Kapitel 3

Eadulf blickte aus dem Fenster über die weiten bestellten Äcker zwischen der Stadt und dem ungefähr vier Meilen entfernten Fluß. Er konnte gerade wahrnehmen, daß auf dem Weg eine Reiterschar aus dem Wald hervorkam. Er warf Fidelma einen raschen Blick zu und bewunderte im stillen ihre Sehschärfe, denn außer der Tatsache, daß es Berittene waren, konnte er noch nichts ausmachen. Daß sie unter ihnen ihren Bruder zu erkennen vermochte, war ihm kaum vorstellbar.

Sie beobachteten schweigend, wie sich die Kolonne auf die Stadt unterhalb der Burg zu bewegte. Nun sah Eadulf das bunte Banner des Königs von Muman und ein anderes, das ihm nicht bekannt war, aber wohl dem Fürsten der Ui Fidgente gehörte.

Plötzlich ergriff Fidelma seine Hand und zog ihn fort vom Fenster.

»Gehen wir hinunter in die Stadt und sehen uns ihre Ankunft an, Eadulf. Dies ist ein großer Tag für Muman.«

Eadulf lächelte leise über ihre aufschäumende Begeisterung und ließ sich von ihr durch die Große Halle führen.

»Das verstehe ich nicht so ganz. Warum ist die Ankunft des Fürsten der Ui Fidgente so wichtig?« fragte er, während sie den Hof überquerten.

Fidelma ließ seine Hand los, sobald sie sicher war, daß er ihr folgte, und fiel in den würdigeren Schritt einer Nonne.

»Die Ui Fidgente sind einer der größeren Clans in Muman und leben westlich des Flusses Maigne. Ihre Fürsten haben sich oft geweigert, den Eoghanacht von Cashel Tribut zu zahlen oder sie überhaupt als Könige von Muman anzuerkennen. Sie erheben sogar selbst Anspruch auf die Königsherrschaft in Muman, mit der Begründung, daß ihre Fürsten ebenfalls von unserem gemeinsamen Ahnherrn Eoghan Mor abstammen.«

Sie ging rasch voran über den Hof, an der Kapelle vorbei und durch das Haupttor. Der wachhabende Krieger lächelte und grüßte sie. Colgüs Schwester war sehr angesehen in ihrem Volk. Eadulf hielt leicht Schritt mit ihr.

»Ist ihr Anspruch berechtigt?« fragte er.

Fidelma verzog schmollend den Mund. Sie war stolz auf ihre Sippe, und darin, das wußte Eadulf aus Erfahrung, unterschied sie sich nicht von den meisten irischen Adligen, die er kennengelernt hatte. Jede Sippe beschäftigte einen professionellen Genealogen, um sicherzugehen, daß alle Generationen und ihre vielfachen Verwandtschaftsverhältnisse genau und deutlich aufgezeichnet wurden. Nach dem Brehon-Gesetz wurde die Nachfolge durch den Beschluß eines Wahlmännerkollegiums geregelt, das aus bestimmten Generationen, derbfhine genannt, bestand, deshalb war es wichtig, die Generationen und ihr Verhältnis zueinander zu kennen.

»Fürst Donennach, der heute mit meinem Bruder herkommt, beruft sich darauf, in gerader männlicher Linie in der zwölften Generation von Eoghan Mor abzustammen, den wir als den Begründer unseres Hauses betrachten.«

Eadulf entging ihr sarkastischer Unterton, er schüttelte verwundert den Kopf darüber, mit welcher Leichtigkeit der irische Adel seine Verwandtschaftsbeziehungen bestimmen konnte.

»Also dieser Fürst Donennach entstammt einer jüngeren Linie deines Hauses?« fragte er.

»Wenn die Genealogen der Ui Fidgente die Wahrheit sagen«, erwiderte Fidelma mit Betonung. »Allerdings jünger nur entsprechend den Beschlüssen der derbfhine, die die Könige einsetzen.«

Eadulf seufzte tief.

