig schon sagte, es ist sehr spät. Cred kann warten. Sobald ich gegessen habe, gehe ich zu Bett und ruhe mich aus. Es war ein anstrengender Tag. Morgen gleich nach dem Frühstück machen wir uns auf zu Cred.«

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