»Dieses Verfahren ist mir schwer verständlich. Bei den Angelsachsen erbt immer das älteste männliche Kind der ältesten Linie, der Erstgeborene, wie gut oder schlecht das auch immer ist.«

Fidelma fand das nicht richtig.

»Eben. Wenn nun dieser Erstgeborene sich als ungeeignet erweist, geistesgestört ist oder schlecht beraten regiert, dann läßt die angelsächsische Sippe ihn umbringen. Bei uns wird der Mann gewählt, der sich am besten für die Aufgabe eignet, ob es nun der älteste Sohn, der Onkel, der Bruder, der Vetter oder der jüngste Sohn ist.«

»Wenn sich aber herausstellt, daß er schlecht regiert«, konterte Eadulf, »laßt ihr ihn dann auch töten?«

»Nicht nötig«, antwortete Fidelma achselzuckend. »Die derbfhine der Sippe treten zusammen, entheben ihn seines Amtes und setzen einen Fähigeren ein. Nach dem Gesetz darf er gehen und ihm niemand etwas tun.«

»Ruft er dann nicht seine Anhänger zur Rebellion auf?«

»Er kennt das Gesetz, und seine möglichen Anhänger kennen es auch. Sie wissen, daß sie für immer als unrechtmäßige Machthaber gelten würden.«

»Aber es wäre doch menschlich. Es kommt doch sicher vor.«

Fidelmas Miene war ernst. Sie neigte zustimmend den Kopf.

»Es kommt tatsächlich manchmal vor. Deshalb ist die Aussöhnung mit den Ui Fidgente so wichtig. Sie haben immer wieder gegen Cashel rebelliert.«

»Warum?«

»Sie begründen es mit dem, worüber wir eben sprachen. Unsere Sippe, die Colgüs und meines Vaters Failbe Fland, führt ihre Abstammung auf Conall Corc zurück, den Sohn des Luigthech, der ein Sohn von Ai-lill Flann Bec war, welcher wiederum ein Enkel von Eoghan Mor war, dem Gründer unseres Hauses.«

»Das glaube ich dir aufs Wort«, lächelte Eadulf. »Diese Namen sagen mir nichts.«

Fidelma bewahrte ihre Geduld.

»Die Linie der Ui Fidgente leitet sich von Fiachu Fidgennid her, dem Sohn des Maine Munchain, der ein weiterer Sohn von Ailill Flann Bec, dem Enkel von Eoghan Mor, war. Falls ihre Genealogen recht haben, wie ich sagte.« Sie verzog das Gesicht. »Unsere Genealogen meinen, sie hätten ihre Stammbäume gefälscht, damit sie Anspruch auf den Königssitz von Cashel erheben können. Doch an diesem glücklichen Tag werden wir uns nicht mit ihnen streiten.«

Eadulf bemühte sich, ihr zu folgen.

»Ich glaube, nun verstehe ich dich. Die Spaltung zwischen deiner Sippe und den Ui Fidgente begann zwischen zwei Brüdern, Luigthech, dem ältesten, und Maine Munchain, dem jüngeren.«

Fidelma lächelte mitfühlend und schüttelte den Kopf.

»Wenn ihre Genealogen recht haben, war Maine Munchain, der Stammvater der Ui Fidgente, der älteste Sohn von Ailill Flann Bec. Unser Ahnherr Luigthech war sein zweiter Sohn.«

Eadulf hob ratlos die Arme.

»Es ist schon schwer genug, eure irischen Namen zu behalten, aber erst die Generationenfolge ... Sagst du jetzt, daß die Ui Fidgente einen besseren Anspruch auf die Königswürde haben, weil sie von dem ältesten Sohn abstammen?«

Fidelma ärgerte sich über sein Unverständnis.

»Inzwischen solltest du unsere Thronfolgegesetze kennen, Eadulf. Sie sind doch so einfach. Maine Mun-chains Nachkommen wurden von den derbfhine der Sippe als ungeeignet für die Königswürde bezeichnet.«

»Es fällt mir trotzdem schwer, dir zu folgen«, gestand Eadulf. »Nach dem, was du sagst, stammen die Ui Fidgente nach den Regeln des Erstgeburtsrechts von einer älteren Linie ab und sind deshalb nicht bereit, die Herrschaft deiner Familie in Cashel anzuerkennen?«

»Ob ältere Linie oder nicht, unser Rechtssystem kennt kein Erstgeburtsrecht«, klärte ihn Fidelma auf. »Außerdem ereignete sich das alles vor fast zehn Generationen. Das ist so lange her, daß unsere Genealogen meinen, die Ui Fidgente seien überhaupt keine richtigen Eoghanacht, sondern stammten von den Dairine ab.«

Eadulf blickte zum Himmel auf.

»Und wer sind nun wieder die Dairine?« stöhnte er entmutigt.

»Ein altes Volk, das sich vor fast tausend Jahren das Königreich Muman mit den Eoghanacht teilte. Es gibt im Westen von hier noch einen Clan namens Corco Loigde, der behauptet, von den alten Dairine abzustammen.«

»Na, mein einfacher Verstand hat nun genug Genealogie und zu viele Namen aufgenommen.«

Fidelma kicherte leise über seine komische Leidensmiene, doch ihre Augen blieben ernst.

»Trotzdem ist es wichtig, daß du die politische Lage in diesem Königreich verstehst, Eadulf. Du erinnerst dich doch, daß wir im vorigen Winter ein Komplott der Ui Fidgente aufdeckten, die eine Rebellion anzetteln wollten, und daß mein Bruder ihnen ein Heer entgegenführen und sie bei Cnoc Äine zur Schlacht stellen mußte? Das war vor knapp neun Monaten.«

»Daran erinnere ich mich natürlich. Wie sollte ich das vergessen? Die Verschwörer hatten mich damals gefangengenommen. Aber fiel nicht der Herrscher der Ui Fidgente in der Schlacht?«

»Ja. Jetzt ist sein Vetter Donennach der Fürst der Ui Fidgente, und eine seiner ersten Amtshandlungen bestand darin, Gesandte zu meinem Bruder zu schik-ken, um einen Vertrag auszuhandeln. Donennach kommt nach Cashel, um Frieden zu schließen. Es ist der erste Friede zwischen den Ui Fidgente und Cashel seit Jahrhunderten. Deshalb ist der heutige Tag so bedeutend.«

Sie waren vom Tor der Burg den steilen Pfad hinuntergegangen, der zum Fuß des Felsens von Cashel führte, und dem Weg um ihn herum bis zum Rand des Marktfleckens gefolgt. Die Stadt lag knapp eine Viertelmeile vom großen Felsen entfernt.

Die Einwohner der Stadt versammelten sich bereits, um den Einzug ihres Königs mit dem Fürsten der Ui Fidgente und seinem Gefolge anzuschauen. Die Reiterkolonne erreichte das Westtor der Stadt, als Fidel-ma und Eadulf sie durch das Osttor betraten und sich mit anderen zusammen an einer Seite des weiten Marktplatzes aufstellten.

Eine Gruppe von sieben Kriegern ritt an der Spitze des Zuges. Dann kam Colgüs Bannerträger. Das flatternde blaue Seidentuch zeigte den goldenen Hirsch, das Königswappen der Eoghanacht von Cashel. Dahinter ritt in guter Haltung der König selbst, ein hochgewachsener Mann mit rötlich glänzendem Haar. Nicht zum erstenmal fiel Eadulf die Ähnlichkeit der Gesichtszüge zwischen Colgü und seiner Schwester Fidelma auf.

Als nächster kam ein weiterer Bannerträger. Die über ihm flatternde weiße Seide zeigte in der Mitte einen roten Eber. Eadulf nahm an, dies sei das Wappen der Fürsten der Ui Fidgente. Hinter diesem Bannerträger ritt ein junger Mann mit vollem Gesicht und dunklem Haar, der jedoch auf seine Art ebenso gut aussah wie der rothaarige König von Muman. Trotz der behaupteten gemeinsamen Abstammung konnte Eadulf keine Spur von Verwandtschaft zwischen dem Fürsten der Ui Fidgente und dem König von Muman entdecken.

Den führenden Reitern folgten viele Krieger, von denen einige die Abzeichen des Ordens der Goldenen Kette trugen, der ausgewählten Leibwache der Eog-hanacht-Könige. An ihrer Spitze ritt ein junger Mann, der nur wenig jünger schien als Colgü und ihm leicht ähnelte. Allerdings waren seine Züge etwas grober geschnitten, und sein Haar war so schwarz wie das des Fürsten der Ui Fidgente. Er saß lässig, aber stolz im Sattel. Auch seine Kleidung verriet Eitelkeit: Er trug einen langen Mantel aus blaugefärbter Wolle, der auf der Schulter von einer glitzernden Spange gehalten wurde. Sie war aus Silber und zeigte die Sonnenscheibe, von der fünf Strahlen ausgingen, deren Enden jeweils ein kleiner roter Granat zierte.

Das war Donndubhain, wie Eadulf wußte, der Ta-nist oder erwählte Nachfolger des Königs von Cashel, ein Vetter Colgüs und Fidelmas.

Die Freude der Menschen beim Anblick des Reiterzuges war unverkennbar, sie jubelten und klatschten Beifall. Für die meisten bedeutete der gemeinsame Einritt des Königs von Cashel und des Fürsten der Ui Fidgente das Ende von jahrhundertelangen Fehden und Bluttaten und den Beginn eines neuen Zeitalters des Friedens und des Wohlstands für alle Völker in Muman.

Colgü wirkte entspannt und dankte winkend dem Jubel, während Donennach steif und anscheinend nervös im Sattel saß. Seine dunklen Augen spähten von einer Seite zur anderen, als halte er Ausschau nach Anzeichen von Feindseligkeit. Nur gelegentlich huschte ein Lächeln über sein Gesicht, und er neigte kurz und knapp den Kopf zum Dank für den Applaus der begeisterten Menge.

Die Reiterschar überquerte den Marktplatz und näherte sich dem Pfad, der zu dem hohen Felsen mit dem Sitz der Könige von Cashel hinaufführte. Selbst Do-nennach von den Ui Fidgente schaute mit Bewunderung empor zu der Burg und dem Palast von Cashel.

Donndubhain hob den Arm, als wolle er dem Kriegertrupp signalisieren, auf den Weg zur Burg einzuschwenken.

Fidelma hatte sich durch die Menge nach vorn geschoben, von dem besorgten Eadulf gefolgt, weil sie ihren Bruder begrüßen wollte.

Als Colgü sie erblickte, verzog sich sein Gesicht zu einem jungenhaften Grinsen, wie es auch Fidelma in Augenblicken höchsten Vergnügens aufsetzen konnte.

Colgü zügelte sein Pferd und beugte sich tief vor, um seine Schwester zu begrüßen.

Diese Bewegung rettete ihm das Leben.

Mit einem eigenartigen dumpfen Laut bohrte sich der Pfeil in seinen Oberarm. Er schrie auf vor Schmerz und Schock. Hätte er nicht angehalten und sich niedergebeugt, hätte der Pfeil ein tödliches Ziel gefunden.

Vor Schreck waren alle wie erstarrt. Es schien ihnen eine lange Zeit, doch vergingen nur wenige Sekunden, bis ein zweiter Schmerzensschrei ertönte. Donennach, der Fürst der Ui Fidgente, schwankte im Sattel, ein Pfeil steckte in seinem Oberschenkel. Entsetzt sah Eadulf, wie er wankte und dann aus dem Sattel in den Straßenstaub stürzte.

Der Aufprall brachte alles in Bewegung und Aufruhr.

Ein Krieger der Ui Fidgente zog sein Schwert, brüllte »Mörder!« und sprengte auf eine Gebäudegruppe auf der anderen Seite des Marktplatzes zu. Einige seiner Männer folgten ihm, während andere zu ihrem gestürzten Fürsten eilten und sich mit gezogenen Schwertern um ihn scharten, als erwarteten sie einen Angriff auf ihn.

Eadulf sah, daß Donndubhain, Colgüs designierter Nachfolger, ebenfalls mit gezogenem Schwert den Kriegern der Ui Fidgente nachsetzte.

Fidelma war eine der ersten, die wieder zur Besinnung kam. Ihre Gedanken wirbelten. Zwei Pfeile waren auf ihren Bruder und seinen Gast abgeschossen worden, und beide hatten wie durch ein Wunder nicht tödlich getroffen. Anscheinend hatte der Krieger der Ui Fidgente die Flugbahn beobachtet und die Gebäude erkannt, in denen sich der Schütze verbarg, der den König von Cashel und den Fürsten der Ui Fidgente niederstrecken wollte. Nun, im Augenblick brauchte sie nicht darüber nachzudenken, weshalb auch Donn-dubhain auf die Jagd nach den Attentätern gegangen war.

»Kümmere dich um Donennach«, rief sie Eadulf zu, der sich bereits den Weg durch die widerstrebende Leibwache des Fürsten bahnte. Sie wandte sich ihrem Bruder zu, der noch im Sattel saß, leicht verstört, und den Pfeil umfaßt hielt, der in seinem Arm stak.

»Steig ab, Bruder«, drängte sie ihn leise, »sonst bleibst du weiter eine Zielscheibe.«

Sie half ihm vom Pferd, wobei er sich mühte, nicht vor Schmerzen zu stöhnen.

»Ist Donennach schwer verletzt?« fragte er mit zusammengebissenen Zähnen. Er umklammerte immer noch seinen blutenden und schmerzenden Arm.

»Eadulf sieht nach ihm. Setz dich hier auf den Stein, und ich ziehe den Pfeil heraus.«

Beinahe widerwillig ließ sich ihr Bruder nieder. Zwei seiner Gefolgsleute, darunter auch Capa, der Befehlshaber seiner Leibwache, waren inzwischen herbeigeeilt, doch ihre gezückten Schwerter waren nicht nötig. Die Menschen um den König herum hatten nur Fragen und Ratschläge zur Hand. Fidelma winkte sie ungeduldig zurück.

»Ist ein Arzt unter euch?« erkundigte sie sich, nachdem sie die Wunde untersucht und festgestellt hatte, daß die Pfeilspitze tief eingedrungen war. Sie wollte den Pfeil nicht herausreißen, um nicht Muskeln zu durchtrennen und den Schaden noch größer zu machen.

Die Antwort bestand aus Murmeln und Kopfschütteln.

Vorsichtig betastete sie den Pfeil. Es würde zu lange dauern, den alten Conchobar herbeiholen zu lassen.

»Warte, Fidelma«, rief Eadulf und schob sich durch die Menge.

Fidelma seufzte beinahe vor Erleichterung, denn sie wußte, daß Eadulf eine Ausbildung an der großen medizinischen Hochschule in Tuaim Brecain erhalten hatte.

»Wie geht es Donennach?« fragte ihn Colgü, dessen Gesicht von der Anstrengung, sich zu beherrschen, grau geworden war.

»Konzentriere dich jetzt nur auf dich, Bruder«, ermahnte ihn Fidelma.

Colgüs Miene war düster.

»Ein guter Gastgeber sollte sich zuerst um seinen Gast kümmern.«

»Es ist eine schlimme Wunde«, gab Eadulf zu und beugte sich nieder, um die Stelle zu untersuchen, an der die Pfeilspitze in Colgüs Arm steckte. »Donen-nachs Wunde meine ich, allerdings ist deine eigene auch nicht bloß ein Kratzer. Ich lasse eine Trage bauen, damit wir Fürst Donennach in den Palast hinaufschaffen können, wo er besser versorgt werden kann als hier auf der staubigen Straße. Ich fürchte, der Pfeil ist in einem ungünstigen Winkel in Donennachs Schenkel eingedrungen. Aber er hatte noch Glück -wie du auch.«

»Kannst du den Pfeil aus meinem Arm herausziehen?« drängte ihn Colgü.

Eadulf hatte ihn genau untersucht und lächelte düster. »Das kann ich, aber es würde sehr weh tun. Ich würde lieber damit warten, bis wir dich in den Palast geschafft haben.«

Der König von Muman schnaubte verächtlich.

»Mach es hier und jetzt, damit meine Leute sehen, daß die Wunde nicht tief ist und ein König aus den Eoghanacht Schmerzen ertragen kann.«

Eadulf wandte sich an die Menge. »In welchem der Häuser hier brennt ein Herdfeuer?«

»In der Schmiede dort drüben, Bruder Angelsachse«, antwortete eine alte Frau und wies hinüber.

»Nur noch einen Augenblick, Colgü«, sagte Eadulf und ging hinüber zur Schmiede. Der Schmied befand sich in der Menge und begleitete Eadulf interessiert.

Eadulf zog sein Messer. Der Schmied sah überrascht zu, wie der angelsächsische Mönch das Messer eine Weile über den glühenden Kohlen hin und her drehte, bevor er zu Colgü zurückkehrte.

Colgü hatte die Zähne zusammengebissen, und Schweißperlen standen auf seiner Stirn. »Mach es so schnell wie möglich, Eadulf.«

Der angelsächsische Mönch nickte kurz.

»Halte seinen Arm fest, Fidelma«, sagte er leise. Dann beugte er sich vor, packte den Pfeil am Schaft, lockerte ihn mit der Messerspitze und zog ihn rasch heraus. Colgü stöhnte auf, seine Schultern sanken ein, als wolle er fallen, doch er hielt sich aufrecht. Er biß die Zähne so fest zusammen, daß sie knirschten. Ea-dulf nahm ein sauberes Leinentuch, das ihm jemand reichte, und legte einen festen Verband an.

»Das hält, bis wir in die Burg kommen«, stellte er befriedigt fest. »Ich muß die Wunde noch mit Kräutern behandeln, damit sie sich nicht entzündet.« Leise setzte er, zu Fidelma gewandt, hinzu: »Zum Glück ging die Pfeilspitze glatt durch.«

Fidelma nahm ihm den Pfeil ab und betrachtete ihn eingehend. Dann schob sie ihn in den Gürtel und trat zu ihrem Bruder, um ihm zu helfen.

Der junge rotgesichtige Thronfolger drängte sich durch die Menge. Er war jetzt zu Fuß. Besorgt betrachtete er Colgü, der auf Fidelma gestützt dastand.

»Ist deine Wunde schlimm?«

»Schlimm genug«, antwortete Eadulf an Stelle des Königs, »aber er wird’s überleben.«

Donndubhain atmete tief aus.

»Die Attentäter sind von Fürst Donennachs Leuten gestellt worden.«

»Dann können wir uns mit ihnen befassen, sobald wir meinen Bruder und den Fürsten der Ui Fidgente in den Palast geschafft haben«, erwiderte Fidelma. »Komm, hilf mir dabei.«

Eadulf begab sich zu der Tragbahre, die man inzwischen für den verwundeten Fürsten der Ui Fidgente gebaut hatte, der darauf lag und sich vor Schmerzen wand. Eadulf hatte ihm den Oberschenkel verbunden. Er prüfte die Tragbahre noch einmal und gab den Kriegern der Ui Fidgente ein Zeichen, sie vorsichtig aufzunehmen und der Gruppe zu folgen, die Colgü half, den Weg hinauf zum Palast zu bewältigen.

Kaum hatten sie sich in Bewegung gesetzt, als Hufschlag und Rufe ertönten.

Die Berittenen aus Donennachs Leibwache kamen über den Platz zurück. Sie zogen auf dem Boden zwei Männer hinter sich her, die mit einem Seil um die Handgelenke am Sattelknopf des ersten Reiters festgebunden waren.

Fidelma sah es und wandte sich zornig von ihrem Bruder ab, um solche Grausamkeit zu unterbinden. Niemand, auch kein Attentäter, sollte so behandelt werden. Doch der Protest erstarb ihr in der Kehle, als die Reiter anhielten. Schon ein flüchtiger Blick auf die blutbefleckten Körper zeigte ihr, daß die beiden Männer bereits tot waren.

Der vorderste Reiter, ein Mann mit einem ausdruckslosen runden Gesicht und schmalen Augen, schwang sich vom Pferd und trat zu der Tragbahre, auf der sein Fürst lag. Er salutierte kurz mit seinem blutigen Schwert.

»Mein Fürst, ich meine, du solltest dir diese Männer ansehen«, sagte er rauh.

»Siehst du nicht, daß wir deinen Fürsten zum Palast schaffen, damit seine Wunde behandelt werden kann?« fragte ihn Eadulf wütend. »Belästige uns nicht, ehe nicht das Dringlichste erledigt ist.«

»Halt den Mund, Fremder«, fuhr ihn der Krieger hochmütig an, »wenn ich mit meinem Fürsten rede.«

Colgü hörte das und kam, auf Donndubhain gestützt, zurück. In seiner Miene mischten sich Ärger und Schmerz.

»Du hast hier keine Befehle zu erteilen, in Cashel regiere ich!« knurrte er.

Der Krieger der Ui Fidgente verzog keine Miene. Er schaute bewußt nur in das bleiche, schmerzverzerrte Gesicht Donennachs, der auf der Trage vor ihm lag.

»Mein Fürst, die Sache eilt.«

Donennach richtete sich auf und stützte sich auf einen Ellbogen.

»Was soll ich mir ansehen, Gionga?«

Der Krieger namens Gionga winkte einem seiner Männer, der inzwischen die beiden Leichen losgeschnitten hatte. Eine davon zog er jetzt hinüber zu der Trage.

»Das sind die beiden Hunde, die auf dich geschossen haben, mein Fürst. Schau dir diesen hier an.«

Er hielt den Kopf des Toten an den Haaren hoch.

Donennach beugte sich vor. Seine Mundwinkel verzogen sich. »Den kenne ich nicht«, brummte er.

»Brauchst du auch nicht, Fürst«, erwiderte Gionga. »Aber vielleicht erkennst du, was er am Hals trägt.«

Donennach sah genau hin und stieß einen lautlosen Pfiff aus.

»Was hat das zu bedeuten, Colgü?« fragte er und blickte den König von Muman an.

Colgü musterte die Leiche. Fidelma und Eadulf standen bei ihm. Keiner von ihnen kannte den Toten, doch es war klar, welchen Grund die Aufregung hatte.

Der Mann trug den Halsring des Ordens der Goldenen Kette, der Leibgarde der Könige von Cashel.

Mit vor Erregung rauher Stimme rief Donennach: »Das ist eine merkwürdige Gastfreundschaft, die du mir entgegenbringst, Colgü von Cashel. Deine Elitekrieger haben auf mich geschossen. Sie wollten mich töten!«

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